Von der Wiege bis zum Grabe
[131] Von der Wiege bis zum Grabe nennt sich eine Folge von zwei- und vierhändigen Tonstücken des bekannten Kapellmeisters Karl Reinecke, die zu den liebenswürdigsten Erscheinungen der neueren Klavierlitteratur zählen. Voll zarter Innigkeit schlingen sich reizende Melodien zum Kranze, der die einzelnen Lebensbilder: Kindheit, Jugendleben, Liebe, Hochzeit und alles, was das Menschenleben Holdes und Schweres bringt, umschließt. Von besonderem Liebreiz sind „Kindesträume“, „Schöne Maiennacht“, „Im Silberkranze“ und das feierliche „Ad astra“, wo der sich lösenden und aufwärts ziehenden Seele noch einmal wie ein leiser Hauch die Liebesweise jener Maiennacht durch die Erinnerung zieht. Auch der originelle Hochzeitsmarsch wird sich sicher bald einer großen Beliebtheit erfreuen, da er, wie beinahe alle Stücke der Sammlung, ohne besondere Schwierigkeiten auszuführen und daher allen jenen zugänglich ist, die auf die Ausübung schwerer Bravourstücke verzichten müssen. Und hierin erblicken wir einen Hauptvorzug des schönen Werkes. Die Anforderungen an die Spielfertigkeit sind heutzutage in einer Weise gesteigert, daß oft
[132] genug über den Mitteln der Technik der Zweck der Freude und Erbauung an der Musik vollständig verloren geht. Indem ein Meister wie Reinecke sein Werk auch den bescheidenen Kräften zugänglich machte, sofern sie nur Gefühl für wahre Poesie im Herzen tragen, schuf er eine Hausmusik im besten und edelsten Sinne, und viele werden es ihm danken. Dem schön ausgestatteten Band ist ein verbindender Text beigegeben, der wohl für gesellschaftlichen Vortrag berechnet ist. Die einzelnen Lebensbilder sind aber auch ohne ihn vollkommen verständlich. Die Ausgabe für zwei Hände bietet selbstverständlich größere Schwierigkeiten, wir wollen deshalb ungeübteren Spielern hauptsächlich die vierhändige aufs wärmste empfehlen. Br.