Nach langer Suche in Kassel :
Sechs Köpfe für die Documenta

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Blick auf das Fridericianum mit dem Friedrichsplatz im Jahr 2022
Hoffnungsvoll: Nach dem Rücktritt der alten Findungskommission präsentiert die Documenta-Geschäftsführung ihr neues Team. Die sechs Kuratoren haben den weiten Blick in die Welt der Kunst.

Der weiße Rauch ließ diesmal länger auf sich warten, doch die gewählten Kunst-Päpste stehen für den hoffnungsvollen Aufbruch eines „Aggiornamento“ der Documenta: Am Mittwochmittag hat das Kasseler Konklave, der Aufsichtsrat der Weltkunstschau, auf Vorschlag der Geschäftsführung die einstimmig berufene Findungskommission der nächsten Documenta 16 bekanntgegeben, die regulär 2027 stattfände, möglicherweise wegen des schwierigen und langwierigen Findungsprozesses mit Komplettrücktritt der vorigen Kommission aber auch um ein Jahr auf 2028 verschoben wird (F.A.Z. vom 5. Juni). Sechs internationale Kuratoren zeitgenössischer Kunst aus den unterschiedlichsten Medien wie Film und Video, klassische Malerei aber auch der Curatorial Studies wurden für Kassel ausgewählt, die durchgängig viel Erfahrung im Organisieren großer Kunstveranstaltungen wie etwa Festivals auszeichnet. Auf Künstler oder Kollektive in der Kommission wurde diesmal verzichtet. Sie setzt sich zusammen aus Yasmil Raymond, Yilmaz Dziewior, Sergio Edelsztein, N’Goné Fall, Gridthiya Gaweewong und Mami Kataoka.

Alle sechs Mitglieder müssen sich nicht mehr beweisen

Die Findungskommission hat dabei die ebenso zentrale wie schwere Aufgabe, eminente Persönlichkeiten der zeitgenössischen Kunst einzuladen, sich mit einem Konzept um die Künstlerische Leitung der Documenta 16 in Kassel zu bewerben und aus den präsentierten Einreichungen das vielversprechendste Format für die Umsetzung auszuwählen. Der Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, Andreas Hoffmann, nannte die jetzige Findungskommission „hochkarätig“. Die sechs Mitglieder stünden mit ihrer Expertise und der Vielfalt ihrer Hintergründe „in besonderer Weise für die Internationalität und Diversität der Documenta“ in Kassel. Auch der hessische Kulturstaatsminister Timon Gremmels sagte dieser Zeitung, er blicke nun „voller Zuversicht auf den Prozess der Vorbereitung der Documenta 16“ und freue sich darauf, „wenn während der Ausstellung die internationale Kunstwelt in Kassel zu Hause ist.“ Mit beiden Statements traten Hoffmann wie Gremmels indirekt den im Vorfeld insbesondere seitens postkolonialer und propalästinensischer Interessengruppen etwa in den USA geäußerten Behauptungen entgegen, aufgrund der proisraelischen Haltung Deutschlands im Gaza-Krieg und der scharfen Kritik an den Antisemitismen der vormaligen künstlerischen Documenta-Leitung „Ruangrupa“ werde sich kein international renommierter Kurator finden, der zur Kommissions-Arbeit in Kassel bereit sei – jedes einzelne Mitglied der nun bestimmten Jury widerlegt diese Befürchtung. Von den zahllosen in die engere Auswahl gekommenen Kandidaten kamen wohl lediglich Absagen im untersten einstelligen Bereich, was vernachlässigbar erscheint.

Der Blick der Neuen geht über fast alle Kontinente

Dass der Blick der Jury tatsächlich in alle Himmelsrichtungen gehen wird und nicht nur einseitig in den sogenannten Globalen Süden, scheint schon dadurch gewährleistet, indem die Mitglieder der Findungskommission von allen Kontinenten (bis auf Australien) stammen. Viele von ihnen haben in der Vergangenheit zudem bereits den Länderpavillon ihrer Heimat auf der Venedigbiennale oder gar eigenständige Kunst-Biennalen kuratiert, was Erfahrung in der Auswahl geeigneter Künstler aus einer sehr großen Menge an in Frage kommenden Kandidaten voraussetzt. Hier seien zudem kurz die beruflichen Hintergründe aufgeführt, die für die kommende Arbeit wichtig sein dürften.

Yasmil Raymond, Kuratorin und ehemalige Rektorin der Städel-Kunsthochschule.
Yasmil Raymond, Kuratorin und ehemalige Rektorin der Städel-Kunsthochschule.Picture Alliance

Die in Frankfurt und Umgebung sicher bekannteste Kuratorin ist die in Puerto Rico geborene Amerikanerin Yasmil Raymond, die von 2020 bis 2024 Rektorin der Städelschule war sowie Direktorin des Portikus und noch immer in der Stadt am Main lebt. Ihrem Rücktritt als Städelschul-Rektorin war ein Machtkonflikt vorausgegangen, da Raymond als Verantwortliche für die Hochschule eine Gaza-Solidaritätsbekundung der Studenten im Namen der Städelschule nicht mittragen wollte. Die Solidaritätsadresse war von männlichen Professoren der Schule gefördert worden, von denen sie sich als Frau nicht respektiert fühlte und deren propalästinensische Haltung sie vor allem nicht teilte (F.A.Z. vom 7. März). Ironischerweise saßen diese zum Teil in der Findungskommission der vorigen Documenta. Vor dem Frankfurter Rektorenamt war Yasmil Raymond unter anderem von 2015 bis 2019 „Associate Curator“ für Malerei und Skulptur am Museum of Modern Art (MoMA) in New York, Kuratorin an der Dia Art Foundation in New York von 2009 bis 2015 und davor seit 2004 „Associate Curator“ für visuelle Kunst am Walker Art Center in Minneapolis. In den letzten zwanzig Jahren arbeitete sie mit vielen internationalen Künstlern zusammen. Zu ihren wichtigsten Ausstellungen gehören eine Retrospektive über Kara Walker, eine Schau zu Thomas Hirschhorns „Gramsci Monument“ und jüngst eine zu Rirkrit Tiravanija für das MoMA-PS1.

Museumsdirektor Yilmaz Dziewior aus Köln
Museumsdirektor Yilmaz Dziewior aus KölnFalko Alexander

Yilmaz Dziewior, der 1964 in Bonn zur Welt kam, ist seit 2015 Direktor des Museum Ludwig in Köln und im für die Kunst immer noch bedeutenden Rheinland eine unhintergehbare Größe. Vor Köln leitete er seit 2009 das Kunsthaus im österreichischen Bregenz. Im Jahr 2015 kuratierte Dziewior daher den österreichischen Pavillon für die Venedig Biennale; 2022 dann den deutschen Pavillon, der von Maria Eichhorn konzeptuell durchgestaltet wurde. Vor seiner Tätigkeit in Bregenz war er acht Jahre Direktor des Kunstvereins in Hamburg und lehrte parallel als Professor für Kunsttheorie an der dortigen Hochschule für bildende Künste. Unter seinen Ausstellungen mit globaler Perspektive ragen heraus der zeitgenössische Teil von „Kunstwelten im Dialog. Von Gauguin zur globalen Gegenwart“.

Kurator Sergio Edelsztein aus Argentinien
Kurator Sergio Edelsztein aus ArgentinienAlbi Serfaty

Sergio Edelsztein, 1956 in Buenos Aires geboren, lebt als freier Kurator in Berlin und in Tel Aviv. Er ist Kurator und Sprecher der Oberhausener Kurzfilmtage, fünfmaliger Leiter der Video-Biennale „VideoZone“ und konnte zwei Mal den Israel-Pavillon der Biennale di Venezia kuratieren. Im Jahr 1995 gründete Edelsztein das Center for Contemporary Art (CCA) in Tel Aviv und war bis 2018 dessen Direktor und Chefkurator. Im Rahmen des CCA organisierte er unter dem Titel „Blurrr“ sieben Performancekunst-Biennalen und eben die fünf internationalen Videokunst-Biennalen „VideoZone“. Edelsztein kuratierte ebenfalls die israelische Komponente der 24. Biennale von São Paulo im Jahr 1998 sowie die israelischen Pavillons auf der Biennale von Venedig 2005 und 2013. Zu den wichtigsten Ausstellungen, die er für das CCA kuratierte, gehören Einzelausstellungen von Yael Bartana, Marina Abramović, Christian Jankowski, Ceal Floyer, Gary Hill, Rosa Barba, alles Künstler, die auch in Deutschland in vielen Ausstellungen präsent waren, letztere sogar in der Neuen Nationalgalerie Berlin.

Kuratorin N'Goné Fall aus dem Senegal
Kuratorin N'Goné Fall aus dem SenegalF. Diouf

N’Goné Fall, 1967 im senegalesischen Dakar geboren, schloss ihr Studium an der École Spéciale d’Architecture in Paris mit Auszeichnung ab. Sie ist eine unabhängige Kuratorin und Expertin für Kulturpolitik. Von 1994 bis 2001 war sie Redaktionsleiterin der in Paris ansässigen Zeitschrift für zeitgenössische afrikanische Kunst Revue Noire. N’Goné Fall ist Herausgeberin von Anthologien zur afrikanischen Kunst sowie zur Fotografie in Afrika und im Großraum Indischer Ozean. Sie war Gastkuratorin der Biennalen von Bamako 2001 und Dakar 2002 und kuratierte Ausstellungen in Afrika, Europa und den USA, darunter „When Things Fall Apart: Critical Voices on the Radars“ im Trapholt Museum in Dänemark (2016) und „In Quest of Freedom, carte blanche to El Anatsui“ in der Conciergerie in Paris 2021, wobei der ghanaische Künstler El Anatsui nach großen Auftritten in München und Düsseldorf auch in Deutschland wohlvertraut ist.

Kuratorin Gridthiya Gaweewong aus Thailand
Kuratorin Gridthiya Gaweewong aus ThailandAngkrit Ajchariyasophon

Gridthiya Gaweewong wiederum, die 1964 in Chiang Rai in Thailand geboren wurde, darf als eine der bekanntesten Kuratorinnen Südostasiens gelten. Gaweewong ist künstlerische Leiterin des Jim Thompson Art Center in Bangkok. Gemeinsam mit dem weltweit agierenden Künstler Rirkrit Tiravanija leitete sie die Thailand Biennale 2023/2024 in Chiang Rai. Neben ihrer Funktion als künstlerische Leiterin des Jim Thompson Art Center in Bangkok ist sie auch Gastkuratorin des MAIIAM Contemporary Art Museum in Chiang Mai. Sie war Mitbegründerin des Bangkok Experimental Film Festivals mit Apichatpong Weerasethakul und betreute dies von 1997 bis 2007. Ihre kuratorischen Projekte befassen sich mit Fragen des sozialen Wandels, mit denen sich Künstler aus Thailand und darüber hinaus seit dem Kalten Krieg auseinandersetzen, darunter „Imagined Borders“ auf der 12. Gwangju Biennale 2018, „Missing Links“ in Bangkok 2015, „Between Utopia and Dystopia“ in Mexico City (2011), den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 2009 und „Politics of Fun“, Berlin (2005).

Kuratorin Mami Kataoka aus Japan
Kuratorin Mami Kataoka aus JapanIto Akinori

Schließlich ist die Japanerin Mami Kataoka seit vier Jahren Direktorin des Mori Art Museum, zuvor von 1997 bis 2002 Chefkuratorin der Tokyo Opera City Art Gallery. Von 2007 bis 2009 war Kataoka als International Curator an der Hayward Gallery in London tätig; außerdem war sie Co-Direktorin der 9. Gwangju Biennale (2012), Künstlerische Leiterin der 21. Biennale von Sydney (2018) und Künstlerische Leiterin der Aichi Triennale 2022. Sie hat  Ausstellungen zu international bekannten asiatischen Künstlern kuratiert, darunter zu Ai Weiwei (2009), Lee Bul (2012), sowie jene zu der in Deutschland lebenden und arbeitenden japanischen Textilinstallations-Künstlerin Chiharu Shiota im Jahr 2019. Auch stark wahrgenommene Übersichtsausstellungen wie „Sunshower: Contemporary Art from Southeast Asia 1980s to Now“ oder „Roppongi Crossing: Zeitgenössische japanische Kunst“ wurden von ihr mitverantwortet.

Die sechs Neuen lassen hoffen

In der designierten Findungskommission findet sich somit große Expertise im Feld dessen, was im Kuratieren kultureller Großveranstaltungen in Deutschland möglich ist und was nicht, wie auch ein sehr weiter Blick auf unterschiedlichsten Positionen der zeitgenössischen Kunst weltweit ohne politisch-postkoloniale Einengungen. Alle sechs Findungskommissionsmitglieder müssen sich nicht mehr beweisen, da durch ihre Museumsdirektoren- oder Chefkuratorenposten unabhängig, und haben bislang stets verantwortlich kuratiert. Man darf daher gespannt sein auf ihren Vorschlag für die kommende künstlerische Leitung der Documenta, der zumindest mit einiger Sicherheit kein verantwortungsloses Kollektiv mehr beinhalten dürfte, vielmehr hoffentlich eine Doppelspitze aus einer Kuratorin und ihrem männlichen Pendant.