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Seite:Meyers Universum 3. Band 1836.djvu/136

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CXX. Delphi.




Dichte Schleier verhüllen die Natur, den Ursprung und die Geschichte aller Religionen. Durch Macht und Gewalt aufgezwungen, durch Erziehung eingesogen, durch Beispiel unterhalten, pflanzen sie von Zeitalter zu Zeitalter sich fort, und Gewohnheit, Absonderungshang und Gedankenlosigkeit befestigen ihr Reich. Indem jede ihren Bekennern die freie und vorurtheilsfreie Prüfung untersagt, und den Glauben, ausschließlich die rechte zu seyn, festhält, sehen wir, trotz des buntesten Widerspruchs in ihren Lehren, so viele nebeneinander bestehen, und oft Jahrtausende vergehen, ehe eine die andere aufhebt. Nichts ist so beständig in der Welt, als die Vorurtheile des Glaubens, und nichts übt größere und despotischere Gewalt im Reiche der Geister.

Bei aller Mannichfaltigkeit der Religionssysteme, der bestehenden wie der erloschenen, werden sie gleichwohl in vielen Hauptzügen gleichförmig und in den Grundideen beharrlich erfunden. Für’s Erste sehen wir allenthalben die Menschen, wiewohl im Wirken und Leiden auf die Sinnenwelt beschränkt, dennoch über ihre Grenzen hinaus ahnend und verlangend blicken; höhere, lebendige, moralische Gewalten über den blinden Naturkräften anerkennen, bei dem Triumph übermächtiger Bosheit auf eine Zeit der Vergeltung hoffen, und, umgeben von den Bildern der Verwesung, eine Fortdauer jenseits des Grabes glauben. Diese hohen Gefühle – wenigstens der Zunder dazu – in der gemeinsten Menschenbrust, dies unauslöschliche, fast instinktartige Sehnen nach einer Heimath, die Keines Auge sah, werden für den unbefangenen Denker eine erhebende Betrachtung, und sie überwiegen der grübelnden Vernunft kleinmüthige Zweifel.

Aber jener Götterfunken in der menschlichen Seele, ein Zeuge höherer Abkunft, wie schlecht sehen wir ihn meistens gepflegt! Seine Erweckung ist das Werk des Zufalls; denn ob du in Shiras, oder in Marokko, in Thibet, oder am Ganges, oder „im himmlischen Reiche,“ oder am Niger, oder an der Tiber, oder in Petersburg, oder in Stockholm geboren wurdest, bist du, ohne dein Zuthun, und ohne daß du es hindern kannst, ein Feueranbeter, ein Gläubiger des Koran, ein Verehrer des Dalai Lama, des Brahma, oder des Confuzius Jünger; oder du bist ein schwarzhäutiger Götzendiener, oder ein rechtgläubiger Katholik; oder ein Bekenner der griechischen Kirche, oder des reinen Evangeliums. – Ungeläutert ist auch jenes Götterfunkens Nahrung, und Dummheit und Betrug ersticken seinen Glanz. Von jeher wurden die hohen Ideen, die lebendigen Gefühle der natürlichen Religion, das kostbarste Angebinde unsers Geschlechts,