Kapitel 1: Gewalt weiter denken
»Als könnte man, besitzt man einmal Begriffe, solchen das Untersuchen und Denken überlassen.«
(Narr 1983: 51)
Seit etwa dreißig Jahren ist der Begriff epistemic violence in der Welt, um den Stellenwert vor allem wissenschaftlichen Wissens im Kontext globaler asymmetrischer
Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren. In postund dekolonialen sowie feministischen Debatten unterschiedlichster thematischer
Schwerpunkte wird er mit großer Selbstverständlichkeit verwendet, wurde aber
bis heute nicht umfassend theoretisiert. In jenen wissenschaftlichen Feldern hingegen, die sich mit den offensichtlich gewaltförmigen Aspekten gesellschaftlicher
Verhältnisse beschäftigen, wie etwa in der Friedens- und Konfliktforschung, in der
sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung, in den Internationalen Beziehungen
oder in der Politikwissenschaft, ist so gut wie nie von epistemischer Gewalt die
Rede.
Wo es ausdrücklich um Gewalt geht, rücken epistemologische Fragen oft in den
Hintergrund. So enthalten etwa sozialwissenschaftliche Handbücher der Gewaltforschung, Lexika der Internationalen Beziehungen oder der Politikwissenschaft
keinerlei Einträge zu Wissen oder gar zu Epistemologie (Carlsnaes 2013; Gudehus/Christ 2013; Heitmeyer/Hagan 2003; Nohlen/Schultze 2002a, 2002b). Komplementär dazu wird in der Wissenschaftstheorie und Wissenssoziologie Gewalt nicht
als ausreichend relevanter Gegenstand oder Begriff erachtet, um in entsprechende
Überblickswerke Eingang zu finden (Carrier 2017; Engelhardt/Kajetzke 2010; Knoblauch 2005). Die Gründe für diese wechselseitige Leerstelle sind vielfältig. Um ihnen nachzugehen und Argumente zu formulieren, die für ein Zusammendenken
von Gewalt einerseits und Wissen andererseits sprechen, verorte ich meine Ausgangsfrage an dieser Schnittstelle nicht nur zwischen Wissen und Gewalt, sondern
auch zwischen einem analytischen und einem politischen Erkenntnisinteresse. Die
Frage lautet schlicht:
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Epistemische Gewalt
Was ist epistemische Gewalt und wie wirkt sie?
Diesem doppelten Erkenntnisinteresse liegen vier Annahmen zugrunde. Erstens:
Das überwiegend eurozentrische Repertoire an Gesellschaftstheorien, die Wissen(schaft) und Gewalt als zwei einander diametral entgegengesetzte Domänen
des Sozialen verstehen, erlaubt nur eine unzureichende Erfassung möglicher
Zusammenhänge zwischen diesen Domänen. Zweitens: Sich ›einen Begriff zu
machen‹ von diesem Zusammenhang ist die Voraussetzung dafür, dieser wechselseitigen Leerstelle angemessen zu begegnen. Der Begriff epistemische Gewalt
bietet sich als Ausgangspunkt für eine solche Begriffsarbeit und Theoretisierung
an. Drittens: Antworten auf die Frage danach, wie epistemische Gewalt wirkt
und worin sie sich manifestiert, können mit einem transdisziplinären Konzept
epistemischer Gewalt auf eine Grundlage verweisen, die sich nicht in partikularen Erklärungen je unterschiedlicher Gewaltereignisse erschöpft, sondern die
Dimension des Wissens in die ganzheitliche Analyse und Kritik dieser Ereignisse
integriert. Viertens: Die Arbeit an einer Theoretisierung epistemischer Gewalt
stellt einen Beitrag zu einer Kritik der Herrschaft in der globalen Moderne dar
– und zur Dekolonisierung dessen, was dekoloniale Autor_innen die Kolonialität
von Macht, Wissen und Sein nennen.
Die Überschrift dieser Einleitung, Gewalt weiter denken, vereint zwei Aspekte, die
mir dabei wichtig sind. Es ist mein Ziel, dass wir uns mit existierenden Gewaltverhältnissen ebenso wenig zufriedengeben wie mit den Denkweisen über diese.
Wir müssen immer wieder neue Wege der Analyse und Theoretisierung von Gewalt
beschreiten, sie also weiterdenken. Das gilt gerade auch dort, wo wir bisweilen an
Grenzen stoßen, weil ihre Phänomene uns politisch, kognitiv oder auch emotional
überfordern, oder weil wir an einem engen Verständnis von Gewaltfreiheit festhalten, das dadurch ins Wanken zu geraten droht. Mit diesem ›Wir‹ meine ich nicht
nur Wissenschaftler_innen, Politiker_innen oder Aktivist_innen, die sich mit Gewalt beschäftigen. Letztlich sind alle Menschen auf die eine oder andere Weise in
Gewaltverhältnisse verstrickt und dafür mitverantwortlich, welche ihrer Erscheinungsformen weiterbestehen, weil wir sie unterstützen, akzeptieren, für unvermeidbar halten oder gar nicht erst als solche wahrnehmen. Entgegen einem liberaluniversalistischen Verständnis dieses ›Wir‹ ist mir jedoch wichtig zu betonen, dass
unterschiedliche soziale Positionierungen mit sehr unterschiedlichen Formen und
Graden der Verstrickung in Gewalt einhergehen. Dies muss auch bei der Teilung
dieser Verantwortung in Rechnung gestellt werden.
Gewalt weiter denken ist darüber hinaus ein Plädoyer dafür, bei der Analyse und
Kritik von Gewalt bewusst auf weite Konzeptionen zu setzen und diese in genau
jene Debatten und Felder (zurück) zu holen, die sich in einem aus meiner Sicht
allzu engen Verständnis mit Gewalt im internationalen beziehungsweise globalen
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
politischen Kontext beschäftigen. Im Kontext dieser Arbeit sind dies insbesondere
epistemische, strukturelle, kulturelle, symbolische und normative Gewalt.
Ein Konzept epistemischer Gewalt soll vor allem dort mehr Resonanz erlangen,
wo Wissen(schaft) und Gewalt weit auseinander zu liegen scheinen und doch untrennbar miteinander verbunden sind: in jenen sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen, die sich mit Fragen von Gewalt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, vor allem aber mit direkter physischer Gewalt im Kontext internationaler Politik beschäftigen. Diese Gewalt wird selten in einem größeren Zusammenhang von Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen verhandelt. Dort wiederum, wo epistemische Gewalt zum nicht mehr erklärungsbedürftigen Basisvokabular zählt, in kulturwissenschaftlich geprägten Feldern der postund dekolonialen Debatte oder auch indigener Wissenskritik, kann die auf einer
Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt basierende Relektüre von anderen
weiten Gewaltbegriffen wie strukturelle und kulturelle, symbolische und normative Gewalt Anschlussstellen für eine transdisziplinäre Gewaltkritik bereitstellen.
Letztere ist mehr als nur Wissenskritik, und im besten Fall verliert sie auch die Verbindungen von epistemischer mit direkter physischer Gewalt nicht aus dem Auge.
Um dieses Ziel zu verfolgen, nutze ich Elemente aus unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, die einander
ergänzen und vertiefen. Schließlich verstehe ich meine Auseinandersetzung mit
epistemischer Gewalt als Mosaikstein eines facettenreichen und langen Prozesses
der Dekolonisierung von Wissen(schaft), einem durchaus widersprüchlichen Unterfangen, das ich aus epistemologischen, politischen und ethischen Gründen als
richtig und wichtig erachte. Warum es dieser Dekolonisierung bedarf und was ein
Konzept epistemischer Gewalt dazu beitragen kann, erörtere ich in diesem einleitenden Kapitel.
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Epistemische Gewalt
Fragestellung und Forschungsperspektive
»Um sich mit Gewalt zu beschäftigen,
muss man (s-)einen Schlüssel wählen.«
(Barthes 1995: 903)1
Aus der hier eingenommenen Perspektive ist dem Narrativ einer sich linear entwickelnden Gewaltabstinenz der Moderne (Pinker 2011; Reemtsma 2008) und deren
Eignung als glaubwürdige gewaltfreie Überbringerin von Demokratie, Menschenrechten, Aufklärung und Emanzipation entschieden zu widersprechen. Obwohl
aus kritischen Wissenschaftstraditionen immer wieder herausgefordert (Horkheimer/Adorno 1947; Imbusch 2005; Krippendorff 1968), hält sich dieses Narrativ hartnäckig und trägt zur Aufrechterhaltung existierender Herrschaftsordnungen bei –
insbesondere wenn es um die Analyse direkter physischer Gewalt im Kontext internationaler Politik geht. Es reicht weit in die Wissenschafts- und Gewaltgeschichte
der Menschheit zurück und prägt gesellschaftliche Verhältnisse bis heute.
Der mit seiner Prägung durch Michel Foucault (1969, 1979) einer breiteren akademischen Öffentlichkeit verständlich gewordene Begriff epistemische Gewalt, der
vor allem in der post- und dekolonialen Debatte im Anschluss an Edward Said (1978,
1993) sowie in der postkolonial-feministischen Theorietradition im Anschluss an
Gayatri Chakravorty Spivak (1988) auch im Kontext globaler Ungleichheits- und
Gewaltverhältnisse benutzt wird, rückt dieses Narrativ in den Fokus der Aufmerksamkeit. Damit wird es möglich, die Dimension des Wissens als Teil jener Gewaltverhältnisse zu problematisieren, die dieses Narrativ zu überwinden behauptet. Der widersprüchlich und abstrakt erscheinende Begriff trägt dazu bei, ganz
unterschiedliche, über Raum und Zeit disparat verteilte Erscheinungsformen von
Gewalt in ihren Verwobenheiten ebenso wie in ihrem Verhältnis zu bestehenden
Herrschafts- und Wissensordnungen besser zu verstehen.
Ein in dieser Tradition verwurzeltes Konzept epistemischer Gewalt macht Zusammenhänge zwischen Wissen, Gewalt und Herrschaft im globalen Maßstab erkennbar, benennbar und plausibel, ohne dabei als Zauberformel der Analyse oder
gar der Überwindung jeglicher Gewalt in Erscheinung zu treten. Zugleich soll das
Nachdenken über epistemische Gewalt dafür sensibilisieren, dass auch die eigene
Wissenspraxis nicht jenseits jener Verhältnisse und Ordnungen stattfinden kann.
Sie ist also potenziell ebenfalls in Gewaltverhältnisse nicht nur epistemischer Art
verstrickt. Zusammenhänge zwischen Gewalt und Wissen auszuloten, ist daher
1
Das von mir übersetzte Zitat stammt aus dem Interview Propos sur la violence, das Jacqueline Sers mit dem Autor geführt hat. Es wurde am 2. September 1978 in der Wochenzeitung
Réforme erstmals veröffentlicht.
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
ein ethisches ebenso wie ein epistem(olog-)isches Unterfangen, nicht zuletzt aber
auch ein politisches.
Dieses Verständnis lege ich meinem Beitrag zu einer Theoretisierung epistemischer Gewalt zugrunde. Mit Mona Singer verstehe ich Epistemologie »vor allem
auch als den Bereich, in dem mit Sinn für epistemische Gerechtigkeit politische
und ethische Fragen gestellt werden« (Singer 2005: 10). Die Arbeit am Begriff epistemische Gewalt stellt einen Beitrag zur Diskussion solcher Fragen dar. Wenn ich
dabei nicht nur von Wissenschaft, sondern auch von Wissen oder Wissen(schaft)
spreche, will ich die fließenden Grenzen zwischen mehr oder weniger autorisiertem Wissen in Erinnerung rufen, die ihrerseits von der epistemischen Gewalt moderner Wissenschaften mit hervorgebracht werden, deren Entwicklung von politischen und sozialen Prozessen nicht zu trennen ist.2
Wissen(schaft) und Gewalt im Kontext internationaler Politik
Vom privilegierten Standort eurozentrischer wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Gewalt aus betrachtet, ist letztere zumeist »anderswo, anderswer und anderswas« (Brunner 2016c: 94).3 Gewalt und Wissenschaft, so scheint es, haben nichts
miteinander zu tun. Daraus folgt die Annahme, dass aufseiten des sich im Zentrum
der Welt wähnenden Selbst, das diese räumlich und zeitlich dislozierte Gewalt zu
analysieren und sogar zu theoretisieren vermag, Gewalt nicht ist. Das aufgeklärte
intellektuelle und insbesondere das akademisch tätige Subjekt scheint die Tugend
der Gewaltlosigkeit geradezu zu verkörpern, zumal es mit Wissen und Sprache
hantiert und nicht mit Muskelkraft und Waffen.
Ausgehend von einem engen, auf direkte und physische Verletzung begrenzten Verständnis von Gewalt gilt das Feld des Wissens nicht nur als gewaltfrei, sondern auch als Domäne, von der aus Gewalt überwunden und Gewaltfreiheit in die
Welt gebracht wird (Brunner 2017a). Der Begriff epistemische Gewalt stellt diese
Trennung von Wissen(schaft) und Gewalt infrage. Er bezeichnet jenen Beitrag zu
Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, der im Wissen selbst angelegt und zugleich für deren Analyse unsichtbar geworden ist. Damit stellt er auch
zur Diskussion, welche Funktionen insbesondere wissenschaftliches Wissen in seinem »Herrschaftsdienst«4 (Pappe 2011) hinsichtlich der Etablierung und Aufrechterhaltung von Gewaltverhältnissen erfüllt.
2
3
4
Siehe dazu auch die Unterscheidung von epistemisch und epistemologisch, die ich in der
Hinführung zu Kapitel 3 diskutiere.
Hervorhebung im Original.
Die Formulierung »Wissenschaft als Herrschaftsdienst« (Pappe 2011) ist einer wissenschaftspolitischen Auseinandersetzung innerhalb Israels entlehnt, die auf die dekoloniale Debatte
nicht explizit Bezug nimmt.
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Epistemische Gewalt
Epistemische Gewalt liegt im Wissen selbst und nicht nur in den Mitteln, derer wir uns bei dessen Herstellung, Vertreibung und Verwendung bedienen. Die
modernen Wissenschaften haben einen wesentlichen Beitrag zu einer euro- und
androzentrischen »Monokultur des Wissens« (Santos/Nunes/Meneses 2007: xxxii)
geleistet, die zutiefst von epistemischer Gewalt geprägt ist. Damit sind in der postund dekolonialen Debatte vor allem Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften
gemeint. Zugleich sind sie es, mittels derer Gewalt und Ungleichheit in immer
kleinteiliger ausdifferenzierten Subdisziplinen zu analysieren und zu überwinden
versucht wird.
Gerade diese Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen ist jedoch »ein
Ergebnis der intellektuellen Arbeitsteilung« (Boatcă/Costa 2010b: 69), die sich in
Europa nicht zufällig in genau jener Zeit herausbildete, in der sich seine schon
drei Jahrhunderte zuvor begonnene koloniale Expansion bereits über den ganzen
Globus erstreckt hatte. Den vermeintlich autonomen Sphären menschlichen Handelns, Markt, Staat und (Zivil-)Gesellschaft, die als charakteristisch für die Moderne gelten, so Manuela Boatcă und Sérgio Costa in ihrer postkolonialen Kritik der
Sozialwissenschaften, wurde im 19. Jahrhundert mit Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie je ein Fach zugewiesen (ebd.). Demgegenüber ist
es zur Aufgabe der Ethnologie, der Orientalistik und später auch diverser interdisziplinärer Regionalwissenschaften geworden, »zu erklären, warum der Rest –
im Grunde […] die außereuropäische Peripherie – nicht modern war oder es nicht
werden konnte« (ebd.).
Gewalt, Krieg und Konflikt werden seither vor allem im zeitlich oder räumlich fernen Anderswo lokalisiert, weshalb diese intellektuelle Arbeitsteilung auch
in der Friedens- und Konfliktforschung, den Internationalen Beziehungen und der
Politikwissenschaft bis heute vorherrschend ist. Sie prägt die Methoden, Theorien und Paradigmen dieser wissenschaftlichen Felder, von denen ausgehend ich in
eine Leerstelle rund um epistemische Gewalt als Phänomen und Begriff konstatiere. Gewalt wird in diesen Disziplinen konzeptionell kaum mit der Dimension
des Wissens verbunden, die in post- und dekolonialen wie auch in feministischen
Perspektiven einen wichtigen Stellenwert einnimmt und für eine Theoretisierung
epistemischer Gewalt unabdingbar ist. Zumal es bei diesen Ansätzen um die Überwindung des anhaltenden Zustandes der Kolonialität geht, um eine Dekolonisierung also, die weit über den bereits abgeschlossen geglaubten politischen Prozess
hinausgeht und auch die kulturelle sowie die epistemische Dimension betrifft, stellen sie das eurozentrische und okzidentalistische Fundament des Wissens selbst
infrage.
Eine solche »Politik der Epistemologie« (Coronil 2002: 182) kann den Raum
für das Erkennen und Benennen der Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen
Formen von Gewalt in ihrem historischen, sozialen, (geo-)politischen und ökonomischen Kontext wieder weiten. Sie stellt die Voraussetzung dafür dar, selbstver-
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
ständlich gewordene Gewaltverhältnisse »durch ein retardierendes Moment zu unterbrechen« (Staudigl 2015: 21) und »Spielräume geringerer Gewalt zu eröffnen«
(ebd.: 8). Zugleich ist anzuerkennen, dass auch diese notwendigerweise auf dem
»epistemischen Territorium der Moderne« (Vázquez 2011: 29) stattfindende Wissenspraxis selbst in Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse involviert ist.
In der politikwissenschaftlich geprägten Friedens- und Konfliktforschung, von
wo aus sich meine Fragestellung entwickelt hat, bewegt sich die Debatte gegenwärtig wieder in Richtung eines engen Verständnisses von Gewalt (Bonacker/Imbusch
2010; Koloma Beck/Schlichte 2014). Sie fokussiert vorrangig auf Begriffe, in denen
Gewalt inklusive Schädigungsabsicht und politischem Kontext als direkte und physische gefasst wird. Der lange Weg zu direkter physischer Gewaltanwendung, der
von ineinander verwobenen unterschiedlichen Gewaltformen gesäumt ist – von
struktureller und kultureller über symbolische und normative bis hin zu epistemischer Gewalt –, ist in diesen Feldern der Auseinandersetzung mit Gewalt noch
weitgehend unvermessen. Auch in den Internationalen Beziehungen und der Politikwissenschaft kann nicht von einer substanziellen Weitung des Gewaltbegriffs
gesprochen werden.
Eine kritische wissenschaftstheoretische Selbstreflexion zum Verhältnis von
Wissenschaft und unterschiedlichen Dimensionen von Gewalt wiederum ist nur
an den Rändern hegemonialer Debatten, wie etwa in der feministischen Forschung
feststellbar, die zahlreiche Querverbindungen zu post- und dekolonialen Perspektiven ermöglicht (Batscheider 1993; Engels/Gayer 2011; Exo 2009, 2015). Eine von
diesen und anderen Rändern ausgehende Theoretisierung des Begriffs epistemische Gewalt erachte ich daher als notwendig und nützlich im Sinne einer erneuten
Problematisierung der Relevanz und Wirkungsweisen von Wissen(schaft) im Kontext globaler Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse.
Sich an der Theoretisierung epistemischer Gewalt zu beteiligen und den Begriff
aktiv zu benutzen bedeutet freilich nicht, einer Verharmlosung direkter physischer
Gewalt Vorschub zu leisten, wie dies von Befürworter_innen eines engen Gewaltbegriffs bisweilen unterstellt oder befürchtet wird. Mit Markus Schroer (2000: 436)
halte ich fest, dass ein weites Gewaltverständnis keineswegs mit einer Relativierung von direkter physischer Gewalt einhergehen muss. Der Begriff epistemische
Gewalt ermöglicht vielmehr deren Relationierung, in dem er den Blick »auf den Zusammenhang zwischen den Beobachteten und den Beobachtenden […], zwischen
den Produkten und der Produktion, zwischen dem Wissen und dem Ort seiner
Entstehung« (Coronil 2002: 184) schärft. Erst wenn dieser Ort mit ins Bild kommt,
können die Verbindungen zwischen Formen direkter physischer Gewalt einerseits,
die einen Gegenstand der Friedens- und Konfliktforschung, der Internationalen
Beziehungen und der Politikwissenschaft bilden, und epistemischer Gewalt andererseits, die auch von diesen Disziplinen mit hervorgebracht wird, angesprochen
werden. Mit einem Konzept epistemischer Gewalt können gängige binnenwissen-
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Epistemische Gewalt
schaftliche und auch politische Gewaltdebatten gegen den Strich gelesen und das
komplexe Konglomerat Gewalt im unvermeidbaren Zusammenspiel von sozialem
Ereignis, diskursiver und epistemischer Dimension, analytischer Durchdringung
und politischem Urteil neu betrachtet werden.
Auch wenn der Begriff epistemische Gewalt in der Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen noch weitgehend unbekannt ist, eignet sich deren Umfeld als Ausgangspunkt für eine über diese (Sub-)Disziplinen der
Politikwissenschaft hinausreichende Theoretisierung. Erstens ist ein zentrales Element epistemischer Gewalt der von ihr ausgehende Effekt der Normalisierung und
Rechtfertigung von anderen Gewaltformen direkter und indirekter Art, die wiederum den Gegenstandsbereich der Friedens- und Konfliktforschung und großer Teile
der Internationalen Beziehungen bilden. Zweitens ist die internationale Dimension, die diesen Fächern bereits durch ihre Gegenstände innewohnt, aus post- und
dekolonialer Perspektive wesentlich für die Frage nach jenem auch global kanonisierten Wissen, mit dem diese Gegenstände analytisch gefasst werden. Drittens
verkörpert die dort dominierende eurozentrische Beschäftigung mit Krieg, Konflikt und Gewalt im internationalen Verhältnis genau jene wissensbasierten Prämissen von Aufklärung, Modernität und Fortschritt, die nicht nur Teil der Lösung
zu sein verheißen, sondern auch konstitutives Element des Problems sind. Massive soziale und politische Ungleichheitsverhältnisse, denen zahlreiche Formen von
Gewalt vorausgehen und aus denen ebensolche resultieren, werden immer auch
von spezifischem Wissen mitkonstituiert und begleitet. Dies muss entsprechend
in eine Analyse und Kritik integriert werden.
Während sich Friedens- und Konfliktforschung explizit mit Gewalt im politischen Kontext beschäftigt und ihre Phänomene den ausdrücklichen Gegenstandsbereich des Feldes bilden, ist Gewalt als eigenständiges Thema in der Politikwissenschaft weniger deutlich konturiert. Auch wenn Gewaltverhältnisse Ausgangspunkt für zahlreiche Forschungsfragen und Gegenstände der Disziplin sind, werden sie selten so benannt. Politik wird vielmehr als Verteilungs-, Macht- oder Ordnungsfrage verhandelt. Daraus resultiert zwar die zentrale Auseinandersetzung
mit Staatsgewalt und Gewaltenteilung, also mit zu Normen und Institutionen geronnenen Gewaltverhältnissen (Brunner 2016c). Diese gelten jedoch nicht als gewaltförmig, sondern als Ergebnis der Überwindung von Gewalt durch Politik. Die
beiden Sphären scheinen einander auszuschließen, denn es gilt das Verständnis,
Gewalt und Macht seien verschiedenartige Phänomene und daher auch begrifflich streng voneinander zu trennen. In ihrer Auseinandersetzung mit symbolischer
Gewalt nach Pierre Bourdieu empfiehlt Marion Löffler ausgehend von einem feministischen Politik(wissenschafts-)verständnis daher, »die Theoretisierung des modernen Staates mit einem differenzierteren Gewaltkonzept auszustatten« (Löffler
2012: 211). Zumal Gewalt und Staat zu den Kernkonzepten des Fachs zählen, würde
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
dies auch weitreichende Konsequenzen für die Politikwissenschaft insgesamt, für
ihre Begriffe, Methoden und Debatten nach sich ziehen.
Damit jedoch ist der Horizont der Analyse des Zusammenhangs von Gewalt
einerseits und Wissen andererseits auch für die Politikwissenschaft noch nicht erreicht. Kristin Platt hält fest, dass jede ernsthafte Forschung über moderne staatliche Gewalt zu einer Hinterfragung der gesellschaftlichen Wissenssysteme führen müsse (2002: 20). Umgekehrt sollte auch eine nach Gewalt fragende Auseinandersetzung mit Wissen den Staat nicht außer Acht lassen, denn dass den mit
der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols verbundenen politischen Prozessen zahlreiche Formen von Gewalt zugrunde liegen, findet in den zentralen Begriffen und Kategorien der Disziplin wenig Niederschlag. Deren zentraler Referenzpunkt ist der moderne europäische Nationalstaat westlicher Prägung, dessen
euro- und androzentrische Verfasstheit als stille Norm des konzeptionellen politikwissenschaftlichen Instrumentariums wirkt (Ludwig/Sauer/Wöhl 2009; Krieger
2015). Zugleich gilt alles, was das staatliche Gewaltmonopol und die anerkannte
Gewaltenteilung herausfordert, als gewaltsame Abweichung von dieser Norm.
Die Erkenntnis post- und dekolonialer Theorie, die Einhegung von Gewalt nach
innen sei der gewaltförmigen Konstitution der Moderne und der kriegerischen kolonialen Expansion europäischer Staaten geschuldet (Kurtenbach/Wehr 2014: 96),
steht diesem Verständnis diametral gegenüber. Aus dieser Perspektive kann die Behauptung einer umfassenden Gewalteinhegung der Moderne durch das staatliche
Gewaltmonopol gleichermaßen als Grundlage für das vorherrschende Gewaltverständnis der Politikwissenschaft wie auch als Mythos zur Aufrechterhaltung des
politischen Status quo jener globalen Weltordnung verstanden werden, mit deren
direkt-physischen Gewaltphänomenen sich die Friedens- und Konfliktforschung
und Teile der Internationalen Beziehungen befassen. Aus post- und dekolonialer
Sicht liegt Gewalt im engen wie im weiten Sinne in den eurozentrischen Praktiken
und Paradigmen der Moderne selbst begründet, die nach Ordnung und Klassifikation strebt, um unterwerfen und regieren zu können. Epistemische Gewalt ist also
nicht einfach eine unter vielen, nebeneinander existierenden, Formen von Gewalt.
Sie ist jener immer noch imperialen Weltordnung, in der sich Gewalt auch heute
ereignet, zugrunde gelegt.
(Un-)Eindeutigkeit und (De-)Legitimierung
Einst »Obrigkeiten, deren Legitimität außer Frage steht« (Imbusch 2002: 31) bezeichnend, verfügt der Begriff Gewalt heute über einen breiten Bedeutungsgehalt,
der jedoch alltagssprachlich wie auch im wissenschaftlichen Gebrauch zumeist auf
direkte und physische, personale Gewaltanwendung verkürzt wird. Er impliziert
auf sprachlich-konzeptioneller Ebene genau jene Gleichzeitigkeit und Ununterscheidbarkeit von Verfügungsgewalt und Gewaltanwendung, die bis heute eine po-
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Epistemische Gewalt
litische und wissenschaftliche Eindeutigkeit im Sprechen und Schreiben über Gewalt erschwert. Zugleich sind es genau diese beiden Dimensionen, zwischen denen
sich die Phänomene bewegen, die die Gegenstände der Friedens- und Konfliktforschung, der Internationalen Beziehungen und auch von Teilen der Politikwissenschaft bilden. Die Theoriearbeit zum Thema Gewalt bringt also eine zweifache
Herausforderung mit sich, die zugleich eine Ressource für das Nachdenken über
epistemische Gewalt darstellt. Zum einen ist es die inhaltliche (Un-)Eindeutigkeit
des Gewaltbegriffs, zum anderen die dabei stets mitschwindende Problematik der
(De-)Legitimierung dessen, was damit bezeichnet wird.5
In Bezug auf die Frage nach der (Un-)Eindeutigkeit ist die sprachliche Ambiguität zu nennen, die mit dem Begriff Gewalt einhergeht und zugleich eine Ambivalenz darstellt. Ambiguität bezeichnet eine Doppel- oder Mehrdeutigkeit, Ambivalenz eine Zwiespältigkeit oder Zerrissenheit, verweist also nicht nur auf mehrere Optionen, sondern auch auf einen zwischen ihnen existierenden Zustand der
Spannung. Die mehrdeutigen konzeptionellen Verständnisse und Begriffstraditionen des vermeintlich Eindeutigen – Gewalt – spiegeln schon semantisch ein Problem, das auch den damit bezeichneten Phänomenen innewohnt. Der deutschsprachige Begriff Gewalt unterscheidet nicht zwischen Ordnungsbegründung (potestas), die positiv mit Rechtmäßigkeit und Institutionalisierung konnotiert ist, und
Ordnungszerstörung (violentia) die negativ mit Unrechtmäßigkeit und unmittelbarer Ausübung verbunden wird (ebd.: 27ff.). Im Gegensatz zum Englischen oder
den romanischen Sprachen steht der deutsche Begriff Gewalt sowohl für den körperlichen Angriff als auch für die behördliche Amts- und Staatsgewalt (ebd.: 29).
Diese Ambiguität ist kein etymologischer Zufall und liegt auch nicht in unpräzisem
Sprachgebrauch begründet. Vielmehr erinnert sie an die zuerst absolutistische und
dann nationalstaatliche Monopolisierung legitimer physischer Gewaltanwendung
(ebd.: 30) und steht damit auch für die Ambivalenz der Tatsache, dass violentia und
potestas einander stets überschneiden. Für die politisch-theoretische Auseinandersetzung mit Gewalt stellt diese Ambivalenz nicht notwendigerweise einen Nachteil
dar, vereint sie doch dialektisch zwei Gegensätze miteinander, die Étienne Balibar als konstitutives Element des Politischen bezeichnet (2009: 101). Politik würde
sich nicht als Ersatz für Gewalt anbieten, so Balibar, wenn zuvor nicht alle denkbaren Ausprägungen von Gewaltsamkeit in diesem Begriff vereindeutigt worden
5
An manchen Stellen spreche ich auch von Illegitimität, die ich von Delegitimierung unterscheide. Was delegitimiert wird, ist bereits zumindest als Denkmöglichkeit in der Welt und
wird ex post zu etwas gemacht, das nicht legitim sein soll. Als illegitim qualifiziert wird etwas
hingegen bereits im Vorhinein, indem eine potenzielle Rechtfertigbarkeit als unmöglich zu
denken erscheint. So können etwa bestimmte Akte politischer Gewalt legitimiert oder delegitimiert werden, ihre Akteur_innen gelten jedoch als per se legitime oder illegitime.
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
wären, nur um die mit ihm bezeichneten Phänomene von der Sphäre der Politik
abzugrenzen und in Grade der (Nicht-)Tolerierbarkeit zu unterteilen (2015: 2).
Der Begriff epistemische Gewalt stellt diese Trennlinie infrage und lenkt den
Blick auf genau jene Prozesse der Vereindeutigung, die der vermeintlichen Trennung zugrunde liegen. Er macht sichtbar, dass und wie zerstörende Gewalt der
begründenden Gewalt inhärent, von ihr also gar nicht zu isolieren ist. Somit stellt
politisch angestrebte potestas nicht das diametrale Gegenüber einer politisch unerwünschten violentia dar, sondern bezeichnet vielmehr deren Fortsetzung in einem
anderen Zustand. Hier ist Zygmunt Baumans Bemerkung zum Begriff der Ambivalenz aufschlussreich. Er erachtet sie als ein notwendiges Nebenprodukt der
zentralen Aufgabe der Moderne, des Klassifizierens, das zugleich nach noch mehr
Klassifizierung verlangt (Bauman 1991: 3f.). Insofern birgt der uneindeutige Begriff Gewalt eine konzeptionelle Präzision, die die vermeintlich präzise Spaltung
in power und violence verschleiert: Er verweist auf die Gewaltsamkeit der Sphäre des
Politischen, die in einem engen Gewaltverständnis gar nicht als Gewalt verstanden
wird, zugleich jedoch zutiefst von Gewalt durchdrungen und bedingt ist.
Eine vermeintlich trennscharfe Bezeichnung kann also nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwa mit dem englischen power oder violence jeweils vielschichtige
gewaltförmige Prozesse, Verhältnisse und Ereignisse ebenfalls nur unzureichend
benannt werden können und die oben skizzierte Problematik nicht gelöst ist.
Auch in wissenschaftlichen Debatten über Phänomene und/oder Begriffe von
Gewalt handelt es sich bei Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten
dementsprechend nicht nur um Probleme mangelhafter Übersetzungen zwischen
unterschiedlichen Disziplinen und/oder Sprachen. Eine mehrsprachige Lektüre
kann zwar das politische Spannungsverhältnis nicht auflösen, das der faktischen
Ambivalenz von power und violence zugrunde liegt. Sie kann jedoch für das Vorhandensein jener konzeptionellen Ambiguität sensibilisieren, mit der die genannten
erkenntnistheoretischen und politischen Probleme und Herausforderungen einhergehen.
So stellt allein die zunehmende englischsprachige Standardisierung wissenschaftlicher Tätigkeit einen Teil jener Ordnungsbegründung und ihrer Legitimierung dar, die aus post- und dekolonialer Perspektive einen der Grundpfeiler für
die Existenz und Wirksamkeit epistemischer Gewalt in der globalen »Monokultur
des Wissens« (Santos/Nunes/Meneses 2007: xxxii) bildet. Für die Theoretisierung
epistemischer Gewalt ganz bewusst vom uneindeutigen deutschen Begriff Gewalt
auszugehen, erleichtert daher den Verweis auf die zentrale Rolle, die wissenschaftliches Wissen in Hinblick auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse spielt, die immer
auch Gewaltverhältnisse sind. Nicht zuletzt macht epistemische Gewalt auch andere Formen von Gewalt selbstverständlich, während sie selbst nicht als offensichtlich gewaltförmig in Erscheinung tritt. Sie legitimiert und delegitimiert, was wir
(nicht) für Gewalt und damit (nicht) für problematisch oder wünschenswert hal-
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Epistemische Gewalt
ten. Was Gewalt, Gewaltlosigkeit, Gewaltverzicht, Gewaltfreiheit und verwandte
Begriffe bezeichnen soll oder tatsächlich umfasst, hängt also von ihrer diskursiven
und politischen Verortung sowie von der grundlegenden Frage legitimer Autorität
ab (Wolff 2009: 51).
Als neben der (Un-)Eindeutigkeit weiteren wichtigen Aspekt einer EntSelbstverständlichung und Weitung des Gewaltbegriffs verweise ich daher darauf,
dass jedem Sprechen und Schreiben über Gewalt auch Annahmen und Urteile über
die Legitimität der mit diesem Begriff bezeichneten Ereignisse und Phänomene
zugrunde liegen. Diese werden meist nicht explizit gemacht, und oft liegen sie
bereits in der soeben skizzierten (Un-)Eindeutigkeit des Gewaltbegriffs begründet. So beinhalten etwa Auseinandersetzungen über die angemessene Enge oder
Weite von Gewaltbegriffen oft den Vorwurf, mit weiten Konzepten ein konkretes Gewaltereignis – etwa im Zusammenhang mit der Staats- und Gewaltkritik
innerhalb sozialer und auch militanter Bewegungen – zu rechtfertigen anstatt
zu analysieren. Umgekehrt sehen sich Befürworter_innen eines engen Gewaltverständnisses mit der Kritik konfrontiert, konkrete Gewaltereignisse von ihrem
historischen und (geo-)politischen Kontext abzutrennen und damit unverhältnismäßige Gewaltanwendung im Rahmen des (national-)staatlichen Gewaltmonopols
zu legitimieren. Nicht zuletzt auch deshalb ist die Frage nach der angemessenen
Definition von Gewalt ein Dauerstreitthema zwischen unterschiedlichen wissensund gesellschaftspolitischen Positionen, die sich in der »Dissenswissenschaft«
(Jaberg 2011: 61) Friedens- und Konfliktforschung ebenso abbilden wie in anderen
Teilbereichen der Sozialwissenschaften, die sich mit Gewalt als sozialem Ereignis
in politischem Kontext beschäftigen (Schnell 2014).
Gegenüber staatlich legitimierten Formen von Gewalt besteht aufseiten hegemonialer Wissenspraxis kaum Notwendigkeit zur Distanzierung, weil etwa militärische Gewalt als Ordnung erhaltend oder diese wiederherstellend rationalisiert
werden kann: »Heutzutage wird nicht mehr Krieg geführt, sondern Frieden geschaffen.« (Berndt 2013: 159) Vermeintlich geht es nicht mehr um die Durchsetzung
von Interessen, sondern um Sicherheit und Demokratie, nicht mehr um Kriegsrecht, sondern um Schutzverantwortung, nicht mehr um Dominanz und Herrschaft, sondern um Governance (ebd.: 160). Zugleich rücken jene »Forschungsobjektsubjekte« (Brunner 2011: 173) in weite Ferne, die als irreguläre, irrationale, jedenfalls aber illegitime Gewaltakteur_innen – von der ›Terroristin‹ bis zum ›Schurkenstaat‹ – für die meisten Fragestellungen nach politischer Gewalt im internationalen Kontext eine starke Anziehungskraft ausüben und eine ideale Gegenfolie für
die angenommene eigene Aufgeklärtheit und Gewaltfreiheit darstellen (Brunner
2016c: 94). Ein solches Verständnis erleichtert es, vom Skandalon der Gewalt, von
ihrem Schmutz und Geruch sowie insbesondere von der Verantwortung für sie Abstand zu nehmen. Darüber hinaus erleichtert es, jegliches ›eigene‹ Gewaltengagement als Ausnahme von dieser Norm zu rahmen. »Kriege«, so Gertrud Brücher in
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
ihrer Analyse des Pazifismus, erscheinen dann »als Ausscheidungskämpfe auf dem
langen Weg zum finalen Frieden stiftenden Weltgewaltmonopol, zur Weltzivilgesellschaft und zur Weltbürgerrechtsgesellschaft« (2013: 119) oder, wie sie kritisch
formuliert, als unvermeidliche Reaktion auf globale Herausforderungen durch jenen Teil der Welt, »der in Krieg und Elend versinkt« (ebd.: 120).
Diese epistemologisch-politische Grundproblematik äußert sich im Wissen
über Gewalt im politischen Kontext auf vielfältige Weise. Je leichter sich ein
Gewaltbegriff operationalisieren lässt, umso eher ist ihm eine Verankerung im
kanonisierten Gedächtnis der sozialwissenschaftlichen Gewaltexpertise sicher.
Letzteres wiederum ist umso eher der Fall, je enger das Verständnis von Gewalt
gefasst wird, je weniger an historischem Kontext oder theoretischer Einbettung
mit zu bedenken ist, ganz zu schweigen von epistemologischen Überlegungen, die
eindeutige Erklärungen verkomplizieren. Zumeist jedoch wird Gewalt überhaupt
nicht näher definiert, weil man darunter unhinterfragt direkte und physische
Gewalt versteht, die keiner weiteren Begriffsbestimmung zu bedürfen scheint,
was wiederum die Frage ihrer potenziellen Legitimierbarkeit vereinfacht. Vor
diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Begriff epistemische Gewalt
bislang noch kaum Eingang in jene Fächer gefunden hat, die ihre Stärken eher in
der Anwendungsorientierung empirischer Sozialforschung entwickelt haben, die
konkrete Gewaltereignisse untersucht, als in der Theoriebildung oder gar in einer
epistemologischen Reflexivität, die diese Ereignisse ebenso wie deren Beforschung
in einen größeren Zusammenhang von Wissen und Herrschaft stellt.
Je enger das Verständnis von Gewalt, umso anfälliger ist es auch für die Komplizenschaft mit epistemischer Gewalt, die wiederum als stille Norm unbemerkt im
Hintergrund bleibt. Wenn Gewalt lediglich als Störung verstanden wird, die – auch
mit Hilfe wissenschaftlicher Expertise – wieder ›in Ordnung‹ zu bringen ist, wird
die Gewaltsamkeit jener Ordnung selbst unsichtbar gemacht. Diese Unsichtbarkeit
erst lässt Normen funktionieren und damit bestimmte Formen von Gewalt legitimieren, die dann als weit weniger problematisch erscheinen als jene, gegen die
sie sich richten, oder erst gar nicht unter dem Begriff Gewalt verhandelt werden.
Ein weiter Gewaltbegriff, der auch systematisch versteht und erklärt, was epistemische Gewalt ist und wie sie wirkt, stellt genau diese Normativität der Unterscheidung in Gewalt/nicht-Gewalt beziehungsweise in legitime/illegitime Gewalt
infrage. Damit wird kein generalisierter Kausalzusammenhang zwischen Wissen
und Gewalt hergestellt und auch keine Ursachenforschung im engeren Sinne und
unmittelbar anwendungsorientierten Fallmodus betrieben. Auch bedeutet die Betonung der Gewaltsamkeit von Wissens- und Herrschaftsordnungen nicht deren
Gleichsetzung mit direkter Gewalt und somit deren Relativierung. Vielmehr geht
es mir darum, Möglichkeitsbedingungen für gewaltförmige Strukturen, Prozesse,
Verhältnisse und auch Ereignisse im globalen Kontext erkenn- und benennbar zu
machen, die in der Analyse politischer Gewalt bislang zu wenig Berücksichtigung
21
22
Epistemische Gewalt
finden, weil die Dimension des Wissens kaum beachtet oder zu oberflächlich betrachtet wird.
Prozess, Verhältnis und Normativität
Die Präferenz für einen weiten Gewaltbegriff, der auf die Dimension des Wissens
in der kolonialen Moderne fokussiert, sowie die Anerkennung des ambivalenten
Bedeutungsgehalts des vermeintlich eindeutigen Begriffs Gewalt mündet in einer
Argumentation, die Gewalt nicht nur in Form von Ereignissen denkt, sondern als
prozessual und relational. Selbst wenn man einen auf direkte physische Gewalt
fokussierenden Standpunkt einnimmt, muss eingeräumt werden, dass »Gewalten
[…] nicht sauber zu trennen« (Roth 1988: 41) sind, sondern ein Kontinuum bilden
(ebd.). In kritischen Traditionen der Gewaltforschung besteht durchaus Konsens
darüber, dass der Normalfall von Gewalt die Uneindeutigkeit und Vielschichtigkeit
ihrer Phänomene ist, und dass auch strikte Definitionsversuche dieses Problem
nicht lösen können (Heitmeyer/Soeffner 2004: 11). Unterschiedliche Erscheinungsformen von Gewalt stehen zueinander in sich verändernden Verhältnissen und nur
eine ganzheitliche Betrachtung dieses größeren Zusammenhangs ermöglicht eine
angemessene Analyse eines bestimmten Gewaltereignisses.
Michael Staudigl, dessen Interesse vorrangig physischen Gewaltereignissen
gilt, plädiert daher dafür, Gewalt in dreierlei Hinsicht als »durch und durch relationales Phänomen« (Staudigl 2015: 280) zu denken: in Hinblick auf ihre »Leiblichkeit
und Symbolizität« (ebd.), als »eine spezifische Form des Umgangs mit eigener und
korrelativ fremder Verletzlichkeit« (ebd.) sowie »als Ereignis im Horizont ihrer
Ordnungen« (ebd.). Dieser Horizont der Ordnungen von Wissen und Herrschaft
ist es, den eine Theoretisierung epistemischer Gewalt vor Augen hat. Von dort
ausgehend und auf diesen Horizont hin berücksichtigen feministische, postund dekoloniale Perspektiven auch die von Staudigl genannten Dimensionen der
Leiblichkeit und der Verletzlichkeit, die in der phänomenologisch orientierten
Gewaltforschung im Kontext internationaler Politik zumeist als abgetrennt von
Wissen und Ordnung verstanden werden. Diese körperliche Dimension von Gewalt in einen Zusammenhang mit Wissen und Ordnung im globalen Kontext zu
stellen, dabei aber nicht nur in einer kurzen Zeitdimension rund um voneinander
isoliert betrachteten Gewaltereignissen zu denken, ist eine Stärke des Begriffs
epistemischer Gewalt.
Auf Basis insbesondere der zuletzt genannten dekolonialen Theorietradition,
die 500 Jahre in die Weltgeschichte zurückblickt, um globale Ungleichheits- und
Ungerechtigkeitsverhältnisse einer immer noch imperialen Herrschaftsordnung
der Gegenwart zu verstehen, ist der Faktor Zeit von großer Bedeutung. Nur mit
einer Perspektive der longue durée kann epistemische Gewalt also angemessen theoretisch gefasst werden. Gerade das kann über jene Felder, von denen meine Spu-
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
rensuche nach epistemischer Gewalt ihren Ausgang genommen hat, nicht gesagt
werden. In der Friedens- und Konfliktforschung und den Internationalen Beziehungen richtet man die Aufmerksamkeit überwiegend auf den unmittelbaren politischen Kontext von direkt-physischen und unmittelbar beobachtbaren Gewaltereignissen.6 Wenn dieser Kontext zeitlich oder räumlich ausgedehnt wird, um als
problematisch und illegitim betrachtete Gewalt besser kulturalisieren und essenzialisieren zu können, wie dies etwa in Samuel Huntingtons (1996b) breit rezipierter Zivilisationstheorie der Fall ist, dann ist das ein aus meiner Sicht problematisches Verständnis von longue durée, das seinerseits als epistemisch gewaltförmig zu
bezeichnen ist.
Aus anderen Gründen argumentiert Schroer bei der Definition von Gewalt für
eine ausgedehnte temporale Dimension, wenn er sagt, dass Gewalt nicht zu- oder
abnehme, sondern immer da sei, ihr Gesicht ändere, in unvermutete Räume abwandere und sich tarne, »so dass man von einem äußerst unberechenbaren, fluiden Phänomen sprechen muss, das sich nicht ein für alle [M]al identifizieren und
auf eine Form festlegen lässt« (Schroer 2000: 435). Auch wenn ich diese Kritik an
isoliert-vereindeutigten Gewaltbegriffen teile, will ich aus Schroers Formulierung
keinesfalls auf eine nicht näher definierbare Essenz von Gewalt schließen, die ich
in Hinblick auf eine Theoretisierung epistemischer Gewalt ebenfalls für kontraproduktiv halte. Wenn Gewalt nicht nur als allgegenwärtig betrachtet wird, sondern
auch als völlig unberechenbar und unheimlich gilt, verschwinden politische, ökonomische, soziale und erst recht epistemische Möglichkeits- und Rahmenbedingungen ihrer miteinander verschränkten Erscheinungsformen aus dem Blick.
Dass Gewaltbegriffe grundsätzlich prozessual und relational sein sollen und
sogar müssen, argumentiert auch Wolf-Dieter Narr (1983), indem er die Frage der
eigenen Positionierung sowie der Normativität berücksichtigt, die auch in Debatten um epistemische Gewalt einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Auf den ersten
Blick mag dies widersprüchlich erscheinen, könnte doch eine Weitung von Gegenständen und theoretischen Zugriffen auf Gewalt auch die Nicht-Thematisierung
einer eigenen Position begünstigen, wohingegen ein Akt direkter Gewalt unmittelbar danach ruft, eine Beurteilung zu artikulieren. Ebenfalls ohne Bezug auf epistemische Gewalt, aber mit einem deutlichen Plädoyer dafür, dass gerade auch eine
im engeren Sinne konfliktforschende Gewaltkritik, nämlich jene am Militär, eines
weiten Gewaltbegriffs bedarf, hält auch der Friedensforscher Michael Berndt fest,
dass […] »die normative Fundierung fundamentaler Gewaltkritik immer wieder zur
Diskussion, aber eben nicht in Frage stehen« (Berndt 2013: 161) soll.
Narrs (1983) Überlegungen zur Notwendigkeit und Möglichkeit, Gewalt zu bewerten, haben auch in Hinblick auf einen notwendigerweise weiten Begriff epis6
Zur Unterscheidung zwischen traditioneller mittelfristiger und tendenziell kritischer langfristiger Friedensforschung siehe Jaberg (1999).
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Epistemische Gewalt
temischer Gewalt Gültigkeit, selbst wenn dieser noch nicht in der Welt war, als
der Politologe an seiner immer auch als Gewaltkritik verstandenen Gewalttheorie
gearbeitet hat. Auch Narr favorisiert einen prozessualen und relationalen, jedenfalls aber situativ flexiblen Gewaltbegriff und plädiert dabei, wie Berndt, für Normativität. Da man Gewalt aus keiner anthropologischen Konstante ableiten könne
und jeglicher Gewaltbegriff notwendigerweise in Sozialität eingebettet sei, brauche man sich eines normativen Gehalts der eigenen Perspektive nicht zu schämen,
so Narr (ebd.: 46). Ganz im Gegenteil gelte es, sich einen Begriff über die eigenen
Ziele und Interessen zu machen (ebd.: 50) und über die eigenen Bezugsbegriffe
Rechenschaft abzulegen (ebd.: 52) – nicht allein aus politischen Gründen, sondern
auch um der wissenschaftlichen Präzision und Plausibilität willen.
Auch wenn der hier im Zentrum stehende Begriff epistemische Gewalt ausdrücklich weit gedacht ist und ein entsprechendes Konzept epistemischer Gewalt
den Anspruch erhebt, für die Analyse und Kritik von Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnissen auch in der Gegenwart der kolonialen Moderne nutzbar zu
sein, ist dies noch nicht gleichbedeutend mit seiner Universalisierung. Vielmehr
erlaubt die Verortung einer Theoretisierung epistemischer Gewalt in eben dieser
kolonialen Moderne und ihrer mit Politik und Geschichte verschränkten longue durée, epistemische Gewalt als spezifisches Funktionsmerkmal der anhaltenden Kolonialität von Macht, Wissen und Sein (Quintero/Garbe 2013b) zu verstehen. Ausgehend von diesen für die dekoloniale Debatte zentralen Begriffen rahme ich meinen
theoretischen Zugriff auf epistemische Gewalt in Kapitel 2, wo ich die Kolonialität
von Macht, Wissen und Sein als für ein Verständnis epistemischer Gewalt zentrales
Konzept einführe.
Zuvor erscheint es mir im Sinne Narrs und anderer kritischer Gewalttheoretiker_innen angemessen, einige methodologische Überlegungen anzustellen, die
meine eigene Positionierung und Zielsetzung als Wissensproduzentin auf dem
»epistemischen Territorium der Moderne« (Vázquez 2011: 29) skizzieren.
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
Wege zum Wissen
»Begriffe bilden die Realität nicht ab, konstruieren sie auch nicht, sondern durch
theoretische Arbeit mit und an Begriffen
wird der Erkenntnisgegenstand, seine
Wahrnehmung und sein Wirken auf die
Welt konstituiert.«
(Mendel 2015: 55)7
In der wissenschaftlichen Theoriearbeit wird selten transparent gemacht, wie die
konkreten Prozesse zwischen Idee, Lektüre, Konzeption, Diskussion, Verwerfung
und Verschriftlichung verlaufen. Dies liegt nicht nur in der akademischen Gepflogenheit einer vermeintlich solitären Wissensproduktion begründet, sondern auch
im Modus, in den Möglichkeiten und Grenzen der Theoriearbeit selbst. Die kaum
existierende methodologische Selbstreflexion von Theoriearbeit im Gegensatz zu
empirischen Studien, die wiederum oft nur unzureichend reflektierte theoretische
Bezüge aufweisen, hat viel mit der an späterer Stelle problematisierten Entkörperung und Entsozialisierung von Wissensproduktion zu tun. Im Folgenden lege ich
dar, wie sich mein mehrjähriger Erkundungs- und Erkenntnisprozess rund um
epistemische Gewalt gestaltet hat, welche forschungspragmatischen Entscheidungen ich getroffen habe und welche Faktoren zum vorliegenden Ergebnis beigetragen haben. Dazu erläutere ich, was ich unter Transdisziplinarität verstehe und wie
sich meine eigenen Wege zum Wissen gestaltet haben. Ich verstehe dies als Versuch, der Unentrinnbarkeit der an späterer Stelle diskutierten colonial condition und
der mit ihr einhergehenden epistemischen Gewalt reflexiv-offensiv zu begegnen.
Die abschließend dargelegte Struktur der Argumentation legt einen roten Faden
durch meinen Beitrag zu einer Theoretisierung epistemischer Gewalt.
Transdisziplinäre Exploration
Um epistemische Gewalt zu theoretisieren verwebe ich zwei Traditionen der Auseinandersetzung mit Gewalt im politischen Kontext, die sich in unterschiedlichen
Wissensfeldern entwickelt haben und nur selten miteinander in Beziehung treten.
Die erste Dimension meines Interesses an Gewalt im Kontext von (internationaler) Politik steht im Zusammenhang mit früheren Forschungen an der Schnittstelle
von Kritischer Terrorismusforschung, Friedens- und Konfliktforschung, Internationalen Beziehungen und Politikwissenschaft und umfasst die Ebene der Phänomene und Ereignisse, die in diesem Kontext als politische Gewalt thematisiert
7
Hervorhebung im Original.
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Epistemische Gewalt
werden. Die zweite Dimension rührt von meiner wissenschaftlichen Sozialisation
an der Schnittstelle von Geschlechterforschung, Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie her und speist sich aus dekonstruktivistischen Zugängen eines an
weiten Konzepten orientierten, prozessualen und relationalen Gewaltverstehens.
Dieser Zugang, insbesondere dessen feministische und post- beziehungsweise dekoloniale Stränge, haben meine Aufmerksamkeit für Fragen der Epistemologie geschärft.
Am Schnittpunkt dieser unterschiedlichen Forschungstraditionen – Gewaltforschung einerseits und Wissenssoziologie beziehungsweise Wissenschaftstheorie
andererseits – liegt mein Interesse an epistemischer Gewalt, dem ich auf zwei Wegen entgegengehe. Der erste besteht in der Systematisierung einer Spurensuche
rund um epistemische Gewalt als Begriff, der weit über unterschiedliche Disziplinen und Themenfelder in, oft nur wenig rezipierten, wissenschaftlichen Texten
verstreut existiert, deren Autor_innen außerhalb ihres eigenen Feldes oft kaum bekannt sind. Damit werden bislang unverbundene Überlegungen zu epistemischer
Gewalt in einer Art »dichter Beschreibung« (Geertz 1983) zusammengeführt. Der
zweite Weg verläuft gewissermaßen in die Gegenrichtung, um mögliche Kreuzungen mit dem ersten zu identifizieren. Dazu werden besser etablierte weite Gewaltkonzepte – strukturelle, kulturelle, symbolische und normative Gewalt – einer
Relektüre unterzogen, die explizit auf die Dimension des Wissens fokussiert. Mein
Ausloten von Zusammenhängen zwischen Wissen(schaft) und Gewalt ist explorativ
im Sinne einer Spurensuche, deren Ergebnisse die weitere Theoretisierung epistemischer Gewalt bereichert und insbesondere für politik- und sozialwissenschaftliche Gewaltdebatten anschlussfähig macht.
Gerade weite Gewaltbegriffe, um die es hier geht, sind in diesen Debatten oft
der Kritik ausgesetzt, allzu uneindeutig, damit nicht operationalisierbar und außerdem politisch problematisch, weil potenziell gewaltlegitimierend zu sein. Dabei
geht es vor allem um Zugänge, die insbesondere als illegitim qualifizierte Gewaltereignisse in einen größeren Zusammenhang stellen, gerade auch deshalb, weil sie
inter- und transdisziplinär an die Frage nach Gewalt im politischen Kontext herangehen. Die hier diskutierten Konzepte epistemischer, struktureller, kultureller,
symbolischer und normativer Gewalt legen dies ausdrücklich nahe – und ihre Autor_innen sehen sich allesamt mit derlei Vorwürfen konfrontiert. Solche Kritiken
werden tendenziell von monodisziplinären Standpunkten und Standorten aus artikuliert, die ihrerseits enge Definitionen von Gewalt bevorzugen, oder aber in der
klaren Absicht einer politischen Diskreditierung dieser Autor_innen und Standpunkte. Diese lässt sich vom gesicherten Terrain einer Monodisziplin aus leichter
artikulieren als unter Berücksichtigung jener zuvor geschilderten Ambivalenz und
Ambiguität, die erst mit transdisziplinären Differenzierungen und Weitungen des
Gewaltbegriffs offen zutage tritt und damit Widerspruch hervorruft.
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
Eine weitere Herausforderung ist die erkenntnistheoretische Heterogenität
verschiedener theoretischer Perspektiven. Einerseits steht dieses methodologische
Problem meinem Ansinnen einer Zusammenführung unterschiedlicher weiter
Gewaltkonzepte bisweilen entgegen. Andererseits machen diese im Kontext der
bearbeiteten Thematik und Fragestellung durchaus erwartbaren Bruchstellen
deutlich, dass es sich dabei um ein unvermeidbares epistemologisches Problem handelt, das letztlich auch ein politisches ist. Es sind nämlich gerade
diese erkenntnistheoretischen Bruchstellen, an denen einander eurozentrische
Wissenstraditionen und Ansätze, die diese Traditionen herausfordern, begegnen.
Mein Beitrag zu einer Theoretisierung epistemischer Gewalt versteht sich als
sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung, die sich insbesondere an jene Debattenfelder richtet, in denen Gewalt im Kontext internationaler Politik bearbeitet wird. Darüber hinaus macht meine langjährige Tätigkeit in der Friedens- und
Konfliktforschung sowie in der Frauen- und Geschlechterforschung eine monodisziplinäre Arbeitsweise und Argumentation unplausibel. Beide Felder stellen ihrerseits multidisziplinäre Interventionen in bestehende Kanonisierungen von Wissen(schaft) dar, weil sie eine solche Haltung und Praxis auch als integralen Bestandteil politischer Auseinandersetzungen im Spannungsfeld von Wissen und Herrschaft verstehen. Auch das Feld der Politischen Theorie, in dem ich meine Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt ebenfalls verorte, speist sich nicht nur
aus einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin, der vergleichsweise jungen Politikwissenschaft. Diese entwickelte ihre Tiefe und Breite erst im Austausch mit
der Philosophie, den Rechtswissenschaften, Teilen der Geistes- und Kulturwissenschaften und der Theologie, um nur die wichtigsten Disziplinen zu nennen. Dies
gilt entsprechend auch für die politologische Debatte um Gewalt, die von unterschiedlichen Einflüssen aus den Randbereichen und von den Schnittstellen ihres
Fachs mit beeinflusst wird. Die Behauptung von (Mono-)Disziplinarität erachte ich
dementsprechend als problematisch, denn kein akademisches Fach kann für sich in
Anspruch nehmen, frei von anders-disziplinären Einflüssen und Denktraditionen
zu sein.
Angesichts dieser Überlegungen zur faktischen Unmöglichkeit einer monodisziplinären Annäherung an epistemische Gewalt wird deutlich, dass der hier dargelegte Forschungszugang nicht einfach inter- oder multidisziplinär sein kann und
will. Nicht nur mein Blick auf epistemische Gewalt ist notwendigerweise transdisziplinär informiert, sondern auch die von mir rezipierten und hier diskutierten Texte verunmöglichen eine eindeutige disziplinäre Zuordnung des erarbeiteten Inhalts. Die meisten der in Kapitel 3 gebündelten Annäherungen an Begriffe
und Phänomene epistemischer Gewalt sind bereits selbst als transdisziplinär zu
bezeichnen, und jene, die es nicht sind, verwebe ich in meiner Lektüre mit einem
solchen Blick miteinander. Ähnliches gilt auch für die besser bekannten weiten Gewaltkonzepte aus den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, die in Kapitel 4
27
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Epistemische Gewalt
diskutiert werden. Auch die dort diskutierten Autor_innen integrieren Konzepte
und Theorien aus unterschiedlichen Disziplinen auf eine Weise in ihr Werk, die
mehr als nur eine multi- oder interdisziplinäre Anreicherung des Eigenen umfasst
und eine binnenwissenschaftliche Transdisziplinarität im besten Sinne darstellt.
Ein zweites Verständnis von Transdisziplinarität ist in Bezug auf epistemische Gewalt ebenfalls von Bedeutung. In diesem bezeichnet trans nicht die Verwobenheit zwischen wissenschaftlichen Debatten und Konzepten, also innerhalb
des akademischen Terrains, sondern dessen bewusste Überschreitung hin zu anderen gesellschaftlichen Akteur_innen und Produzent_innen von Wissen (Arnold
2013; Defila/Di Giulio 2018; Dressel/Berger/Heimerl/Winiwarter 2014). Vor allem
herrschaftskritische wissenschaftstheoretische Traditionen fokussieren notwendigerweise auf Ausschlüsse aus dem Raum der hegemonialen Selbstverständlichkeit
akademischer Wissenskulturen.
Ein Grund dafür ist theoretischer Art, zumal das Ausgeschlossene nicht einfach
abwesend oder inexistent ist, sondern konstitutiv für das, was damit zum Selbstverständlichen wird. Ein weiterer Grund liegt in der normativen und politischen
Positionierung etwa post- und dekolonialer (Apffel-Marglin/Marglin 2004; Dussel
2013; Santos 2007) oder auch feministischer (Collins 1990; Ernst 1999; Haraway 1991;
Mendel 2015; Singer 2005) Wissen(schaft-)skritik. Diesen Ansätzen geht es darum,
gerade die randständigen Stimmen hörbar und das darin enthaltene, marginalisierte Wissen intelligibel zu machen. Dies geschieht nicht um dieser Stimmen
oder ihrer selbst willen, sondern vor allem deshalb, weil mit dieser Verschiebung
ein anderes Wissen und eine andere Welt möglich zu werden verspricht (Dussel
2013; Kaltmeier/Corona Berkin 2012; Vázquez 2012). Dies ist ganz im Sinne einer
Wiederbelebung weiter Gewaltbegriffe, bei der die Dimension des Epistemischen
eine zentrale Rolle spielt.
In diesem Zusammenhang zeichnet sich ein dritter Zugang zum Problem der
Disziplinarität und ihrer Auflösung ab, der im Begriff der Antidisziplinarität zum
Ausdruck kommt. Auf lange Sicht ist es ein dezidiertes Anliegen dekolonialer Perspektiven, insbesondere die Sozialwissenschaften zu ent-disziplinieren8 (Escobar
2007: 190) und eine »Theorie ohne Disziplinen« (Castro-Gómez/Mendieta 1998) zu
entwerfen, gerade weil das System Wissenschaft ein wesentlicher Träger der kolonialen Moderne und mit dieser untrennbar verwoben ist. Diese These steht im Zentrum der theoretischen Einbettung meiner Analysen, die ich in Kapitel 2 näher ausführe. Insbesondere die dekolonialen Konzepte der Kolonialität von Macht, Wissen
und Sein aus dem Umfeld der sogenannten Modernidad/Colonialidad-Debatte (Garbe 2013a) veranschaulichen dieses für meine Überlegungen zu epistemischer Gewalt zentrale Argument. Notwendig wäre dementsprechend eine anti-disziplinäre
8
Diese Schreibweise ist beabsichtigt.
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
Wissenskultivierung ›von unten‹ (Icaza/Vázquez 2013; Santos 2007, 2014; Vázquez
2012).
In Bezug auf dieses im besten Sinne des Wortes utopische Ziel bleibt der Versuch einer transdisziplinären Theoretisierung epistemischer Gewalt, die in Kommunikation mit dem real existierenden monodisziplinierten wissenschaftlichen
Feld treten will, um ebendort eine Veränderung anzustoßen, freilich ein performativer Selbstwiderspruch. Zur Disposition steht nichts weniger als die Disziplinarität und Disziplinierung von Wissen(schaft), die vor dem Hintergrund der Annahme einer anhaltenden Kolonialität von Macht, Wissen und Sein stets in damit
einhergehende Gewalt-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet bleibt.
Mit einer dekolonial inspirierten und transdisziplinär informierten Durchquerung heterogener Annäherungen an epistemische Gewalt einerseits und der Konfrontation bereits etablierter weiter Gewaltkonzepte mit einem verdichteten Verständnis epistemischer Gewalt andererseits verschränke ich heterogene theoretische Ansätze miteinander, die ansonsten wenige Berührungspunkte teilen und
zudem auf unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Prämissen beruhen. Während in sozialwissenschaftlichen Gewaltdebatten epistemologische Fragestellungen kaum diskutiert werden und die Dimension des Wissens eine marginalisierte
Rolle spielt, beziehen sich post- und dekoloniale Konturierungen der kolonialen
und imperialen Zusammenhänge zwischen Wissen(schaft) und Gewalt kaum auf
Gewaltkonzepte aus der eurozentrischen Tradition der Gewaltkritik. Ich verstehe
diese zweifache, einander am Schnittpunkt epistemischer Gewalt überkreuzende
Denkbewegung als Exploration. Damit verwende ich ganz bewusst einen Begriff,
der dem epistemischen Instrumentarium des Kolonialismus entlehnt ist. In diesem Zusammenhang steht Exploration für das vermeintlich neutrale Entdecken,
das immer auch Bestandteil jener Unterwerfung und Ausbeutung ist, der auch
Wissen(schaft) im hier problematisierten Kontext der bis heute andauernden kolonialen Moderne dienen kann. Ich benutze den Begriff der Exploration erstens für
die hier dargelegten Durchquerungen unterschiedlicher akademischer Felder, um
diese für eine vertiefte Begriffsbildung rund um epistemische Gewalt zu nutzen.
Zweitens verstehe ich Exploration mit Bourdieu (1992a: 39) auch als einen grundsätzlich offenen Forschungszugang entlang eines konkreten Erkenntnisinteresses.
In erster Linie will ich den Begriff epistemische Gewalt für jene Felder intelligibel machen, auf denen ich meine eigene Arbeit als in der Friedens- und Konfliktforschung tätige Politikwissenschaftlerin verorte. Darüber hinaus halte ich ein
systematisches Nachdenken über epistemische Gewalt auch für andere Fachbereiche in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften für anschlussfähig. Dabei
denke ich an wissenschaftliche Felder, die sich bereits seit längerem an der Gewaltsamkeit hegemonialer Wissens- und Kulturproduktion abarbeiten, aber wenig
Auseinandersetzung mit Gewaltkonzepten pflegen, und/oder die geopolitische Dimension ihrer jeweiligen Untersuchungsgegenstände nicht umfassend in Betracht
29
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Epistemische Gewalt
ziehen (können), weil ihre disziplinären Gepflogenheiten und Begrifflichkeiten, die
selbst Teil dieser Kolonialität sind, dies nicht ermöglichen. Zahlreiche produktive Anknüpfungspunkte für ein Weiterdenken entlang epistemischer Gewalt bieten
dazu etwa Überlegungen zu visueller (Regener 2010; Sontag 2003) oder sprachlicher (Dhawan 2007; Kuch/Herrmann 2010) Gewalt, um nur zwei von vielen weiten
Gewaltbegriffen zu nennen, die sich jenseits der politikwissenschaftlichen Gewaltdebatte entfalten. Aus einer früheren Auseinandersetzung mit der Wissenssoziologie (Brunner 2013) rührt die Hoffnung, dass eine Begriffsarbeit an epistemischer
Gewalt und die Berücksichtigung der Kolonialität und der Geopolitik des Wissens
auch für dieses Feld eine bereichernde Herausforderung darstellt. Denn aus der
Perspektive einer Soziologie globaler Ungleichheitsverhältnisse (Bhambra 2014a;
Boatcă/Gutiérrez Rodríguez/Costa 2010) ist es lohnend, die »Seinsverbundenheit
des Wissens« (Mannheim 1969: 227) auch in ihrem globalen und geopolitischen Zusammenhang zu rekonzeptualisieren.
Des Weiteren ist gerade die an epistemischer Gewalt orientierte Relektüre besser bekannter Konzepte wie jenen der strukturellen, kulturellen, symbolischen und
normativen Gewalt auch für jene feministischen, post- und dekolonialen Debatten
von Interesse, die sich zwar mit großer Selbstverständlichkeit des Begriffs epistemische Gewalt bedienen, dabei jedoch auf verwandte Ansätze innerhalb dieser
und ähnlicher weiter Gewaltkonzepte verzichten, weil sie auf den ersten Blick als
allzu tief in der kolonialen Moderne verstrickt erscheinen. Dennoch lassen sich
bei diesen Gewaltbegriffen Elemente identifizieren, die ein stärker theoretisiertes
Konzept epistemischer Gewalt bereichern und auch für andere Felder der Auseinandersetzung mit Wissen und Gewalt intelligibler machen können.
Schließlich ist epistemische Gewalt ein Thema für jegliches wissenschaftliche
Feld, und es wäre lohnend, die Frage danach etwa auch in den Natur- und Technikwissenschaften, in der Medizin, der Rechtswissenschaft oder Informatik weiterzuverfolgen, um nur einige zu nennen. Dies zu tun liegt jedoch jenseits meiner
Möglichkeiten und auch jenseits des hier zentral gesetzten Erkenntnisinteresses an
epistemischer Gewalt innerhalb der und für die Politikwissenschaft. Insbesondere
für die dort und in angrenzenden Feldern ausdifferenzierte Auseinandersetzung
mit all jenen Formen von Gewalt, die im Kontext internationaler Macht-, Gewaltund Herrschaftsverhältnisse zu diskutieren sind, soll das hier vertieft theoretisierte
Konzept epistemische Gewalt mit der vorliegenden Arbeit anschlussfähig gemacht
werden.
Methodologische Reflexion
Die Anfänge dieser Arbeit reichen weit zurück. Aus heutiger Sicht haben mich Fragen des Zusammenhangs zwischen Wissen und Gewalt schon immer beschäftigt.
Diese Fragen waren als diskursforschende beziehungsweise wissenssoziologische
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
Untersuchungen (Brunner 2005, 2011) an je konkrete Gegenstände und zu analysierende Materialien gebunden und nicht primär auf Theorieproduktion hin orientiert. Letztere wurde mir jedoch zunehmend wichtig, weil ich keine ausführliche
Reflexion dessen finden konnte, was meine eigenen Forschungsfragen über viele Jahre hinweg wie ein roter Faden durchzog: die Gewalt, die dem Wissen selbst
innewohnt.
Auch wenn mir klar war, von wo ich bei dieser Problemstellung ausgehen und
wohin ich gelangen wollte, hat genau diese wider besseres Wissen stets erhoffte
Linearität einer vermeintlich planbaren wissenschaftlichen Arbeitsweise und Textproduktion nicht immer funktioniert. Dies ist im Rückblick wenig überraschend,
denn die Vorstellung einer stets planbar verlaufenden Wissens- und Theorieproduktion spiegelt das hier zur Diskussion stehende Paradigma der kolonialen Moderne selbst.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen häufig artikulierten Einwand insbesondere aus dekolonialer Perspektive ansprechen. Er betrifft die als nicht zielführend erachtete Auseinandersetzung mit kanonisiertem eurozentrischem Wissen zugunsten einer Suche insbesondere nach außerwissenschaftlichen oder zumindest radikal anders begründeten alternativen Epistemologien und Theorien
(Shilliam 2011). Im vorliegenden Fall betrifft dies die in Kapitel 4 diskutierten Gewaltkonzepte von Johan Galtung, Pierre Bourdieu und Judith Butler. Diese verwerfe ich nicht grundsätzlich, sondern betrachte sie als potenzielle Ressource für
eine Theoretisierung epistemischer Gewalt. Im Sinne Spivaks (2004: 527), die dem
oben genannten Einwand durchaus zustimmt, muss das von ihr sogenannte Verlernen eurozentrischer Selbstverständlichkeit notwendigerweise von beiden Enden her erfolgen, also von jenem des unter- oder verworfenen wie auch von jenem bereits anerkannten und etablierten Wissens. Epistemische Gewalt auf die
hier unternommene Weise zu theoretisieren stellt einen Versuch dar, dieser Herausforderung zu begegnen. Im Zuge dessen lassen sich Querverbindungen genau
zu jenen Debatten herstellen, die mit einer Theoretisierung epistemischer Gewalt
ebenso wie mit meinem grundsätzlichen Plädoyer für eine Wiederbelebung weiter Gewaltbegriffe zugleich herausgefordert werden sollen. Dass die gewählte Vorgangsweise nicht widerspruchsfrei vonstattengeht, verdeutlicht die Schwierigkeit
des Umgangs mit einander bisweilen widersprechenden erkenntnistheoretischen
Prämissen und forschungspragmatischen Konsequenzen heterogener Wissensfelder und ihrer Traditionen.
Induktiv eine Vielzahl von multidisziplinär weit verstreuten und in vielfacher
Hinsicht heterogenen Texten über epistemische Gewalt durchforstend stellte sich
bald heraus, dass eine feministische, post- und dekoloniale Fundierung den am
besten geeigneten Rahmen für eine Theoretisierung epistemischer Gewalt bereitstellen würde. In der diesem Prozess vorangegangenen Phase des Sammelns und
Sichtens war ich beständig auf der Suche nach wissenschaftlichen Texten, die sich
31
32
Epistemische Gewalt
ihrerseits mit epistemischer Gewalt beschäftigen sollten. Lesen konnte ich sie in
den drei Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch, gefunden habe ich jedoch
nur wenige französische und deutschsprachige Texte, die epistemische Gewalt explizit thematisieren, und das in unterschiedlicher Qualität und Perspektive.9 Die
überwiegende Anzahl der Auseinandersetzungen mit epistemischer Gewalt findet
in der hegemonialen lingua franca der Wissenschaften statt, deren Dominanz eine
wichtige Dimension epistemischer Gewalt darstellt und ein besonders sichtbares
Zeichen der hier diskutierten Kolonialität ist (Bennett 2015). Die Tatsache, dass ich
lediglich in diesen drei – auch nach der politischen Dekolonisierung ehemals deutscher, britischer oder französischer Kolonien immer noch hegemonialen – Sprachen arbeiten kann, ist selbst Ausdruck der Kolonialität des Wissens sowie meiner
eigenen geopolitischen Verortung.10
Eine weitere Herausforderung liegt nicht in der Beschränkung, sondern in der
Fülle. Die thematisch auf weite Gewaltbegriffe fokussierte und zugleich disziplinär
bewusst offene Forschungsperspektive fördert eine Vielzahl von Gewaltkonzepten
zutage, deren umfassende Bearbeitung im Rahmen einer auf epistemische Gewalt
konzentrierten Monografie weder möglich noch sinnvoll erscheint: sprachliche und
visuelle, psychische und mentale, ethische und langsame Gewalt sind weit über das
Feld der Wissenschaften verstreute und in höchst unterschiedlichem Maße ausgereifte Konzepte, die ich hier nicht diskutiere. Ich fokussiere auf jene weiten Gewaltkonzepte, die bereits über eine gewisse Anerkennung im Ausgangsfeld der Politikwissenschaft und ihrer Auseinandersetzung mit Gewalt im Kontext internationaler Politik verfügen, gerade dort aber aus unterschiedlichen Gründen nur unzureichend berücksichtigt werden. Diese vier ausgewählten Konzepte – strukturelle,
kulturelle, symbolische und normative Gewalt – unterziehe ich einer feministisch,
post- und dekolonial inspirierten Relektüre, die ausdrücklich auf die Dimension
des Epistemischen in einem heuristisch weiten Verständnis abzielt. Dabei werden
nicht nur inhaltliche Fragen berücksichtigt, sondern auch methodologische Auffälligkeiten, die Selbstpositionierung der Autor_innen sowie die Rezeption ihres
Werks. Mit dieser kritischen Wiederbelebung will ich die genannten weiten Gewaltkonzepte für künftige Auseinandersetzungen mit Gewalt – im engen wie auch
im weiten Sinne – besser nutzbar machen und mit bereits bestehenden, jedoch
weit über unterschiedliche Forschungsfelder und Disziplinen verstreuten Theoretisierungen epistemischer Gewalt in einen Austausch bringen.
9
10
Zur leichteren Lesbarkeit wurden Originalzitate im Fließtext von mir ins Deutsche übertragen. Dies ist immer dann der Fall, wenn die zugehörige Quellenangabe nicht auf einen
deutschsprachigen Text verweist.
Spanisch, die Sprache, in der ein Großteil der hier verwendeten Theorien aus dekolonialer
Perspektive zuerst artikuliert wurde, beherrsche ich nicht im für eine wissenschaftliche Vertiefung notwendigen Ausmaß, weshalb ich davon hauptsächlich das rezipieren kann, was in
Übersetzung vorliegt.
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
Schließlich weisen die Fragen, die sich aus dem Vorhaben einer Theoretisierung epistemischer Gewalt ergeben, über eine wissenschaftliche Diskussion im
engeren Sinne hinaus in die Sphäre des Politischen. Worin besteht und was bedeutet letztlich eine Kritik epistemischer Gewalt? Geht damit eine Position einher,
die feststellt, dass Gewalt immer und überall und infolgedessen Gewaltfreiheit eine Schimäre ist? Inwiefern stellt die Rede von einer Gewaltförmigkeit des Wissens
und der Wissenschaften eine vollständige Infragestellung einer der angenommenen letzten Bastionen der Gewaltfreiheit dar? Geht mit einem solchen Befund notwendigerweise eine Verwässerung dessen einher, was im Allgemeinen unter Gewalt
– nämlich jene direkter und physischer Art – verstanden wird?
All diese Aspekte hängen notwendigerweise auch mit der implizit immer mitverhandelten Frage zusammen, wie man das Gegenteil von Gewalt versteht: Gewaltlosigkeit, Gewaltfreiheit, Gewaltverzicht. Ist letzteres womöglich eine naive Illusion, ein normatives Ideal, eine produktive Utopie – oder ein Begriff, der angesichts allgegenwärtiger epistemischer Gewalt ohnehin entsorgt werden soll? Oder
handelt es sich um etwas, das nur mittels – vielleicht auch epistemischer – Gewalt
erreicht werden kann?
Diese und ähnliche Fragen kann und will ich an dieser Stelle nicht vorab beantworten, sondern im Verlauf meiner Argumentation entlang einer Vielzahl von Perspektiven und Positionen diskutieren. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die Enge
konventioneller Gewaltbegriffe verlassen und neue Horizonte einer umfassenden
Debatte über Gewalt und ihre Reduktion erschließen. Meine Arbeit an einem komplexeren Verständnis des Zusammenhangs zwischen Wissen und Herrschaft in der
kolonialen Moderne, der über ein fundiertes Konzept epistemischer Gewalt besser
als bislang ausgelotet werden kann, verstehe ich als einen Beitrag zu einer notwendigerweise vielstimmigen Bewegung auf dieses Ziel hin.
Strukturierte Argumentation
Nach dieser Einleitung führe ich in Kapitel 2 die aus der vor allem lateinamerikanischen dekolonialen Theoriedebatte stammenden Konzepte der Kolonialität von
Macht, Wissen und Sein ein. Sie machen es plausibel, die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen(schaft) und Gewalt nicht nur als gegenwärtig relevante zu
verstehen, sondern in ihrer historischen Entwicklung im Zeitraum von 500 Jahren, im Kontext des frühen europäischen Kolonialismus als Möglichkeitsbedingung
der späteren Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems. Aus der Perspektive
einer Theoretisierung epistemischer Gewalt ist es unverzichtbar, sich erstens der
Erfindung und Transformation der Kategorie ›Rasse‹ zuzuwenden, zweitens den
insbesondere auf diesem Wege begründeten Herrschaftsmodus des Teilens und
Herrschens im Kontext des politischen und epistemischen Eurozentrismus zu verorten, und drittens die massive physische Gewalt des europäischen kolonialen Pro-
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jekts mit dieser Dimension des Wissens in einen Zusammenhang zu stellen. Veranschaulicht werden die miteinander in Verbindung stehenden abstrakten Konzepte der Kolonialität von Macht, Wissen und Sein viertens durch die Schilderung
sehr konkreter Prozesse der Vernichtung von Leben und Wissen im sogenannten
langen 16. Jahrhundert, die in der dekolonialen Debatte mit dem Doppelbegriff
»Genozid/Epistemizid« (Grosfoguel 2013) auf den Punkt gebracht werden. Die Ergänzung dieses Zusammenhangs mit einem sich wandelnden Naturverständnis
aus einer frühen kapitalismuskritischen postkolonial-feministischen Perspektive
rundet diese epistemologische Reflexion des Zusammenhangs von Modernität/Kolonialität und Kapitalismus ab.
Ausgehend von meinem derart gerahmten Erkenntnisinteresse wird in Kapitel
3, Begriffslandschaften epistemischer Gewalt, das heterogene Netz skizziert, innerhalb
dessen sich zahlreiche Autor_innen aus unterschiedlichsten fachlichen und disziplinären Zusammenhängen bislang mit epistemischer Gewalt beschäftigen. Dabei
habe ich insbesondere solche Texte als Material ausgewählt, die den Begriff epistemische Gewalt explizit verwenden und zumindest implizit auch versuchen, ihn
konzeptionell zu fassen. Ich gehe dabei nicht chronologisch oder territorial vor,
sondern organisiere die von mir als relevant identifizierten Texte in drei voneinander unterscheidbaren, einander aber auch überlappenden Debattenfeldern. Dies
sind erstens die Friedens- und Konfliktforschung und die Internationalen Beziehungen. Zweitens verdichte ich Zugänge zu diesem Begriff aus feministischen Debatten, die über eine reichhaltige wissenschaftskritische und reflexive Tradition
verfügen und zahlreiche Schnittstellen mit post- und dekolonialen Perspektiven
aufweisen. Letztere sind die Quelle einer dritten Bündelung konzeptioneller Annäherungen an Begriffe und Phänomene epistemischer Gewalt. In einem vierten
Abschnitt fasse ich zentrale Aspekte dieser bereits in sich selbst inter-, multi- und
transdisziplinären Begriffslandschaften zusammen.
Nach dieser Diskussion unterschiedlicher Zugänge zu epistemischer Gewalt
als Phänomen und als Begriff folgt in Kapitel 4 eine ausführliche Analyse von Dimensionen des Epistemischen in weiten Gewaltkonzepten. Darin werden bereits besser
etablierte weite Gewaltbegriffe – strukturelle und kulturelle, symbolische und normative Gewalt – vor dem Hintergrund des zuvor erarbeiteten Verständnisses von
epistemischer Gewalt einer spezifischen Relektüre unterzogen. Wie wird darin das
Verhältnis von Wissen und Gewalt konzipiert? Welche spezifische Rolle nimmt
Wissen(schaft) im jeweiligen Gewaltbegriff ein? Welche Phänomene werden damit
(nicht) gefasst und welche Ebene von Wissen(schaft) wird dabei auf welche Weise
(nicht) berücksichtigt? Diesen Forschungsfragen liegt ein klares Erkenntnisinteresse zugrunde: Was können diese weiten Gewaltkonzepte zu einer Theoretisierung
epistemischer Gewalt beitragen?
Allen voran diskutiere ich in diesem Kapitel Johan Galtungs ganzheitlich-relationale Gewalttheorie entlang seiner heute beinahe in Vergessenheit geratenen
Kapitel 1: Gewalt weiter denken
Konzepte der strukturellen sowie der kulturellen Gewalt. Wiederum mit dem Fokus
auf das Zusammenspiel von Wissen und Gewalt im Werk des norwegischen Soziologen, Mathematikers und Mitbegründers der Friedensforschung ergänze ich diese
beiden Konzepte um seine rezenteren Ausführungen zu einer kosmologischen Zivilisationstheorie.
Als zweitem Autor widme ich mich dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu, dessen Werk viel breiter rezipiert wird – allerdings kaum dort, wo es um
Gewalt im Kontext des Politischen geht. Seine ebenfalls über ein gesamtes Lebenswerk hinweg weiterentwickelte Theorie symbolischer Gewalt als Mittel zur Aufrechterhaltung bestehender Herrschaftsordnungen sozialer Ungleichheit diskutiere ich entlang der drei Themenfelder Bildung und Wissenschaft, Geschlechterverhältnis und Staat(sgewalt). Dabei werden zahlreiche Querverbindungen für eine
Theoretisierung epistemischer Gewalt sichtbar, aber ebenso, dass ein problematisches Spannungsverhältnis zwischen Europa und seinen (ehemaligen) Kolonien
das Konzept symbolischer Gewalt durchzieht.
Drittens diskutiere ich normative Gewalt nach Judith Butler, die diesen Begriff
selbst kaum benutzt, ihn jedoch mit ihrer Theoretisierung epistemischer und diskursiver Rahmungen und einer globalen Verantwortlichkeit sehr gut mit den zuvor
diskutierten Annäherungen an epistemische Gewalt verknüpfbar macht. Wie Galtung und Bourdieu ringt auch die US-amerikanische Philosophin mit einer Utopie der Gewaltfreiheit angesichts tiefliegender, unsichtbarer und zugleich höchst
wirksamer Formen normativer und auch epistemischer Gewalt.
Im Anschluss verdichte ich in Kapitel 5, Transdisziplinäre Konturierungen eines
Konzepts epistemischer Gewalt, zentrale Erkenntnisse aus den Kapiteln 3 und 4. In einer gewissermaßen paradoxen methodologischen Wendung verschränke ich eine
konventionelle sozialwissenschaftliche Typologie von Mikro-, Meso- und Makroebene mit dem in Kapitel 2 dargelegten Konzept der Kolonialität von Macht, Wissen
und Sein. Damit verorte ich mein Verständnis epistemischer Gewalt noch einmal
ausdrücklich vor dem Hintergrund der kolonialen Moderne. In drei Abschnitten, in
denen epistemische, strukturelle, kulturelle, symbolische und normative Gewalt in
Hinblick auf eine substanzielle Theoretisierung epistemischer Gewalt zusammengeführt werden, spreche ich von einer ersten Konturierung auf der Mikroebene
der Kolonialität des Seins, einer zweiten auf der Mesoebene der Kolonialität des
Wissens und einer dritten auf der Makroebene der Kolonialität der Macht.
Ich schließe meine Überlegungen unter der Überschrift UnDoing Epistemic Violence, die darauf verweist, dass auch das von mir vorgelegte Konzept kein endgültiges ist. Vielmehr stellt es eine Einladung dar, nicht nur am, sondern auch mit ihm
Gewalt weiter zu denken und epistemische Gewalt weiterzudenken. Eine Möglichkeit des Weiterdenkens epistemischer Gewalt besteht darin, sie von Horizonten ihrer potenziellen Reduktion oder Überwindung aus zu konzipieren. In diesem Sinne
diskutiere ich die bei allen Autor_innen präsente Herausforderung, dass epistemi-
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sche, kulturelle, normative, symbolische und in gewissem Maße auch strukturelle
Gewalt selbst dann stets potenziell reproduziert wird, wenn man sich ihr entgegenzustellen bemüht ist. Entlang der Frage nach der gleichzeitigen Unmöglichkeit
und Notwendigkeit einer um die Dimension des Wissens erweiterten Utopie von
Gewaltfreiheit verdichte ich die in den anderen Kapiteln der Arbeit gelegten Spuren
eines solchen Weges, der noch weiter zu beschreiten ist.