Besuchsehe bezeichnet in der Ethnosoziologie eine Form der Ehe, bei der die Partner nach ihrer Heirat nicht zusammenziehen, sondern getrennt wohnen bleiben und sich nur zeitweise besuchen, gewöhnlich kommt der Ehemann über Nacht zur Ehefrau. Diese eheliche Wohnfolge, bei der beide Ehepartner am eigenen Wohnort oder dem ihrer Familie verbleiben, wird als natolokal bezeichnet (lateinisch „am Ort der Geburt“) oder als duolokal („an zwei Orten“).[1]

Heutzutage ist die Besuchsehe als verbreitete Beziehungs- und Eheform beim chinesischen Volk der Mosuo bezeugt, wo sie tisese genannt wird („hin- und zurückgehen“, englisch walking marriage).[2] Gelegentlich findet sie sich auch bei anderen Ethnien und indigenen Völkern, die ihre Abstammung und Erbfolge nach der Mütterlinie ableiten (matrilinear), so bei den Khasi in Nordostindien und den benachbarten Jaintia (Synteng).[3][4] Beim patrilinearen Volk der Nuer im afrikanischen Sudan ist sie während der ersten beiden Ehejahre üblich.

Ursprünge

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Die natolokale Wohnfolge beider Ehepartner am jeweiligen Ort ihrer Geburt und die damit einhergehende Besuchsehe fand und findet sich vorwiegend bei mutterrechtlichen Völkern (rund 160 von weltweit 1300 Ethnien[5]). In diesen Gesellschaften wachsen Kinder bei der Mutter und ihrer Familie auf, über deren Landbesitz sie abgesichert sind (siehe Matrifokalität). Der Vater trägt in jeweils unterschiedlichem Ausmaß zu ihrem Unterhalt bei, übernimmt aber oft die soziale Vaterschaft für die Kinder seiner eigenen Schwester und ist für deren Versorgung zuständig (ein sogenanntes Avunkulat). Wenn die Ehefrau nicht zu ihrem Mann zieht, dieser aber seine Aufgaben in seiner Herkunftsfamilie behält, ergibt sich die getrennte Wohnregelung.[6]

Der deutsche Ethnologe Wilhelm Schmidt stellte 1952 die These auf, die Besuchsehe sei eine „noch ältere Form des Mutterrechts“.[7]

Beispiele

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Zu den matrilinearen Völkern, bei denen Besuchsehen mit natolokaler Wohnfolge früher üblich waren, gehören in Südindien die Nayar,[6] sowie im Norden Japans die Ainu. Bei den Minangkabau auf der indonesischen Insel Sumatra gab es früher eine gewisse „Migrationsbereitschaft“ der Männer: Sie hielten sich tagsüber im Männerclubhaus auf, nachts hatten sie einen Schlafplatz im Haus ihrer Frau.[8] Im 17. Jahrhundert beschrieben niederländische Kolonialherren die Besuchsehe als übliche Form bei den Siraya, einem indigenen Volk von Taiwan.[9] Eine frühere Form der Besuchsehe wurde in Nordamerika bei den Navaho und den Irokesen gefunden,[10][11] es soll sie auch bei den Hopi-Indianern gegeben haben (siehe dazu Clanmutter). Aktuell finden sich Besuchsehen in Nordostindien bei den Khasi und den benachbarten Jaintia (Synteng),[3][4] sowie beim chinesischen Volk der Mosuo.

Eine „zeitweilige Besuchsehe“ findet sich auch bei Völkern und Ethnien, die ihre Erbfolge über die Väterlinie regeln (patrilinear). Bei ihnen wird die natolokale Wohnfolge selten langfristig praktiziert,[12] meist nur als Übergangszeit, bis das Ehepaar dauerhaft zusammenzieht, so im afrikanischen Sudan bei den Nuer. An der Südwestküste Japans war sie als Zwischenphase verbreitet, bis die Frau endgültig zu ihrem Mann übersiedelte; heute findet sie sich dort nur selten.[13] Bei vielen ethnischen Völkern in Südchina und vereinzelt auch bei den Han-Chinesen kehrte die Frau nach der Hochzeit zunächst zu ihrer eigenen Familie zurück und besuchte ihren Mann nur zeitweilig; erst bei ihrer Schwangerschaft oder nach der Geburt des ersten Kindes zog sie zu ihrem Ehemann.[13]

Siehe auch

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Literatur

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  • Chuan-kang Shih: Tisese: The Primary Pattern of Institutionalized Sexual Union. Kapitel 3 in: Dieselbe: Quest for Harmony: The Moso Traditions of Sexual Union and Family Life. Stanford University Press, Stanford 2009, ISBN 978-0-8047-7344-7, S. 73–100 (englisch; tisese bezeichnet die Besuchsehe; Shih schrieb 1989 ihre Doktorarbeit über die Mosuo; Seiten 73–90 in der Google-Buchsuche).
  • Eileen Rose Walsh: From Nü Guo to Nü'er Guo: Negotiating Desire in the Land of the Mosuo. In: Modern China. Jahrgang 31, Nummer 4, Sage Publications, Thousand Oaks Oktober 2005, S. 448–486 (englisch; beschreibt aktuelle Beziehungsformen; Walsh schrieb 2001 ihre Doktorarbeit über die Mosuo; Voransicht bei JSTOR).

Dokumentarfilme

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  • Uschi Madeisky, Klaus Werner: Wo dem Gatten nur die Nacht gehört: Besuchsehe bei den Jaintia in Indien. Colorama Film für NDR, Deutschland 1999 (60 Minuten; Info; die Jaintia/Synteng sind ein Nachbarvolk der Khasi in Nordostindien).
  • Uschi Madeisky, Klaus Werner: Die Töchter der sieben Hütten: Matriarchat der Khasi in Indien. Colorama Film für Arte/ZDF, Deutschland 1997 (56 Minuten; Info; enthält ein Beispiel für Besuchsehe).
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  • Lukas, Schindler, Stockinger: Natolokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997; (vertiefende Anmerkungen zur ehelichen Wohnfolge, mit Quellenangaben).
  • Brian Schwimmer: Natalocal Residence. In: Tutorial: Kinship and Social Organization. Department of Anthropology, University of Manitoba, Kanada, 2003; (englisch, umfangreiches Verwandtschaftstutorial).
  • Besuchsehe der Mosuo: Walking Marriages. Lugu Lake Mosuo Cultural Development Association, Kanada/China, 2006, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 8. Dezember 2013; (englisch, ausführliche Darstellung).
  • Lisa Fischer: Mutterwitz – oder die Vernunft sozialer Beziehungen bei den Mosuo. In: Wiener Zeitung: EXTRA Lexikon. 18. Februar 2000, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 6. Februar 2006;.

Einzelnachweise

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  1. Dieter Steiner: Merkmale matrizentrischer Gesellschaften: Zur Sozialordnung. In: Soziales im engeren Sinne. Eigene Webseite, Zürich, 1998, abgerufen am 1. September 2019: „Männer bleiben ihrerseits ebenfalls im mütterlichen Haushalt wohnen. Dort haben sie Rechte und Pflichten: Sie sind einerseits an den Entscheidungen mitbeteiligt und müssen andererseits an der Sicherstellung des Lebensunterhaltes mitarbeiten. Die Ehen haben die Form von »Besuchsehen«, d. h. die Männer kommen nächtlicherweile bei den Frauen auf Besuch und sind im Morgengrauen zurück in ihrem Geburtshaus. Nach dem Vorschlag von Fox sollte ein solches Arrangement deshalb besser als »natolokal« bezeichnet werden, denn alle leben am Ort ihrer Geburt.“
    (Bezugnehmend auf Robin Fox: Kinship and Marriage. An Anthropological Perspective. Penguin Books, Harmondsworth 1967/1973.)
  2. Chuan-kang Shih: Tisese: The Primary Pattern of Institutionalized Sexual Union. Kapitel 3 in: Dieselbe: Quest for Harmony: The Moso Traditions of Sexual Union and Family Life. Stanford University Press, Stanford 2009, ISBN 978-0-8047-7344-7, S. 75 (englisch; Seitenansicht in der Google-Buchsuche).
  3. a b Donna L. Leonetti u. a.: In-law Conflict: Women’s Reproductive Lives and the Roles of Their Mothers and Husbands among the Matrilineal Khasi. In: Current Anthropology Jahrgang 48, Nummer 6, 2007, S. 861–890, hier S. 862 (englisch; doi:10.1086/520976; PDF: 450 kB, 32 Seiten auf digitalcommons.unl.edu): „Men go out to marry and become attached and committed to their wives’ households to varying degrees, with roles ranging from household head to peripheral member to night visitor.“
  4. a b Dokumentarfilm von Uschi Madeisky, Klaus Werner: Wo dem Gatten nur die Nacht gehört: Besuchsehe bei den Jaintia in Indien. Colorama Film für NDR, Deutschland 1999 (60 Minuten; Info).
  5. J. Patrick Gray: Ethnographic Atlas Codebook. In: World Cultures. Band 10, Nr. 1, 1998, S. 86–136, hier S. 104: Tabelle 43 Descent: Major Type (eine der wenigen Auswertungen aller damaligen 1267 Ethnien; PDF: 2,4 MB, ohne Seitenzahlen auf ss.uci.edu (Memento des Originals vom 18. November 2012 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/eclectic.ss.uci.edu): „584 Patrilineal […] 160 Matrilineal“ (46,1% patrilinear; 12,6% matrilinear). Der Ethnographic Atlas by George P. Murdock (Memento des Originals vom 10. Juni 2018 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/intersci.ss.uci.edu enthält Datensätze zu 1300 Ethnien (Memento des Originals vom 10. Juni 2018 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/intersci.ss.uci.edu (Stand August 2019).
  6. a b Robin Fox: Kinship and Marriage. An Anthropological Perspective. Cambridge University Press, Cambridge 1967, ISBN 0-521-27823-6, S. 99–100 (englisch; Seitenansicht in der Google-Buchsuche).
  7. Wilhelm Schmidt: Entstehung der Verwandtschaftssysteme und Heiratsregelungen. In: Anthropos. Band 47, Heft 5–6, September–Dezember 1952, Paulusdruckerei, Freiburg in der Schweiz 1952, S. 767–783, hier S. 781.
  8. Barbara Lenz: Matrilinearität, Modernität und Mobilität. Migration von Frauen bei den Minangkabau. In: Zeitschrift für Ethnologie. Band 130, Heft 2, 2005, S. 245–271, hier S. 247.
  9. Siehe dazu John Robert Shepherd: Marriage and Mandatory Abortion among the 17th-century Siraya. In: American Ethnological Society Monograph Series. Nr. 6, American Anthropological Association, Arlington 1995, ISBN 0-913167-71-1 (englisch).
  10. Josef Haeckel: Das Mutterrecht bei den Indianerstämmen im südwestlichen Nordamerika und seine kulturhistorische Stellung. In: Zeitschrift für Ethnologie. Band 68, Heft 1–3, Behrend, Berlin 1936, S. 227–249, hier S. 238.
  11. Dieter Steiner: Beispiel einer matrizentrischen Gesellschaft: Die Irokesen – Die matrilineare Grossfamilie. In: Soziales im engeren Sinne. Eigene Webseite, Zürich, 1998, abgerufen am 1. September 2019.
  12. Lukas, Schindler, Stockinger: Natolokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997, abgerufen am 1. September 2019.
  13. a b Taryō Ōbayashi: Traditionelle Gesellschaftstypen und Kulturprovinzen in Japan. In: Japanstudien. Nr. 6, 1995, S. 165–203, hier S. 186/187 (PDF: 2,6 MB, 39 Seiten auf contemporary-japan.org (Memento vom 10. Juni 2015 im Internet Archive)).