Mehrheitswahlrecht in Frankreich und England: Der Unterschied zu Deutschland

Zwei Nachbarländer, zwei Parlamentswahlen, fast gleichzeitig abgehalten. Zwei fast gleich starke Stimmblöcke. Ein glänzender Sieger, ein kläglicher Verlierer. Bei den Wahlen zum britischen Unterhaus hat die Labour Party mit 33,7 Prozent der Stimmen 411 von 650 Sitzen gewonnen, 63,2 Prozent der Mandate. Im zweiten Wahlgang der Wahlen zur französischen Nationalversammlung hat der Rassemblement National 32,1 Prozent der Stimmen erreicht, nach 29,2 Prozent im ersten Wahlgang, und damit 125 von 577 Sitzen gewonnen, einen Anteil von 21,7 Prozent. Keir Starmer konvertiert ein Drittel der Stimmen beinahe in eine Zweidrittelmehrheit; das politische Gewicht des Stimmenanteils von Labour ist also doppelt so groß wie das rechnerische. Labour stellt dreieinhalbmal so viele Abgeordnete wie die bisherige Regierungspartei, die 10 Prozent hinter Labour liegt. Sir Keir kann sich leisten, dass 85 Labour-Abgeordnete gegen ihn rebellieren, ohne dass er seine Unterhausmehrheit verliert – obwohl 33,7 Prozent das schlechteste Ergebnis einer Mehrheitspartei in der britischen Parlamentsgeschichte sind. Die Labour-Minderheitsregierungen von 1929 und 1974 konnten sich auf die Unterstützung von 37,1 beziehungsweise 37,2 Prozent der Wähler berufen. Der Aufblähung der Mehrheit in Westminster korrespondiert die Dezimierung in Paris, die Verwandlung des numerischen Siegers in den politischen Verlierer. Marine Le Pens Rechtspartei liegt wie bei den Europawahlen in der Wählergunst vorne, stellt im nationalen Parlament aber nur die drittgrößte Gruppe. Das Bündnis von Präsident Macron erhält für 23,1 Prozent Stimmen im zweiten Wahlgang 150 Mandate, das sind 26 Prozent, die linke Volksfront für 25,7 Prozent der Stimmen 178 Sitze gleich 30,8 Prozent. Für Deutsche kaum vorstellbar Von deutschen Denkgewohnheiten her betrachtet, erscheint die Übersetzung der Stimmen- in Machtverhältnisse in beiden Ländern unverhältnismäßig. Wir Deutschen sind stolz auf unser Verhältniswahlrecht und können uns eine Alternative schwer vorstellen. Ein im Verhältnis der Stimmenanteile zusammengesetztes Parlament bildet, so scheint es, den Wählerwillen proportional und also gerecht ab. Zweifel an der Formel, das Mehrheitswahlrecht verzerre den Wählerwillen, legt nun das britisch-französische Doppelergebnis nahe. Die Effekte des Wahlsystems beziehungsweise eines sogenannten taktischen Wählens, was nur heißt, dass die Wähler die Regeln des Systems mitbedenken, sind einander entgegengesetzt – und in beiden Fällen drücken sie den Wählerwillen im politischen Sinne, die Entscheidung darüber, wer regieren und wer nicht regieren soll, klarer aus als Ergebnislisten aus mehr oder weniger nah beieinanderliegenden Stimmzahlen. In Großbritannien trat der als klassisch geltende Effekt der Mehrheitswahl ein: Der Sieger erhält eine Prämie, um kraftvoll regieren zu können. Umgekehrt zeigt sich in Frankreich, dass man den Begriff des Mehrheitswahlsystems irreführend nennen kann. Die Regel, dass in jedem Wahlkreis der Bewerber mit den meisten Stimmen gewinnt, kann die Entmachtung der Partei mit der einfachen Mehrheit bewirken. Man sollte vielleicht besser von einem Wahlrecht der Alternative oder des Entscheidungszwangs sprechen – einem Wahlrecht mit Wahlpflicht.