Die heilige Gertrud auf der Gertaudtenbrücke zu Berlin
[892] Die heilige Gertrud auf der Gertraudtenbrücke zu Berlin. (Mit Abbildung.) Zur Zeit der höchsten städtischen Blüte von Kölln-Berlin entstanden draußen vor den Mauern der Stadt auf dem Sandhügel jenseit des linken Spreearms in der Gegend des heutigen Spittelmarkts Kloster und Kirchlein, die der heiligen Gertrud geweiht wurden. Die Brücke, welche von Kölln am Wasser hinüber führte, und das Thor, welches die Brücke sperrte, erhielten nach der Schutzheiligen der frommen Stätte ihren Namen. Schon damals vermittelten sie den Hauptverkehr durch die alte Stadt. Langsam hat sich von Frankreich über Belgien der Kult der hohen Frau auch in niederdeutschen Landen ausgebreitet.
Gertrud, die Tochter Philipps von Landen – geboren 626, gestorben 659 – war schon bei ihren Lebzeiten als Aebtissin des fränkischen Klosters Nivelles ein Muster aller christlichen Tugenden für die Gläubigen gewesen. Besonders ihre Güte und Barmherzigkeit waren weit und breit gepriesen. Kein Armer ging unbeschenkt von ihrer Thür, kein Hungernder und Dürstender ungelabt, ihrem heißen Gebet soll es sogar gelungen sein, die Aecker von der Plage der Feldmäuse zu befreien. Mancher Zug, der einst der heidnischen Freia eignete, mag in deutschen Gauen auf sie übergegangen sein. Besonders galt sie als Schutzpatronin der Reisenden, der Fahrenden Leute und Wanderburschen. Jetzt, da von Jahr zu Jahr ein Stück des alten Berlins verschwindet, um den Anforderungen des modernen Riesenverkehrs Platz zu machen, sucht man wenigstens in der künstlerischen Ausschmückung der neuen Gebäude so weit als möglich die Erinnerung an die Vergangenheit lebendig zu erhalten. Dem gewaltigen Strom von Menschen und Wagen, der zwischen dem Alexanderplatz und den westlichen Stadtteilen über den Spittelmarkt hin und her flutet, genügte die alte Gertraudtenbrücke schließlich in keiner Weise mehr. An ihre Stelle ist in der letzten Zeit ein neuer Monumentalbau getreten. Ganze Häuserviertel mußten fallen, um die Straßenverbreiterung zu ermöglichen. Rastlos wälzt sich das Getümmel der Großstadt über die alte Spreestraße, und auf das Gewimmel von hastenden Menschen und Tieren, von Pferdebahnen und Omnibussen, von Droschken und Equipagen sieht mit mildem Lächeln die heilige Gertrud hinab. Siemerings Meisterhand hat sie im Bildwerk dort festgebannt. Die prächtige Gruppe, welche wir heute unseren Lesern vorführen, krönt das Mittelstück des nördlichen Brückengeländers. Die fromme Frau ist in der Tracht einer Klosterfrau des 7. Jahrhunderts dargestellt, wie sie Veit Stoß schon für seine bekannte Betende Maria anwandte. Ein wandernder Bursch hat bei ihr Labung gesucht und gefunden. Sie beut ihm den Willkommstrnnk, den er, das linke Knie vor der hohen Spenderin beugend, soeben an die Lippen setzt. Sein Wams, die zerrissenen Schuhe, der Knotenstock, der zerschlissene, mit der Feder geschmückte Hut sind mit größter Naturtreue gebildet. Ein komischer Zug kommt in das Ganze durch die Gans – Gott weiß, wie sie in den Besitz des Vaganten gelangt ist! – welche den Augenblick zur Flucht zu benutzen sucht, durch die Leine am Fuß aber zurückgehalten wird. An die Ueberlieferung knüpfen die vielen Mäuse an, welche der Künstler, zum Teil rein ornamental, an seinem Werke angebracht hat.
Die Gruppe ist ungefähr 3 Meter hoch und ist in Lauchhammer vortrefflich in Bronze gegossen. Prof. Siemering hat dort an Ort und Stelle das Wachsmodell gefertigt und die Ausführung überwacht, so daß von den Feinheiten des Originals bei der Reproduktion kaum etwas verloren gegangen ist. Das Denkmal gereicht der Reichshauptstadt zur Zierde.