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Piero Cipollone
Member of the ECB's Executive Board
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Der Weg zu einer digitalen Kapitalmarktunion

Grundsatzrede von Piero Cipollone, Mitglied des EZB-Direktoriums, beim Zahlungsverkehrssymposium der Deutschen Bundesbank zur Zukunft des Zahlungsverkehrs

Frankfurt am Main, den 7. Oktober 2024

Die Ursprünge unseres heutigen Finanzsystems reichen in das Italien des 14. Jahrhunderts zurück.[1] Damals wurden neben der doppelten Buchführung[2] auch Nostro- und Lorokonten[3] erfunden, durch die Außenhandelsgeschäfte über separate, unabhängige Kontenbücher[4] abgewickelt werden können.

Die heutigen Finanzmärkte sind zwar hochkomplex und ausgereift, an der grundlegenden Buchführungspraxis mit Kontenbüchern hat sich seit damals aber kaum etwas geändert, sie prägt die heutigen Marktstrukturen immer noch sehr. Beispielsweise spielen Banken, Börsenmakler, Informationsanbieter und andere Marktteilnehmer in allen Phasen des Lebenszyklus eines Wertpapiers eine wesentliche Rolle bei der Intermediation. Diese Komplexität hat ihren Preis: Studien zeigen, dass die Kosten der Finanzintermediation in fortgeschrittenen Volkswirtschaften seit Ende der 1960er-Jahre insgesamt gestiegen sind.[5]

In Europa kommt zu dieser Komplexität die regulatorische Fragmentierung erschwerend hinzu, die der Grund dafür ist, dass die Kapitalmärkte immer noch keine Einheit bilden. Beispielsweise gibt es 35 verschiedene Börsen- und 41 Handelsplätze.[6] Hinsichtlich der Integration des Nachhandelssektors wurden bereits einige Anstrengungen unternommen. So wurde z. B. die TARGET2-Securities-Plattform geschaffen, mit deren Hilfe Wertpapiere und Bargeld zwischen Anlegern in ganz Europa übertragen werden können[7], und es wurden gemeinsame Plattformen errichtet, die von Zentralverwahrern (Central Securities Depositories – CSDs) genutzt werden. Doch aufgrund mangelnder Harmonisierung des Rechts- und Regulierungsrahmens, zum Beispiel in Bezug auf die Verwahrung, das Asset Servicing und steuerliche Verfahren, kommt der Sektor nicht in den Genuss der Vorteile und Synergien, die ein integrierter europäischer Markt bringen könnte.[8]

Die EU hat Maßnahmen ergriffen, um bestehende regulatorische Hindernisse zu beseitigen und so tiefere und stärker integrierte Kapitalmärkte zu schaffen.[9] Aber es gibt immer noch viele Hindernisse: Rechtsvorschriften sind unzureichend harmonisiert, die Aufsicht uneinheitlich[10], und es mangelt an dauerhaft sicheren Vermögenswerten und einem integrierten Bankensystem.[11] Darum wurden mehrfach neue Maßnahmen gefordert, u. a. von den Finanzministern der Euro-Länder[12], den EU-Institutionen[13] sowie von Enrico Letta und Mario Draghi in ihren jüngsten Berichten.[14]

Ein wesentlicher Aspekt – die Technologie – bleibt jedoch häufig außen vor. In meinen heutigen Ausführungen geht es mir nicht darum, wie man eine Kapitalmarktunion für traditionelle Vermögenswerte schaffen kann, sondern darum, wie man von vorneherein eine Kapitalunion für digitale Vermögenswerte aufbauen könnte.

Dank der Technologie in Form von z. B. elektronischer Buchführung ist es heutzutage zweifelsohne einfacher, Finanzdienstleistungen zu erbringen. Trotzdem hat die digitale Technologie in Europa bislang keine Integration der Finanzmärkte herbeigeführt. Die nicht interoperablen technologischen Ökosysteme in den einzelnen Ländern, die durch die unterschiedlichen nationalen Regeln geprägt sind, haben dazu geführt, dass isolierte Liquiditätspools entstanden sind, was die Fragmentierung weiter verstärkt.

Die jüngsten Fortschritte bei der digitalen Technologie eröffnen aber die Chance, in Europa einen integrierten Kapitalmarkt für digitale Vermögenswerte zu schaffen – also eine digitale Kapitalmarktunion.

Die Finanzinstitute sondieren zunehmend die mögliche Nutzung der Tokenisierung. Darunter versteht man den Prozess, bei dem neue Technologien wie Distributed-Ledger-Technologie (DLT) eingesetzt werden, um Vermögenswerte digital auszugeben oder darzustellen, als sogenannte Token. Im Gegensatz zu konventionellen Vermögenswerten werden diese Token nicht über ein zentrales Kontenbuch, sondern mithilfe von DLT erfasst. Stellen Sie sich eine Zukunft vor, in der Geld und Wertpapiere nicht mehr statisch auf elektronischen Buchführungskonten liegen, sondern in verteilten Ledgern „leben“, die über ein Händlernetzwerk verteilt sind, wobei jeder Händler eine synchronisierte Kopie besitzt.

Handeln die öffentlichen Stellen nicht, so droht Fragmentierung. Ergreifen sie hingegen die Chance, dann könnte mit diesem neuen Ansatz weitaus mehr erreicht werden als nur die Beseitigung technologischer Ineffizienzen. Dies könnte letzten Endes dazu führen, dass wir die jahrhundertealte Intermediationsstruktur hinter uns lassen und zu einem einheitlichen verteilten Kontenbuch übergehen oder zu einer Konstellation aus voll interoperablen Kontenbüchern. Dieser Wandel könnte uns dabei helfen, die derzeitige Fragmentierung der Finanzinfrastrukturen zu überwinden, Eintrittsbarrieren zu verringern und als Antriebsfeder der Kapitalmarktintegration in Europa dienen.

Es ist uns bewusst, dass unsere Aufgabe als Zentralbank bei diesem Transformationsprozess darin besteht, das Vertrauen in den Wert unserer Währung und in das Finanzsystem zu bewahren. Damit wir dieser Aufgabe gerecht werden, müssen wir uns auf das sich wandelnde technologische Umfeld einstellen. Dieses definiert gerade neu, wie in einer immer stärker digitalisierten Welt Geld ausgetauscht wird und Finanztransaktionen abgewickelt werden. Für unseren Auftrag ist von zentraler Bedeutung, diese Innovationen zu verstehen, uns auf sie vorzubereiten und ihre sichere Einführung zu unterstützen, wenn sie bereitstehen. Zentralbankgeld spielt überdies eine Schlüsselrolle, wenn es um die Interoperabilität und Integration dezentraler Systeme geht.[15]

Heute möchte ich darlegen, wie wir in Europa von vorherein einen integrierten Kapitalmarkt für digitale Vermögenswerte aufbauen können. Auch wenn Fortschritte bei der Tokenisierung und der Distributed-Ledger-Technologie potenziell große Vorteile bieten, dürfen wir nicht die Risiken für die Finanzmarktstruktur und für die Bereitstellung von Zentralbankgeld aus den Augen verlieren. Ich werde nun erörtern, wie Zentralbanken diesen technologischen Wandel wirksam unterstützen können.

Das Transformationspotenzial von Tokenisierung und DLT in Kapitalmärkten: Innovation und Risiko austarieren

In den letzten Jahren sind Finanztechnologien klar auf dem Vormarsch, auch die Nutzung von Token und DLT hat zugenommen. Diese Transformation ist nicht nur graue Theorie, sondern vollzieht sich vor unseren Augen.

Allein im Bankensektor suchen über 60 % der befragten Banken in der EU aktiv nach DLT-Lösungen, probieren diese aus oder nutzen sie. Und 22 % der Banken verwenden bereits DLT-Anwendungen.[16] In großem Stil wird die Distributed-Ledger-Technologie jedoch noch nicht verwendet. Derzeit wird sie vor allem für Neuemissionen eingesetzt, die Banken prüfen aber zunehmend weitere Anwendungsmöglichkeiten und -fälle. Das Interesse an der Erforschung des Potenzials der DLT ist groß, führende globale Finanzmarktinfrastrukturen wie DTCC, Clearstream und Euroclear wollen Standards festlegen, damit die Tokenisierung im gesamten Finanzsektor einfacher wird.

Auch der öffentliche Sektor trägt seinen Teil zu dieser Bewegung bei. Gäbe es eine Lösung für die Abwicklung von Transaktionen in Zentralbankgeld, so wären DLT-basierte Lösungen attraktiver und weniger risikoreich. Die Marktteilnehmer haben daher großes Interesse daran, Zentralbankgeld für die Abwicklung von Transaktionen mit digitalen Vermögenswerten nutzen zu können. Aus diesem Grund beschäftigt sich das Eurosystem aktuell mit der Frage, wie die DLT für die Abwicklung von Großbetragszahlungen in Zentralbankgeld eingesetzt werden könnten.[17] Und auch der Innovation Hub der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hat mehrere Projekte auf den Weg gebracht, bei denen diese Thematik bearbeitet wird.[18]

Das Versprechen von Tokenisierung und DLT liegt in der Schaffung eines transparenten Kontenbuchs. Dank diesem könnten die drei Schlüsselfunktionen des Handels mit Vermögenswerten – Verhandlung, Abwicklung und Verwahrung – auf derselben Plattform stattfinden.[19] Die verringerte Notwendigkeit des Abgleichs und der Zuordnung von Daten sowie weiterer Datenverarbeitungsschritte dürfte die Transaktionskosten senken. Dadurch würde die Resilienz gestärkt und der Betrieb rund um die Uhr an 365 Tagen pro Jahr ermöglicht. Die DLT unterstützt auch die Neuemission digitaler Vermögenswerte, was direkte Transaktionen zwischen einem großen Anlegerspektrum möglich macht. Somit könnten Zugangsbeschränkungen verringert werden, und kleine Emittenten wie KMU bekämen die Chance, Zugang zu den Kapitalmärkten zu erhalten. Durch deutlich kürzere Abwicklungszeiten und die Nutzung eigenständig ablaufender programmierbarer Funktionen von Smart Contracts würde die DLT zudem beträchtliche Effizienzsteigerungen mit sich bringen.

Das Einsparungspotenzial dürfte also beträchtlich sein. Schätzungen zufolge könnten Automatisierung und Smart Contracts die jährlichen Betriebskosten der Infrastruktur auf den globalen Kapitalmärkten um etwa 15 bis 20 Mrd. USD senken.[20]

Neben diesen Einsparungen bietet die Möglichkeit einer umfassenden Einführung von Tokenisierung und DLT die Chance, Marktstrukturen zu überarbeiten. Dies könnte sich als hilfreich erweisen bei der Beseitigung der technologischen Hindernisse, die der Schaffung einer Kapitalmarktunion in Europa im Weg stehen. Das neue Ökosystem könnte von Grund auf auf stärker integrierte und harmonisierte Weise aufgebaut werden und in etwa so wie ein gemeinsames Schienennetz – also ein gemeinsames Kontenbuch oder ein Ökosystem aus vollständig interoperablen Kontenbüchern – funktionieren, das die Erreichbarkeit, den offenen Zugang zu und die Kompatibilität zwischen den Dienstleistungen der Teilnehmer gewährleistet. Zentralverwahrer, Banken, Anlageverwalter und andere Marktteilnehmer würden ihre Dienstleistungen direkt über eine gemeinsame Infrastruktur erbringen. Gleichzeitig behielte aber jeder von ihnen ein gewisses Maß an Kontrolle über die Funktionen und an individuellen Anpassungsmöglichkeiten. Dadurch wäre auch ein flexiblerer Ansatz in Bezug auf die Rollen der verschiedenen Teilnehmer des Ökosystems möglich. Technisch wäre es auch möglich, alle Vermögenswerte, Funktionen und Marktakteure in einer zentralisierten Infrastruktur zusammenzubringen. Gerade die Kombination aus gemeinsamer Infrastruktur und individuell angepasster Kontrolle könnte einige Interessenträger dazu bewegen, sich auf „gemeinsame Schienen“ zu einigen statt, wie aktuell oft der Fall, auf eigene Infrastrukturen zu setzen.

Allerdings bergen die frühen Entwicklungsphasen der DLT beträchtliche Koordinierungsprobleme und Risiken für das Finanzsystem.

Wir müssen daher drei Hauptrisiken entgegenwirken.

Erstens könnte es zu einer unkoordinierten Verbreitung von DLT-Plattformen kommen, was wiederum zu einer fragmentierten Landschaft führen könnte. In dieser frühen Entwicklungsphase stehen etablierte Finanzinstitute der DLT kritisch gegenüber, möchten ihr Potenzial aber dennoch ausschöpfen. Infolgedessen könnten mehrere neue DLT-Plattformen entstehen, da die Marktteilnehmer ihre eigenen Lösungen entwickeln, ohne sich Gedanken über die weiterreichenden wirtschaftlichen Auswirkungen zu machen. Die bereits bestehende Aufsplitterung auf Zentralverwahrer und andere proprietäre Ledger könnte dadurch weiter verstärkt werden und mangelnde Standardisierung zur Folge haben. Hieraus würden sich neue Koordinationsprobleme ergeben, was unser Ziel, die Schaffung einer digitalen Kapitalmarktunion in Europa, gefährden würde.[21]

Das zweite Risiko besteht darin, dass das Zentralbankgeld seinen Status als sicherstes und liquidestes Settlement Asset verliert. Wenn die Endnutzer – in diesem Fall Unternehmen und Anleger – nach einem „On Chain“-Zahlungsmittel verlangen, das nahtlos automatisierte Transaktionen über DLT ermöglicht, könnte das Nichtvorhandensein einer Lösung für die Abwicklung in Zentralbankgeld Banken oder Stablecoin-Emittenten dazu veranlassen, private Geldalternativen anzubieten. Bei einem dauerhaften Bedeutungsverlust des Zentralbankgelds zugunsten von Geschäftsbankengeld oder Stablecoins könnte das derzeitige zweistufige Geldsystem gestört und die Finanzstabilität gefährdet werden, indem die Rolle des Zentralbankgelds als risikofreies Settlement Asset untergraben würde. Dies würde den auf internationaler Ebene vereinbarten Grundsätzen zuwiderlaufen.[22]

Und drittens müssen die öffentlichen Instanzen noch mehr tun, um die Risiken und Schwachstellen, die mit der DLT-basierten Tokenisierung verbunden sind, zu verstehen und einzuschätzen.[23] Die Tokenisierung beseitigt nicht die altbekannten Schwachstellen des traditionellen Finanzwesens, auch wenn diese – je nach gewähltem Design, Anwendung und Umfang – anders aussehen mögen als früher. Die Wahl der Settlement Assets wird entscheidend sein, denn diese könnten das Liquiditätsrisiko oder sonstige Schwachstellen verschärfen. Es könnten aber auch noch andere Risiken auftreten, wenn neue Einheiten nicht von der Regulierung erfasst werden oder es zu operativen Schwachstellen kommt.

Um diesen Risiken zu begegnen, müssen die Zentralbanken und die Regulierungsbehörden frühzeitig aktiv werden und von Anfang an mit den Marktteilnehmern zusammenarbeiten. Zögern wir, während andere Länder an uns vorbeiziehen und bessere Lösungen hervorbringen, könnte es dazu kommen, dass Finanzgeschäfte abwandern und private Unternehmen aus Ländern außerhalb der EU eine Vormachtstellung auf den europäischen Kapitalmärkten erlangen. Zudem könnten Marktteilnehmer in Europa infolgedessen unkoordinierte Ansätze verfolgen und in ihre eigenen Infrastrukturen investieren. Unter Umständen könnten sie sich dann allen Bemühungen der Zentralbanken widersetzen, verbesserte Abwicklungslösungen einzuführen – vor allem dann, wenn diese die Tragfähigkeit ihrer neuen Geschäftsmodelle gefährden würden. Ohne baldiges Handeln könnte es daher unmöglich werden, eine wahrhaft digitale Kapitalmarktunion zu erreichen, mit effizienten Großbetragszahlungs- und Abwicklungsdiensten, bei denen risikoloses Zentralbankgeld verwendet wird.

Eine europäische Vision für die Zukunft der digitalen Kapitalmärkte

Da wir uns derzeit noch in einer frühen Phase der Marktentwicklung befinden und die wichtigen Akteure der Branche noch ihren strategischen Ansatz festlegen müssen, ist es überaus wichtig, dass die Zentralbanken klare Orientierung bieten. Indem die EZB klare und konsistente Orientierung bietet, übt sie für die europäische Finanzbranche eine kritische Koordinierungsfunktion aus. Dies hilft den Marktteilnehmern, ihre Maßnahmen aufeinander abzustimmen und innerhalb eines gemeinsamen Rahmens zu innovieren, was die Interoperabilität fördert.

Bei dieser Transformation sollten Zentralbanken vor allem aus zwei Gründen eine proaktive Rolle spielen. Erstens ist es äußerst wichtig, dass die Verwendung von Zentralbankgeld als Settlement Asset auf den Großbetragszahlungsmärkten weiter unterstützt, wenn nicht sogar ausbaut wird. Zentralbankgeld spielt in unserem zweistufigen Geldsystem eine Schlüsselrolle und ist ein Eckpfeiler der Finanzstabilität.

Ein zweiter Grund ist die Förderung robuster, stabiler und integrierter Kapitalmärkte in Europa. Unser Ziel ist es daher, die Bereitstellung von Zentralbankgeld für die Abwicklung von Großbetragszahlungen mit DLT-Assets zu ermöglichen und so die Verwendung von DLT seitens der Finanzbranche dafür zu nutzen, die aufgrund der Fragmentierung der europäischen Kapitalmärkte bestehenden Mängel auszuräumen.

Dies könnte z. B. mittels eines europäischen Kontenbuchs, also einer einheitlichen Plattformlösung, erreicht werden, bei der Vermögenswerte und Bargeld nebeneinander auf einer Chain existieren würden. Viele Marktteilnehmer halten dies für unerlässlich, um die Vorteile der DLT voll ausschöpfen zu können. Dieses Kontenbuch wäre die Antwort auf die technologische Komplexität, die Ineffizienzen und die Fragmentierung, die derzeit der Integration der europäischen Kapitalmärkte für traditionelle Vermögenswerte im Weg stehen.

Ein europäisches Kontenbuch könnte die Token-Versionen von Zentralbankgeld, Geschäftsbankengeld und anderen digitalen Vermögenswerten auf einer gemeinsamen programmierbaren Plattform zusammenbringen. T2S würde sich so praktisch in eine DLT-basierte, einheitliche Finanzmarktinfrastruktur für Europa weiterentwickeln. Die Zentralbanken würden die Plattform bzw. die „Schienen“ bereitstellen, die Marktteilnehmer indessen den Inhalt, die „Züge“, liefern. Wir müssen uns aber weiter Gedanken darüber machen, wie eine solche Plattform ausgestaltet sein sollte. Zu klären sind z. B. der Dienstleistungsumfang, die Governance-Struktur, operative Verfahren sowie die möglichen Auswirkungen auf bestehende Infrastrukturen und Vermögenswerte.

Ein Risiko des einheitlichen Kontenbuchs besteht darin, dass man einer technologischen Lösung gegenüber allen anderen den Vorzug geben muss. Da alle Marktakteure es nutzen werden, besteht für sie künftig weniger Anreiz, nach alternativen innovativen technischen Lösungen für dasselbe Serviceangebot zu suchen und diese zu fördern. Eine weitere Option würde deshalb darin bestehen, die koordinierte Entwicklung eines Ökosystems aus vollständig interoperablen technischen Lösungen zuzulassen. Diese Flexibilität wäre von Vorteil, da sie bestimmten Anwendungsfällen und dem Nebeneinander von Altlösungen und neuen Lösungen besser zuträglich wäre.

Über die Vor- und Nachteile müssen wir nachdenken.

Am Markt laufen weitere Forschungsarbeiten. In der Zwischenzeit brauchen wir aber dringend Lösungen, die es ermöglichen, DLT-Transaktionen in Zentralbankgeld abzuwickeln. Dabei bietet sich die Gelegenheit, auf den interoperablen Lösungen aufzubauen, die wir im Rahmen der Sondierungsarbeit des Eurosystems getestet haben. Diese Testphase, in der das Eurosystem Interoperabilität zwischen seinen Abwicklungsdiensten in Zentralbankgeld und externen DLT-Plattformen für reale wie auch für Testtransaktionen anbietet, wurde im Mai 2024 erfolgreich auf den Weg gebracht und läuft bis November. Neben Zentralbanken sind auch 60 Teilnehmer aus der Finanzbranche involviert.

Das Angebot solcher Lösungen könnte es sowohl dem Eurosystem als auch den Marktteilnehmern ermöglichen, DLT-basierte Lösungen auszuprobieren und weiterzuentwickeln, wodurch Investitionen in der Branche angekurbelt würden. Zu diesem Zweck haben wir damit begonnen, uns zu überlegen, wie wir auf den laufenden Arbeiten aufbauen können. Wir werden auch prüfen, ob DLT-basierte Vermögenswerte bei Kreditgeschäften des Eurosystems als Sicherheiten zugelassen werden.

Wenn wir aber auf lange Sicht auf die bestehenden Interoperabilitätslösungen setzen, besteht angesichts der immer noch unvollständigen Harmonisierung und Standardisierung das Risiko, dass die Ineffizienzen im Nachhandelsbereich fortbestehen. Solche Zwischenlösungen sind daher Provisorien, um den Übergang zu unserer langfristigen Vision reibungslos zu gestalten.

Sie müssen im Sinne der EU-Gesetzgeber und -Regulierungsbehörden sein. Für diese ist dies die Gelegenheit, einen umfassenden europäischen Regulierungs- und Aufsichtsrahmen zu schaffen, der die Integration der Finanzmärkte für digitale Vermögenswerte unterstützt und gleichzeitig die Marktteilnehmer schützt und die zugrunde liegenden Infrastrukturen bewahrt. Wie das Beispiel der begrenzten Fortschritte bei der Kapitalmarktunion für traditionelle Vermögenswerte zeigt, ist es einfacher, neue Aktivitäten im Vorfeld zu harmonisieren, anstatt zu einem späteren Zeitpunkt Unstimmigkeiten ausmerzen zu müssen. Der neue Rahmen sollte auf der Pilotregelung der EU für DLT aufbauen und die Schaffung harmonisierter Regeln und einer integrierten Aufsicht über digitale Vermögenswerte zum Ziel haben.

Schlussbemerkungen

Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.

In der gegenwärtigen Epoche des raschen technologischen Wandels muss, wer nach anhaltendem Erfolg strebt, sein Verhalten mit der Zeit verändern.[24]

Dass der europäische Finanzsektor derzeit die Tokenisierung und DLT erforscht, spiegelt diese Erkenntnis wider. Diese Technologien besitzen nicht nur das Potenzial zur Effizienzsteigerung. Sie könnten auch die Struktur der Finanzintermediation von Grund auf ändern – die Struktur eines Systems, das viele Jahrhunderte lang in weiten Teilen unverändert geblieben ist. Viele Finanzmarktteilnehmer haben bereits damit begonnen, sich mit diesen Technologien zu befassen und erkennen ihr Transformationspotenzial.

Als umsichtige Zentralbanker müssen auch wir uns an diese neuen Technologien anpassen, um unseren Auftrag – das Vertrauen in unsere Währung und unser Finanzsystem zu bewahren – zu erfüllen. Unser vorrangiges Ziel in diesem sich wandelnden Umfeld ist es, dafür zu sorgen, dass Zentralbankgeld – das sicherste und liquideste Settlement Asset – ein Stützpfeiler der Stabilität bleibt, auch auf einem token- und DLT-basierten Kapitalmarkt. Oder um Tancredi aus di Lampedusas „Der Leopard“[25] zu zitieren: „Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.“

In der aktuellen Frühphase der Marktentwicklung stellen sich aber nicht nur Herausforderungen, sie bietet auch eine noch nie dagewesene Chance. Wenn wir ein klares Konzept für eine digitale Kapitalmarktunion entwickeln – ein integriertes europäisches digitales Ökosystem, in dem Vermögenswerte und Bargeld in einer oder mehreren vollständig interoperablen Chains nebeneinander bestehen –, könnten diese neuen Technologien dazu beitragen, die aktuellen Mängel der europäischen Kapitalmärkte zu beseitigen.

Wenn wir uns diesen technologischen Wandel zu eigen machen, dann reagieren wir nicht bloß auf Veränderungen, sondern beteiligen uns aktiv an der Gestaltung einer effizienteren, innovativeren und resilienteren finanziellen Zukunft für Europa.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

  1. Ich danke Cyril Max Neumann und Jean-Francois Jamet für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Rede sowie Ulrich Bindseil, Alexandra Born, Johanne Evrard, Daniel Kapp, Mirjam Plooij und Anton Van der Kraaij für ihre Anmerkungen.

  2. A. Sangster, The emergence of double entry bookkeeping, The Economic History Review, S. 1-30, Mai 2024.

  3. Ein Nostro- bzw. ein Lorokonto ist ein Bankkonto, das eine Bank für die Einlagen einer anderen Bank führt. In der Regel handelt es sich dabei um eine ausländische Bank, die das Konto für internationale oder andere Finanztransaktionen benötigt. Der Begriff „Nostro“ („unser“) bzw. „Loro“ („deren“) gibt an, in welchem Verhältnis die jeweilige Bank zum eingelegten Geld steht.

  4. B. S. Yamey, Two-currency, nostro and vostro accounts: historical notes, 1400-1800, Accounting Historians Journal, Bd. 38, Nr. 2, S. 125-143, Dezember 2011.

  5. Siehe G. Bazot, Financial Consumption and the Cost of Finance: Measuring Financial Efficiency in Europe (1950-2007), Journal of the European Economic Association, Bd. 16, Ausgabe 1, S. 123-160, Februar 2018. Diese Studie zeigt, dass das Verhältnis zwischen den Erträgen inländischer Finanzintermediäre und dem BIP in Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und allgemeiner Europa im Zeitraum von 1950 bis 2007 kontinuierlich gestiegen ist, selbst in den 1990er- und 2000er-Jahren. Bei Berücksichtigung von Vermögenseinkommen und Kapitalgewinnen belief sich diese Quote zum Ende des Zeitraums in Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich auf 6 bis 7 % und in den Vereinigten Staaten auf etwa 9 %. Außerdem werden in dieser Studie die Stückkosten der Finanzintermediation anhand des Verhältnisses zwischen Finanzerträgen und vermittelten finanziellen Vermögenswerten bestimmt. Demzufolge haben sich die Stückkosten in Europa seit den späten1960er-Jahren scheinbar erhöht, wenn auch weniger stark als in den Vereinigten Staaten. Siehe auch T. Philippon, Has the US Finance Industry Become Less Efficient? On the Theory and Measurement of Financial Intermediation, American Economic Review, Bd. 105, Nr. 4, S. 1408-1438, April 2015. Die Stückkosten der Finanzintermediation scheinen trotz Fortschritten im Bereich IT und Veränderungen in der Organisationsstruktur der Finanzbranche nicht deutlich gesunken zu sein, so die Studie. Laut Philippon belaufen sich die Intermediationskosten pro Jahr auf 1,5 bis 2 % der vermittelten Vermögenswerte, in Europa sind die Stückkosten der Finanzintermediation ähnlich hoch, so Bizots Schlussfolgerung.

  6. W. Wright und E. F. Hamre, The problem with European stock markets, New Financial LLP, März 2021. Hinzu kommt die große Zahl an zentralen Gegenparteien (Central Counterparties – CCPs) und CSDs. Allerdings liegt in der Europäischen Union (EU) ein Großteil des CCP- und CSD-Geschäfts in den Händen einiger weniger CSDs und CCPs von Großkonzernen – 96 % der europäischen CSD-Abwicklungstransaktionen und 93 % der verwahrten Vermögenswerte entfallen auf die drei größten Konzerne. Siehe auch Euroclear, Unlocking scale and competitiveness in Europe’s markets – Enablers for an integrated and digitised post-trade architecture, Whitepaper, September 2024.

  7. T2S ist eine gemeinsame Plattform, über die Wertpapiere und Bargeld nach harmonisierten Regeln und Verfahren zwischen Anlegern in ganz Europa übertragen werden können. Banken bezahlen für Wertpapiere auf der Plattform über ihr Zentralbankkonto, für die Transaktionsabwicklung wird also Zentralbankgeld verwendet. Dadurch ist das Transaktionsrisiko deutlich geringer. T2S schafft die Grundlagen für einen Binnenmarkt für die Wertpapierabwicklung und trägt damit zum Erreichen einer stärkeren Integration des europäischen Finanzmarkts bei.

  8. Siehe z. B. A. Born, D. S. Heymann, M. Chaves, und C. Lambert, Frictions in debt issuance procedures and home bias in the euro area, Financial Integration and Structure in the Euro Area, EZB, April 2022.

  9. Europäischer Rat und Rat der Europäischen Union, Maßnahmen der EU zur Vertiefung ihrer Kapitalmärkte und M. McGuinness, Vested interests must not block the EU’s capital markets union, Financial Times, 19. März 2024.

  10. C. Lagarde, Die Kapitalmarktunion neu denken, Rede anlässlich des Europäischen Bankenkongresses, 17. November 2023, und N. Véron, Capital Markets Union: Ten Years Later, Europäisches Parlament, März 2024.

  11. F. Panetta, Europe needs to think bigger to build its capital markets union, Der EZB-Blog, 30. August 2023.

  12. Eurogruppe, Statement of the Eurogroup in inclusive format on the future of the Capital Markets Union, 11. März 2024.

  13. EZB, Statement by the ECB Governing Council on advancing the Capital Markets Union, 7. März 2024; Europäischer Rat, Special meeting of the European Council – Conclusions, 18. April 2024; und Europäische Kommission, Mission Letter from Ursula von der Leyen to Henna Virkunnen, 17. September 2024.

  14. E. Letta, Much more than a market – Speed, Security, Solidarity. Empowering the Single Market to deliver a sustainable future and prosperity for all EU Citizens, April 2024; M. Draghi, The future of European competitiveness – A competitiveness strategy for Europe, September 2024.

  15. P. Cipollone, Modernising finance: the role of central bank money, Grundsatzrede beim 30. Jahreskongress der Finanzmarktbranche, organisiert von Assiom Forex, 9. Februar 2024.

  16. Europäische Bankenbehörde, Uses of DLT in the EU banking and payments sector: EBA innovation monitoring and convergence work, April 2024.

  17. Europäische Zentralbank, Second group of participants chosen to test DLT for settlement in central bank money, MIP News, 21. Juni 2024.

  18. Bank for Internationalen Zahlungsausgleich, Blueprint for the future monetary system: improving the old, enabling the new, Annual Economic Report, Kapitel III, 20. Juni 2023.

  19. Derzeit werden diese drei Funktionen von drei verschiedenen Instanzen (Börse, Abwicklungsinfrastruktur und CSD) erbracht.

  20. Global Financial Markets Association, Impact of Distributed Ledger Technology in Global Capital Markets, 17. Mai 2023.

  21. Siehe auch EZB, Statement by the ECB Governing Council on advancing the Capital Markets Union, 7. März 2024.

  22. Siehe Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Principles for financial market infrastructures, April 2012.

  23. In einem demnächst erscheinenden Bericht prüft der Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board – FSB) die möglichen Implikationen der Tokenisierung für die Finanzstabilität.

  24. N. Machiavelli, Discourses on the First Ten Books of Titus Livius, Drittes Buch, Kapitel IX, 1513.

  25. G. T. di Lampedusa, Der Leopard, 1959.

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