ADB:Wolke, Christian Heinrich
Basedow’s in Dessau, geboren am 21. August 1741 im damals anhalt-zerbstischen, jetzt oldenburgischen Jever, † am 8. Januar 1825 in Berlin. Chr. H. W. war Sohn eines Landwirthes und Viehhändlers, der ihm erst spät höhere Studien verstattete und dann als Ziel die Rechtswissenschaft vorschrieb. Er besuchte seit 1761 das Gymnasium (‚Hochschule‘ nach seiner Ausdrucksweise) zu Jever und seit 1763 die Universität (‚Höchstschule‘) zu Göttingen. Hier vertauschte er nach seines Vaters Tode 1765 das juristische Studium mit dem der Mathematik und Physik. Der Versuch, den er vom 1. October 1766 an im Kloster Gerode (Eichsfeld) als Lehrer der Mathematik machte, scheiterte an Mißhelligkeiten mit dem Abte Ambrosius. Zu Fuße pilgerte W. bereits im December d. J. über Göttingen nach Leipzig, wo er unter Gellert, Ernesti u. A. weiter studirte. Auch Zeichen- und Malkunst pflog er hier unter Oeser und unterrichtete einen jungen Grafen Hoym in der Mathematik, wie schon in Göttingen zwei Russen und einen Engländer in bildenden Künsten etc. Hierauf übernahm er die Vorbildung eines ammerländischen Hofmeiers, der bis zum zwanzigsten Lebensjahre Landwirth und dann zehn Jahre Händler in Nordamerika gewesen war, für die Universität, die dieser bereits nach einem halben Jahre mit Erfolg als Studiosus juris bezog. W. wollte nun über Hamburg nach London reisen, dort als Erzieher sein Glück zu versuchen, ward aber in Hamburg durch Büsch an Basedow empfohlen und Januar 1770 von diesem als Gehülfe für das Elementarwerk gewonnen, wozu ihn namentlich auch seine Geschicklichkeit im Zeichnen und Radiren empfahl. Nach und nach überließ ihm Basedow fast ganz die Besorgung seiner wirthschaftlichen Angelegenheiten und den Unterricht seiner Kinder, zunächst der durch ihre künstlich gepflegte Frühreife berühmt gewordenen Emilie. Mit drei Jahren konnte diese infolge des Wolke’schen Unterrichtes fertig deutsch lesen, lernte bald darauf in drei Monaten französisch und begann mit fünf Jahren das Lateinische, sorgfältig dabei behütet vor allen Phantasiespielen, in denen sonst Kinder ihren höchsten Genuß finden. Sie durfte nie die Grenze zwischen Bild und Sache, Puppe und Kind, Wirklichkeit und Spiel auch nur für Augenblicke übersehen. Selbst darüber, daß und wie Vater und Mutter ihres Daseins Urheber waren, ward sie baldmöglichst klar unterrichtet, um nicht in die märchenhaften Vorstellungen zu verfallen, die sonst darüber in Kinderstuben verbreitet sind. Mit Basedow zog W. 1773 nach Dessau und richtete dort, während Basedow seine Sache geräuschvoll noch außen betrieb, in stiller Arbeit das Philanthropin nach der von jenem aufgestellten Idee vorläufig ein. Zur wirklichen Ausführung des großen Basedow’schen Planes, also zu dem [135] eigentlichen angekündigten Philanthropin, ist es nach W. überhaupt nicht gekommen; er selbst lehnte daher später diesen allgemein üblichen Namen für die vielgenannte Dessauer Anstalt ab. Eifrig bedacht auf Verbesserung, namentlich Erleichterung des Unterrichtes, erfand er u. a. 1777 eine sog. Lesemaschine, die viel Beifall erwarb. Im J. 1776 ernannte der fürstliche Gönner des Philanthropins W. zum Professor. Nachdem dieser die Anstalt bis 1778 mit Basedow und thei1weise mit Campe geleitet hatte – ‚bescheiden und unbeschreiblich thätig‘, wie Kant ihn schildert –, übernahm er sie seitdem gänzlich und stand ihr bis 1784 vor. In diesem Jahre begleitete er, um Basedow’s Zanksucht auszuweichen und seiner angegriffenen Gesundheit aufzuhelfen, einen Zögling, Grafen E. von Manteuffel, über Schweden, Dänemark, Kur- und Livland nach St. Petersburg. Von Katharina II. als berühmter, um die Sache der Aufklärung verdienter Landsmann ehrenvoll aufgenommen und in der tonangebenden Gesellschaft bald wegen seiner überraschenden Unterrichtserfolge bei zwölf, theilweise nationalrussischen, des Deutschen unkundigen Cadetten bewundert, ward er dauernd in Petersburg zurückgehalten. Ein ihm gewährtes kaiserliches Gnadengeschenk von 20 000 Rubeln war zwar nicht zu erheben. Man zeigte ihm an der Casse die lange Liste der vor ihm Bedachten, die noch nicht befriedigt waren, und bot ihm 1500 Rubel, die er aber ausschlug. Trotzdem gestaltete durch glänzend honorirten Privatunterricht und eine blühende Erziehungsanstalt von anfangs dreißig, später gegen siebzig Insassen seine und seiner ihm von Dessau nachgekommenen Gattin äußere Lage sich günstig. Indeß verlor er die gesammte Ersparniß von 12 000 Thalern durch unvorsichtige Gutmüthigkeit im Verleihen. Genöthigt durch eine heftige Grippe und deren Folgen, kehrte W. 1801 in seine Heimath Jever zurück, die, seit 1793 den russischen Herrschern Katharina II., Paul I., Alexander I. zugefallen, Namens dieser durch die Fürstin-Wittwe von Anhalt-Zerbst verwaltet wurde. Er lebte dort als kaiserlich russischer Hofrath von den Pensionen, die ihm der Fürst von Anhalt (200 Thaler), der Kaiser Alexander (500 Rubel – leider nicht Silberrubel; daher in der Folge kaum 100 Thaler) und die Fürstin von Zerbst ausgesetzt hatten. Jevers Einverleibung in Holland und demnächst in Frankreich vertrieb ihn aus seinem Asyle und beraubte ihn eines wesentlichen Theiles seiner Einkünfte. Er zog 1809 nach Dresden und zeitweise nach Tharandt, wo er vergeblich versuchte, durch Wiederaufnahme seiner künstlerischen Jugendstudien und durch Unterricht seine Lage zu bessern, die in jenen Jahren oft drückend war. Nach dem Tode seiner trefflichen Gattin, die 1813 als Opfer treuer Verwundetenpflege am Lazarethtyphus in Dresden starb, bereitete eine dankbare Dessauer und Petersburger Schülerin und Pflegetochter, die an einen höheren Staatsbeamten in Berlin verheirathet war, dem liebenswürdigen einsamen Greise einen sorgenfreien Ruhesitz, dessen er noch elf Jahre als verehrtes Mitglied eines ansprechenden Verkehrskreises dankbar genießen durfte. Aus diesem Kreise ging 1814 die Berliner Deutsche Gesellschaft hervor, die W. dankbar unter ihren Begründern zählt. Zeitgenossen schildern W. als einen ‚großen, massigen, venerabel aussehenden Mann‘ und geben ihm fast ausnahmslos das Zeugniß einer edlen, für die Jugend aufopfernden, sanften und freundlichen Sinnesart. An dem ärgerlichen Streite zwischen Basedow und ihm, der Jahre lang das Ansehen des Philanthropins erschütterte, trägt offenbar Basedow’s Eifersucht und Heftigkeit die größere Schuld. Andrerseits trat das bis zur Lächerlichkeit getriebene Ueberverständige und tändelnd Schrullenhafte der Wolke’schen Schriften auch in seinem persönlichen Vortrage und Behaben hervor. Den Fortschritt vom Philanthropismus vulgaris zu Pestalozzi vermochte W. nicht mehr mitzumachen. Für das pädagogische, geniale Pathos des großen Schweizers fehlte ihm rechtes Verständniß. W. hat, wie er selbst sagt, viel ‚geschriftet‘, aber ‚nie für Geld‘ (?), [136] wenigstens hat er in Summa mehr Ausgaben als Einnahmen davon gehabt. Er hatte im Sinne des bekannten Klopstockischen Versuches sich seine eigene phonetische Orthographie zurechtgemacht und huldigte einem an Phil. von Zesen erinnernden, doch nicht folgerecht durchgeführten Purismus in Bekämpfung der Fremdwörter. Außer der Pädagogik, besonders der Basedow’schen und philanthropinischen, waren Pasigraphie und Telephrasie (Telegraphie), Taubstummenpflege (Hörsinherstelkunst oder Hörgebekunst) und deutsche, namentlich auch plattdeutsche (düdsge, sassisge) Sprache, sowie Bienenzucht, Gegenstände seines litterarischen Fleißes. Neben seiner Mitarbeit am Basedow’schen Elementarwerke seien erwähnt: „Pädagogische Unterhaltungen für Eltern und Kinderfreunde“ (Dessau 1777–84, 4 Jahrgänge), 16 philanthropische Lehr- und Lesebücher der Dessauer Zeit (nach eigener Zählung); „Buch zum Lesen und Denken“; „Beschreibung von 160 kleinen Bildern“, auch russisch und französisch, und „Petit livre pour apprendre à lire“ aus der russischen Periode; „Kinderbibliothek, bestehend in 7 Schriften“ (Fibel, 4 Lesebücher, Rechen- und Zahldenkkunst, Anleitbuch für Mütter, Lehrer etc.), Berlin 1822; ferner: „Beschreibung der 100 (auch zu Basedow’s Elementarwerk gehörigen) Kupfertafeln“ (Leipzig 1781, 2 Theile); dasselbe französisch („Methode naturelle d’instruction. Explication des planches du Livre élémentaire etc.“, 1782, 2 tomes) und lateinisch „Wolkii Commentarius in tabulas centum aeri incisas a D. Chodoviekio“, 1784, 89, tom. 2); „Avis sur une maison d’education et d’instruction établie à St. Pétersbourg“ (1785); „Nachricht von den zu Jever durch die Galwani-Voltaische Gehör-Gebe-Kunst beglückten Taubstummen etc.“ (Oldenburg 1802); „Anweisung, wie Kinder und Stumme zu Sprachkenntnissen und Begriffen zu bringen sind“ (Leipzig 1804); „Anweisung für Mütter und Kinderlehrer etc. zur Mitteilung der allerersten Sprachkenntnisse und Begriffe“ (das. 1803; hierin als Kupfertafel das von W. selbst entworfene charakteristische Bild eines „Denklehrzimmers“); „Kurtse Erzihunglere oder Anweisung zur körperlichen, verstandlichen und sittlichen Erzihung“ (das. 1805); „Anleit. zur deutschen Gesamtsprache oder zur Erkennung und Berichtigung einiger (zuwenigst 20tausend) Sprachfehler etc.“ (Dresden 1812; II., unveränd. Auflage, Leipzig und Berlin 1816); sowie die (für unsere Zeit kaum noch genießbaren) poetischen Blumenlesen: „Philanthropistenlider“ (Dessau 1779); „210 Lider frölicher Gesellschaft und einsamer Frölichkeit“ (Leipzig 1782); „Düdsge ōr Sassisge Singedigte, Gravsgriften, Leder, Vertelsels un wunderbare Eventüre, süst nömt Romanssen un Balladen“ (Berlin 1804; Eigenes und überarbeitetes Fremdes mit beachtenswerthem Vorworte).
Wolke: Christian Heinrich W., philanthropischer Pädagog, besonders bekannt als Gehülfe und Nachfolger- Quellen: Zwei kurze Autobiographien von W., deren eine 1774 in Basedow’s Schrift: „Das in Dessau err. Philanthropin“, deren andere – in Wolke’s Schreibweise – in der „Allgem. Schulzeitung“ 1825 erschien, sowie eine Selbstcharakteristik aus 1810 (bei Hasselbach; s. u.). – Biographien: Hasselbach (Aachen 1826) und H. Gräfe im „Neuen Nekrologe der Deutschen“ (Jahrgg. 1825, I, Ilmenau 1827); ferner Nietzold, „Wolke am Philanthropin zu Dessau“ (Grimma 1890). – Pinloche, Philanthropinismus (Paris 1889; II. deutsche Auflage mit Rauschenfels Leipzig 1896) sowie die sonstige Litteratur über diesen Gegenstand. – Wolke’s Schriften am genauesten verzeichnet bei Gräfe, am Schlusse s. Nekrologes (l. l. p. 95–100).