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Die Gartenlaube (1866)/Heft 45

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[697] No. 45.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
1. In Wellheim.

In Wellheim, einem kleinen, reizend gelegenen Städtchen am Rhein, war heute die Lese beendet worden und so reichlich ausgefallen, daß allgemeiner Jubel im Orte herrschte. Die Sonne hatte auch den ganzen Sommer und Herbst tüchtig auf die vollen, prachtvoll gebräunten Trauben niedergebrannt, und man durfte auf einen Wein rechnen, der sich den besten Jahrgängen an die Seite stellen konnte. Was Wunder denn, daß man mit dem „alten“ Stoff aufzuräumen suchte und die ziemlich zahlreichen Wirthshäuser in dieser Zeit von munteren Zechern gefüllt waren.

Wellheim lag unmittelbar am Ufer des herrlichen Stromes an einem außerordentlich sonnigen und günstigen Hang, und dicht darüber, so daß man es selbst bergauf bequem in einer halben Stunde erreichen konnte, stand eine jener alten, prächtigen Ruinen – früher die Geißel, jetzt die Zierde des Landes – und schaute mit ihren weiten, öden Fensterhöhlen träumend auf das zu ihren Füßen ausgebreitete wunderschöne Thal hinab.

Schade freilich, daß das alte Schloß so gar verfallen und vernachlässigt war! Da auch dichtes Gebüsch umherwucherte und die alten, steinernen Treppen im Innern den Einsturz drohten, so daß nur manchmal leichtsinnige junge Touristen das Wagstück versuchten, auf ihnen hinaufzuklettern und die Aussicht von da oben zu genießen, wurde die Ruine nur in seltenen Fällen einmal flüchtig von Fremden besucht. Die Bewohner von Wellheim kamen überdies nicht hinauf, und so wusch denn auch mit den Jahren der Regen den steilen, nie ausgebesserten Pfad, der zu der Ruine führte, so aus, daß es zuletzt ein eben solches Kunststück wurde, ihn zu erklimmen, wie die schon halbzerstörten Treppen im Innern des alten Schlosses zu besteigen.

Etwas hatte die Burg aber, wie so viele jener romantischen Stellen am Rhein: ihren Privat-Geist nämlich, und mit den Jahren, da man durchreisenden Engländern doch etwas erzählen mußte, bildete sich eine ordentliche kleine Sage aus.

Dieser zufolge sollte Hugo von Wildenfels, der letzte Raubgraf, der von hier aus in der „guten alten Zeit“ friedliche Bürger überfallen und geplündert hatte, endlich zu einem wunderbar schönen Burgfräulein am anderen Ufer des Rheines in Liebe entbrannt sein und beschlossen haben, seinem ruchlosen Leben zu entsagen. Ob er aber diesen guten und löblichen Vorsatz auch später gehalten haben würde, wenn er seinen Zweck, die Hand der Jungfrau, erreicht, weiß man nicht, denn er war jedenfalls zu spät gekommen. Kaiser und Reich nämlich, der ewigen Klagen müde, sandten ein paar helle Haufen von Rittern und Knappen gegen die Veste, in der sich Hugo von Wildenfels mit großer Tapferkeit vertheidigte. Schließlich jedoch, ob durch List oder Gewalt, sagt die Chronik nicht, drangen die Belagerer in die Burg und übten Vergeltung für jahrelangen Frevel. Während man den „rothen Hahn“ auf’s Dach derselben pflanzte, wurde der Raubritter gefesselt in seinen eigenen Hof geführt und dort, beim Schein der auflodernden Flammen, enthauptet, der Körper aber nachher nicht begraben, sondern in ein brunnenartiges Burgverließ geworfen, in welchem der Lebende viele unglückliche Opfer hatte verschmachten lassen.

Das war das Ende des tapferen Hugo von Wildenfels, das irdische wenigstens, denn es scheint, als ob ihn seine guten Vorsätze nicht im Grabe ruhen ließen. Zu gewissen Zeiten im Jahre sollte er wenigstens gesehen sein, wie er auf der hinausstarrenden Zinne seines verödeten Schlosses stand und den eigenen Kopf hoch in der Hand und nach jener Burg hinüber hielt, in welcher die Auserwählte seines Herzens gewohnt. Ob er sich, indem er ihr den abgeschlagenen Kopf zeigte, damit entschuldigen wollte, daß er sein Wort nicht eingelöst und sie heimgeholt – und allerdings konnte ein solcher Fall als genügender Entschuldigungsgrund gelten – ob er, einem höheren Willen folgend, als abschreckendes Beispiel herumgehen mußte und deshalb nicht die ewige Ruhe fand, man weiß es nicht. Soviel aber ist sicher, daß es keine alte und vielleicht auch wenige junge Frauen in Wellheim gab, die nicht fest daran geglaubt hätten, daß der kopflose Hugo von Wildenfels noch heutigen Tags – oder vielmehr Nachts – dann und wann erschien, und man hätte Manchen im Ort finden können, der bereit gewesen wäre, selber zu beschwören, daß er das entsetzliche Gespenst mit eigenen Augen gesehen.

Uebrigens schien der Ritter seine alte, unheilvolle Thätigkeit jetzt wirklich eingestellt zu haben, denn wenn er sich einmal wieder auf seiner Zinne irgend einem Nachtwandler zeigte, so bedeutete das, wie man sich im Volk erzählte, jedesmal ein gutes Weinjahr, und die Kunde wurde darum immer mit Freuden begrüßt. Drehte sich doch die ganze Existenz der Leute um den Wein.

So war er auch heuer, und sogar zwei Mal, von zwei verschiedenen Leuten gesehen worden; und wie hatte er dabei seinen Ruf bewährt! Es gab gar nicht genug Gefäße im Orte, um nur den süßen Most zu fassen, und der alte Wein schlechterer Jahrgänge wurde um einen Spottpreis verkauft, nur um das Faß zu frischem Gebrauch frei zu bekommen.

Es dämmerte, und im „Burgverließ“, einer kleinen, aber sehr stark besuchten Weinschenke in Wellheim, hatte sich schon ein Theil der Stammgäste eingefunden, um dort, wie sie sich ausdrückten, „ihren Schoppen“ zu trinken. Das Wort „Schoppen“ ist freilich gefällig, denn es enthält gleich im Singular seinen Plural, und [698] daß es nicht bei einem, auch wohl nicht bei drei und vieren blieb, ist sicher.

Trotz der wachsenden Beschäftigung in der Wirthsstube schien aber Rosel, des Wirthes liebliches Töchterlein, doch einen Augenblick Zeit gewonnen zu haben, auf den Hof hinauszueilen und ein paar Worte mit einem jungen Manne zu wechseln, der dort jedenfalls auf sie gewartet haben mußte. Sie fürchtete sich auch gar nicht vor ihm, sondern legte ihr Köpfchen ganz vertrauensvoll an seine Brust und litt es, daß er ihr wieder und immer wieder die Stirn küßte; aber es war ihr doch nicht freudig dabei zu Muthe, denn große helle Thränen standen ihr in den Augen und rollten dann schwer an den Wangen hinab auf ihr Mieder.

Endlich, während er ihr liebe und gute Worte zugeflüstert, wand sie sich aus seinem Arme.

„Ich muß fort, Bruno,“ sagte sie, sich mit der Schürze die verrätherischen Thränen abtrocknend, „Du weißt, der Vater will es nicht leiden, daß ich mit Dir spreche, und das Zimmer ist auch voller Gäste, so daß die Bärbel gar nicht mit ihnen fertig wird, und mehr kommen noch, ein ganzes Boot voll ist den Nachmittag den Rhein hinaufgefahren, und Alle wollten heut Abend bei uns einkehren.“

„Drei Tage hab’ ich Dich jetzt nicht gesehen, Rosel, und kaum drei Minuten kannst Du mir schenken,“ klagte der junge Mann; „das ist recht hart.“

„Aber Du weißt ja doch, daß es nicht von mir abhängt, Bruno,“ bat das Mädchen, „mir thut’s ja selber weh genug, aber kann ich es ändern? Leb’ wohl, ich bleib’ Dir gut, das ist sicher und Du hast mein Wort; nun hab’ Geduld, und vielleicht wird Alles noch besser, als wir denken.“

„Besser als wir denken,“ seufzte der junge Mann; „o, wenn ich Dich hier fort nehmen, wenn ich Dich zu meiner Mutter bringen dürfte, daß Du nur der Gesellschaft erst enthoben wärest!“

„Hab’ nur keine Sorge um mich, Bruno,“ lächelte das junge Mädchen wohl freundlich, aber zugleich auch recht wehmüthig, „ich bin hier schon gut genug aufgehoben. Schau’ nur, daß Du was schaffst und vor Dich bringst, ich halt’ treulich aus.“

„Und Dein Bruder –“

„Er ist nicht so schlimm, wie Du denkst,“ sagte das Mädchen treuherzig, „ein bischen roh wohl, lieber Gott, er hat sich lange in der Welt umhergetrieben, und daß ich den Menschen nicht heirathen will, den er mir zugedacht, mag ihm auch ein wenig in die Krone gestiegen sein, aber sie kennen die Rosel – er und der Vater – und wissen, daß sie, wenn sie ’mal was gesagt hat, nie im Leben davon abzubringen ist, mag’s nun biegen oder brechen.“

„Sie werden Dir so lange zureden –“

„Hab’ keine Angst, da zu dem Ohr geht’s hinein und zu dem wieder heraus; in’s Herz hinunter kommt nichts, verlaß Dich darauf. Aber jetzt muß ich fort, Jesus Maria, der da drinnen reißt mir noch die Klingel ab, es sind gewiß mehr Leute gekommen. Leb’ wohl, Bruno –“

„Und wann seh’ ich Dich wieder?“

„Bist Du morgen Abend noch hier?“

„Ja, aber den ganzen Tag soll ich –“

„Sei morgen früh um neun Uhr auf dem Weg nach der Ruine, vielleicht mach’ ich’s möglich, daß ich ein halb Stündchen abkomme. Die Leut’ haben jetzt Werkeltags viel zu thun und da giebt’s bei uns mehr Zeit. So, schütz’ Dich Gott, Bruno,“ und ihm die Lippen zum Kuß hinhaltend, wand sie sich rasch aus seinem Arm und verschwand im Haus. Aber sie sollte nicht unbemerkt wieder in’s Schenkzimmer schlüpfen, denn ihr Vater, der eben mit einem großen Krug voll Wein aus dem Keller trat, stand im Flur und sagte finster:

„So? Hatt’ ich Dir’s nicht verboten, Dich mit dem adligen Hungerleider wieder einzulassen? und bist Du jetzt nicht draußen auf dem Hof bei ihm gewesen? Durch die Kellerluke hab’ ich Euch gesehen.“

„Was kann er dafür, daß er adlig ist, Vater!“ sagte das Mädchen; „wenn wir das kleine Von vor unserm Namen trügen, wär’ ich auch unschuldig daran.“

„Aber er hat nichts als seinen Dünkel im Kopf,“ brummte der Wirth, „und seiner Sippschaft sind wir ebenfalls ein Dorn im Auge.“

„Wenn er stolz wäre, hielt’ er doch nicht um die Wirthstochter an,“ sagte das Mädchen.

„Soll mich wohl noch bei dem Schreiber bedanken, daß er sich hier in ein warmes Nest zu setzen denkt?“ knurrte der Wirth, „und kurz und gut, ich leid’s nicht, daß Du zu ihm hältst. Er ist nicht stolz, Gott bewahre, und als ich ihm anbot, er sollte hier bei mir eintreten und die Wirthschaft lernen, was antwortete er da? Das dürfe er seiner Familie nicht zu Leide thun. Ei, zum Geier! sie haben das Brod kaum, was sie essen, und die alte, hochnäsige Baronin schleppt das alte, schwarze Seidenkleid schon so lange, daß man jeden Faden daran erkennen kann; aber versteht sich, Seide muß es sein und Spitzen drum herum und Blumen und Federn auf dem Hut. Kommt er mir noch einmal über die Schwelle, Gott straf’ mich, wenn ich ihm nicht schneller hinaushelfe, als er eingetreten ist.“

„Aber Vater –“

„Jetzt marsch, fort mit Dir, da drinnen sitzt die Stube voll Gäste und Du treibst Dich indessen draußen im Hof mit dem Lump herum; mach’, daß Du hineinkommst, und nimm den Krug mit – es ist guter.“

Rosel zögerte einen Moment; das Blut hatte bei den letzten Worten ihre Wangen verlassen und ein eigenes Feuer glühte aus den dunklen Augen des Mädchens – aber es war ja ihr Vater – sie durfte sich ihm nicht widersetzen. Nur mit einem schweren, recht aus voller Brust herausgeholten Seufzer nahm sie den Krug auf und ging an ihre Arbeit, während der Wirth, Paul Jochus, langsam und sich selber wenig genug um die zahlreichen Gäste kümmernd, in seine eigene Stube hinaufstieg und sich dort einschloß.

Paul Jochus hatte eigentlich eine recht lange Zeit keinen besonders guten Ruf in Wellheim gehabt, und gesellig verkehren mochten selbst jetzt noch nur Wenige mit ihm. Er war rauh in seinem Wesen und verschlossen, mit der üblen Angewohnheit dabei, daß er, wenn er mit Jemandem sprach, ihm nie in’s Auge, sondern immer bald auf die rechte, bald auf die linke Schulter sah. Außerdem blieb es in der kleinen Stadt, wo derartige Familienverhältnisse nicht geheim gehalten werden können, eine bekannte Thatsache, daß er seine verstorbene Frau, ein liebes, sanftes Wesen, stets roh und unfreundlich behandelt hatte, so daß sie sich, auch noch von Nahrungssorgen gequält, langsam aber sicher zu Tode grämte.

Es mußte damals in der That mit Paul Jochus’ Verhältnissen scharf bergunter gegangen sein; er hatte gespielt und viel Geld verloren und sich dann dermaßen dem Trunk ergeben, daß sämmtliche anständige Gäste sein Haus mieden und schon das Gerücht in der Stadt ging, das „Burgverließ“ würde nächstens von Gerichtswegen öffentlich versteigert werden, nur um die aufgelaufenen Schulden zu bezahlen.

Sein Sohn erster Ehe, Franz, war inzwischen draußen in der Fremde gewesen; er hatte sich mit der Stiefmutter nicht vertragen können, weil ihm diese das nicht wollte hingehen lassen, was sie bei dem Gatten nicht hindern konnte. Er war Künstler geworden, wie er sich nannte, als er zurückkam, Kupferstecher und Lithograph, und beabsichtigte, sich jetzt am Rhein niederzulassen.

Da starb die Mutter, und erst nach ihrem Tode mochte Paul Jochus wohl fühlen, was er an ihr gehabt, was er an ihr gesündigt, denn er ging eine Weile wie gebrochen umher und hatte dabei das Trinken fast ganz aufgegeben. Er sah auch wieder fleißig nach seiner Wirthschaft, und wenn auch noch immer nur sehr wenige Gäste bei ihm einsprachen, schien es doch, als ob sich seine Umstände von Tag zu Tag wieder besserten. Vom Verkauf des Grundstücks war keine Rede mehr, ja sogar die aufgelaufenen Schulden wurden nach und nach abbezahlt, und da Rosel indeß herangewachsen war und dem Schenkzimmer selber vorstehen konnte, zog sie durch ihr freundliches Wesen bald wieder eine Menge Gäste in’s Haus, doch ohne sich je das Geringste gegen einen derselben zu vergeben. Ueberhaupt hatte das junge Mädchen trotz ihres zarten Alters etwas ungemein Bestimmtes in ihrem ganzen Wesen, und die Wellheimer wußten, was sie sagten, wenn sie die Rosel „ein wahres Prachtmädel“ nannten.

Wo nur der Jochus das viele Geld herbekam? So viel warf die Wirthschaft doch nicht ab, das konnten sie ihm recht gut nachrechnen, und in den letzten zwei Jahren hatte er sich ein Stück [699] Weinberg nach dem andern gekauft. Einige sagten zwar, der Sohn habe Geld mit aus der Fremde gebracht; Andere wollten behaupten, der alte Jochus hätte eine Erbschaft gemacht – wo es aber auch herkam, von Jochus selber erfuhren sie es nicht, denn der war eher noch verschlossener als sonst, aber jetzt auch, was sich nicht leugnen ließ, ein vollkommen anderer und ordentlicher Mensch geworden. Wenn er mehr Geld hatte als früher, verthat und verpraßte er es nicht, sondern legte es auf vernünftige Weise an, und da er keiner Seele mehr etwas schuldete, brauchte sich auch Niemand darum zu kümmern, woher ihm seine Mittel flossen.

Franz, sein Sohn, war kurze Zeit bei ihm im Haus gewesen, und es hieß einmal, er wolle sich in Wellheim selber etabliren. Der kleine Ort würde ihm jedoch kaum Beschäftigung genug geboten haben, und wenn er je den Plan gefaßt, gab er ihn wieder auf. Er hatte sich auch gleich einen Compagnon mitgebracht, einen jungen Herrn aus Berlin, der sich immer fein kleidete, immer Glacéhandschuhe trug und sich natürlich gleich nach den ersten vierundzwanzig Stunden sterblich in Rosel verliebte, ja, ihr sogar seine Hand anbot und von dem Bruder lebhaft dabei unterstützt wurde. Rosel mochte ihn aber vom ersten Augenblick an nicht leiden, denn er hatte etwas Freches und Spöttisches in seinem Wesen, und als er sogar noch zudringlich wurde, fertigte sie ihn so entschieden, auf nicht mißzuverstehende Weise ab, daß er seine Werbung nothgedrungen einstellen mußte.

Franz hatte danach einen heftigen Aufritt mit Rosel, und da sich die Geschwister überhaupt nicht recht vertragen konnten, siedelten die beiden jungen Männer nach Hellenhof, einer größeren Stadt, über, die etwa anderthalb Stunden von Wellheim entfernt, doch tiefer im Land, vom Rhein ab lag. Dort, hieß es, wollten sie sich niederlassen, und dort blieben sie auch, und nur sehr selten kam Franz noch manchmal nach Wellheim zum Besuch herüber, wobei er dann nie verfehlte der Schwester von seinem Compagnon vorzureden, wenn gleich immer vergeblich.

Der alte Jochus hatte sich indessen fast ganz von dem „Geschäft“ zurückgezogen, bei dem er fast nur noch den Einkauf des nöthigen Weines und das Keltern des eigenen besorgte. Sonst freilich saß er manchmal bis Mitternacht und noch länger bei den Gästen unten in der Stube, trank mit ihnen oder spielte Karten. Jetzt aber, seit er ordentlich geworden, zog er sich an jedem Abend auf seine Stube zurück und mußte dann auch jedenfalls gleich zu Bette gehen, denn man hörte ihn nie lange in seinem Zimmer.

Heute schien er sich noch früher loszumachen. Er war den ganzen Tag mürrisch und verdrießlich gewesen und hatte Stunden lang auf einem Stuhl in der Ecke gesessen und vor sich nieder gestarrt. Es ging ihm jedenfalls etwas im Kopf herum, einem Menschen aber vertraute er’s nicht an, am wenigsten der Rosel, wenn er sie auch sonst lieb genug hatte. Diese wußte auch schon, daß solche böse Stunden – und jetzt öfter als früher – wohl manchmal über ihn kamen. Wenn man ihn aber dann in Ruhe ließ, gingen sie auch wieder von selber vorüber, und am nächsten Morgen geschah es dann nicht selten, daß er lustig im Haus herumpfiff und ein ganz anderer Mensch geworden schien.

Der Rosel war es deshalb recht lieb, daß er sich heute so früh abschloß. Der böse Geist, der in ihm stak, mußte eben austoben, nachher sah er die Welt wieder mit freundlicheren Augen an, und morgen ließ sich vielleicht auch ein vernünftiges und ruhiges Wort mit ihm über Bruno reden. Vor zehn Uhr stand der Vater doch nie auf, kam wenigstens, schon seit langen Monden, nie früher zum Vorschein, und um neun Uhr hatte sie ja Bruno auf den Weg bestellt. Da wollte sie mit ihm Rücksprache nehmen, und wenn möglich, einen Plan für ihr künftiges Leben fassen. Jetzt aber schüttelte sie alle die Gedanken ab, denn da drinnen gab’s wahrlich genug zu thun und Bärbel, das Schenkmädchen, und Caspar, ein armer Verwandter, den Jochus als angehenden Kellner in’s Haus genommen, hatten alle Hände voll Arbeit.


2. Beim Wein.

Das Burgverließ, wie das Haus nach der Weinstube im ganzen Städtchen genannt wurde, war eines jener altmodischen geschnörkelten Giebelhäuser, wie man sie noch so häufig am Rheine findet. Es hatte kleine, enge, steinerne Treppen und oben ziemlich kleine Zimmer, einen mächtigen Keller aber unter dem Haus, und das Parterre ebenfalls gewölbt gebaut, mit einem großen Zimmer links vom Eingang, das als Schenkstube benutzt wurde, und einem kleinen rechts, welches früher das Wohnzimmer von Rosel’s Mutter gewesen und jetzt nur, in seltenen Fällen, als „gute Stube“ dienen mußte. Rosel hatte ihr Schlafzimmer oben, und die Dienstleute schliefen hinten hinaus.

Das Haus selber lag nicht unmittelbar am Rhein, sondern stieß vielmehr durch seinen Garten an ein kleines Haseldickicht, das, seiner nicht günstigen Lage wegen, noch nicht zu Weinbergen benutzt worden war und, in einer engen Schlucht oder Delle fortlaufend, sich weiter oben an den eigentlichen Wald anschloß. In früheren Jahrhunderten hatte die Stadtmauer diesen Platz umgeben, und wenn sie auch jetzt an allen den Stellen, die sich vortheilhaft zum Bebauen zeigten, fortgeräumt worden war und keine Spur mehr zurückgelassen hatte, so hatte man sich hier doch nicht die Mühe gegeben, die alten schweren Steine aus dem Wege zu schaffen. Die Mauer verwitterte allerdings mit der Zeit, aber das Geröll blieb liegen, und nur im Herbst war es über Tag ein Haupttummelplatz der Wellheimer Jugend, da dort eine Unmasse herrlicher Brombeeren wuchsen und die Haselnüsse ebenfalls ihre Anziehungskraft ausübten.

Doch Niemand kümmerte sich heute mehr um den kleinen Garten, den Rosel selber pflegte und auch trefflich in Stand hielt. Es war völlig dunkel geworden und wenn sich im heißen Sommer die Gäste auch manchmal ihren Schoppen hinaus in die freundliche Weinlaube nahmen und dort bis zehn oder elf Uhr im Freien saßen, so trat der Herbst doch schon zu kühl auf, um das jetzt noch zu gestatten.

So mochte es zehn Uhr geworden sein, und manche der älteren Stammgäste, die gewohnt waren zu rechter Zeit in’s Bett zu gehen, hatten das Burgverließ verlassen und ihren Heimweg angetreten. Dagegen war frischer Zuwachs gekommen und das Boot, von dem der alte Jochus schon zu Rosel gesprochen, von seiner etwas verspäteten Fahrt den Rhein herab zurückgekehrt. Das junge Volk hatte den Abend oben in irgend einer alten Ruine verbracht und auch wohl tüchtig dabei gezecht, aber versäumt, noch etwas für den Heimweg mit in’s Boot zu nehmen und natürlich auf der zweistündigen Fahrt wieder tüchtigen Durst bekommen.

Es war eine lustige Reisegesellschaft aus Thüringen, auf einer Vergnügungsfahrt begriffen und mit eben gerade genug Geld in der Tasche, um den alten Vater Rhein zu besuchen und einmal auf ein paar Tage Arbeit und sonstige Scherereien zu vergessen. Sie sangen dabei ganz prächtige Lieder mit vollen melodischen Stimmen, und Rosel, die gar so gern singen hörte, setzte sich nicht weit von ihnen auf den Stuhl an’s Fenster und überließ der Bärbel jetzt vollständig das Bedienen der Gäste, deren Reihen sich schon ordentlich gedünnt hatten. Eigentlich fand man sonst um diese späte Stunde wenig mehr Leben in den Weinhäusern von Wellheim, aber gerade die jungen munteren Fremden mit ihren hellen Stimmen und prächtigen Liedern hielten auch heute manchen alten Knaben länger als gewöhnlich bei seinem Schoppen, und selbst als die Lieder verstummt waren, plauderte man noch zusammen.

Die Fremden wollten den morgenden Tag noch hier verbringen und erst gegen Abend stromab gehen; sie erkundigten sich deshalb, was es in der Nachbarschaft Sehenswerthes gäbe.

„Ei,“ rief da der Bäckermeister Bollharz, eine kleine kugelrunde Gestalt, der, wenn er lachte, gar keine Augen im Gesicht zu haben schien, weil sie vollkommen hinter den fettgepolsterten Backen verschwanden, „da müßt Ihr jedenfalls einmal unsere Ruine besuchen, die ist es schon der Mühe werth, und junges lustiges Volk wie Ihr seid, klettert auch wohl die alten Treppen hinauf, und von da oben hat man eine ganz wundervolle Aussicht.“

„Seid Ihr schon einmal oben gewesen, Meister Bollharz,“ lächelte Rosel, die sich die kleine unbeholfene Gestalt auf der schmalen, geländerlosen Treppe dachte.

„Gewiß bin ich, Jungfer Naseweis,“ nickte der behäbige Mann, „und das mehr als einmal, und noch dazu hinaufgelaufen wie ein Wiesel – das sind aber freilich so ein Jahrer dreißig her und jetzt, mit meiner Wohlbeleibtheit würde es auch nicht mehr so leicht gehen, keineswegs so geschwind. Steigt nur [700] auf meine Verantwortung hinauf und stattet dem alten Nest einen Besuch ab – es liegt so jetzt öde und einsam genug zwischen den Büschen, und der alte Wildenfels muß schmähliche Langeweile haben.“

„Wer?“ frug Einer der Fremden, „der alte Wildenfels? wohnt denn Jemand oben?“

„Wohnen? Gott soll uns bewahren, wer möchte in dem alten Eulennest wohnen,“ sagte ein anderer der Gäste, der Stadtschreiber Mahler, indem er über seine Brille hinweg nach dem Fremden sah. „Hugo von Wildenfels, wie der letzte Bewohner jener Raubburg hieß, soll dort, der Volkssage nach, noch hausen und manchmal, den abgeschlagenen Kopf in der Hand, auf den Zinnen spazieren gehen.“

„Alle Wetter, das wäre interessant, dem zu begegnen!“ lachte einer der jungen Leute.

„Soll nur da hausen, Herr Stadtschreiber?“ sagte ein kleines graues Männchen, das etwas abseits von den übrigen an seinem Schoppen saß und bis jetzt ununterbrochen Wallnüsse dazu geknackt hatte; „ich dächte wir hätten hier in Wellheim doch genügend Beweise, daß er wirklich gesehen ist, denn die Achtbarkeit der Zeugen läßt sich nicht bestreiten.“

„Mein lieber Herr Registrator,“ rief ein junger Beamter, „wer hat ihn denn eigentlich gesehen? Ihr Vetter der Apotheker, und was das für ein Windbeutel ist, wissen wir Alle zusammen.“

„So?“ sagte das alte, etwas engbrüstige Männchen gereizt, „und meine Schwägerin – Gott hab’ sie selig – hat wohl nicht vor jetzt drei Jahren fast den Tod vor Schreck gehabt, als sie eines Abends mit einer Gesellschaft von Hellenhof herüberkam und in ihrem Uebermuthe noch einen Abstecher nach der Burg machte? Sie hat nachher sechs Wochen das Bett hüten müssen, so war ihr der Schreck in die Glieder gefahren.“

„Na,“ nahm da noch ein Anderer des Registrators Partie, ein pensionirter Steuerbeamter, der hier in Wellheim seine kleine Pension verzehrte, „ich dächte doch, wir hätten auch in diesem nämlichen Jahr Beweise genug, denn zweimal hat er sich da gezeigt und jedes Kind weiß, was für ein gutes Weinjahr das jedesmal verspricht. Der alte Gärtner Weber, dem gewiß Niemand nachsagen kann, daß er lügt, hat ihn selber das eine Mal gesehen, und das zweite Mal Ihr eigener Bruder, Rosel, der doch auch sonst nicht gerade abergläubisch ist.“

„Und ich glaub’s doch nicht,“ sagte Rosel, die, beide Ellbogen mit beiden Händen haltend, lächelnd dem Gespräch zugehört hatte, „und wenn’s selber mein Bruder gesehen haben wollte.“

„Junges, übermüthiges Blut,“ sagte der alte Registrator, „glaubt nur immer das, was es selber sieht, und selbst das nicht immer, muß erst durch Schaden klug werden, und wenn ältere Leute etwas sagen, so wird gewöhnlich darüber gelacht und gespottet.“

„Ach, bester Herr Registrator,“ erwiderte Rosel freundlich, „glauben Sie ja nicht, daß ich spotten wollte; nur die Geschichte von dem Ritter, der den Kopf unter dem Arme tragen soll, kommt mir so wunderbar vor, denn wenn dort oben noch etwas von dem alten Herrn von Wildenfels umgeht, so kann es doch nur der Geist desselben sein und nicht der Körper, und ein Geist kann doch wohl nicht mit abgeschlagenem Kopf umherwandern, denn wer wäre im Stande einem Schatten den Kopf abzuhauen.“

„Du redest gerade wie Du’s versteh’st, Kind,“ sagte der Registrator, ein alter Stammgast des Hauses, der auch bei der Rosel Pathe gestanden und sie oft auf dem Arme herumgetragen hatte, weshalb er sie auch noch immer Du nannte. „Der Schatten ist doch nur der Wiederschein des Körpers, und wenn man einem solchen den Kopf herunterschlägt, so kann ihn doch der Schatten nicht aufbehalten. Der Schatten wird natürlich nicht enthauptet, aber der Körper, und dadurch zugleich der Schatten.“

„Mein liebes Fräulein,“ bemerkte jetzt der alte Steuerbeamte, der ‚Herr Hauptcontroleur‘ in der Stadt betitelt wurde, da sich ein Mensch ohne Titel nicht gut denken ließ und nie im Leben hätte auf Pension Anspruch machen können, „Sie werden gewiß nicht leugnen wollen, daß es Dinge auf Erden giebt, die unser Verstand zu schwach ist zu begreifen, und daß wir durchaus noch nicht mit unseren Seelenkräften im Klaren sind, in wie weit wir mit einer anderen Welt in Verbindung treten können. Auch soll man Gott nicht versuchen, liebes Fräulein,“ setzte der Alte ernst hinzu, „und ein guter Christ hat an den Stätten, wo der Herr irrende Seelen zur Strafe umwandeln läßt, in der dafür bestimmten Nacht nichts zu suchen.“

„Lassen Sie’s sein, Herr Hauptcontroleur,“ lachte der Bäckermeister; „die Rosel ging auch nicht bei Nacht zu dem alten Schlosse hinauf. Bei solchen unheimlichen Geschichten ist uns Allen nicht geheuer, und es überläuft Einen schon ein ganz merkwürdiges Gefühl, wenn man einmal Nachts im Holze draußen nur einem


Das Ständchen.
Illustriert von Carl Schlesinger. ( Aus Bodenstedt’s Album.)

[701] ganz gewöhnlichen Menschen begegnet – viel weniger denn in einem solchen alten Raubschlosse, wo früher so viele Unschuldige hingerichtet wurden und so viel Blut vergossen ist, einem derartigen Gespenst mit dem Kopf unter dem Arme. Ich bin auch nicht abergläubischer als Andere, aber ich glaube, mich rührte der Schlag vor Schreck, wenn mir einmal eine solche Gestalt in den Weg liefe.“

„Bah,“ sagte Rosel, verächtlich lächelnd, „Ihr urtheilt von Euch auf Andere, Meister Bollharz. Ich bin nur ein Mädchen, aber wenn es eine Wette gälte – ich ginge selber hinauf und bewiese Euch, daß Ihr Unrecht habt.“

„Hoho, Rosel,“ lachte der Bäckermeister, „das hab’ ich noch gar nicht gewußt, daß Sie auch prahlen können. Wenn ich Sie nun beim Worte nähme?“

„Ei, so thut’s!“ rief das junge Mädchen, während ihr in der Erregung des Augenblicks das Blut voll in Gesicht und Schläfe stieg – „was ich gesagt habe, habe ich gesagt.“

„Und Du wolltest jetzt bei Nacht allein hinauf in die Ruine gehen?“ rief der Registrator erschreckt. „Kind, versündige Dich nicht, denn schon ein solcher Gedanke ist gottlos.“

„Weil sie weiß, daß sie Niemand beim Worte nimmt,“ lachte der Bäckermeister. „He, Bärbel, gieb mir noch einen Schoppen – das ist aber wahrhaftig der letzte –“

Die jungen Fremden lachten – nicht über Rosel’s Anerbieten, sondern über den kleinen dicken Mann, der schon seit einer Stunde immer seinen ‚letzten‘ Schoppen bestellte, und doch nicht vom Fleck zu bringen war; das junge Mädchen aber, überhaupt heute Abend durch das Zusammentreffen mit Bruno und die harten Worte des Vaters gereizt, rief aus:

„Und wenn ich Euch nun beim Worte nähme, Meister Bollharz? Ihr habt die zwei schönen großen Orangenbäume, die Ihr mir immer nicht verkaufen wolltet. Sollen die mein sein, wenn ich jetzt – in diesem Augenblick nach der Ruine hinauf und hinein gehe und Euch auf irgend eine Art ein Zeichen bringe, daß ich dort gewesen?“

„Mädel, bist Du des hellen Teufels?“ sagte der Registrator erschreckt.

„Bravo, mein Fräulein!“ riefen lachend die jungen Leute, die noch immer nicht an den Ernst der Sache dachten und sich nur über das verdutzte Gesicht des kleinen dicken Bäckers amüsirten – „er hat die Lust am Wetten schon verloren.“

„So, meine Herren?“ sprach der Bäcker, ebenfalls mit einer tüchtigen Schoppenladung im Kopfe, von seinem Stuhle aufspringend und mit der Hand auf den Tisch schlagend, „das hat er aber noch lange nicht. Die beiden Orangenbäume sollen Ihnen gehören, Rosel, wenn Sie jetzt – und es muß bald Mitternacht sein – dort hinauf gehen, und ich will mein Lebstag ein Lügner heißen, wenn ich sie nicht selber herunter schicke.“

„Gut,“ rief das junge Mädchen, entschlossen sich von ihrem Platz erhebend, „ich gehe! die Wette gilt!“

„Wenn Sie aber nicht hinaufgehen und wieder unverrichteter Sache herunter kommen?“ frug der kleine Bäcker, dem doch schon um seine vielleicht zu leichtsinnig versprochenen Orangenbäume bange wurde.

„Dann bekommen Sie von mir jenen Kuß,“ sagte das junge Mädchen – und während sich ihr Antlitz blutroth färbte, spielte doch zugleich ein spöttisches Lächeln um ihre Lippen – „um den Sie mich schon so oft gebeten haben.“

Ein schallendes Gelächter belohnte die Abfertigung des kleinen Mannes.

Meister Bollharz war aber jetzt auch böse geworden. „Gut, Sie kleiner Trotzkopf, Sie,“ sagte er, „jetzt wollen wir doch einmal sehen, ob die Sache mit Prahlen abgemacht ist. Wenn Sie hinauf in die Ruine gehen und hinein in den Burghof, wo der steinerne Tisch steht, und dort von den Schößlingen, die daneben aus dem Boden gewachsen sind, einen abschneiden und mit herunter bringen, daß ich mich morgen früh überzeugen kann, Sie sind wirklich oben gewesen, so haben Sie bis morgen Mittag die Orangenstöcke im Hause und ich thue Ihnen öffentliche Abbitte, Ihren Muth angezweifelt zu haben.“

„Topp!“ rief das Mädchen, „es gilt!“ und wandte sich rasch der Thür zu; der alte Registrator ergriff sie aber noch am Arm und rief halb bittend, halb ermahnend:

„Rosel, mach’ keinen dummen Streich! Dein Vater ist jetzt nicht hier, daß er’s Dir verbieten könnte, aber ich leid’s ebenfalls nicht, und wenn Du auf Deinem Trotzkopf bestehst, geh’ ich hinauf und weck’ ihn.“

(Fortsetzung folgt.)



Das Erkennen.
Illustriert von Paul Thumann. ( Aus Bodenstedt’s Album.)

[702]
Deutsches Lied und deutsches Bild.
Ein Wink für den Weihnachtstisch.
(Mit Illustrationen.)


Nur Wenige haben noch die Muße oder die geistige Sammlung und Concentration, aus den Quellen unserer Literatur, unserer Gedankenproduction, unserer Poesie sich selbst das ihnen Verwandte, Sympathische, Denkwürdige, das Gelungene und Vorzügliche auszuwählen, unser rasch lebendes Geschlecht will vielmehr gleich sein Mahl fix und fertig präparirt und aufgetischt erhalten und sich sonder Mühe daran letzten. Darum greift das Publicum mit solcher Vorliebe zu jenen sogenannten Blüthenlesen, Anthologien, Chrestomathien, „Lichtstrahlen“ aus den Schöpfungen unserer Dichter und Schriftsteller, wie sie jedes Jahr uns neu auf den Christtisch legt.

Auch jetzt beginnen diese Vorboten der lieben Weihnachtszeit bereits in die Welt hinaus zu flattern, und es freut uns, darunter namentlich auf eine Erscheinung aufmerksam machen zu können, die mehr als die gewöhnliche Bedeutung dieser Dutzendbücher hat, weil sie in der That zugleich ein Kunstwerk ist. Es ist das demnächst zur Veröffentlichung gelangende

„Album deutscher Kunst und Dichtung“,

in welchem einer unserer ersten Poeten, Friedrich Bodenstedt, mit bewährtem Dichterblicke eine Reihe unserer schönsten deutschen Lieder, Romanzen, Balladen zu einem prächtigen Strauße zusammengebunden und so in einem organisch verwachsenen Ganzen ein Bild deutschen Lebens und Geistes geboten hat. Viele der gefeiertsten deutschen Maler in Düsseldorf und München, in Berlin und Dresden, in Carlsruhe und Weimar aber haben das Album mit einer großen Anzahl ausgezeichneter Illustrationen, theils größeren Compositionen, theils Randzeichnungen und Vignetten, geschmückt, die in wahrhaft künstlerischer Weise im Holzschnitt wiedergegeben sind.

Daß wir nicht zu viel sagten, wenn wir dem Buche eine mehr als gewöhnliche Bedeutung beilegten, werden die vorstehenden Proben daraus darthun, die uns die Freundlichkeit des Verlegers – C. Grote in Berlin – schon jetzt mitzutheilen gestattet, um das Werk dergestalt sich auf das Wirksamste selbst empfehlen zu lassen. Das erste unserer Bilder, von Carl Schlesinger in Düsseldorf gezeichnet, gilt einem Liede Robert Reinick’s, aus dem uns das sinnige, reine, sonnenhelle Gemüth des leider so früh uns entrissenen Malers und Dichters warm entgegentritt. Es lautet:

Das Ständchen.

In dem Himmel ruht die Erde,
Mond und Sterne halten Wacht;
Auf der Erd’ ein kleiner Garten
Schlummert in der Blumen Pracht; –
Gute Nacht, gute Nacht!

In dem Garten steht ein Häuschen,
Still von Linden überwacht;
Draußen vor dem Erkerfenster
Hält ein Vogel singend Wacht. –
Gute Nacht, gute Nacht!

In dem Erker schläft ein Mädchen,
Träumet von der Blumen Pracht:
Ihr im Herzen ruht der Himmel,
Drin die Engel halten Wacht. –
Gute Nacht, gute Nacht!

Unsere zweite Illustration, dem kunstreichen Griffel Paul Thumann’s in Weimar entsprossen, dem die Gartenlaube schon so manches liebe Bild verdankt, bedarf keines Commentars. Alle Welt hat es ja schon gesungen oder singen hören, jenes ergreifende Lied Joh. Nepomuk Vogl’s vom „Wanderburschen mit dem Stab in der Hand“, der „wieder heimkommt aus dem fremden Land“, und den Niemand mehr erkennt, als sein altes Mütterlein, denn

„Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
Das Mutteraug’ hat ihn doch gleich erkannt.“




Eine deutsche Klage.
Von Friedrich Hofmann.


Durch alle Zeitungen lief in der vorletzten Woche des October folgende Notiz: „Durch einen der Unfälle, wie sie in den Straßen Londons leider gar zu häufig sind, ist der Erfinder der Schiffsschraube, James Lowe, um’s Leben gekommen.“ – James Lowe? Was war der Mann? Hat früher Jemand von ihm gehört? Der Erfinder der Schiffsschraube, der vierten von den weltwichtigsten Erfindungen des Jahrhunderts! Und dennoch außerhalb Englands so ganz unbekannt? Es ist nicht Sitte unserer germanischen Stammverwandten jenseits des Canals, das Licht der Ehre ihrer Erfinder so bescheiden unter den Scheffel zu stellen. Warum in diesem Fall solch’ seltsame Ausnahme?

Wir wollen dies unseren deutschen Landsleuten auf das Gründlichste erklären.

Der Erfinder der Schiffsschraube ist ein Deutscher, ist derselbe Joseph Ressel, welchem am 18. Januar 1863 vor dem Polytechnicum zu Wien ein ehernes Denkmal errichtet worden ist. Vor drei Jahren lief die Notiz von der feierlichen Enthüllung dieser Erzbildsäule durch dieselben Zeitungen, und schon heute ist der deutsche Erfinder vergessen! Nicht eine einzige Redaction hat wenigstens ein bescheidenes Fragezeichen hinter das Wort „Erfinder der Schiffsschraube“ gewagt oder auf Joseph Ressel hingewiesen, sondern gedankenlos haben alle die englische Angabe nachgedruckt! Um so mehr fühlen wir uns verpflichtet, gerade jetzt die Frage zu beantworten: Wie belohnte man diese deutsche Erfindung in England?

Neben der gänzlichen Ignorirung Joseph Ressel’s durch die deutsche Presse ist nichts bezeichnender für den Werth deutscher Denkmale, als die Thatsache, daß der Sohn Ressel’s für die Ausführung der übrigen Erfindungen seines Vaters und seiner eigenen sich die Hülfe in Amerika suchen muß. In der Heimath, in Oesterreich, konnte sich nur ein „Comité für das Ressel-Denkmal“ bilden; als sein Zweck erreicht war, ging es auseinander. Man hatte sich mit den Ansprüchen der öffentlichen Meinung abgefunden: der an den geistigen Zuständen seines Landes untergegangene Mann genoß die bekannte deutsche Verehrung nach dem Tode. Hätte man ihm im Leben nur einmal die Hälfte der Summe gegeben, die sein Denkmal gekostet, wie glücklich wäre nicht blos er gewesen, nein: wie glücklich hätte er Oesterreich gemacht! Seine schöpferische Kraft würde im Stande gewesen sein, die so oft citirten und ewig unsichtbaren „unerschöpflichen Hülfsmittel des Kaiserstaates“ hervorzuziehen aus Meer und Land, aus den Urwäldern und Erzbergen, aus den Strömen und Seen, aus den Kornauen und Pußten. Ressel’s naturwissenschaftliche und technologische Kenntnisse ließen ihn in keiner Werkstatt und industriellen Anlage fremd sein, sein gottgesegnetes Auge sah in zahlreichen Stoffen, welche die Unkenntniß als nutzlos oder gar schädlich wegwirft oder vernichtet, neue Mittel lohnender Arbeit und wachsenden Volkswohlstandes. Genies wie Joseph Ressel erzeugt jedes Jahrhundert nur wenige; das Denkmal in Wien schien ein Zeugniß dafür zu sein, daß man des Mannes unschätzbaren Werth endlich erkannt habe: was lag dann aber näher, als der Gedanke, daß, nachdem die eine Erfindung des Gefeierten sich als so weltwichtig erwiesen, man nun um so eifriger an die Erprobung und Ausführung seiner sämmtlichen anderen Erfindungen zu gehen und deren Ausbeutung für Oesterreich zu sichern habe?

Kopfschütteln ist nicht genug, man ballt die Faust und stößt [703] böse Worte aus, wenn man sieht, wie fern dieser Gedanke in Oesterreich gelegen; es mußte sich erst ein „Nordamerikanisches Ressel-Comité“ in New-York bilden und sich die Aufgabe stellen, für die Ausführung der Schöpfungen Ressel’s, die fortan nicht mehr einer einzigen Regierung, sondern der ganzen Welt angehören sollen, um bereitwillige Hände zu werben, und dort mußte eine Broschüre über „Joseph Ressel und die von der englischen Regierung für den ersten Erfinder des Schraubenpropellers ausgeschriebene Prämie“ erscheinen, um die „Gerechtigkeit über das Grab hinaus einem bei Lebzeiten feig und schändlich betrogenen Wohlthäter der Menschheit widerfahren zu lassen und Wahrheit an der Stelle der Lüge in der ewig lebenden Geschichte festzustellen“.

Das Interesse unserer Leser habe ich bereits durch einen Artikel der Gartenlaube von 1863, Nr. 8 (Joseph Ressel und Wilhelm Bauer, eine Schicksals-Parallele“) und noch einmal 1864 (in Nr. 20: „Drei große deutsche Erfindungen dieses Jahrhunderts und ihre Schicksale“) auf den bedeutenden Mann hinzulenken gesucht.

Der Gedanke, für die Schraube des Archimedes das Wasser als Schraubenmutter zur Fortbewegung von Schiffen durch die Dampfkraft zu benutzen, stand schon 1812 klar vor ihm, aber – „wo die Schraube anbringen?“ – Diese Frage beschäftigte ihn noch 1821, als er (als k. k. Waldmeister) nach Triest kam. „Vorne, oder zur Seite, ist sie den Wellen ausgesetzt, also dachte ich mir sie zwischen Hintersteven und Ruder. Ich machte kein Geheimniß daraus. Die Stellung der Schraube hat aber allgemein mißfallen.“ So schreibt Ressel in seiner „Geschichte der Schraube im Vaterlande“. Diese Stellung hat sich jedoch bis heute bewährt und die durch dieselbe bewirkte Sicherheit der Schraube ist’s, die ihr in der Schifffahrt, sowohl für Kriegs-, wie für wissenschaftliche und Industrie-Zwecke, ihre außerordentliche Bedeutung verlieh. Trotz alledem galt die Erfindung in Triest noch 1827, wo Ressel sie zuerst, und zwar nur mit Menschenkraft, aber doch sehr gelungen, probirte und ein Patent auf sie nahm, für eine Spielerei, die sogar vor gemeinem Spott nicht sicher war.[1]

Joseph Ressel hatte nämlich (wie im Jahrgang 1863 der Gartenlaube, S. 125 und 126, ausführlich erzählt ist) erst mit Hülfe einer zu gründenden Actiengesellschaft und, als dies von der Triester Polizei ihm, einem Engländer zu Liebe, welcher das Privilegium der Dampfschifffahrt zwischen Triest und Venedig besaß, verboten wurde, in Verbindung mit dem Großhändler Fontana in Triest sein Patent auszubeuten gesucht. Auf Ministerialbefehl sollte jedoch „die Sache ganz inländisch“ sein, d. h. Schiff, Schraube und Dampfmaschine in Oesterreich gebaut werden, eine hinsichtlich der letzteren verhängnißvolle Bestimmung, weil der österreichische Maschinenbau damals noch sich sehr in seiner Kindheit befand. Ueber Jahr und Tag verfloß, ehe die Dampfmaschine fertig war, und erst im Hochsommer 1829 konnte die Civetta, der erste Schraubendampfer der Welt, auf der Triester Rhede zur Probefahrt auslaufen. Die Probe gelang vortrefflich, das Schiff mit der Maschine von nur sechs Pferdekraft erreichte eine Geschwindigkeit von sechs Seemeilen in der Stunde; aber an der Dampfmaschine schmolz während der Fahrt ein Rohr, und deshalb untersagte die Triester Polizei alle ferneren Versuche! Das war Anfang und Ende der Schraube Ressel’s in Oesterreich.

Während Ressel im Jahre 1828 auf die Dampfmaschine für die Civetta wartete, machte er die Bekanntschaft eines Herrn Bauer (nicht unser Submarine-Ingenieur, der damals erst fünf Jahre alt war), der ihm und Fontana versprach, der Erfindung in Frankreich und England Aufnahme zu verschaffen, und der deshalb mit genauer Zeichnung und Beschreibung der Schraube versehen wurde. Wirklich gewann er drei Franzosen für die Sache; Ressel reiste, von Fontana unterstützt, nach Paris und machte hier, auf dem großen Canal beim Elephanten, eine ebenfalls gelungene Probefahrt mit einem Schraubenboot, worauf die drei Herren die Erfindung für sich selbst patentiren ließen. Durch diesen Betrug kam die Schraube nach Frankreich, ohne jedoch dort rechtes Gedeihen zu finden.

Offenbar war es derselbe Bauer, der sie 1829 nach England brachte, denn im Juli dieses Jahres nahm dort ein Kaufmann Cummerow ein Patent auf eine Schraube, die ihm „von einem im Auslande wohnenden Fremden, der wenig mit der englischen Sprache vertraut gewesen“, mitgetheilt worden sein soll. So erzählt der Engländer Bourne in seinem Werke über die Propellerschraube. Ueber diesen Bauer finde ich später keine Notiz mehr. Praktisch verwerthete die Erfindung erst der englische Farmer Smith, der 1839 ein Patent auf eine verbesserte Schraube nahm.

Weder in Frankreich noch in England wurde dabei je der Name Ressel’s genannt, aber auch nicht in deutschen Schriften: bis auf die neueste Zeit (noch im Jahre 1861 in einem „Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien“!) galten nur Engländer, namentlich Livingston, Smith und Sauvage, oder auch Ericson als Erfinder der Schiffsschraube. Zu spät für den unglücklichen Ressel traten der k. k. Fregatten-Capitän Heinrich v. Littrow, Director der Marine-Akademie in Triest, und der bekannte Karmarsch, Director der polytechnischen Anstalt in Hannover, für Ressel’s unzweifelhaftes Prioritätsrecht auf; es galt, das Einzige zu retten, was für Ressel’s Namen und Nachkommen und für Deutschland noch zu retten war: die Ehre. Wie Ressel um die von England ausgesetzte Erfinder-Prämie betrogen wurde, wollen wir nun genau erzählen.

„Seit einigen Jahren setzte die englische Admiralität eine Prämie von zwanzigtausend Pfund Sterling für Denjenigen aus, welcher nachweisen könne, den größten Anspruch auf die Erfindung des Schraubendampfers, nämlich auf die erste Anwendung der archimedischen Schraube zum Betrieb der Dampfschiffe anstatt der Schaufelräder, zu haben. Nun sucht Mr. Carpenter, Capitän der königlichen Marine, nachzuweisen, daß er den größten Anspruch auf diese Prämie habe.“

Dies las Ressel am 18. September 1852, einem trüben Herbsttage, in dem „Osservatore Triestino“. Wie ein elektrischer Funke durchfuhr ihn diese Nachricht, und eine helle Sonne der Hoffnung ging in ihm auf. Er setzte sofort an die österreichische Gesandtschaft in London das Gesuch auf, „ihn als österreichischen Unterthan und alten Staatsdiener in dieser Angelegenheit bei der britischen Admiralität in Schutz zu nehmen.“ Um aber nicht haarbreit vom Dienstweg abzuweichen, wurde dieses Anmeldeschreiben zunächst der Triester Statthalterei zur Weiterbeförderung übergeben; von dieser kam es an Ressel zurück, um, mit den nöthigen Documenten (namentlich seinem Erfindungspatente vom 11. Februar 1827) versehen, von ihm den Marine-Obercommando vorgelegt zu werden. Dieses schickte die Sendung wieder an die Triester Statthalterschaft, worauf sie, mit noch einigen Belegen und Actenstücken vermehrt, nun dem Handelsministerium in Wien überantwortet wurde, durch welches sie (und zwar erst im Februar 1853!) endlich in die Hand des österreichischen Generalconsuls in London gelangte. Noch correcter vorzugehen war nicht möglich.

Der österreichische Generalconsul hielt es für angezeigt, zunächst auf officiösem Wege bei einem im Civil-Departement der englischen Admiralität fungirenden Capitän Baldwin Walker Erkundigungen über die englische Preisausschreibung für den ersten Erfinder der Propellerschraube einzuziehen. Dies geschah am 11. März. Schon am 12. erfolgte die Antwort, daß die britische Regierung jene zwanzigtausend Pfund Sterling an verschiedene Personen, welche in Besitz von Patenten über die betreffende Erfindung seien, bereits vergeben habe.

Diese Angabe war offenbar falsch, denn erst Anfang April 1855 wird von sämmtlichen englischen Zeitungen die Prämienvertheilung besprochen und sogar strengem Tadel unterworfen; Walker hatte höchst wahrscheinlich nicht aus sich so geantwortet, sondern einem veranlaßten Wink der Admiralität gemäß die Ausflucht angewendet, um die Concurrenz eines Ausländers, und gar eines Deutschen, um die zwanzigtausend Pfund mit einem Male zu beseitigen. Denselben Verdacht scheint der Generalconsul gehegt zu haben; schon am 15. März übergab er mit amtlicher Zuschrift dem ersten Lord der Admiralität, Sir James Graham, Ressel’s Gesuch und Documente.

Diesmal zog man es englischerseits vor, gar keine Antwort zu ertheilen. Acht volle Monate waren vergangen, jedenfalls eine [704] Frist, die von der Geduld des österreichischen Generalconsulats keinen geringen Begriff giebt, als es, von Wien aus zu energischem Vorgehen veranlaßt, dem Lord Graham im Auftrage der österreichischen Regierung am 13. October seine zweite officielle Note zusandte. Sie hatte jedoch das Schicksal der ersten, auch sie blieb unbeantwortet.

Und auch damit war das Generalconsulat zufrieden; es ließ die Angelegenheit nicht weniger als vierthalb Jahre schlafen, ja selbst die öffentlichen Besprechungen der vollendeten Prämienvertheilung im Jahre 1855 weckten es nicht auf: „Daily News“ berichtet, daß vierundvierzig Bewerber (natürlich nur englische) zur Prämie mit ihren Patenten sich beigedrängt, daß aber nur fünf das Glück gehabt hätten, derselben für würdig befunden zu werden. Dagegen eifern die „Times“, „United Service Gazette“ und „The Engineer“ gewaltig gegen die Preisvertheilung, weil der von ihnen protegirte Francis Pettit Smith nicht berücksichtigt worden war; sie riefen für diesen sogar eine Nationalsubscription in’s Leben, die mehrere tausend Pfund Sterling eintrug und schon durch die öffentliche Reclame den zurückgesetzten Smith mehr als entschädigte.

Nur für den wirklichen Erfinder erhob sich keine Hand. Ihm war von alle diesen Vorgängen in England nicht die geringste Nachricht, auf keinen seiner Briefe an den Generalconsul seit 1852 eine Antwort zugekommen. Mußte er doch froh sein, daß man ihm endlich in Wien seine Erfindung überhaupt verziehen hatte, – denn sein hartnäckiger Proceß gegen seinen ehemaligen Compagnon, der Millionär Fontana, der das Triester Polizeiverbot gegen weitere Versuchsfahrten mit der Schraube seit 1829 zur einseitigen Aufhebung seines Contractes mit Ressel benutzen wollte, hatten ihn bei seinen Behörden in den schlimmsten vormärzlichen Verdacht, in den eines „unruhigen Projectenmachers“, gebracht; er war bereits zur Disposition gestellt gewesen, errang sich nur dadurch, daß er 1848 den noch außerhalb Venedigs zerstreuten Theil der österreichischen Flotte durch seine Energie für den Staat gerettet, wieder eine Anstellung als Marine-Forst-Intendant (mit achthundert Gulden Besoldung), und dieser seiner dienstlichen Stellung verdankte er wohl mehr, als der Anerkennung seines Erfindergenies, die Berücksichtigung, die man seiner Erfindung jetzt zu Theil werden ließ.

Im Mai 1857 reiste der damalige Chef der kaiserlichen Marine, Erzherzog Ferdinand Max, nach London. Diese Gelegenheit benutzte Ressel, um die britische Admiralität zu einer Entscheidung zu drängen. Er schrieb u. A. an den Erzherzog die das redliche und rastlose Streben des Mannes so gut bezeichnenden Worte: „Es hat mich weder materieller Eigennutz noch Eitelkeit zur Bewerbung des Prämiums veranlaßt, sondern lediglich Folgendes: 1) Gehört die Anwendung der Schraube zwischen Schiffskörper und Steuerruder zu den wichtigsten vier Erfindungen, deren sich die civilisirten Regierungen in hohem Grade bedienen, nämlich: des Dampfmaschinenwesens, der Eisenbahnen, der elektrischen Telegraphen und der Schraube für die große Schifffahrt. Der Propeller ist ein Oesterreicher, und er soll als solcher in der Geschichte auch benannt sein. Das Beispiel dieser edlen Eifersucht geben alle civilisirten Nationen. – 2) Ich habe mehrere ebenso wichtige Erfindungen für die Welt bereit, die ich ihr schenken werde. Damit ich aber das Aufkommen der ersteren erlebe, benöthige ich einen Ruf, welchen ich durch die Anerkennung der Priorität als Erfinder des Schraubendampfschiffes zu erlangen hoffe.“ Der arme große Ressel! Er gönnte den englischen Bewerbern den Mammon, – nur wirken, wirken wollte er können, und nur darum fleht er um das Recht seiner Ehre!

Wir wissen, daß auch dieser Schritt vergeblich sein mußte. Der Generalconsul erhielt, wie er am 19. November 1857 an das österreichische Handelsministerium nach Wien berichtete, auf eine neue Anfrage an die königlich britische Admiralität einen persönlich an ihn gerichteten Brief von dem Secretär der letzteren, in welchem derselbe erklärt, daß in der ganzen Angelegenheit nichts mehr zu thun sei, da die Prämie bereits vertheilt worden wäre. Der Documente wird darin keine Erwähnung gethan, und sie schienen daher verloren gegangen zu sein.

Auf eine erneuerte Aufforderung seitens der österreichischen Regierung wegen Rückstellung dieser Documente leugnete man rund weg sogar den Empfang derselben ab und gab zur Bekräftigung dieser Behauptung an: „daß trotz der von dem Lord-Commissär in allen Aemtern der Admiralität sorgfältig angestellten Nachforschungen keine Spur, weder von den fraglichen Documenten, noch von der ‚vermeintlichen‘ Uebergabe derselben an die britische Admiralität vorgefunden werden könne. – Läge nicht diese englische Antwort vom 11. März 1858 mit ihrem „that after a careful search no trace can be discovered of the documents in question“ vor uns, wir würden schwer zu vermögen sein, an eine derartige unredliche Aufführung einer höchsten Regierungsbehörde zu glauben. Diesmal sprach es der österreichische Generalconsul selbst unumwunden aus, daß diese Documente wohl „von der britischen Admiralität nicht ausgefolgt werden können, ohne sich den Vorwurf einer in der Zuerkennung der Prämie für den ersten Erfinder des Schraubenpropellers geübten Parteilichkeit zuzuziehen.“

Eine solche Behandlung der Angelegenheit war sogar für das österreichische Ministerium verletzend, das nun am 2. September 1858 verordnete, „im Wege der Gesandtschaft die Rückstellung der Documente zu verlangen.“ Dies geschah auch; der königlich großbritannische erste Staatssecretär begnügte sich jedoch am 20. December desselben Jahres damit, an sein Bedauern über den Verlust der Documente noch einen Vorwurf für die österreichische Behörde zu fügen, indem er diesen Verlust dem Umstande zuschrieb, „daß das Gesuch Ressel’s von dem k. k. Generalconsul directe an die Admiralität geleitet worden und nicht durch Vermittelung des auswärtigen Departements an seine Bestimmung gelangt sei.“

Die kaiserlichen Behörden waren damit abgethan und schwiegen fortan; nur Ressel’s Sohn, Heinrich, wagte noch einen Sturm, er verlangte durch das Generalconsulat von der britischen Admiralität wenigstens zu erfahren, wann und an wen die britische Prämie vertheilt worden sei. Der Bescheid war die Wiederholung der alten Unwahrheit, daß die Prämie am 15. März 1853, wo Ressel’s Gesuch und Documente der britischen Admiralität zugefertigt worden, bereits vertheilt gewesen sei, und – die Weigerung der Admiralität, die Namen der fünf belohnten Erfinder anzugeben.

So ist denn England auf diese Weise in den Besitz des kläglichsten Unicums gekommen: es belohnte fünf Männer zugleich für die Priorität einer der größten Erfindungen der Gegenwartund wagt nicht, deren Namen zu nennen – – während die Nation selbst den Nachahmer und Einführer der Schiffsschraube in England – Smith – durch eine Suscriptionsbelohnung ehrt. Erst heute erfahren wir einen dieser Namen, den des James Lowe, und zwar nur, weil der Mann in den Straßen Londons überfahren worden ist; vielleicht bringt der Tod auch die vier übrigen englischen Erfinder der Schiffsschraube noch an das Licht.

Der wahre Erfinder erlebte und hörte von all’ diesem Skandal nichts mehr; der ewige innere Kampf mit seinem erbärmlichen Schicksal hatte längst das Mark seines Lebens angefressen, als auf einer Berufsreise im October 1857 die Malaria von Laibach ihn auf das Todtenbett warf. Er starb fern von seiner Familie, einsam. Als sein von Triest herbeigeeilter Sohn Heinrich in das Zimmer trat, lag der große Mann todt da, in der Hand ein Recept, auf dessen Rückseite er die letzten Worte an seine Familie niedergeschrieben hatte. Noch auf diesem letzten Blatte seines Lebens und im Angesichte des Todes behauptete er mit der Wahrheitsliebe eines Sterbenden sein Anrecht auf die Erfindung des Schraubenschiffs und ermahnt die Seinen, seine übrigen Erfindungen nicht in’s Meer der Vergessenheit sinken zu lassen.

So lebte und so endete einer der begabtesten deutschen, Erfinder. Die tiefste Seelenpein solcher Männer im Leben wie in der Stunde des Todes ist nur von Wenigen geahnt, noch von Keinem ausgesprochen: das ist die feste Berechnung der Wirksamkeit ihrer Erfindungen, die klar vor ihrem Geiste steht, während die Kurzsichtigkeit ihrer Zeitgenossen schon die ersten Zahlen. ungläubig belächelt, – dieser sichere Blick in die Zukunft Ihres Werkes, vor dem die Gegenwart blind und taub steht, – und als die traurigste Ernte eines rastlosen Lebens der Hohn der Zeitgenossen für die Segnungen der Nachkommen! –



[705]
Novemberstürme.


Luther, geb. 10. November 1483; Schiller, geb. 10. November 1759; Scharnhorst, geb. 10. November 1769.


Und ob am Himmel schwarz und schwer
Auch Wolke sich auf Wolke thürme,
Ihr jagt sie fliehend vor euch her,
Gewaltige Novemberstürme;

5
Oft wurdet ihr uns schon zu Rettern,

Habt rein die Luft und klar gefegt,
Mit rauhem Stoß und wildem Schmettern
Die Welt im tiefsten Grund bewegt –
Das ist so recht das deutsche Wettern!

10
Wie fuhr doch der Novembersohn

Hin über die scheinheil’gen Glatzen,
Wie überklang mit hellem Ton
Lebend’ges Wort das todte Schwatzen!
Des Glaubens und des Geistes Henkern

15
Blies er die Scheiterhaufen aus,

Zur Abwehr den Gewissenslenkern
Stellt’ er vor seines Gottes Haus
Ein streitbar Heer von frommen Denkern.

Verscheucht hat er den finstern Fluch,

20
Der Wahrheit Kerker aufgeriegelt,

Mit treuer Hand der Bücher Buch
Für jeden klaren Blick entsiegelt;
So streute aller Zukunft Samen
Der Luther aus, ein deutscher Mann,

25
Und wer da steht in seinem Namen,

Und Jedem, der nicht anders kann,
Dem hilft auch Gott noch immer. Amen!

Auch er war ein Novemberkind,
Der donnernd braus’t durch alle Weiten,

30
Und wiederum so weich und lind

Hinstirbt wie Spiel auf Harfensaiten,
Das Herz reißt er mit sich von dannen,
Doch nicht in Träume wiegt sein Sang,
Zur That will er die Sehnen spannen,

35
Und wild erscholl sein erster Klang,

Ein Aufschrei wider die Tyrannen.

Um unser Schwert hat Schiller’s Lied
Den immergrünen Kranz geflochten,
Der Dichter selbst in Reih’ und Glied

40
Der Menschheit Schlachten mitgefochten;

Vorahnend sah er uns’re Schande,
Schlug Lärm inmitten träger Ruh’,
Den Schürern an der Zwietracht Brande
Rief er: „Seid einig, einig!“ zu –

45
Hört diesen Ruf, ihr deutschen Lande!


Und schlimmer kam’s, als es gedroht,
Und unser Schicksal schien vollendet,
Da hat den Helfer in der Noth
Uns der November noch gesendet;

50
Die Macht der Fürsten lag bezwungen,

Und was dem Troß um ihren Thron,
Den Herr’n und Junkern nicht gelungen,
Wie herrlich ist’s, trotz Spott und Hohn,
Geglückt dem deutschen Bauerjungen!

55
Er sprach: „es kann kein Söldnerheer,

Nicht Knechtessinn die Freiheit schaffen,
Des Thrones und des Landes Wehr’
Ist ewig nur das Volk in Waffen!“
Da hat den Sieg er ausgesprochen,

60
Und nimmer läßt, so tönt es fort,

Ein wehrhaft Volk sich unterjochen!
Es hat des Scharnhorst stolzes Wort
Nicht blos das fremde Joch zerbrochen.

Mein deutsches Volk, stets eins und frei

65
Im Glauben, Dichten und im Fechten,

Trotz biete jeder Tyrannei,
Du Hort des Wahren und des Rechten!
Dem finster schleichenden Gewürme
Ist wohlig in der Nacht allein.

70
Ob Wolke sich auf Wolke thürme,

Ihr fegt uns doch den Himmel rein,
Gewaltige Novemberstürme!

Albert Traeger.




Die Vogelsprache.
Von Wilhelm Hamm.


O du Kindermund, o du Kindermund,
      Unbewußter Weisheit froh,
Vogelsprachekund, vogelsprachekund
     Wie Salomo!


Wer hat eines Vogels Sang andächtig gelauscht und nicht etwas dabei gedacht, nicht versucht, die Töne in der Menschen Rede zu übertragen, ihnen bestimmte Empfindungen unterzulegen? Der Glaube an die Thierseele hat sich sicherlich zuerst gebildet und am stärksten befestigt durch den Gesang der Vögel. Freilich singen sie nicht alle, die Kinder der Luft, ja nur den wenigsten ist diese liebliche Gabe gegeben. Die Classe der Sperlingsvögel ist es bei uns hauptsächlich, die sie besitzt; und gerade diese „Singvögel“ bewohnen die deutschen Wälder, haben ihre Heimath in dem gemäßigten Himmelsstriche der alten Welt. Ihrer Zahl und Fähigkeit gegenüber sind andere Welttheile arm an gefiederten Sängern. Nordamerika besitzt zwar die wunderbare Spottdrossel, Java den Mino, Australien den Flötenvogel, Brasilien den Sariama und den Glockenspieler, Peru den Organista, – aber so herrlich sie auch zu singen verstehen, sie können sich nicht vergleichen mit dem Fink oder der Nachtigall, in deren Tönen der Mensch mehr finden will, als eine Reihe von Noten, und daher schon unzählige Male versucht hat, sie in seine Sprache zu übersetzen. Zahlreiche Beobachtungen haben dargethan, daß auch die Thiere dem Rufe des Vogels horchen, ihn zu deuten verstehen. Der Jäger hat schon gar oft die Elster, den Häher und die Kohlamsel verwünscht, die den schlauen Fuchs oder das unbedachtsamere Reh vor ihm auf dem Anstand warnen; die Sage von dem Ibis als Wächter des Krokodils ist zwar nicht begründet, wohl aber sind es die Berichte über den südafrikanischen Nashornvogel, die amerikanischen Höhleneulen und andere mit Vierfüßlern in vertrauter Freundschaft lebende Vögel, welche jenen eine nahende Gefahr verkünden, die ihre feinere Organisation früher erfaßt.

Der besondere und wechselnde Ausdruck in den Lauten, im Gesange der Vögel ist für jeden einigermaßen aufmerksamen Beobachter unverkennbar, und der Mensch findet hierin um so eher einen deutlichen Uebergang zur Sprache, als darin nicht nur der Unterschied der Individualitäten hervortritt, sondern sich sogar ganz entschieden gewisse, an die Oertlichkeit gebundene Dialekte wahrnehmen lassen. Jedermann weiß, daß es unter Finken, Nachtigallen, Sprossern gute und schlechte Schläger giebt. Die Vogelhändler haben dafür ganz besondere Nomenclaturen; so für die letzteren Sänger die Touren: David, Woyak, Papst, Doppelschaller, Jacob, Ziack, neuerdings sogar „Patti“ u. s. w.; für die Finken die Schläge: Weingesang, Hochzeitgebühr (Hochzeitbier), Weizenbier, Würzebier, Gerichtsgebühr, Reitzu (Weitschuh), Kuhdieb, Malvasier, Sparbazier, Musketirer, Mützeviel, Davidja, Zitzigall, Gikgak, Doppelschlag, Bräutigam, Harzer Schlag, Tambacher, Kienöl oder Ovakja, Pythia oder Trewittja und Gutjahr. Alle diese Schläge, von welchen viele noch Unterabtheilungen haben, bilden sich ganz von selbst aus; es ist kein Zweifel, daß der Vogel damit häufig ein und dasselbe mit anderen Klängen (um nicht zu sprechen: Worten!) sagt – und völlig verstanden wird. Die britischen Vogelkundigen nehmen allgemein Provincialdialekte der Singvögel an und können genau den Schlag der Stieglitze aus der Grafschaft Kent, der Finken aus Essex und der Nachtigallen aus Surrey von denjenigen anderer Provinzen, z. B. aus Middlesex, unterscheiden, woselbst minder gute Schläger zu finden sind. Dumareau de la Malte, während der ersten französischen Revolution eingekerkert, hatte zur Genossin eine Schwarzamsel, welche er die Marseillaise pfeifen lehrte. Als er die Freiheit erhielt, gab er sie auch seiner Trösterin; mit Verwunderung hörten die Anwohner der Loire Jahre hindurch alle Schwarzamseln des Cantons die Marseillaise singen, welche sie von ihrer gebildeten Schwester erlernt hatten. Beweis, daß der Vogel gutes Ohr für die Melodie besitzt und keineswegs, wie man annimmt, blos auf eine und dieselbe Notenreihe angewiesen ist.

Es ist daher auch kaum in Abrede zu stellen, daß der Vogel [706] recht gut weiß, was er singt, und Gefallen an seinem Singen, an seinen künstlerischen Leistungen hat. Neben den Tönen der Kunst, der feineren Empfindungen, der Liebe steht ihm aber meistens noch eine große Reihe von anderen zu Gebot behufs Ausdruckes der verschiedenartigsten Stimmungen und Mittheilungen. Er schmollt, er zankt, er zetert; er kost, er jubelt, er lockt; er begütigt und warnt seine Jungen, macht anmuthig der Gattin den Hof, bittet brünstig die Alten um Futter; für Furcht und Schrecken, zur Abwehr von Feinden, zum Hülferuf und vielen anderen Empfindungsäußerungen ist ihm eine ganze Scala von Tönen verliehen. Wer hat noch nicht den ängstlichen Ruf des Rothschwänzchens gehört, wenn es den nahenden Menschen von seinem Neste weglocken will, das Gezänke der Spatzen, das Gurren des Taubers, das Piepen der hungrigen Nestvöglein, den Schrei der Schwalbe, wenn der Habicht über ihr schwebt? Alle diese Laute werden genau von Denjenigen verstanden, an die sie gerichtet sind. Zahllose Beispiele dafür erzählt die Naturgeschichte: von den Schwalben, die den eindringlichen Spatz vermauern, von ihrem Zank, wenn ein junges Paar sein Nest an unschicklicher Stelle zu bauen beginnt, von ihren Unterredungen während der Wanderschaft, von den gegenseitigen Mittheilungen der schlauen Sperlinge über reife Kirschen und unschädliche Vogelscheuchen u. v. m.

Wie dürftig ist es dagegen um das Mittheilungsvermögen anderer Thiere, selbst der höchstbegabten Säugethiere bestellt! Ist es da ein Wunder, wenn vom grauesten Alterthum an die Sage von einer wirklichen, selbst bevorzugten Menschen zugänglichen Vogelsprache sich bei allen Völkern ausgebildet und erhalten hat, deren Länder der lebendigen Wälder nicht entbehrten? In den indischen Mythen (Nal und Damajanti), in den Märchen der Araber und der Deutschen nehmen redende Vögel eine der ersten Stellen des phantastischen Wunderapparats ein, den sie entfalten. Als Sigfrid sich im Drachenblut badet, lernt er das Zwiegespräch der Nachtigallen aus der Linde über ihm verstehen, und in zahlreichen deutschen Hausmärchen wird derselben Kunst Rechnung getragen. Allein nicht in diesem Sinn gedenken wir hier der Vogelsprache, sondern es gilt vielmehr unsere Betrachtung der eigenthümlichen Thatsache, daß der Mensch überall bestrebt ist, die Laute der bekanntesten Vögel in seine eigene Sprache zu übersetzen, ihnen Wörter unterzulegen, welche oftmals ebenso sinnig und charakteristisch, wie auch für die Auffassung des Thierlebens von Seiten des Volks bedeutend sind. Eine besondere Fundgrube für dergleichen Uebertragungen des Vogelsangs bietet das Waldland Thüringen, dessen Bewohner bekanntlich leidenschaftliche Vogelliebhaber und Kenner ihrer Lieblinge sind. – Nicht blos in Deutschland aber versucht man die Wiedergabe der Töne geflügelter Sänger in Worten, sondern auch in anderen Ländern; leider haben diese keinen Bechstein gehabt und es ist daher auch nur wenig aus ihnen über den Gegenstand aufzutreiben gewesen. Wie wir ihn auffassen, das sagt am deutlichsten der Anfang des deutschen Vogelmärchens: „In den alten Zeiten da hatte jeder Klang noch Sinn und Bedeutung. Wenn der Hammer des Schmieds ertönte, so rief er: ‚Smiet mi to! Smiet mi to!‘ Wenn der Zimmermann den Balken beschlug, so klang’s: ‚Kein’ Käs’ und Brod das mag ich nicht!‘ Der Schuster zog den Draht an mit: ‚Hätt’ ich’s! hätt’ ich’s!‘ während der Hobel des Tischlers schnarrte: ‚Da hast’s! Da hast’s!‘ – Fing das Räderwerk der Mühle an zu klappern, so sprach es: ‚Helf, Herr Gott! Helf, Herr Gott!‘ aber vom Müller erzählte die Mühle selber, zuerst langsam fragend: ‚Wer ist da? Wer ist da?‘ – dann rascher antwortend: ‚Der Müller! Der Müller!‘ endlich ganz schnell klappernd: ‚Stiehlt tapfer, stiehlt tapfer, vom Viertel drei Metzen!‘ u. s. f. Zu dieser Zeit hatten auch die Vögel ihre eigene Sprache, die Jedermann verstand, jetzt lautet es nur wie ein Zwitschern, Kreischen und Pfeifen, und bei einigen wie Musik ohne Worte.“

Kein anderer wilder Vogel steht dem Menschen so nahe, ist von ihm so genau beobachtet worden, wie die Schwalbe, die gesellige Frühlingsverkünderin (NB. zuverlässig ist sie nicht, und „Eine“ macht bekanntlich noch keinen Sommer). Ihr Gezwitscher im Frühjahr deutet der Landmann: „Als ich fortzog, als ich fortzog, waren alle Kisten und Kästen voll; da ich wiederkam, da ich wiederkam, war Alles wüst und leer.“ Rückert hat in dem schönen Lied „aus der Jugendzeit“, dessen Vers wir als Motto vorangestellt, das Motiv aus dem Volksmund aufgenommen; er überträgt es gefällig: „Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm, waren Kisten und Kasten schwer; als ich wiederkam, als ich wiederkam, war Alles leer!“ – Dergleichen Strophen finden eine Melodie bei jedem empfänglichen Gemüth. In Spanien übersetzt das Volk den Schwalbengesang:

Iß und trink,
Borg’ das Geld,
Doch sei flink,
Eh’ man Dich hält,
Und flieh, flieh, flieh
Beatriiiiiiz!!

Der Fink, die liederreiche Seele deutscher Wälder, wie man diesen fröhlichen, unermüdlichen Sänger wohl nennen darf, hat von jeher die zahlreichsten Dolmetscher gefunden; vielen derselben kommt es allerdings weniger auf den Sinn, als vielmehr auf den Gleichklang an. Sein „Weingesang“ klingt: „Fritz, Fritz, willst Du mit zum Wein geh’n?“ Der „Bräutigamsschlag“: „Fink, Fink, willst Du denn auch den Bräutigam zieren?“ Dann ruft er: „Reit’ herzu, Trab!“ oder „Schützenbier!“ (Schitzkebier in Schlesien) oder „Gut Jahr!“, wie denn überhaupt kein anderer Vogelschlag so viele Abstufungen und Verschiedenheiten zeigt wie derjenige des Finken.

Die Nachtigall singt nicht, sie „dichtet“, denn so heißt es bei den Vogelstellern und sie bezeichnen mit diesem Ausdruck so recht eigentlich das Wesen ihrer Töne, obgleich die Naturforscher behaupten, der Vogel bewege seinen Schlag nur in einem bestimmten Ring verschiedener Melodieen, deren man sechszehn bis vierundzwanzig gezählt haben will. Senlis schreibt: „Wenn die Menschen den Sinn der durch articulirte Silben auszudrückenden Nachtigallentöne zu deuten verstünden, so würden sie in jeder einen verschiedenen Ausdruck geheimer Gefühle des zärtlichen Vogels finden, dessen Liebe mit seinem Sang endet“. Daß es unter den Nachtigallen besondere Virtuosen giebt, ist bekannt. Die stärksten Schläger sind die ungarischen Sprosser, deren Lockton lautet: „Glockt Arr!“ Ihre verschiedenartigen Schläge sind schon oben angeführt worden; ihr Lied lautet in Worten: „Zieh’ a’, zieh’ an, David, zieh’ a’ Glock!“

Den Gesang des Zeisigs verdolmetscht das Volk: „Ziegenfleisch ist zäh!“ Den des Stieglitz: „Lüg’ nit!“ Die Spanier machen den letzteren zum Gehülfen der Schwalbe bei dem Liebeswerk am Kreuze; der Stieglitz zog aus den Gliedern des Heilands die Nägel, und:

Als auf der Höhe von Golgatha
Jesus am Kreuz verschied,
Sangen Stieglitz und Nachtigall
klagend das Sterbelied.

Dem Finken ruft der Stieglitz zu: „Fink, bink’!“ denn er will von ihm das bessere Lied erlernen.

Die „Himmelsschwinge, Liederfreundin“ Lerche ist nächst der Nachtigall am meisten von den Dichtern gefeiert worden und verdient dies, denn sie ist das liebliche Sinnbild des von der Erde sich in den Himmel schwingenden Geistes. Daher singt sie denn auch Gott zu: „Dir, Dir, Dir, nur Dir!“ (Chr. v. Schmid) und beim Strahl der Morgenröthe: „Die Fürstin kommt, die Fürstin steht am Thor!“ (Annette v. Droste-Hülshof), dann hoch aus dem blauen Aether im hellen Sonnenschein: „Die Welt ist schön!“ (Ebert) „Drum gab der Himmel ihr auch zum Lohne die unermüdlich beherzte Stimme, den Ton der Freude, den langen Frühling! Selbst Philomele, die Liederfreundin, muß ihrem langen Gesange weichen.“ (Herder.)

Von der Singdrossel oder Zippe weiß das Volk nur unschöne Worte zu berichten; wenn sie am besten schlägt, ruft sie; „Kuhdieb!“ Ihr ganzer Gesang lautet nach Bechstein: „David, David, drei Nösel für eine Kanne! Prosit, Prosit! Kattenhans, Kuhdieb!“ – Die Schwarzdrossel dagegen ruft: „David, Hans David!“ damit die Leute ihrem Gesang aufmerksam sein sollen. Die Kohlmeise meldet: „Zit is da!“ (Zeit ist da!) wenn sie Hunger hat. „Stellt sich der Frühling vorzeitig ein, so ist sie die Erste, welche ihn muthig begrüßt und dem durch den Wald wandernden Landmanne angelegentlich zuruft: „Zieh aus den Pelz!“ Bringen aber April und Mai noch kalte Tage, dann ändert sie sehr geistreich ihr kurzes Lied und singt vernehmlich: „Flick Dir’n Pelz!“ (Holtei.) Auch hat sie den Lockruf: „Fink, Fink!“ mit dem sie sich für mehr ausgeben will, als sie ist, und empfängt das Weibchen mit dem jubelnden: „Sind Sie da? Sind Sie da?!“ – Der Goldammer singt im Herbst ganz betrübt vor der [707] Bauern Fenster: „Bauer, mieth’ mich, Bauer, mieth’ mich!“ aber im Frühling ruft er recht hochmüthig vom Baum herab: „Bauer, behalt’ deinen Dienst!“ und in die verheißungsreiche Kornernte jubelt er hinein: „Wenn ich ein Sichlein hätt’, wollt’ ich mit schneiden!“ Sein Vetter, der Ortolan, ist blos Künstler (was aber nicht verhindert, daß er gern gegessen wird) und singt mit gehobeneren Tönen dem bäuerlichen Verwandten höhnend zu: „Z’ wit gehst! (zu weit gehst du) Geh’ weg, weg!“

Warum der Zaunkönig seit ältesten Zeiten und in allen Sprachen als „König“ anerkannt wird, weiß Niemand, als das Märchen; dies erzählt, wie er, unter den Fittigen des Adlers verborgen, sich bei dem Wettflug der Vögel, nachdem jener ermüdet war, so hoch über ihn emporgeschwungen habe, daß er Gott auf seinem Stuhle konnte sitzen sehen. Da schrie er stolz: „König bin ich! König bin ich!“ und so ruft er auch heute noch. Der Sperling, männiglich als unverschämter Gast bekannt, rühmt sich noch seines Handwerks mit dem steten Rufe: „Dieb, Dieb!“ Alles, was er sieht, begehrt er und schreit: „Will ich! Will ich!“ bis er es hat. Kaum entdeckt er, daß die Weizenkörner im Milchsaft stehen, so ruft er seine Bande herbei: „Milch, Millich!“ und wenn er gefunden hat, daß die schreckhafte Vogelscheuche nichts sei, als ein alter Lappen, dann setzt er sich keck darauf mit dem Spottruf: „Zwilch, nichts als Zwillich!“ Und das verstehen seine Gesellen sofort und fallen übermüthig in die reifenden Kirschen. Bei diesen hilft ihnen treulich der schöne Pirol und flötet vergnüglich schwelgend: „Viel, oh, viel, oh!“

Die verschiedensten Auslegungen hat der Dreischlag der Wachtel gefunden, welcher übrigens auch sehr abweichend, je nach der Gegend, klingt, von den tiefsten bis zu den höchsten Tönen. Die alten Schulmonarchen legten ihren Zöglingen das „Pickberwick“ aus durch den lateinischen Spruch: „Dic, cur hic?“ (Sage, zu was du hier bist? oder: Gieb dir Rechenschaft über das, was du hier sollst.) Daher die Wachtel auch hier und da „Dickricksvogel“ heißt. Der Bauer aber in der Ernte sagt: „Die Wachtel ruft: ‚Bück den Rück’!‘“ In der Mark deutet man den Schlag: „Pack’ Tabak!“ Im Volkslied schlägt die Wachtel eine ganze Reihe von Sentenzen; so im Grünen: „Lobet Gott! Danket Gott!“, am Morgen: „Guten Tag!“, Abends: „Dank sei Gott!“, im Regen: „Werd’ ich naß!“, im Sande: „Hartes Bett!“, vor dem Waidmann: „Fürcht’ mi’ nit!“, wenn die Schnitter kommen: „Wehe mir! Tritt mi’ nit!“, nach dem Abbringen des Korns: „Ist mir leid!“, im Herbst: „Harte Zeit!“ und beim Wandern, zum Abschied: „B’hüt’ di’ Gott, b’hüt’ di’ Gott!“ Auch in den Kinderspielen und Liedern hat der Wachtelschlag Aufnahme gefunden, z. B. in dem bekannten: „Pickberwick, mein Mann ist Schneider“ etc. In Frankreich schlägt die Wachtel dem Bauer in der Erntezeit, welche ihm den Lohn und Gewinn des Jahres bringt, einen sehr weisen Spruch zu: „Paie les dettes! paie les dettes!“ (Bezahle deine Schulden.) – Der Wachtelkönig ruft früh Morgens und des Abends im Sommer: „Sack! Sack!“ womit er den Landleuten andeuten will, daß sie sich zur Ernte und die Säcke bereit halten sollen. Wenn die Fluren lange geschmachtet haben, dann ist es nach dem Volksglauben Aufgabe des Regenpfeifers, die Wolken herbeizupfeifen, welche die dürstenden Saaten mit der erfrischenden Feuchtigkeit erquicken sollen. Darum lautet auch der Zuruf des Vogels an den Himmel: „Geuß, gieß, giet!“ Das Märchen erzählt, der Herr habe einst allen Thieren befohlen, einen Bach zu graben; fleißig erfüllten sie das Gebot; nur der Regenvogel nicht, der vielmehr die andern verspottete: „Schippt, schiebt, zieht!“ Da wurde ihm zur Strafe auferlegt, daß er ewig nach Wasser schmachten und rufen solle.

Im Walde hämmert der Schwarzspecht an den Bäumen, und wenn er einen Menschen sieht, so ruft er: „Glück!“ indem er rasch verschwindet, denn bekanntlich steht er mit verborgenen Schätzen in Verbindung und weiß allein von allen Vögeln, wo die zauberkräftige Springwurzel wächst. Der Kukuk schreit melancholisch nur seinen eigenen Namen, und zwar, wenn man ihn fragt, so oft, als man noch Jahre zu leben hat. Sein Küster ist der Wiedehopf, der sich im Frühjahr einige Tage früher hören läßt. „Up, up!“ (Auf, auf!) ruft er den Bauern zu, damit sie die Stallthüren öffnen und ihre Kühe zur Weide lassen. Er hat sich selber den Namen beigelegt, denn lateinisch heißt er Upupa und im Orient Hudhud. Aus dem Schilf hervor warnt die Rohrdommel die gedankenlosen Rinder: „Bunt herum, rund herum!“ Aengstlich fliegt der Kiebitz über seinem Neste, das die Heerde zu zertreten droht, und schreit: „Wo bliev ick, wo bliev ick?“ (Wo bleib’ ich?) „Quark ook!“ antwortet die grämliche Krähe. (Quark auch, d. h. wer wird sich darum kümmern?) Der Rabe aber schnarrt hohl vom Baum herab: „Kopf ab! Kopf ab!“ (Heine) und dann: „Grab, grab!“ Daß Abends das Käuzlein an die lichterhellten Fenster der Krankenzimmer flattert und vor denselben sein erschreckendes: „Komm mit! Komm mit!“ ruft, weiß jedes Kind.

Daß auch unsere Hausgenossen, die gefiederten Insassen des Hofes, ihre Sprachverständigen im Volke gefunden haben, braucht kaum aufgeführt zu werden. Schon im Märchen vom Aschenbrödel gurren die Tauben: „Ruckedigu, der Schuck ist voll Blut!“ Die Ente stürzt sich, mit der ganzen Festlandwelt zerfallen, in ihren grünen Pfuhl, verächtlich hadernd: „Pracherwerk! Pracherwerk!“ „Wat, wat, wat is denn dar to dohn?“ (Was, was, was ist denn da zu thun?) gackert die Henne, wenn sie das Nest verbergen will, in welches sie soeben ein Ei gelegt. Der Hahn aber rühmt stolz: „Luter rieck Lüd!“ (Lauter reiche Leute!) indem er sich nicht wenig zu gut thut auf den wohlbesetzten Hof. Ruft er aber Knechten und Mägden mit dem grauenden Tag sein „Kickeriki“, dann übersetzen sie es: „‘s ist noch zu früh!“

Unsere Zusammenstellung hat sicherlich Lücken, deren Ausfüllung um so interessanter werden müßte, aus je verschiedeneren Gegenden die Auffassungen der Vogeltöne durch den Volksmund stammen. Vielleicht trägt diese Skizze dazu bei, eine vollständigere Sammlung zu veranlassen, welche nicht blos sprachliche, sondern auch ethnographische Wichtigkeit haben dürfte. Jedenfalls lebt im Volke, trotz der materiellen Richtung der Zeit, immer noch jene poetische Naturdeutungsgabe, welcher unsere Literatur so kostbare Schätze verdankt. Wir schließen unsere Mittheilung mit dem uralten Wort:

Mancherlei Vogel, mancherlei Sang!
Besser im Vogelgesang,
Wie im Eisengeklang!




Die Bischofstadt im Kugelregen.


Es mag auf den ersten Blick vielleicht befremdlich erscheinen, wenn die Gartenlaube, nachdem nun mit dem letzten Berliner Vertrage allenthalben in Deutschland der Kriegszustand sein Ende gefunden, nachdem die letzten noch mobilen Truppen bereits in die Heimath und zu den Beschäftigungen des Friedens zurückzukehren begonnen haben, gerade jetzt noch auf einen Act des blutigen Dramas zurückkommt. Als der einzige Belagerungskampf aber, welchen der jüngste Krieg aufzuweisen hat, und weil sein Schauplatz nicht nur von einer Fülle von Erinnerungen aus der deutschen Geschichte umwoben, sondern auch mit einem reichen Kranze landschaftlicher Reize geschmückt und als Stätte deutscher Wissenschaft weit über die Grenzen des Vaterlandes hinaus bekannt und berühmt ist, wird die Beschießung der Festung Würzburg, wie sie uns ein bairischer Künstler als Augenzeuge der Katastrophe beschreibt und zeichnet, wohl noch immer Anlaß zu einer willkommenen Darstellung bieten.

Wochen lang wurden die Bewohner der freundlichen und lebenslustigen Wein- und Frankenstadt durch fernen Kanonendonner, versprengte Truppen, übertriebene Gerüchte und den Anblick verstümmelter Krieger geängstigt, bis sie die Schrecken des Krieges mit eigenen Augen sehen und die Kämpfe von der Werra und der fränkischen Saale, am untern Main und der Tauber in Würzburg ihren Abschluß finden sollten. Am 26. Juli, während die Baiern bei Roßbrunn kämpften und lebhafter Kanonendonner von da herübertönte, zogen plötzlich vom Nikolausberge und der Höchberger Straße herab in endlosen Reihen die Bataillone und Ausrüstungen des achten Armeecorps. Viele Stunden dauerte dieser Zug, welcher [708]

Würzburg während der Beschießung.
Nach der Natur aufgenommen von Franz Leinecker.

[709] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [710] zum Ueberschreiten des Mains – da die steinerne Brücke nicht ausreichte – unterhalb der Stadt eine Schiffbrücke schlug. Da indeß auch diese noch nicht genügte, so schwamm ein Theil der Reiterei und ein Zug Schlachtvieh durch den seichten Fluß. Das ermattete Aussehen der Truppen erregte das Mitgefühl der Würzburger. Sie hatten keine eigentliche Niederlage erlitten, sie hatten weder Fahnen noch Kanonen verloren, aber sie erlagen dem Hunger und der Ermüdung. Mehrere sanken auf der Straße kraftlos zusammen. Sie klagten, daß sie schon seit vierundzwanzig Stunden nichts zu essen hatten, Nachts war der Erdboden ihr kaltes Lager, während sich der große Dienertroß der das Heer begleitenden Prinzen in den vorgefundenen Betten wärmte. In der Buntheit ihrer Uniformen boten sie ein ähnliches Bild, wie die weiland deutsche Reichsarmee. Von einem Thore zum andern hatten sich die Würzburger, Lebensmittel austheilend, aufgestellt und während des Marsches labten sich die Soldaten aus den oft von schönen Händen dargereichten Schüsseln und Flaschen. Fässer Bier und Wein wurden beigeschafft. Dienstboten verzichteten auf ihr Mittagsessen zu Gunsten der darbenden Soldaten. Ein altes Mütterchen trug einem Soldaten das Gewehr, während er die Suppe aß, die sie ihm gebracht hatte. Die Stadt entleerte sich auf diese Weise rasch von ihren Lebensmittelvorräthen und nach den Durchmärschen stellte sich empfindlicher Mangel ein. Gegen Abend zogen die Baiern durch Würzburg, von denen die Division Hartmann die nördlich gelegenen Höhen mit dem Schenkerschlosse besetzten, die Uebrigen aber mit dem Hauptquartiere nach Rottendorf rückten.

Das achte Armeecorps besetzte zum Theil die Sander Aue, südlich der Stadt, der größte Theil jedoch bezog zwischen Gebrunn und der Käsburg ein aus abgeschnittenem Getreide und Weinbergspfählen bereitetes Lager. Zwei Batterien hatten sie westwärts von der Käsburg auf dem Neuberge aufgestellt, welche das Mainthal bestrichen. So verging der 26. Juli.

Als folgenden Morgens die Preußen aus dem Guttenberger Wald heraus gegen Würzburg zu sondirten, fanden sie zu ihrer Verwunderung alle die Festung beherrschenden westlichen und südlichen Höhen unbesetzt. Auf der Höhe des Nikolausberges überraschten sie eine Abtheilung Arbeiter, welche an einer neuen Erdschanze arbeiteten und beim Anrücken der Preußen eiligst die Flucht ergriffen. Einige preußische Dragoner streiften sogar bis nahe an’s Zellerthor. Von Höchberg aus zogen die Oldenburger mit zehn gezogenen Kanonen auf der Höhe des Nikolausberges vorwärts, erst die Festung mit Granaten überschüttend, dann auch einzelne davon in die Stadt werfend. Mit vierundzwanzig Kanonen besetzten die Preußen den ihnen mehr zur Linken liegenden Hexenbruch, auf dessen Hochfläche sich das Pulvermagazin befindet. Von hier bestrichen sie lediglich den westlichen Festungsflügel.

Um zehn Uhr Morgens begann nun der Artilleriekampf mit seinem gewaltigen Donner. Allein auf der ganzen Linie errangen die Preußen keinen Vortheil. Die Kanonen auf dem Hexenbruche mußten dreimal ihren Standpunkt rückwärts verlegen und standen zuletzt bei Höchberg. Die auf der Hettstädter Höhe befindlichen Preußen wurden mehrmals, nachdem sie Raum zum Auffahren bekamen, von den zwei auf dem Schenkerschlosse gegenüberstehenden bairischen Batterien wieder vertrieben. Trotzdem gerieth um zwei Uhr Mittags der südwestliche Flügel der Festung, ein massiver, in seinem untern Stockwerke gewölbter Bau, das Zeughaus enthaltend, in Brand. Man hatte unbegreiflicher Weise auf dem Dachboden Strohmatratzen in großer Menge zurückgelassen, welche durch feindliche Granaten angezündet wurden. An ein Löschen während des Kampfes war nicht zu denken, und so brannte das ganze große Gebäude mit allen Waffenvorräthen und mehreren Trophäen aus früheren Zeiten vollständig aus.

Dicht vor demselben in der Hitze des Brandes, umflogen von glühenden Schiefern und platzenden Granatkartätschen, standen die bairischen Kanoniere, unerschüttert den Feind zurückweisend, der, die Verwirrung benutzend, jetzt zum Sturme auf die Festung sich anschickte.

In der Stadt hatte man keine Ahnung von der ihr selbst drohenden Gefahr, man hielt die ersten hereinfliegenden Kugeln für verirrte Geschosse, bis das zunehmende Pfeifen und Sausen in der Luft, das Platzen der Projectile, welche die Straßen mit ihren Splittern und herabfallenden Ziegeln und Steinbrocken bedeckten, sie eines Andern belehrte. Als sich nun noch von der Festung her eine ungeheure schwarze Rauchwolke, haushoch von rothen Flammen durchzüngelt, heranwalzte, als die Sturmglocken ertönten, da kam der ganze Ernst der Lage über die geängstigte Einwohnerschaft. Alles flüchtete in Keller und sichere Räume und die Straßen verödeten wie in einer ausgestorbenen Stadt. An mehreren Orten zündeten die Granaten, allein die Feuerwehr war stets rasch bei der Hand, so daß nirgends ein Brand entstand. Einige zertrümmerte Fensterstöcke, Beschädigungen in den Wohnungen, an den Kaminen, Dächern, Mauern und Kirchen waren gegenüber den zwei- bis dreihundert Schüssen, welche in die Stadt fielen und meistens in der Luft platzten, ein verhältnißmäßig geringer Schaden. Ein Mann bezahlte auf der Mainbrücke seine Neugier mit dem Leben. Gegen drei Uhr endlich schwiegen beiderseits die Geschütze und nun erst wurde der Festungsbrand mit Erfolg bekämpft.

Im bairischen Lager war inzwischen die Nachricht eingetroffen, in Nikolsburg sei zwischen den beiden kriegführenden Mächten eine Waffenruhe bis 2. August verabredet worden. Ein bairischer Parlamentär brachte die Kunde dem preußischen Commandanten; dieser erklärte jedoch, nichts davon zu wissen, und wenn er bis andern Morgens keinen Befehl zum Einstellen des Kampfes erhalten habe, so beginne er denselben von Neuem, denn in Würzburg müsse er einziehen. Neue Angst, neues Flüchten in der Stadt. Allein der folgende Tag verlief ruhig, nur vor dem südlichen Thore der Stadt neckten sich österreichische und preußische Schützen über den Main hinüber. Nachmittags erklärte der bairische Heerführer, Prinz Carl, Würzburg als offene Stadt. Aber erst der am 2. August abgeschlossene Waffenstillstand erlöste es von seinem Bangen.

In Folge der Waffenstillstandsbedingungen verließen bekanntlich die Baiern die Stadt, behielten aber die Festung. Mit welchem Unmuth Ersteres von Seiten der Soldaten geschah, konnte man auf ihren Gesichtern lesen. Ein Theil weigerte sich zu gehorchen und wollte auf eigne Faust die Stadt vertheidigen. Nur nach eindringlichem Zureden wandten sie derselben den Rücken. Am 2. August um elf Uhr zogen die Preußen, bei viertausend Mann stark, durch das Zellerthor über die Brücke mit klingendem Spiele ein, geleitet von einem bairischen General.

Und nun waren die gefürchteten Preußen, von denen man sich so gräuliche Dinge aus Böhmen und Kissingen erzählte, die, wie die Klerikalen dem gemeinen Manne aufschwatzten, in allen errungenen Städten die Katholiken zu Ketzern umtauften, in der meist katholischen, unter dem Krummstab groß gewordenen Stadt. Allein bald sah der Bürger wie viele tüchtige Bildungselementes sich in einem preußischen Landwehrcorps vereinigen, und der gemeine Mann, sowie die fromme Matrone fanden sich zu ihrem Erstaunen mit den vermeintlichen Ketzern in Einem Gottesdienst vereinigt. Man hatte preußischer Seite die Klugheit gehabt, nach Würzburg katholische Regimenter in Besatzung zu legen. Auch dieses ist Strategie. Rasch schwand denn alle Scheu vor den neuen Gästen, als man deren meistens gesetztes Benehmen sah, der Verkehr kam wieder in Gang und die Lebensmittelnoth hatte ein Ende. –

Was die im österreichischen Feldzuge so gefürchteten Zündnadelgewehre betrifft, so waren dieselben nicht im Stande, den Baiern Schrecken einzujagen. Schreiber dieses sprach nach dem Kampfe mehrere bairische Soldaten darüber und alle äußerten sich einstimmig dahin, daß ihnen ihre Podewilsgewehre lieber seien, denn wenn auch die Zündnadeln weit schneller schössen, als ihre Waffen, so träfen sie mit diesen um so sicherer ihren Feind und eher, als sie von den preußischen Kugeln etwas zu fürchten hätten. Mancher Preuße äußerte, wie sie oft geglaubt hätten, mit lauter Schützen zu kämpfen. Der fast immer größere Menschenverlust auf preußischer Seite bestätigt diese Aussagen.

Zur Erklärung des Bildes bemerken wir zum Schluß: Links im Hintergründe steht auf den Höhen des Neubergs die Batterie der Nassauer, welche die Oldenburger auf dem Nikolausberge beschoß. Daneben im Grunde sieht man das Städtchen Heidingsfeld, das während des Kampfes von den Preußen besetzt war, ihm zur Seite die Brücke für die Ansbacher und Heidelberger Eisenbahn. Aus den Buchten der den Main rechts begrenzenden Berge lugen die Ausläufer des Guttenberger Waldes hervor, auf den sich die Preußen am letzten Kampftage stützten. Ueber die Festung zieht sich in langer Linie der Nikolausberg, den die Baiern zu spät

[711] zu verschanzen begonnen hatten. Rechts am Ende desselben liegt das Dorf Höchberg, hinter demselben dehnt sich der Kampfplatz von Helmstadt bis Roßbrunn aus. Ganz rechts ist der Hexenbruch mit den preußischen Batterien; in der Stadt selbst links das ehemals bischöfliche prachtvolle Schloß, nach vorne zu ein Theil des neuen großartigen Bahnhofes. Unter dem Dome steht das weltberühmte reiche Juliusspital und jenseits des Maines unter der Festung die zu derselben gehörige Vorstadt. Die bairische Kanone auf dem Steinberge im Vordergrunde, getreu nach der Natur gezeichnet, feuerte nicht. Die Schiffbrücke, die wir aus dem Bilde erblicken, war abgefahren.
Franz Leinecker.




Blätter und Blüthen.


Auch ein Künstler! „Eljen! Eljen!“ jauchzten ein paar hundert Kehlen im Comitatshause zu Eperies. „Eljen Almázy! Eljen!“ denn eine überwiegende Stimmenzahl hatte den ehrwürdigen Magnaten zum Obergespan gewählt. Es war ein großer Festtag für die kleine, freundliche Stadt und die Stimmen der Wähler klangen diesmal aus dem Herzen und nicht, wie gewöhnlich, aus dem Geldbeutel des Candidaten. Im Theater sah man bei glänzender Beleuchtung das Schauspiel „Matthias Corvinus“ und für später war ein großes Festessen im Redoutensaale arrangirt. Den König Corvinus spielte der deutsche Schauspieler Stein, und jeder Zoll an ihm war eine Majestät. Die Magnaten, Cavaliere und Inraten folgten mit Jubel der trefflichen Darstellung, und dem talentvollen Künstler wurde die besondere Ehre zu Theil, zur gastlichen Magnatentafel im Redoutensaale geladen zu werden.

Stein bewährte sich hier als ein ganz vorzüglicher Gesellschafter, der sich mit Bildung und Verstand im gewählten Kreise zu bewegen und mit dem feinsten Tact die Früchte seiner reichen Erfahrung zur Geltung zu bringen wußte. Seine geistreichen Scherze und pikanten Anekdoten trugen nicht wenig zum allgemeinen Frohsinn der Versammlung bei. Als die Gläser erklangen zum Toaste für den König, das Vaterland und den greisen Helden des Festes, promenirte Stein von einem Couvert zum andern, und dankte mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit für die Ehre, deren man ihn gewürdigt, und für die freundliche Anerkennung, die man seinem anspruchslosen Talente gezollt. Indem er sich aber mit dem Anstande eines vollendeten Weltmannes zu empfehlen anschickte, packte ihn ein Kellner ganz ungenirt beim Kragen und ein zweiter griff noch ungenirter in die Taschen des edlen Corvinus und zog nicht weniger als – zweiundzwanzig Silberlöffel an’s Tageslicht, die er sich im traulichen Gespräche äußerst fingerfertig zusammenstipitzt hatte.

Corvinus ward als Löffeldieb verhaftet, trug vierundzwanzig Stunden den Eisenschmuck des Betyaren an Händen und Füßen und wurde dann im Gnadenwege aus der Stadt verwiesen, denn der freundliche Stuhlrichter hatte den Menschen gegen den Künstler auf die Wage gelegt und die Schale des Künstlers hatte sich zu Gunsten des Menschen gesenkt. Es war das meine erste Begegnung mit dem Genie, die beiden letzten sollten fast noch trauriger als die erste sein.

An einem der letzten Faschingstage des nächsten Jahres schritt ich Arm in Arm mit meinem Freunde Vendelin durch die Straßen Kaschaus. Wir wollten[WS 1] pflastertreten, traten aber nicht das Pflaster, sondern den Schnee, der knisternd unter unseren Füßen uns an eine fast nordische Strenge Seiner Majestät des Winterkönigs mahnte.

„Heute hätte ich Lust zu tanzen,“ sagte ich zähneklappernd, „und wäre es auch nur, um mein zu Eis erstarrtes Blut ein wenig in Wallung zu bringen. Giebt’s denn keinen öffentlichen Ball heute in Kaschau?“

„Oeffentliche Bälle zwar nicht, aber einen famosen Gesellschaftsball, den der deutsche Schauspieler Trenck seinen Freunden und Verehrern zum Besten giebt.“

„O weh, der Ball eines wandernden Histrionen!“ rief ich lächelnd, indem ich mich bis an die Nasenspitze in meinen Pelz verkroch.

„Respect! Trenck ist kein gewöhnliches Talent,“ bemerkte mein Freund, „vielmehr ein Talent, das vor dem strengsten Kunstrichter der Residenz mit Ehren bestehen würde. Er behauptet, einer der jüngsten Sprossen der bekannten freiherrlichen Familie zu sein, und seine Bildung und Kenntnisse würden ihm das Blättchen eines Stammbaumes allerdings nicht streitig machen, aber –“

„Nun – aber?“

„Er ist ein Spieler von Profession und versteht sich noch besser auf’s Plündern, als weiland der Pandurenführer seines Namens. Er hat bedeutende Summen im Spiele gewonnen, die er wie ein chevaleresker Lebemann auf die leichtsinnigste Weise wieder verschwendet. Aber sein Glück ist auf dem besten Wege – verdächtig zu werden, und man munkelt bereits von allerlei Kunstgriffen, mit denen er es zu unterstützen weiß. Doch das geht uns nichts an. Wir haben es nur mit seinem Balle zu thun, der heute glänzend zu werden verspricht. Trenck hat mir zwei Karten geschickt; die eine stelle ich Dir zur Disposition, wenn Du mich begleiten willst.“

„Wohlan, ich bin von der Partie,“ erwiderte ich dankend, „und werde die sorgfältigste Toilette machen, um Deinem Industrieritter kein Stein des Anstoßes zu sein.“

Einige Stunden später traten wir in die glänzend geschmückten Localitäten des Ballgebers ein, der mit dem Luxus eines Botschafters für jeden Comfort seiner Gäste gesorgt hatte. Nachdem wir uns mit den Grazien der ungarischen Bergstadt wacker herumgetummelt, führte uns ein dienstbarer Geist in den Spielsalon. Es wurde Pharao gespielt und Trenck war Bankier. Ich wollte kaum meinen Augen trauen, als ich in diesem feingeschniegelten und sorgsam frisirten Männchen den Schauspieler Stein erkannte, der in Eperies so glücklich als König und so unglücklich als Dieb debütirte.

„Ah, bon soir, bon soir!“ rief er mir mit der unbefangensten Freundlichkeit zu, als er mich erblickte, und begann eine neue Taille, ohne weiter Notiz von mir zu nehmen. Ganze Haufen Goldes und Banknoten hatte er bereits vor sich aufgethürmt.

„Va banque!“ rief plötzlich ein Mann im Attila, indem er den Carreaububen auf die Tafel warf und das Kartenblatt mit einem Päckchen großer Banknoten bedeckte.

Es war ein kräftiger Ungar mit männlich schönen Zügen, der bis jetzt ein ruhiger Zuschauer war, aber die feinen zierlichen Händchen des Bankiers nicht eine Secunde aus den Augen gelassen hatte. Alle Pointeurs zogen ihre Einsätze zurück, und freundlich lächelnd, mit sorgloser Noblesse, zog der Bankier eine Karte nach der andern ab, bis er auf seiner Seite den verhängnißvollen Buben aufschlug. Aber in demselben Augenblick blitzte eine Waffe, und die durchbohrte rechte Hand des Bankiers war platt und fest mit einem Dolche an den grünen Tisch genagelt. Ein allgemeiner Ruf des Entsetzens folgte diesem sonderbaren Attentate.

„Dein Handwerk ist Dir gelegt, Betrüger!“ sprach kalt und ruhig der Ungar, indem er aus dem Aermel des bleichen Schurken eine Karte zog, die dieser kurz vor dem entscheidenden Abzuge aus dem Blätterverbande changirt hatte.

Der falsche Spieler verlor seine rechte Hand durch eine nothwendige Amputation, und ich hörte nichts mehr von ihm bis zu unserer dritten und letzten Begegnung.

Im Jahre 1849 hatte mich der Strom der Bewegung bis nach Steinamanger geschwemmt, wo ich nach langen Kreuzzügen für einige Tage den Hafen der Ruhe zu finden hoffte. Einige hundert Schritte vor der Stadt fand ich die ganze Fahrstraße mit Menschen bedeckt.

„Was giebt’s denn da, Camerad?“ frug ich einen Haiducken, der neugierig in meinen Wagen guckte.

„Was es da giebt?“ antwortete er lachend, indem er auf das nahestehende Hochgericht deutete. „Einen Gevatter Dreibein giebt’s, und an jeden seiner Beine soll Einer gehängt werden.“

„Wer sind denn die drei Unglücklichen?“

„Ein Brandstifter, ein Räuber und ein Spion. Der Spion kommt noch am besten weg, denn der Kerl kann nicht einmal ganz gehangen werden, ihm fehlt die rechte Hand, die man ihm bei einem Hokuspokus an den Spieltisch genagelt hat.“

„Mein Gott, wie heißt der arme Teufel?“ rief ich mit ahnungsvollem Entsetzen.

„Er nannte sich Jean Perdu und gab sich für einen Capitän der Franzosen aus, als man ihn an der Grenze erwischte und unter dem Futter seines Rockkragens geheime Depeschen fand. Aber das sind Faxen, Faxen! Der Bursche hat sich einen falschen Namen gegeben, denn man hat erfahren, daß er nur ein deutscher Komödiant und falscher Spieler ist.“

Der verhängnißvolle Karren mit den drei Delinquenten rollte herbei. Der Brandstifter und der Räuber waren bleich wie der Tod und mußten zum Galgen getragen werden. Aber der Spion kräuselte eitel seine Locken mit der linken Hand und sprang, wie ein Cavalier aus dem Cabriolet, vom Karren herab. Er belächelte mitleidig die Todesangst seiner beiden Schicksalsgenossen, und als an ihn die Reihe kam, entkleidete er sich ohne Beihülfe seiner schauderhaften Kammerdiener, reichte dem Priester die linke Hand, machte dem Publicum ein Compliment, als ob es ihn eben herausgerufen hätte, und stieg mit festen Schritten die Leiter hinaus. Und mit den Worten: „Gott erbarme Dich meiner!“ hatte der Schauspieler Stein seine letzte Rolle gespielt.




Ist das auch Instinct? Bekanntlich sind die Bienenzellen sechsseitige Prismen. Das hat nichts Auffälliges, denn nur so ließen sich die Zellen unmittelbar ohne Zwischenraum aneinander anfügen. Merkwürdig ist aber der Verschluß derselben auf der einen Seite. Dieser Verschluß geschieht nicht, wie man es für das Einfachste halten könnte, durch eine Ebene, sondern durch drei gegeneinander geneigte Ebenen nach Art eines Daches. Man darf wohl fragen: hat dies einen besonderen Grund?

Legt man sich die rein mathematische Frage vor: auf welche Weise sind solche sechsseitige Prismen zu verschließen, damit der Verschluß möglichst wenig Material erfordert? so zeigt die leicht ausführbare Rechnung, daß dies geschieht, wenn der Verschluß genau so erfolgt, wie er bei den Bienenzellen stattfindet, nämlich durch drei Ebenen, welche genau die Neigung gegen einander haben müssen, wie bei den Bienenzellen. Das ist doch eine überaus merkwürdige Erscheinung. Haben die Bienen durch allmähliche Versuche gelernt, wie sie verschließen müssen, um so wenig Wachs wie möglich dabei zu verwenden, oder ist das von Anfang an geschehen durch einen ihnen unbewußten Trieb?

Man möchte wohl das Letztere glauben, denn Beispiele dieser Art kommen auch in der leblosen Natur vor. Es mögen hier nur zwei angeführt werden, die allen Physikern bekannt genug sind. Die Bewegungen in unserem Planetensystem geschehen durch eine anziehende Kraft, welche umgekehrt dem Quadrate der Entfernung proportional ist. Ist hier das Quadrat ein bloßes Spiel des Zufalls, oder hat es einen gewissen Grund? In der That hat es einen Grund, denn nur wenn die anziehende Kraft umgekehrt dem Quadrate der Entfernung proportional ist, hat das System die längste Dauer. Jedes andere Gesetz der Kraft würde eine schnelle Zerstörung des ganzen Systems zur Folge haben.

[712] Wenn ein Lichtstrahl aus einem Körper in einen andern von größerer oder geringerer Dichtigkeit übergeht, so wird er dabei von seinem Wege abgelenkt. Diese Ablenkung ist eine nothwendige Folge der verschiedenen Geschwindigkeiten des Lichtes in den Körpern von verschiedener Dichtigkeit und befolgt ein Gesetz, welches sich nur unter Zuziehung mathematischer Ausdrücke aussprechen läßt und womit wir daher unsere Leser verschonen wollen. Das Gesetz scheint auf den ersten Blick wieder ein Spiel des Zufalls, allein bei genauerer Betrachtung zeigt sich ein merkwürdiger Grund dafür. Es ist nämlich eine nothwendige Folge der Bedingung, daß der Uebergang eines Lichtstrahles von einem gewissen Punkte eines Körpers bis zu einem gewissen Punkte eines anderen Körpers von anderer Dichtigkeit in der möglichst kürzesten Zeit erfolge.

Hier haben wir also drei Fälle, in denen das Bestreben der Natur darauf gerichtet ist, etwas mit möglichst wenig Material herzustellen, etwas für die möglichst längste Dauer zu schaffen und etwas in der möglichst kürzesten Zeit auszuführen.
Dr. H.




Thee-Abenteuer.[2] Wer in Italien Reisen gemacht, wird sich erinnern, daß überall von Allen geklagt wird, wie selten guter Thee zu haben ist. Mein Bruder Heinrich Heine liebte sehr guten Thee, und er konnte gern aus dieser Ursache an irgend einem Orte, wo er guten Thee fand, längere Zeit verweilen. Aber nicht blos der gute Thee, den wir in unserer Locanda erhielten, fesselte uns an Lucca, sondern auch eine englische Familie, deren interessante Bekanntschaft zu machen, wir gleich anfangs das Glück hatten. Sir James Brown oder Smith oder Bell, ich habe den Namen wirklich vergessen, hatte eine sehr starke, nach allen Seiten gut proportionirte Gattin und, sehr bemerkenswerth, zwei schöne, blondlockige Töchter. Ihre Namen habe ich nicht vergessen, die ältere hieß Arabella, die jüngere Sara. Wir wohnten in einem Hause, die englische Familie Bel-Etage und wir über ihnen, und kamen öfter in ihrem Salon zusammen. Man kann nicht immer in englische Augen sehen, man kann nicht immer über Shakespeare und Byron sprechen, und so führte uns unsere Unterhaltung auch einmal auf das wirthschaftliche Gebiet. Da hörten wir denn von allen Mitgliedern der Familie die einstimmige Klage über das schlechte Essen, und ganz besonders über den schlechten Thee in Italien.

„Letzteres, was den Thee betrifft,“ versetzte die gesetzte Mistreß, „können wir glücklicher Weise verbessern; wir führen jetzt überall unseren guten Thee aus England mit uns.“

„Bitte um Entschuldigung,“ unterbrach sie mein Bruder, „das Essen zwar will ich nicht besingen, aber der Thee, den uns unser Wirth Abends servirt, ist vortrefflich und macht dem Italiener alle Ehre.“

Es wurde über diesen Gegenstand viel hin und her gestritten, wir vertheidigten lebhaft die Theeehre unseres dicken schwarzbärtigen Hauswirthes.

„Meine hochgeehrte Societé,“ sagte Heinrich in animirter Stimmung, „lassen wir Thatsachen sprechen, entscheiden Sie selbst, und schenken Sie uns morgen Abend die Ehre Ihres Besuches zu einer Tasse Thee in unserem home.“

Die Einladung wurde graciös angenommen. Anderen Abends, zur bestimmten Stunde, fand sich Alt- und Jung-England auf unserer Etage ein. Sonstige Einwohner gab es in diesem Hause nicht. Dem Wirthe war angedeutet, daß wir den Abend etwas früher als sonst den Thee wünschten, weil wir den einen oder den anderen Gast erwarteten. Wir hatten schon geraume Zeit über alle möglichen Tagesinteressen geplaudert, und es war die höchste Zeit, daß der Thee servirt wurde. Kein Thee kam. Wir ließen den Wirth dringend erinnern, daß die schickliche Theestunde bereits im Verschwinden sei – es half nichts, kein Thee erschien. Unsere Verlegenheit nahm mit jeder Minute zu, und Heinrich, der vortrefflich Englisch sprach, wandte alle mögliche geistige Kraft auf, um die Unterhaltung in Fluß zu erhalten und die Secunden zu tödten. Doch – kein Thee kam.

In einem freien Moment der Unterhaltung bat Heinrich mich heimlich, selbst zum Wirthe zu eilen, um den so ängstlich erwarteten Thee herbeizuschaffen. Allein der Wirth erschien schon von selbst an der Schwelle unserer Zimmerthür mit Gesticulationen, als ob er nach dem alten System telegraphiren wollte; dabei entschlüpften seiner keuchenden Brust tieftönende Seufzer. Ich konnte aus der verrückten Exaltation des so unglücklich aussehenden Mannes nicht ganz klug werden und bat deshalb meinen Bruder, mit dem Wirthe sich selbst zu verständigen. Endlich, nach vielen Exclamationen, stürzte dieser die verzweiflungsvollen Worte heraus:

„Sie können heute Abend keinen Thee bekommen!“

Man denke sich nach dieser Erklärung unsere schmachvolle Lage: eine kaum kennen gelernte englische Familie laden wir zum Thee zu uns, sie ist so liebenswürdig, mit Beseitigung aller conventionellen Formen Großbritanniens unsere Garçon-Wohnung zu betreten, wartet in aller Engelsgeduld auf ihr allabendlich gewohntes Fluidum, das wir noch extra so gerühmt hatten, und nun die Berliner Anzeige: „Is nicht!“ Endlich erklärte sich unser in Schweiß triefender Wirth deutlich: da die englische Familie allezeit ihren Thee eine Stunde früher, als wir, zu genießen pflegte, so bekamen wir von dem aus ihren Zimmern zurückgebrachten guten Thee einen prächtigen Aufguß, der natürlich ganz vortrefflich schmeckte, nebenbei gesagt, dem Wirthe gar nichts kostete und von uns dennoch sehr theuer bezahlt wurde.

Eigenen Thee hatte er gar nicht im Hause. Da nun die Familie für diesen Abend zu uns zum Thee eingeladen war, natürlich also zu Hause keinen Thee zubereitet hatte, so fiel auch ebenso natürlich unser Ausguß für diesen Abend weg. Der unglückliche Wirth, der nicht wußte, daß gerade diese Familie bei uns Thee trinken würde und kein sonstiges Arrangement eingeleitet hatte, theilte mit uns die ganze Verlegenheit des Wartens; Heinrich erzählte nun der ganzen Familie in den humorvollsten Ausdrücken die ganze Wahrheit dieser tragi-komischen Geschichte, was ein langes, anhaltendes Gelächter hervorbrachte. Die blondlockigen Misses waren ganz besonders heiter. Das Ende vom Liede war, daß die englische Familie jetzt uns einlud, bei ihnen den so verspäteten Thee einzunehmen. In der größten Heiterkeit verließen wir Alle unsere Kneipe und stiegen lachend nach der Bel-Etage hinunter. Selten aus unserer Reise hatten wir einen so unvergeßlich heitern Thee-Abend zugebracht.




Teufelsthränen, Vesuvthee und Graspapier. Seit jenen unseligen „Pharao-Schlangen“, die trotz aller Warnungen gar manche Wohn- und Kinderstube mit ihren verderblichen Quecksilberdämpfen erfüllen durften, hat uns das industrielle Paris bereits mit einer ganzen Reihe von ähnlichen chemischen Spielzeugen beglückt, vor denen aber in den meisten Fällen dringend zu warnen ist. Hierher gehören zunächst die sogenannten Teufelsthränen, eine Speculation, welche gar leicht manches Auge kosten und andern Unfug anstiften kann. Sie sind freilich, laut Etikette in Frankreich, England, Belgien, Amerika etc. „patentirt“ – das macht indessen ihre Gefährlichkeit um nichts geringer. Es sind ovale oder rundliche rothe Dingerchen, die in einer an beiden Seiten mit Kork verschlossenen Glasröhre dutzendweise in Paris für einen halben Franken (vier Neugroschen), bei uns für acht Silbergroschen verkauft werden. In jeder dieser „Thräne“ befindet sich ein Stückchen Natrium-Metall, mit in Petroleum getränkter Baumwolle umwickelt und mit rothgefärbtem Collodium überzogen. Die Spielerei ist also auf einen alten, längst bekannten chemischen Vorgang begründet, im Uebrigen aber gut ausgedacht, denn die Erscheinung, welche die in einen Teller mit Wasser geworfenen Teufelsthränen zeigen, indem das Natrium-Metall unter Zischen und zuweilen mit Entzündung des Steinöles sich zersetzt, wird auf Unwissende ihren Eindruck nicht verfehlen. Auf der Gebrauchsanweisung steht in französischer und englischer (aber nicht in deutscher) Sprache die Warnung: „Die Teufelsthräne nicht in den Mund zu nehmen,“ doch nasse Hände etc. können ebenfalls eine unvorbereitete Explosion und damit Umherspritzen des Feuers, gefährliche Brandwunden und dergleichen bewirken, abgesehen davon, daß selbst nach gefahrlosem Verlaufe des „Kunststücks“ das im Teller enthaltene Aetz-Natron Kleider, Teppiche etc. leicht beschädigen kann. Nebenbei bemerkt sind dergleichen Flecke, resp. Löcher, oft noch durch sofortiges Befeuchten mit Essig und dann Abwaschen mit Wasser abzuwenden.

Minder bedenklich ist eine andere chemische Neuigkeit, der Vesuv-Thee. Er besteht aus einem Gemisch von einfach- und doppeltchromsaurem Ammoniak. In einem Löffelchen über Spiritus gelinde erhitzt, bläht er sich dann zu krausen Gestaltungen auf, welche allenfalls Aehnlichkeit mit chinesischem Thee oder mit kleinen Pflanzengebilden haben. Das chromsaure Salz ist ebenfalls giftig und erfordert für Kinder etc. alle Vorsicht, sonst aber kann es nicht leicht Veranlassung zu Unglücksfällen geben, da es nichts Eßbarem ähnlich ist, als „Thee“ aber sich bereits in das nicht giftige grüne Chromoxyd verwandelt hat. Noch interessanter und weniger gefährlich ist das Wunder- oder Gras-Papier, welches, ebenfalls aus diesem Chromsalz bereitet, beim Entzünden die niedlichsten Pflanzengebilde, Gras, Blumen, Früchte etc. hervorbringt.
R.




Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig erscheint in zweiter Ausgabe und ist in allen Buchhandlungen zu haben:

Die Bibel.
Für denkende Leser betrachtet
von
Gustav Adolf Wislicenus.
12 Lieferungen in groß Octav à 7½ Ngr.

Die gegenwärtige Verwirrung in religiösen Dingen wirkt sowohl innerlich als äußerlich hemmend ein, schwächt die großen Bestrebungen der Zeit ab, und hindert den Einzelnen, mit sich selbst in Einklang zu kommen. In der hier angekündigten Schrift werden die Geschichten und Lehren der Bibel dargestellt und betrachtet, mit vollgerechter Würdigung der Vergangenheit, aber auch in unbestechlicher Wahrheitsliebe. Sie ist keine neue Auflage des vor bereits zehn Jahren erschienenen Bibelwerks desselben Verfassers, sondern eine durchaus neue Arbeit. Nur in Betreff der Grundsätze steht sie wie jene auf dem Boden der Wissenschaft, vor der die Bibel eine Erscheinung der Geschichte, ein Glied in der Kette menschlicher Geistesentwickelung ist, in welcher Eigenschaft sie keine Ausnahmestellung einnimmt, sondern ebenso wie andere Bücher dem Urtheile der denkenden Menschen unterliegt. Die bekannte, gemeinverständliche Darstellungsweise des Verfassers macht das Werk zu einer populären Erscheinung, die dem ganzen denkenden deutschen Volke willkommen sein muß. – Die erste Lieferung des Werkes liegt bereits vor.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Stadt Triest setzte ihre Gehässigkeit gegen Joseph Ressel noch über das Grab fort: die eherne Bildsäule des österreichischen Erfinders des Schraubenschiffes war ursprünglich zur Aufstellung in Oesterreichs wichtigster Seestadt bestimmt, aber Triest verweigerte den Platz dazu, weil es kein Denkmal dieses Deutschen besitzen wollte! Nur deshalb kam sie nach Wien.
  2. Aus den „Erinnerungen an meinen Bruder Heinrich Heine, von Maximilian Heine.“ S. 1866, Nr. 5.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wollte