Angela Merkels Ausflug in die Welt der Stasi-Akten
Seit fast 20 Jahren arbeitet die Birthler-Behörde an der Aufarbeitung der Stasi-Hinterlassenschaften. Säckeweise zerrissene Akten, Millionen Karteikarten – Arbeit gibt es noch immer genug. Jetzt hat sich zum ersten Mal die Kanzlerin in der Behörde umgesehen – und sich für deren Erhaltung ausgesprochen.
Pünktlich biegt die Kanzlerin der Bundesrepublik in den Hof ein, in dem seinerzeit Stasi-Chef Erich Mielke vorfuhr. 19 Jahre nach der Eroberung der Behörde durch die Bürger-Komitees der friedlichen Revolution will die Kanzlerin aus dem Osten sich den Stand der Dinge vortragen lassen. Marianne Birthler, die Leiterin der Behörde „für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“, kurz „Birthler-Behörde“ genannt, kommt ihr entgegen.
Das Plakat, vor dem die beiden sich an diesem nasskalten Donnerstag mit echtem DDR-Wetter die Hände schütteln, zeigt eine Gruppe von Demonstranten 1989/90, die fordern: „Nie wieder Stasi. Entmachtet die SED. Deutschland einig Vaterland.“ Es soll einer der wenigen Momente gewesen sein, in denen echte Wut zutage trat: Schließlich stand zu befürchten, dass die Stasi das gesamte Herrschaftswissen aus 40 Jahren Diktatur vernichten würde. Kleine Häufchen Geschreddertes, die aussehen wie ein Berg Nudeln oder ein Heuhäufchen, sind auch in einer Vitrine noch ausgestellt.
Birthler führt Merkel zum „Kupferkessel“ – einem Raum, den die Stasi zum Schutz vor Abhörmaßnahmen komplett mit Kupfer ausgeschlagen hatte. Unscheinbare Gläser stehen da herum, mit gelblichen Tüchern drin: Die Stasi zwang ihre Opfer, Geruchsproben ihres Körpers zu liefern, die dann von Hunden beschnuppert wurden. 5000 Säcke mit laufenden Metern zerrissener Akten, die seit Öffnung der Behörde hier zusammengeklebt werden, stehen an den Wänden. Auf den 17 Millionen Karteikarten der Stasi, die in Paternostern durch das Haus fahren, sieht man erst mal noch nicht, ob jemand ein Täter oder ein Opfer war. Noch immer sind circa 20 Prozent des Aktenbestands nicht erschlossen. Birthler zeigt der Kanzlerin die „Birthler-Tasche“: Briefe an sie, von der Behörde abgefangen und auf Mikrofilm fotografiert.
Irgendwo hier im Haus gibt es auch die Akte zu Angela Merkel, keine Frage. Als Tochter eines evangelischen Pastors, der freiwillig in die DDR gezogen war, ist die Physikerin und spätere Pressesprecherin der Bürgerrechtsorganisation „Demokratischer Aufbruch“ mit Sicherheit ein Objekt gewesen. Es heißt, Merkel habe längst Akteneinsicht beantragt und bekommen.
Aber deshalb ist die Kanzlerin nicht zu Birthler in die Normannenstrasse gekommen. Dies sei „ein großer Tag für die Behörde“, sagte die Beauftragte, um deren Person es in den vergangenen Jahren gelegentlich zu Streit gekommen war. Man warf ihr vor, ehemalige Stasi-Mitarbeiter im Haus zu beschäftigen und Akten unter Verschluss gehalten zu haben. Birthler will solche Vorwürfe an diesem „großen Tag“ ebenso wenig kommentieren wie den des ehemaligen DDR-Innenministers Peter-Michael Diestel (CDU), der Besuch der Kanzlerin bei der Behörde setze „ein falsches Signal“. „Ich bin es leid“, so der Politiker, die gewiss kritikwürdigen 45 Jahre DDR immer auf die Stasi zu reduzieren.“ Birthler dazu: „Das kommentiere ich gar nicht erst.“
Über die Zukunft der Birthler-Behörde gab es auch schon so manche politische Auseinandersetzung. Nur eines ist sicher. Über kurz oder lang wird sie aufgehen in einem Zentralarchiv. „Aber wir verwalten hier nicht nur Akten“, sagt Birthlers Mitarbeiter Stephan Wolf. „Wir können zwar keine Lebenszeit wiedergeben, auch keine Lebensqualität. Aber wir können hier Menschen zeigen, was eigentlich passiert ist damals. Alle wollen unsere Akten. Aber diese Arbeit will niemand machen.“
Die Frage ist, wann die Birthler-Behörde in ihrer jetzigen Form aufgelöst wird. Merkel versichert der Beauftragten, dass die hohe Zahl der immer noch neu eintreffenden Anfragen eine eigenständige Existenz weiter rechtfertigt. „Manche Leute brauchten erst einmal Abstand, bis sie sich der Wahrheit stellen konnten.“ Eine dringende Frage hatte die Kanzlerin an Frau Birthler: Wie viel Prozent der ostdeutschen Bevölkerung, wollte Merkel wissen, waren denn nun Stasi? Die Antwort lautet: zwei Prozent. Das sei nicht nichts. Aber überwältigend sei es auch nicht.