Man Bags: Warum die Herrenhandtasche wieder n Mode kommt

Es gibt sie, diese Szenen einer (heterosexuellen) Partnerschaft, in denen man sich selbst inmitten eines Klischees wiederfindet. Eine davon ist der typische Dialog eines Paares kurz vor dem Aufbruch: Könntest du vielleicht mein Handy einstecken? – Ja, natürlich. – Passt mein Schlüssel auch noch hinein? – Ja, das müsste gehen. – Und mein Portemonnaie vielleicht auch? – Aber mehr geht wirklich nicht! Entweder ist der Fragende der Mann, der an einem lauen Sommerabend die mit Innentaschen versehene Jacke zu Hause lässt, seine leichte Hose nicht mit ausgebeulten Taschen verunstalten möchte und deshalb Zuflucht für seine Habseligkeiten in der Handtasche der Frau sucht. Oder es ist die Frau, die zum Spaziergang durch kühle Frühjahrsluft einen Mantel trägt, dessen taillierter Schnitt keine geräumigen und erst recht keine gefüllten Taschen verkraftet und in dem Innentaschen sowieso fehlen. Wenn schon, dann Crossbodybag Menschen brauchen Taschen, seit jeher. Und doch hat sich ihnen gegenüber in der Mode eine seltsam unflexible Haltung etabliert: Männerkleidung ist mitunter absurd üppig mit ihnen ausgestattet, Frauenkleidung deutet sie oft nur an. Und während Frauen auch deshalb auf Handtaschen ausweichen und diese als Statussymbol regelrecht zelebrieren, sorgt ein Mann mit Handtasche noch immer oft für verdutzte Blicke und voreilige Schlüsse. Nicht so in der taiwanischen Hauptstadt Taipeh. In der Millionenmetropole tragen viele Männer ganz selbstverständlich eine „Man Bag“. Besonders oft zu sehen: die sogenannte Crossbodybag, eine kleine, meist rechteckige Tasche mit langem Gurt, die umgehängt wird und in die alles Nötige passt. Aber auch mehr als 10.000 Kilometer nordwestlich deutet sich ein Sinneswandel an. In Berlin-Neukölln, auf der Frankfurter Zeil, in der Düsseldorfer Altstadt tragen vor allem junge Männer Bauchtaschen schräg über dem Oberkörper. Nicht selten prangen darauf Labels – Prada, Gucci, Louis Vuitton. Rapper wie Drake und ASAP Rocky, Schauspieler wie Robert Downey Jr. und Social-Media-Stars wie die Elevator Boys machen es vor; andere prominente Träger wagen sich an größere Modelle. Etwa der schauspielernde und modelnde Popstar Harry Styles, der in jüngerer Vergangenheit schon mehrfach mit einer Gucci-Tasche vor den Kameras erschien. Die Nachfrage steigt Die murse, also die purse (Handtasche), aber eben für Männer, haben große Labels längst im Sortiment. 2017 taten sich die Marken Supreme und Louis Vuitton zusammen und brachten eine kleine Umhängetasche heraus. Rückblickend könnte das der Startschuss für die Männerhandtasche gewesen sein. Heute wird damit eine wachsende Nachfrage bedient: Um 700 Prozent sei der Umsatz mit Herren- und Unisex-Taschen in den vergangenen drei Jahren allein auf dem amerikanischen Markt gestiegen, sagt Carl Tillessen, Trendanalyst beim Deutschen Mode-Institut, das in Kooperation mit anderen Institutionen aus den 16 führenden Industrienationen Trendprognosen erarbeitet. Vom europäischen Markt gebe es noch keine vergleichbaren Zahlen, doch auch hier hätten überwiegend junge Männer immer öfter eine Tasche dabei. Dass das überhaupt auffällt, ist eigentlich paradox: Schließlich ist die Handtasche, wenn sie nicht gerade so extrem klein ist wie das oft kopierte Modell „Le Chiquito“ des französischen Labels Jacquemus, eines der wenigen sinnvollen Accessoires der Frauenmode. Dennoch wurde es lange belächelt, sobald es an Männern zu sehen war. Etwa im Film „Hangover“ von 2009, in dem der ungelenke Alan sich für seine Männerhandtasche – die er viel lieber als Umhängetasche bezeichnet – rechtfertigen muss. Ein Jahrzehnt zuvor hatte auch eine amerikanische Serienfigur Erklärungsbedarf bezüglich der Tasche für den Herren: „Das ist keine Handtasche! Das ist europäisch!“ entgegnete die Hauptfigur von „Seinfeld“ dem Spott der Freunde. Den erlebte 1999 auch Joey in der Serie „Friends“ eine ganze Folge lang, ohne sich davon abbringen zu lassen, eine große Lederhandtasche zu tragen. Und die von Hape Kerkeling erdachte Kultfigur Horst Schlämmer wurde nur selten ohne Handgelenktasche gesehen, einst Inbegriff der antimodischen Spießigkeit. Doch nun scheint sich wirklich etwas zu ändern. Liegt das daran, dass sich immer öfter „echte Kerle“ wie die Schauspieler Brad Pitt, Oscar Isaac und Robert Pattinson, Musiker wie ASAP Rocky und Sportler wie der Basketballstar Russell Westbrook in Röcken zeigen? Dass Popstars wie Lil Nas X, Damiano David und Harry Styles mit den Grenzen zwischen den Geschlechtern spielen, als wären wir wieder in den Siebzigerjahren gelandet? Ist der Mut zur viel beschworenen Genderfluidität jetzt groß genug, dass sich auch die Handtasche von ihrer vermeintlich unverrückbaren Weiblichkeit emanzipiert? „Es liegt nahe, diesen Zusammenhang sehen zu wollen, aber Genderfluidität hat einen völlig untergeordneten Anteil an dem aktuellen Phänomen“, stellt Trendexperte Tillessen klar. „Für den statistischen Sprung sind vielmehr Macho-Typen mit trainierten Muskeln und einem ultra-männlichen Auftreten verantwortlich.“ Die Jogginghose als Brandbeschleuniger Seit drei Jahren sei das Phänomen zu beobachten. Damit fällt der Beginn in die Pandemie – und in jener Zeit mussten bekanntermaßen viele Menschen zu Hause bleiben. Dass ausgerechnet in einer solchen Phase ein Accessoire populär wird, in dem unterwegs Dinge verstaut werden können, überrascht. Aber noch etwas wurde in dieser Zeit allgegenwärtig: die Jogginghose. „Sie hat sich als Standard in der Kleidung etabliert und ist kein geschmackliches Tabu mehr. Schaut man sich etwa auf einem Schulhof um, sieht man sie mindestens so oft wie die Jeans. Sie ist zur Alltagskleidung geworden“, sagt Tillessen. Und wer eine Jogginghose trage, könne nur schwerlich Schlüsselbund, Smartphone und Geld in den Hosentaschen verstauen: „Das Handy würde bei jedem Schritt einen Bungeesprung machen; wenn man schnell läuft, wird es erst recht grotesk.“ Doch nicht nur die Hose, deren Wahl Karl Lagerfeld einst als Kontrollverlust über das eigene Leben bezeichnete, trägt zum neu erwachten männlichen Mut zur Tasche bei. „Wenn wir Trends analysieren, betrachten wir nicht nur Bilder von Modenschauen, sondern immer auch den Zeitgeist, berücksichtigen soziale Studien, wirtschaftliche Daten, den soziokulturellen Kontext und das Weltgeschehen“, erklärt Tillessen. Das führe in diesem konkreten Fall zu dem Ergebnis, dass neben der Jogginghose auch der Klimawandel die rasante Karriere der Männertasche beflügelt habe: „In den Sommermonaten ist es selbst abends oft so warm, dass ein T-Shirt und eine leichte Hose reichen“, sagt Tillessen. In dieser Kleidung sei in der Regel kein Platz für all das, was man unterwegs dabeihaben wolle. Er selbst sei kein Jogginghosentyp, aber gerade für den Sommer habe auch er mittlerweile zwei Taschen erstanden – bei deren Auswahl er „einen typischen männlichen Komplex“ an den Tag gelegt und sich für Modelle mit sehr utilitaristischer Anmutung entschieden habe: eine Nylon-Crossbodybag mit rutschfestem Gurt zum Fahrradfahren und eine Lederumhängetasche. Damit ist er offenbar nicht alleine. Denn auch die besonders erfolgreichen Modelle unter den Herrentaschen sind vor allem eins: funktional. Mit der kleinen Crossbodybag bleiben die Hände frei; die Bag bietet zudem gerade genug Platz für das Wesentliche und kommt oft – abgesehen vom ostentativen Logo – eher schmucklos daher. Sogenannte Messengerbags, die an die ergonomisch geformten Taschen von Fahrradkurieren erinnern, sind meist mit einer zusätzlichen Tasche am Gurt versehen. Dieses Modell, das nahezu alle Sportartikelhersteller anbieten, bezeichnet Tillessen augenzwinkernd als eine Art „Schweizer Armeemesser unter den Taschen“: ein kleiner Rucksack, dessen beide Schultergurte sich mit Reißverschluss zu einem verbinden lassen. Das komme gut an, denn: „Männer verstecken sich gerne hinter Funktionalität.“ Die Sehgewohnheiten könnten sich ändern Das gilt gerade im Fall der Handtasche, die in der britischen Zeitung „Evening Standard“ 2021 als „kniffligstes gendernormatives Modetabu“ bezeichnet wurde. Zwar normalisiere sich der Anblick von Männern mit Taschen, aber es brauche noch immer eine gewisse Portion Mut, meint Tillessen. Vor allem, wenn das Accessoire nicht zum betont männlich-lässigen Trainingshosen-Stil, sondern zum akkurat sitzenden Anzug kombiniert wird. Dabei könnte man sich in einer Hinsicht ganz gewiss ein Vorbild bei den Fans von Hip-Hop-Stars nehmen, bei denen man angesichts der Texte und des Auftretens zunächst ein eher konservatives Rollenbild vermuten könnte: Mit vermeintlich weiblichen Elementen gehen sie ziemlich entspannt um. Üppiger Goldschmuck ist für sie ebenso wenig ein Tabu wie die Farbe Pink oder eben die Handtasche zur Trainingshose. Genau diese Generation, so Tillessen, wachse jetzt in den Modemarkt hinein. Sie präge Sehgewohnheiten, sorge für eine Normalisierung, wie sie schon das Tattoo und die Turnschuhe zum Anzug erlebt haben – und für ein wachsendes Angebot. Das Phänomen wird bleiben, davon ist der Trendanalyst überzeugt. Aber eben nicht wegen der so oft in Modekreisen prognostizierten Auflösung zwischen den Geschlechtergrenzen: „Genderfluidität kam und ging im Laufe der Jahrzehnte immer wieder, wie in einer Pendelbewegung. Der Wandel in der Hosenmode aber, und auch der Klimawandel, sind bleibende Faktoren. Also wird auch das Bedürfnis nach Taschen bestehen bleiben.“ Eine angenehme Nebenwirkung: Es bleibt mehr Zeit für weniger klischeehafte Dialoge zwischen Paaren in Aufbruchsstimmung.