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Ein Studio mit Industrie-Flair im Süden Berlins. Die Treppe hoch. Ein Modeshooting am passenden Ort. Baumärkte drumherum. Eine Werkstatt für Feuerstühle der Marke Harley-Davidson. Gerade donnert eine vorbei. Die Models, Jilou Rasul und Pauline Nettesheim, beide 31 Jahre alt, sind keine Models im klassischen Sinn, sondern B-Girls, Breakdancerinnen. Beide sind Mitglieder im deutschen Nationalkader und haben die Qualifikation für die Spiele in Paris knapp verpasst, wo Breakdance erstmals olympisch sein wird.
Breakdance ist ein Teil des Hip-Hop, einer kulturellen Familie mit vier Säulen: DJ-Musik, Rap, Graffiti und Breaken. Entstanden vor rund 50 Jahren im New Yorker Stadtteil Bronx, sind diese Elemente tief in einer rebellisch kompromisslosen Kultur verwurzelt. Ihr Einfluss auf Musik, Mode und Kunst ist enorm, wie zuletzt eine viel beachtete Ausstellung in der Frankfurter Schirn zeigte.
Jilou und Pauline sind mit ihren Rucksäcken gekommen. Sie stehen vor langen Stangen mit bunten Kleidern, Röcken, Hosen, Jacken, Tops. Die beiden Breakerinnen fühlen sich wohl. Sie sind es gewohnt, sich zu präsentieren. Ihr Sport ist nicht nur ausdrucksvolle Akrobatik, nicht nur eindrucksvolle Athletik. Breakdance ist ein Tanz, ein immerwährender Versuch, sein Innerstes nach außen zu kehren, Gefühle in Bewegung zu verwandeln.
An den Kleiderstangen hängen Teile von Dior, Armani, Chanel, Dolce & Gabbana, viele große europäische Luxusmarken. Die Frage, ob das zusammenpasst mit dem anarchischen Geist des Hip-Hop, des Breakdance, ist schnell beantwortet. Ja. In der Frankfurter Schirn waren ein paar Schaufensterpuppen mit Outfits aus den Urzeiten des Hip-Hop aufgestellt. Trainingsanzüge würde man sie heute nennen, mit fetten Gucci-Aufdrucken.
Die Zurschaustellung von Luxusmarken hat im Hip-Hop von Beginn an eine große Rolle gespielt. Am Anfang stand das Raubgut. Man nahm sich, was man nicht bezahlen konnte. Fälschte es. Aus Weiß wurde Schwarz. Aus Luxus wurde Streetwear. Es war eine kulturelle, eine modische Aneignung der besonderen Art, eine feindliche Übernahme von Luxus, von weißen Statussymbolen. Eine Mode, die die Trennung von arm und reich auf ihre Weise auflöste. Luxus wurde zum Fetisch, wurde vereinnahmt, brachial und offensiv. Luxuslabels als Empowerment, Mode als Ausdruck von Stil, Größe, Erfolg und Bedeutung. Die Botschaft: Auch wir sind Gucci!
Daniel Day, genannt Dapper Dan, war der erste Designer, der Luxus mit Hip-Hop vermählte. Anfang der Achtzigerjahre schneiderte er in Harlem Lederjacken, Hemden und Kappen, auf die er Logos von Gucci, Fendi und MCM druckte, ohne Einverständnis der Marken. Die europäischen Luxuslabels wehrten sich mit Klagen, brauchten aber Jahre, bis Day seinen Laden in Harlem schließen musste. Day hatte Ende der Sechzigerjahre während einer langen Reise auf dem afrikanischen Kontinent die Idee der „Afrikanisierung der europäischen Premiummarken“ entwickelt und sie nach seiner Rückkehr nach New York umgesetzt. Seine ersten Modelle verkaufte er aus dem Kofferraum seines Autos. 1982 eröffnete er in Harlem seinen Laden „Dapper Dan’s Boutique“. Mit dem Aufstieg des Hip-Hop in der Bronx und in Harlem wurde Days Laden zum beliebten Ziel für Stars wie LL Cool J, Salt-N-Pepa und andere Szenegrößen. Auch nachdem Day seinen Laden 1992 schließen musste, weil ihn Fendi erfolgreich wegen Markenrechtsverletzungen verklagt hatte, blieb er ein Liebling der Stars, die sich nun auch die echten Luxusartikel leisten konnten und wollten. Die großen Labels und Hip-Hop kamen sich näher. 1996 modelte der Rapper Tupac Shakur auf dem Laufsteg für die Versace-Herrenkollektion. 2011 feierten Kanye West und Jay Z in ihrem Hit „Niggas In Paris“ Gucci, Louis Vuitton und Margiela. A$AP Rocky, der Lebenspartner von Rihanna, zählte in seinem Lied „Fashion Killa“ aus dem Jahr 2013 von Balenciaga bis Versace so ziemlich jede exklusive Modemarke auf. Je größer die Hip-Hop-Stars wurden, desto größer wurde auch der Luxus-Fetisch.
Sein Laden war zu, aber Daniel Day alias Dapper Dan blieb im Geschäft. Um 2018 herum stieg der einstige Fälscher in den Mode-Olymp auf, als Guccis Kreativdirektor Alessandro Michele mehrere Kooperationen des Luxuslabels mit ihm initiierte, darunter spektakuläre Entwürfe für die Met Gala 2019. Eines von Days bekanntesten Modellen war eine Jacke mit Oversized-Ärmeln und gefälschtem Louis-Vuitton-Monogramm. Michele bezog sich in seiner Kollektion 2018 auf diesen Entwurf, dieses Mal aber mit Gucci-Logo. Die Jacke sei als Hommage an Dapper Dan zu verstehen, teilte er eilends mit, als er – Ironie der Geschichte – selbst als Plagiator dastand. Day aber hatte es geschafft. Aus dem Fälscher war eine Ikone geworden. Sein Einfluss auf die Mode bis hinauf in die Luxusetagen war nicht mehr zu übersehen.
Haare, Styling, Licht – im Berliner Studio sind alle bereit für das Shooting. Jilou und Pauline haben ihre ersten Outfits herausgesucht, die Windmaschine läuft. Fotograf Johannes Graf zückt die Kamera. Er ist seit Jahren unterwegs in der Welt von Sport und Mode, einer Welt mit einer gemeinsamen Ästhetik, die bei diesem speziellen Auftrag wie von selbst entsteht. Es geht nicht um Körperkult bei diesen Fotos, nicht um starre Posen. Es geht um Körpersprache, Bewegung. Breakdancer haben ein Gefühl dafür. Sie sind durch die Bank starke Persönlichkeiten, die sich über Stil und Ausdruck definieren. Bewegung mache das Fotografieren schwer, sagt Graf, aber an diesem Tag auch einfach, denn Pauline und Jilou könnten Dinge auf den Punkt bringen. Sie könnten, weil außergewöhnlich kreativ, selbst Vorschläge, Korrekturen, Änderungen, Verbesserungen einbringen und, vor allem, verwirklichen. Sport und Mode könnten so auf eine ganz besondere Weise vereint und dargestellt werden.
Breakdancer verstehen sich in erster Linie nicht als Sportler, sondern mit ihrer Nähe zur Musik als Tänzer, als Bewegungskünstler. Jilou hat es ein orangefarbenes Kleid angetan, ein Kleid mit einem gewaltigen Kragen. Wie mag sie es präsentieren? Jilou schlägt eine Pose kopfüber vor. Ihr Gesicht verschwindet im Kragen. Ein Bild, das nicht nur dieses Kleid, sondern auch die Seele des Breakdance auf den Punkt bringt, eine Liaison aus Kreativität, Schönheit und Ausdruck. Hier geht es buchstäblich um Kopf und Kragen. Um Kunst. „Wir haben da ein bisschen Streetstyle, ein bisschen was Besonderes reingebracht“, sagt Jilou in aller Bescheidenheit. „Ich denke, das macht auch die Mode noch ein bisschen authentischer.“
Mode spielt eine große Rolle im Hip-Hop. Sie ist ein weiteres Ausdrucksmittel, um persönlichen Stil zu zeigen. „Die Kleidung, mit der man sich präsentiert, ist wichtig für Breaker“, sagt Pauline zwischen zwei Shootings. „Damit definiert und festigt man seinen Charakter. Jilou und ich sind im Tanzstil anders, aber auch, wie wir uns kleiden. Da sind wir super unterschiedlich. Jilou trägt allgemein eher eng, auf jeden Fall obenrum. Bei mir ist alles locker. Ich stehe mehr auf das Praktische, mit dem ich gut tanzen kann, und das ist in Dior halt ein bisschen schwieriger.“
Breakdance ist Sport, Tanz. Manchmal Kunst. Breakdance ist Lifestyle. Ein globales Phänomen. Die stärksten Nationen sind Japan, China, die Vereinigten Staaten, Frankreich, die Niederlande. Weltklasse-B-Girls und B-Boys kommen aber auch aus Korea, Taiwan, Marokko, Algerien, Kolumbien, Venezuela, der Ukraine, Litauen, Kasachstan, Polen, Australien, Kanada, Belgien, Portugal, Italien, Brasilien. Bei den B-Boys ist der Rückstand der deutschen Starter auf die Weltspitze groß. Bei den B-Girls halten Jilou und Pauline die deutsche Fahne hoch. Den Traum von Olympia konnten sie sich nicht erfüllen. Beim letzten Qualifikationswettkampf, bei dem zehn Startplätze zu vergeben waren, landeten Jilou und Pauline in Budapest auf den Plätzen 16 und 19.
Breakdance-Wettkämpfe werden in Battles ausgetragen. Eins gegen eins auf der Straße oder auf einer runden Bühne. Ein DJ sorgt für den Beat. Zuschauer stehen und sitzen drumherum. Sie sind der Energielieferant. Breakdance lebt von der Stimmung, der Atmosphäre. Als in der Bronx die ersten Breaker gegeneinander antraten, war dies ein Schritt in Richtung Gemeinschaft und Frieden. Sie verzichteten bei ihren Straßenkämpfen auf die übliche Gewalt. Battles waren und sind stilisierte Zweikämpfe mit eindeutigen Regeln. Körperkontakt ist verboten, manche Posen zitieren noch aggressives Gehabe. Über Sieg und Niederlage entscheiden im Wettkampf Wertungsrichter. Es geht darum zu gewinnen, aber nach dem Battle begegnet man sich mit Respekt und Freundschaft. Breaker betrachten sich als Teil einer großen Familie mit gemeinsamen Werten, einer globalen Community, vereint im Hip-Hop.
Die Wiege des Breakdance ist die Straße, das Jugendzentrum. Bis vor ein paar Jahren gab es keine Trainer. Man lernte von anderen, von Videos. Mit der Aufnahme ins olympische Programm hat sich für Jilou und Pauline vieles geändert. Der deutsche Tanzsportverband kümmert sich jetzt um sie. National- und Reisekader wurden eingerichtet, Lehrgänge. Bundes- und Landestrainer wurden angestellt. Breaker bekamen Zugang zu Sporthilfe und Olympiastützpunkten, zu medizinischer und mentaler Betreuung, zu Ernährungsberatung und professionellem Athletiktraining. Die Aufmerksamkeit wuchs. Aber auch die Sinnfrage stellte sich: Passt Olympia überhaupt zu dieser Lifestyle-Sportart mit ihren rauen, alternativen Wurzeln? Soll man sich dem durchkommerzialisierten und politisch zweifelhaften olympischen Gigantismus ausliefern? Diese Fragen haben sich schon andere junge Sportarten zuvor stellen müssen, Snowboarden, Skateboarden, Surfen, Klettern. Auch beim Breakdance gibt es Stimmen, die Olympia kritisch sehen. Doch sie sind in der Minderheit. Alle Top-Performer sind an Bord und sehen Olympia als Chance, sich und ihre Sportart bekannter zu machen und für Sponsoren interessanter zu werden.
Olympia wirkte, wie so oft, als Zauberwort. Pauline und Jilou profitierten davon. Sportartikelriesen meldeten sich. Jilou unterschrieb einen Vertrag bei Nike, Pauline bei Adidas. Die Aufnahme ins olympische Programm war für beide eine Zeitenwende. Aber wie kamen sie überhaupt zum Breakdance? Auf ganz und gar verschiedenen Wegen. Beginnen wir mit Jilou.
Sanja Jilwan Rasul, so ihr bürgerlicher Name, ist in Köln-Mülheim aufgewachsen. Eine harte Gegend damals. 1999, mit sechs Jahren, hat sie mit Turnen angefangen. Sie war gut, aber nicht besonders talentiert, wie sie selbst sagt. Turnen war ihr zu langweilig. Immer die gleichen Übungen. Er fehlte das Neue, das Besondere, das Kreative. Noch während der Schulzeit fand sie einen Zirkus, in dem sie trainieren konnte. Das war schon etwas anderes. Dort habe sie gelernt, Bewegung so zu performen, wie sie es möchte, sagt sie. 2016 sah ihre Mutter im Fernsehen eine Dokumentation über Breakdance. Ihr erster Impuls: Das ist genau das Richtige für meine Tochter, für ihr Freiheitsgefühl, ihren Bewegungsdrang, für ihre Lust auf abenteuerlich Neues. Jilou fand beim MTV Köln, ihrem Turnverein, einen Breakdance-Kurs und übte fortan zusätzlich in einem Jugendzentrum. „Ich habe donnerstags meinen Kurs gemacht“, erzählt sie. „Montags, dienstags und freitags war ich im Jugendzentrum, mittwochs habe ich im Zirkus trainiert.“ Sie machte ihr Abitur, und es war klar, wohin ihr Weg führen sollte. Breakdance würde ihre Bestimmung sein.
Sie begann zu reisen, durch Deutschland, Europa, in die Welt. Von Wettkampf zu Wettkampf, von Freunden zu Freunden. Mit 18, noch vor dem Abitur, war sie daheim ausgezogen. Gelebt hat sie vom Kindergeld, das ihr die Eltern – der Vater stammt aus dem Irak, die Mutter ist Deutsche – überließen, und von Breakdance-Kursen, die sie gab. Sie arbeitete an Supermarktkassen, servierte Frühstück in Hotels, machte Lagerjobs. Alles fürs Reisen. Alles für Breakdance. Mit 19 begann sie, auf kommerziellen Shows zu tanzen, auf Betriebsfeiern, Messen, Hochzeiten, in Werbespots, auf Tourneen von Peter Maffay. Sie flog nach Japan, blieb dort für sechs Wochen. 1000 Euro hatten die Eltern beigesteuert, den Rest hatte sie selbst zusammengespart. Sie hat bei Breaker-Freunden geschlafen. Die Szene lässt niemanden hängen.
Pauline Nettesheim ging einen anderen Weg. Ihr Vater ist Deutscher, ihre Mutter Japanerin. Aufgewachsen ist sie in den Niederlanden, wo die Familie noch immer lebt. Pauline ist zusammen mit ihrem Bruder in der niederländischen Breakdance-Szene groß geworden, aus der viele der derzeit besten Tänzerinnen und Tänzer kommen. Mit Europameisterin B-Girl India ist sie ebenso gut bekannt wie mit Lee, dem aktuell elegantesten und kreativsten B-Boy, einem der Olympia-Favoriten für Paris. Breakdance ist Paulines Welt. „Die andere Welt, in der ich lebe, ist die Medizin.“ Sie ist Ärztin, arbeitet in der Forschung am Centre for Human Drug Research in Leiden.
Vom Tanzen hat sie nie gelebt. Der Beruf stand im Vordergrund. Das hat sich geändert, als Olympia zum Thema wurde. „Es ist etwas anderes, wenn man sagt, ich trainiere für die Olympiaqualifikation, als wenn ich sage, ich trainiere für irgendeinen Wettkampf. Das Verständnis, die Unterstützung ist dann viel größer.“
Es reichte für Jilou und Pauline am Ende nicht für einen der 16 Startplätze in Paris, aber die Reise geht für sie weiter. Auch wenn Breakdance im olympischen Programm der Spiele 2028 in Los Angeles schon wieder fehlen wird, bleibt die Förderung in Deutschland auf hohem Niveau. Der Deutsche Tanzsportverband wird die Breaker fest in seine Strukturen einbinden. Und der Traum von Olympia muss nach Paris nicht für immer begraben sein. Wenn die Welt in diesem Sommer erstmals auf einer großen Bühne sieht, welche Kraft und Schönheit dieser immer noch junge Sport ausstrahlt, werden ihn viele in Los Angeles schon vermissen.
Doch Breakdance ist mehr als Sport. Es ist ein Lebensgefühl. „Wir haben im Hip-Hop eine besondere Kultur“, sagt Jilou. „Unsere Botschaft ist, dass wir für Freiheit stehen, die Freiheit des Ausdrucks, für Energie, Gemeinschaft, Kreativität. Das wollen wir in Paris zeigen.“ Es ist ein „Wir“, auch wenn die beiden Deutschen in Paris nicht selbst dabei sein können.
Fotos: Johannes Graf (Sonja Heintschel)
Styling: Caroline Bucholtz
Tänzerinnen: Pauline Nettesheim und Jilou Rasul
Haare: Tobias Sagner
Make-up: Anna Neugebauer (Produkte von Ilia Beauty und Mádara Cosmetics)
Foto-Assistenz: Sebastian Haas, Laszlo Randelzhofer
Styling-Assistenz: Elsa Leguévaques
Fotografiert in Berlin am 6. Mai 2024