Schulstreiks in den Provinzen Posen und Westpreußen 1906/1907

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Die Schulstreiks in den Provinzen Posen und Westpreußen (polnisch Strajk szkolny) fanden vom Frühjahr 1906 bis zum Frühjahr 1907 statt. An ihnen nahmen über 60.000 polnische Schüler teil, die sich weigerten, im Religionsunterricht in deutscher Sprache zu antworten.

Seit 1793 gehörten die westlichen Teile Polens zum Königreich Preußen. In den folgenden Jahrzehnten wurden verstärkte Maßnahmen getroffen, um die polnische Sprache und Kultur zu Gunsten der deutschen zurückzudrängen. In den Schulen wurde nur noch in deutscher Sprache unterrichtet, seit 1873 war Polnisch nur noch im Bedarfsfall im katholischen Religionsunterricht in Volksschulen zugelassen.

Als 1901 in Wreschen in der Provinz Posen auch dieser in deutscher Sprache durchgeführt werden sollte, weigerten sich etwa 160 Kinder, auf die Fragen des Lehrers auf Deutsch zu antworten. Sie wurden mit schweren körperlichen Züchtigungen bestraft. Dieses führte zu europaweiter Aufmerksamkeit und Protesten. In den folgenden Jahren gab es vereinzelte kleinere Aktionen. 1905 hatten entsprechende Schulstreiks im russisch besetzten Teil Polens während der dortigen Revolution weitreichende Erfolge.[1]

Im neuen Schuljahr 1906/1907 wurde ab Ostern in mehreren hundert Volksschulen in den Provinzen Posen und Westpreußen deutschsprachiger Religionsunterricht für polnische Schüler eingeführt.[2][3] Seit Juni kam es in über 200 Schulen in der Provinz Posen zu Boykotten dagegen, die Schüler weigerten sich, im Unterricht in deutscher Sprache zu antworten, sie schwiegen oder sprachen polnisch. Im Juli folgten einige wenige Schulen in Westpreußen. Ab Ende Juli gab es längere Sommerferien.

Seit dem 16. Oktober, nach den Herbstferien, nahmen die Proteste stark zu, ihren Höhepunkt erreichten sie am 14. November mit über 50.000 beteiligten Schülern in beiden Provinzen. Danach begannen die Lehrer und Behörden mit harten Strafen zu reagieren.[4] Es gab schwere körperliche Schläge gegen Schülern und Schülerinnen, es wurden teilweise hohe Geldstrafen gegen die Eltern verhängt, vereinzelt gab es auch Gefängnisstrafen, wenn diese Gewalt gegen Lehrer oder Sachbeschädigung verübt hatten, Geschwister von beteiligten Schülern wurden von höheren Schulen entlassen, Eltern erhielten Disziplinarmaßnahmen in ihren Arbeitsstellen oder wurden vereinzelt auch entlassen. Es wurde angedroht, bei Weiterführung der Aktionen ab Anfang 1907 diese in den Zeugnissen zu vermerken. Dies alles führte zu einem allmählichen Verringerung der Proteste, die letzten Aktionen sind vom Mai 1907 bekannt.

Provinz Posen

Nach Ostern 1906 wurde in 203 Volksschulen Deutsch als Unterrichtssprache für den katholischen Religionsunterricht für polnische Schüler eingeführt. Bis Ende Juli sind Teilnahmen von 2897 Schülern dokumentiert.[5] Danach gab es Sommerferien.

Ab dem 16. Oktober, nach dem Beginn des zweiten Halbjahres, wurde für 88.500 Volksschüler der Religionsunterricht in deutscher Sprache durchgeführt, das waren 37 % aller Volksschüler in der Provinz Posen.[6] Auf dem Höhepunkt der Proteste am 14. November 1906 nahmen daran 46.886 Schüler aus 755 Volksschulen teil. Insgesamt gab es in dieser Zeit 2624 Volksschulen, von denen 1455 katholisch waren, die anderen gemischt oder seltener evangelisch.[7]

Westpreußeußen

Am Höhepunkt der Proteste nahmen Mitte November etwa 14.240 Schüler aus 563 Volksschulen teil.[8] Insgesamt gab es in dieser Zeit dort 1862 Volksschulen, davon 754 katholische. In einigen deutschsprachigen Gebieten, wie im Kreis Marienwerder, waren gar keine Proteste bekannt.

Herkunft

Die meisten beteiligten Schüler kamen aus ärmeren Familien von Bauern, Arbeitern oder Handwerkern. Kinder aus dem Mittelstand und polnischen Adelsfamilien besuchten keine Volksschulen oder schlossen sich den Protesten nicht an.

Zeitgenössische Reaktionen

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In den polnischen Zeitungen der Region wurden die Proteste sehr begrüßt und unterstützt, was wahrscheinlich einen erheblichen Einfluss auf deren Zunahme hatte. Auch viele katholische Geistliche bestärkten die Kinder und ihre Eltern in ihrem Bemühen, ihren Glauben in ihrer Muttersprache ausdrücken zu dürfen. Erzbischof Florian Stablewski wandte sich an verschiedene preußische Behörden mit der Bitte um Nachsicht, im Oktober veröffentlichte er einen Hirtenbrief.[9] Allerdings starb er im November, was wahrscheinlich eine negativen Einfluss auf die weitere Entwicklung hatte. Der polnische Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz wandte sich in einem offenen Brief an Kaiser Wilhelm II., in dem er an dessen Ehre appellierte.

Im Deutschen Reichstag gab es im Dezember eine Aussprache zu diesem Thema auf Antrag der Sozialdemokratischen Partei. Deren Vorsitzender August Bebel verurteilte das harte Vorgehen gegen die Kinder und ihre Eltern scharf. Die katholische Zentrumspartei äußerte sich zurückhaltender, die meisten anderen Parteien unterstützten das harte Vorgehen als notwendige Masnahmen zur Einhaltung von Recht und Ordnung. In vielen deutschen Zeitungen wurde über dieses Thema auch berichtet, allerdings meist mit einem größeren inneren Abstand, da die polnische Kultur und die katholische Kirche den meisten Journalisten relativ fernlag. Auch in der ausländischen Presse wurde über die Vorgänge berichtet, meist mit einer scharfen Kritik am harten Vorgehen, was das Ansehen der deutschen Politik in dieser Zeit weiter verschlechterte.

Die Proteste hatten keinen Erfolg. In den Volksschulen wurde weiter ausschließlich in deutscher Sprache unterrichtet. Dieses verstärkte die Ablehnung vieler Polen gegen die deutschen Behörden. Bei vielen beteiligten Kindern und Eltern blieb aber der Stolz, sich für seine Sprache und Kultur gegen starke Widerstände und Repressionen eingesetzt zu haben. Beim Posener Aufstand 1918/1919 und in den folgenden Jahren im neuen polnischen Staat reagierten die polnischen Verantwortlich entsprechend rigoros gegen deutsche Einwohner und deren Kultur.

Ab den 1960er Jahren gab es erste Formen der Erinnerung und des Gedenkens. Nach 1990 wurden an einigen Orten Denkmäler und Gedenktafeln errichtet. Es gibt inzwischen zahlreiche Literatur, die über die Ereignisse in einzelnen Orten und Regionen detailliert berichtet.

  • Brigitte Balzer: Die preußische Polenpolitik 1894–1908 und die Haltung der deutschen konservativen und liberalen Parteien (unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Posen). 1990.
  • Rudolf Korth: Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks. Ein Beitrag zur Polenpolitik der Ära Bülow. Phil. Diss. Würzburg 1963.

Einzelnachweise

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  1. Korth, S. 150f., mit Hinweisen
  2. Korth, S. 116–160, mit ausführlicher Beschreibung der Ereignisse
  3. Balzer, S. 172–180, 233
  4. Korth, S. 142–150; zu den Reaktionen der Behörden
  5. Korth, S. 131
  6. Korth, S. 133, 121
  7. Korth, S. 131
  8. Korth, S. 133–134; Balzer, S. 172–180, S. 233
  9. Korth, S. 125–132, mit ausführlicher Darstellung der Reaktionen der katholischen Kirche