Les rencontres d’Arles 2024

Zur Eröffnungswoche strömten dieses Jahr über 20.000 Besucherinnen und Besucher nach Arles. Das weltweit älteste Fotografiefestival bespielt nicht nur Galerien und Museen, sondern auch Kirchen, Gewölbekeller und Supermärkte in der ganzen Stadt. Die folgenden Ausstellungen haben einen besonderen Eindruck bei uns hinterlassen: Vasantha Yogananthan – Time FramesDas zentrale Element sämtlicher Projekte des in Grenoble geborenen Fotografen Vasantha Yogananthan ist das Vergehen von Zeit. Seit 2020 kehrt er immer wieder in die Provence zurück und porträtiert dort die Landschaften und ihre Bewohner. Im ersten Kapitel seines Langzeitprojekts „Images Imaginaire“ stellt er uns die erste Protagonistin und ihre Umgebung vor. Die Fotografien sind in warmen Farben und durch den Einsatz von natürlichem Licht komponiert. Sie schaffen eine besondere Intimität. I’m so happy you are here – Japanese women photographers from the 1950s to nowDie Gruppenausstellung „I’m so happy you are here“ richtet den Fokus auf weibliche Fotografie aus Japan, die in den vergangenen Jahrzehnten nur zu kleinen Teilen im Kanon der japanischen Fotografie Beachtung fanden. Die 26 Fotografinnen entstammen mehreren Generationen und arbeiten sehr heterogen hinsichtlich ihrer fotografischen Ansätze und Erzählweisen. Mary Ellen Mark – RencontresDie 2015 verstorbene US-amerikanische Porträtfotografin und Fotojournalistin Mary Ellen Mark verstand sich als Fürsprecherin für marginalisierte Gruppen und Menschen am Rande der Gesellschaft. Sie gilt als eine der größten Vertreterinnen von sozialkritischer Fotografie. Oftmals begleitete sie ihre Protagonistinnen und Protagonisten ihrer Projekte über mehrere Monate oder Jahre. Sie blieb auch nach der Bildproduktion mit ihnen in Kontakt. Der empathische Blick und ihre Beharrlichkeit ist den Bildern anzusehen. Debi Cornwall – Model CitizensDebi Cornwall setzt sich in ihrer Fotografie mit der Inszenierung und Performance von Staatszugehörigkeit auseinander. Die Ausstellung in Arles zeigt hierzu zwei Werkgruppen: Die Bilder aus „Necessary Fictions“ zeigt das Nachspielen von Kriegsszenen als Teil militärischer Übungen. Kostümierte afghanische oder irakische Zivilisten, von denen viele vor dem Krieg geflohen sind, stellen ihn nun im Dienst des US-Militärs nach. „Model Citizens“ zeigt die Inszenierung unterschiedlicher amerikanischer Identitäten. Cornwall besuchte hierfür beispielsweise Geschichtsmuseen und fotografierte Modelle von Amerikanerinnen und Amerikanern als unschuldige Opfer oder heroische Sieger. Wagon-Bar – A short history of railway diningDie Ausstellung über die Geschichte des Bordbistros wurde schnell zum inoffiziellen Favoriten vieler Besucherinnen und Besucher der Eröffnungswoche. Die ersten Bordrestaurants versorgten Zugreisende in den Vereinigten Staaten schon 1860. Das Archivmaterial setzt sich vor allem aus Werbebildern zusammen. Die Bilder veranschaulichen, wie sich nicht nur die Bordgastronomie, sondern auch Design und Reisekultur gewandelt haben. Stephen Dock – ÉchosDer französische Autodidakt Stephen Dock war 2011 mit nur 22 Jahren nach Syrien gereist, um den Krieg zu dokumentieren. Er kam ohne Auftraggeber und begleitete den syrischen Widerstand im ganzen Land. Später fotografierte er für die internationale Presse auch in anderen Konfliktgebieten wie Libanon und dem Irak. Heute betrachtet er das dabei entstandene Bildarchiv kritisch. Wie betrachten wir das Leiden anderer? Indem er seine Fotografien manipuliert und in andere Kontexte bringt, entwickelte er eine neue, ungewöhnlich leise und poetische Form der Kriegsfotografie. Nicolas Floc’h – Rivers Ocean, the landscape of Mississippi’s colors Die Bilder aus der neuen Serie von Nicolas Floc’h ergeben in ihrer Zusammenstellung in Arles abstrakte Farbverläufe. Sie porträtieren den Mississippi. Nicolas Floc’h nahm die Unterwasserfotografien an 224 Standorten im Einzugsgebiet des Flusses auf. Auf seinem Weg zum Ozean nimmt der Fluss organische und mineralische Stoffe auf, die seine Farbe beeinflussen. Ganz im Sinne des diesjährigen Themas des Festivals – „Unter der Oberfläche“ – macht er so Unterwasserlandschaften sichtbar, die zumeist verborgen bleiben. Cristina de Middel – Journey to the CenterDas titelgebende Werk „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ inspirierte Cristina de Middel zu einer vielschichtigen Erzählung der Fluchtroute durch Mittelamerika in Richtung USA.Die spanische Fotografin zeigt einen großen Teil der Werke an einer angedeuteten Grenzmauer und teilt damit die Kirche, die sie mit ihren Fotografien bespielt. Sie kombiniert dokumentarische Bilder mit inszeniertem oder aus Archiven bezogenem Material. So erweitert sie die vorherrschende Darstellung der Migration um eine beinahe mystische Ebene, ohne jedoch die gewaltvolle Realität der Flucht zu negieren. Bruce Eesly – New farmerEine Gruppe älterer Herren in Anzügen beugt sich kritisch über einen Tisch voller Kartoffeln. Bienen bestäuben auf dem nächsten Bild eine bunte Blumenwiese. Beeindruckend große Karotten liegen in der Abendsonne vor einer Holzhütte. Die Bilder von Bruce Eesly stellen Landleben und Agrarwirtschaft in ihrer Farbgebung und Motivwahl scheinbar historisch dar. Allein: Etwas stimmt hier nicht. Auf einem weiteren Bild versperrt ein riesiger Blumenkohl ein Garagentor, ein kleiner Junge präsentiert stolz einen Fenchel, der dreimal größer ist als sein Kopf. Bruce Eesly, Fotograf und Gärtner, hinterfragt in seinen KI-generierten Fotografien die Art, wie Bilder Geschichte konstruieren. In „New Farmer“ geht er der Fortschrittserzählung der landwirtschaftlichen Industrialisierung und unserem Verhältnis zur Natur nach. Marine Lanier – Hannibal’s GardenIn einem Garten inmitten der Altstadt von Arles präsentiert Marine Lanier ihre Fotografien des höchsten Gartens Europas: Der alpine Lehr- und Forschungsgarten von Lautaret stellt ein in dieser Form einzigartiges Konservatorium alpiner Flora dar. Die Fotografin begleitete die dort forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und porträtierte sie und ihre Studienobjekte. Ihre Bildsprache bewegt sich weniger im klassisch wissenschaftlichen Rahmen. Antike Visionen der Reise von Hannibal, die durch ebendieses Gebiet geführt haben soll, inspirierte die Fotografin zu einer vielmehr phantastischen Darstellungsart. Sophie Calle – Finir en beautéUm die Ausstellung der französischen Künstlerin Sophie Calle zu entdecken, müssen wir uns in die Tiefen des Kryptoportikus von Arles begeben. Am Eingang der Ausstellung warnt Calle die Besucherinnen und Besucher vor den angeblich höchst ansteckenden Werken, die es sich daher nicht lohnen würde zu stehlen. Tatsächlich waren einige Werke in ihrem Atelier durch ein Unwetter beschädigt und von Schimmel befallen worden. Die davon betroffene Serie „Die Blinden“ wird nun in dem dunklen, feuchten Gewölbe seinem Schicksal und damit weiterer Zerstörung ausgesetzt. Den Porträts stehen Text und weitere Fotografien gegenüber, alles unmittelbar auf dem Boden platziert. Derart dem Verfall bestimmt sind die Bilder ein umso eindringlicheres Memento mori. Die Ausstellungen sind noch bis zum 29. September in Arles zu sehen.