Ukraine-Krieg: Russland gelingt tiefer Einbruch im Donbass

Im Ukrainekrieg gewinnen häufig Ortsnamen an Bedeutung, für die sich unter alltäglichen Umständen niemand interessiert hätte. Otscheretyne, eine nordwestlich von Donezk gelegene Siedlung mit rund 3400 Einwohnern, ist so ein Ort an der umkämpften Front im Südosten des Landes. In der vergangenen Woche waren russische Einheiten übereinstimmenden Berichten zufolge bis ins Zentrum und zum Bahnhof des Ortes vorgedrungen und hatten dort die russische Flagge gehisst. Mit der Einnahme ist den Russen ein tiefer Einbruch in die ukrainischen Verteidigungslinien gelungen. Bereits zuvor hatten sich die ukrainischen Truppen aus den ebenfalls an diesem Frontabschnitt liegenden Gemeinden Berdytschiw, Semeniwka und Nowomychajliwka zurückziehen müssen, teilte der ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Syrskyi am Sonntag mit. Folgenschwerer Fehler Dieser Bereich sei einer der am heftigsten umkämpften Frontabschnitte. Die Lage hier sei „am schwierigsten“, zitierte das Portal „Kyiv Independent“ den Oberbefehlshaber. Russland habe hier insgesamt vier Brigaden mit jeweils 8000 bis 32.000 Mann in Stellung gebracht, um westlich der im Februar eroberten Industriestadt Adijiwka weiter vorzustoßen. „Insgesamt hat der Feind in diesen Richtungen taktische Erfolge erzielt“, räumte Syrskyi ein. Die Lage an der Front habe sich für die Ukraine verschlechtert, seine Truppen hätten sich in weiter westlich gelegene Stellungen zurückziehen müssen. Zugleich kündigte er an, dass die Ukraine ihre an diesem Frontabschnitt eingesetzten Truppen im rotierenden Verfahren ersetze. Ausgerechnet dabei hat die Ukraine im Fall von Otscheretyne offenbar einen folgenschweren Fehler begangen, wie ukrainische und amerikanische Medien berichten. Bisher habe jenen Frontabschnitt die 47. Mechanisierte Brigade verteidigt, eine ukrainische Elitebrigade, die nach fast einem Jahr ununterbrochenem Fronteinsatz sowie heftigen Verlusten ausgetauscht wurde. Dem Magazin „Forbes“ zufolge sollte die 115. Mechanisierte Brigade die Positionen übernehmen, sei jedoch nicht rechtzeitig dagewesen, um die Lücke zu füllen. Einige Einheiten hätten sich „einfach verpisst“, zitierte „Forbes“ den Kompaniechef der 47. Brigade, Mykola Melnyk. Diese Chance wiederum hätten die Russen genutzt, indem sie schnell in die zeitweise unverteidigte Siedlung vorgestoßen seien. Zwar hätten die Ukrainer, noch schnell die 100. Brigade der Territorialverteidigung an die Front geworfen. Da diese jedoch lediglich mit leichten Waffen ausgerüstet sei, habe sie dem russischen Ansturm nicht standhalten, aber immerhin verhindern können, dass die Russen noch tiefer in ukrainisches Gebiet eindrangen. Gerüchte, wonach die russischen Truppen bei der Eroberung des Ortes auch chemische Waffen eingesetzt haben, wurden bisher nicht bestätigt. Militärbeobachtern zufolge versuchen die russischen Truppen mit aller Macht, Erfolge für den 8. Mai, den Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus, zu erzielen, an dem Putin in Moskau traditionell die Militärparade abnimmt. Zugleich ist jeder Durchbruch an dem beschriebenen Frontabschnitt auch strategisch bedeutend, weil er den Weg in das naheliegende Kramatorsk ebnet.