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Rez. zu T. Hölscher, Die Geschöpfe des Daidalos (Heidelberg 2017)

2021, GFA

Tonio HÖLSCHER, Die Geschöpfe des Daidalos. Vom sozialen Leben der griechischen Bildwerke. Heidelberg: Verlag Antike 2017, 215 S., 54 s/w-Abb., EUR 40,00. ISBN: 978-3-946317-16-6 In französischer Sprache bereits 2015 unter dem Titel „La vie des images grecques. Sociétés des statues, rôle des artistes et notions esthétiques“ und zwei Jahre später dann in deutscher Sprache erschienen, ist die hier zur Diskussion stehende Monographie aus einem Zyklus von Vorträgen hervorgegangen, die Hölscher im Rahmen der „Chaire du Louvre“ im selben Jahr vor Pariser Publikum gehalten hat. Dass die Rezension mit einiger Verspätung kommt, fällt kaum ins Gewicht, wird die Studie doch Anspruch auf bleibende Gültigkeit erheben dürfen. Den vier Hauptkapiteln sind die Vorworte zur französischen und deutschen Ausgabe, eine Danksagung sowie eine kurze Einleitung vorangestellt, welche den Leser mit der Gretchenfrage „Warum Bilder?“ auf die darauffolgenden Überlegungen einstimmt (S. 13f.). Während Kapitel I den methodischen Rahmen liefert und gleichsam eine Einführung in den griechischen (respektive Hölscher’schen) Kosmos darstellt, treten die folgenden drei Kapitel II–IV einen ebenso rasanten wie eleganten Galopp durch die Geschichte griechischer Bildkultur an, von ihrer Genese zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. über die Klassik bis hin zur hellenistischen Kunst. Zu Beginn von Kapitel I („Was ist ein Bild im antiken Griechenland?“, S. 15-54) stellt der Verfasser die Frage nach der Legitimität des ‚Kunst‘-Begriffes für Bildwerke der Antike und erteilt dem Konzept der autonomen Kunst sogleich eine Absage: Das ausschließlich ästhetischen Zwecken dienende „Kunstwerk als Produkt der freien Kreativität des Künstlers“ (S. 15) habe es in der Antike nie gegeben.1 Vielmehr bestehe die zentrale Rolle von Bildern in antiken Gesellschaften darin, „den Göttern, Heroen und Verstorbenen eine konkrete visuelle Präsenz in den Räumen der Lebenswelt“ zu verleihen und dadurch eine über die lebenden Mitglieder hinausgehende „konzeptuelle Gemeinschaft“ zu konstituieren (S. 18). Dabei seien der bildenden Kunst drei grundsätzlich verschiedene Funktionen eigen: Repräsentation, Decor (sic!) und Anregung von Diskursen (S. 19-41). Als Repräsentanten von Göttern, mythischen Helden und Verstorbenen hätten                                                                                                             1 Zum Kunstbegriff s. auch J. I. Porter, Is Art Modern? Kristeller’s ‚Modern System of the Arts‘ Reconsidered, British Journal of Aesthetics 49, 2009, 1–24; M. Squire, Conceptualizing the (Visual) „Arts“, in: P. Destrée – P. Murray (Hgg.), A Companion to Ancient Aesthetics (Chichester 2015) 307–326. Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 24 (2021) 1079-1088 DOI: 10.14628/gfa.2021.1.85743 1080 Viktoria Räuchle Bildwerke „grundsätzlich das Potential, in besonderen Situationen durch intensive emotionale Wahrnehmung oder durch emphatische kulturelle Handlungen in das soziale Leben einbezogen zu werden und dabei die Rolle lebendiger Wesen zu spielen“ (S. 23). Dabei habe sich die Vorstellung von einem ‚Leben der Bildwerke‘ „durch alle ‚aufgeklärten‘ Epochen der griechischen und römischen Antike“ gehalten und sei daher auch von einem „frühen magischen Animismus“ abzugrenzen (S. 23). An dieser Stelle hätte sich die Rezensentin ein bisschen mehr Hilfestellung gewünscht, worin genau die Unterschiede bestehen und auf Grundlage welcher Quellen eine solche Unterscheidung überhaupt getroffen werden kann.2 Der für moderne Interpreten eklatante Widerspruch zwischen dem „Bewusstsein von der Materialität der Bildwerke“ einerseits und der „Vorstellung von ihrer Lebendigkeit“ (S. 25) anderseits sei durch die ihnen im kulturellen Handeln zugeschriebenen „kulturellen Bedeutungen“ (S. 28) aufzulösen. Diese Bedeutungen könnten wiederum mit den Mitteln des décor im ursprünglichen (i.e. Ciceronischen) Sinne von ‚angemessener Form und Erscheinung‘ auch visuell gekennzeichnet werden. Weit über eine reine Ausschmückung hinaus vereinige Decor zwei Aspekte von Bedeutung, nämlich den (sich primär am Material und an der technischen Ausarbeitung bemessenden) Wert und den (über Ornamente und Figuren vermittelten) Sinn. Während Decor auf unbewusster, flüchtiger Rezeption beruhe und „das allgemeine Erleben der Sphäre von kulturellen Werten und Bedeutungen“ (S. 41) steuere, würde das als dritte Funktion von Bildwerken eingeführte diskursive Potential erst durch eine bewusste Auseinandersetzung und distanzierte Reflexion freigesetzt und diene der Kommunikation zwischen den (lebenden) Menschen über die Bilder. In diesem Zusammenhang wird auch das Verhältnis von Bildwerken zur Realität problematisiert. Habe sich die Forschung in der Vergangenheit vor allem an dem vermeintlichen Gegensatz zwischen der zeichenhaften Archaik und der mimetischen Klassik abgearbeitet, sei in jüngeren Untersuchungen die Vorstellung von Bildern als von der Realität unabhängigen Konstrukten menschlicher Imagination en vogue. Hölscher legt überzeugend dar, dass beiden Positionen eine zu enge Definition von Realität bzw. Realismus zugrunde liege: In Anschluss an Ernst Gombrich spricht er von der „Bedeutungs-erfüllte[n] Realität“ (S. 42) und versteht die Wirklichkeit selbst als ein Bild, das durch die Wahrnehmung und Gestaltung der Menschen geformt werde. Diese Vorstellung                                                                                                             2 Zum magischen Animismus und anderen Fetischen vgl. H. Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne (Reinbek bei Hamburg 2006). T. Hölscher, Die Geschöpfe des Daidalos 1081 eines ‚konzeptuellen Realismus‘3 entwickelt der Autor im Folgenden am Beispiel des menschlichen Körpers, wobei er neben dem Bourdieu’schen Habitus unter anderem auch Maria Luisa Catonis Konzept der schêmata integriert: In der kulturellen Praxis, d.h. durch Ausführung von kulturell codierten Haltungen und Bewegungen werde der Körper selbst zum ‚lebenden Bild‘.4 Die Bildwerke wiederum hätten insofern Teil an der Wahrnehmung und Gestaltung der Wirklichkeit, als sie einerseits die Mitglieder der konzeptuellen Gemeinschaft präsent machten und andererseits qua ihrer „körperliche[n] Suggestion“ als „Vor-Bilder“ auf die Gemeinschaft der Lebenden zurückwirkten (S. 53). Von dieser tief in der griechisch-römischen Kultur verankerten Wechselwirkung zwischen Bild und Realität werden zum Abschluss des Kapitels einige Thesen zur Interaktion mit Bildern abgeleitet, die auch in Hinblick auf die Frage nach dem Stellenwert der ‚Kunst‘ erhellend sind: Die antike Bildkunst sei kein abgegrenzter Bereich der künstlerischen Ästhetik oder gar Ausdruck künstlerischer Kreativität, sondern Teil einer übergeordneten Bildkultur, welche die „materielle und visuelle Präsenz von lebenswichtigen Gestalten und Vorgängen aus räumlicher und zeitlicher Distanz“ (S. 54) leiste. In den spezifischen Formen der Bildwerke äußere sich mithin auch kein autonomer ästhetischer Stil, sondern ein übergreifender sozialer Habitus.5 Antike ‚Künstler‘ seien mithin keine freien Schöpfer ästhetischer Vorstellungen, sondern „Hersteller der Präsenz von Gestalten und Vorgängen der Lebenswelt“ (S. 54). Den Betrachtern hingegen käme die Rolle zu, mit den Bildern durch aktives Sehen, Handeln und Reagieren zu interagieren und sie so als Mitglieder der konzeptuellen Gemeinschaft zu etablieren. Der Absage an eine antike ‚Kunst‘ im modernen Sinne wird man sich grundsätzlich gerne anschließen, auch wenn die Ausblendung ästhetischer Faktoren zugunsten der (hier viel stärker betonten) repräsentativen und diskursiven Funktionen antiker Bildwerke vielleicht etwas zu kategorisch ausfällt.6 Nach dieser überaus voraussetzungs- wie ideenreichen Einleitung sind die folgenden Kapitel dem sozialen Leben mit und von Bildwerken in verschiede                                                                                                             3 4 5 6 Zum konzeptuellen Realismus vgl. T. Hölscher, Visual Power in Ancient Greece and Rome. Between Art and Social Reality. Sather Classical Lectures 73 (Oakland 2018) 203–252. M. L. Catoni, Schemata. Comunicazione non verbale nella Grecia antica (Pisa 2005). Zum Stil auch C. Kunze, Formal Approaches, in: C. Marconi (Hg.), The Oxford Handbook of Greek and Roman Art and Architecture (Oxford 2015) 541–556, bes. 547. Zur Rehabilitierung der Ästhetik als Analysekategorie der antiken Bilderwelt vgl. I. Sluiter – R. M. Rosen (Hgg.), Aesthetic Value in Classical Antiquity (Leiden 2012); N. Dietrich – M. Squire (Hgg.), Ornament and Figure in Graeco-Roman Art. Rethinking Visual Ontologies in Classical Antiquity (Berlin 2018). 1082 Viktoria Räuchle nen Epochen der griechischen Antike gewidmet. Kapitel II beschäftigt sich mit der „Entstehung der griechischen Welt der Bilder“ vor dem Hintergrund der Genese der griechischen Polisgesellschaft (S. 55-99). Im Anschluss an die vorangegangen Überlegungen versteht Hölscher die sich neu formierenden Stadtstaaten als ‚konzeptuelle Gemeinschaft‘, in denen Götter, Heroen und Verstorbene in eigens dafür vorgesehenen Räumen, etwa in Heiligtümern oder Nekropolen, durch Bildwerke präsent gemacht worden seien. Die Heiligtümer als Orte der Gottheit hätten im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs im 6. Jahrhundert v. Chr. vielerorts tiefgreifende Veränderungen erfahren. Stiftungen von Bürgerkollektiven (etwa der Koloss der Naxier im Apollon-Heiligtum von Delos) seien Ausdruck eines neuen Gemeinschaftsbewusstseins, das Aufkommen kleinerer Statuenweihungen (etwa in Samos) belege den Aufstieg einer breiteren Oberschicht, während den Kouroi und Koren allerorts die primäre Aufgabe zukomme, das Prestige der Gottheit zu steigern: Als Vertreter der aristokratischen Jugend, als anonyme Adoranten, aber zugleich auch als ideale Betrachter der in der Präsenz der konzeptuellen Gemeinschaft vollzogenen Rituale. In den Heiligtümern und ihren Weihungen entfalte sich mithin ein „Kosmos im doppelten Sinn“ (S. 76): Schmuck für die Gottheit und Ausdruck der Weltordnung. Die Gräber als Ort der „sozialen Präsenz“ der Toten (S. 78) sowie die dort vollzogenen Rituale wertet der Autor sowohl in soziologischer als auch in anthropologischer Perspektive aus: Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft habe seine Toten in Form aufwendiger Bestattungsfeierlichkeiten oder monumentaler Grabbildern in sichtbarer Erinnerung bewahren können, um sich gegenüber den Mitgliedern der Polis zu repräsentieren und so seinen Platz in der sozialen Hierarchie zu behaupten. Zugleich lasse sich hier aber auch das menschliche Grundbedürfnis fassen, dem oder der Verstorbenen den Übertritt in eine neue Sphäre zu ermöglichen und sich als Gemeinschaft der Lebenden neu zu konstituieren. Die Grabvasen der Frühzeit sowie die monumentalen Grabstatuen und -stelen der Archaik seien nicht allein Machtsymbole der einflussreichen Familien, sondern stünden als „körperhafte Zeichen“ für die Inhaber der Gräber selbst (S. 78). Die in der Einleitung formulierte diskursive Funktion von Bildwerken erörtert Hölscher anschließend am Beispiel von figürlich bemalter Keramik aus den Kontexten Symposion und Begräbnis, beides „Anlässe zu weitreichenden Diskursen über zentrale Themen des Lebens“ (S. 85). Sei in der Figur Achills und den Darstellungen seines Werdegangs vom Chiron-Schützling zum stolzen Helden das für die frühgriechische Zeit (und darüber hinaus) zentrale Thema T. Hölscher, Die Geschöpfe des Daidalos 1083 von Lebenszeiten verhandelt worden, so hätten die Bilder von Herakles die Grenzen menschlicher Lebensräume ausgelotet. Anhand zweier herausragender Vertreter ihrer Zunft illustriert der Autor nun den hohen geistigen Anspruch frühgriechischer Vasenmaler: Während Klitias in seinen anspruchsvollen Kompositionen die gesamte Weltordnung zusammenzufassen imstande gewesen sei, habe es Exekias vermocht, mit unvergleichlich sinnlicher Vitalität die tief in der griechischen Mentalität verwurzelte Ambivalenz zwischen glanzvoller Lebensfreude und düsterstem Pessimismus zum Ausdruck zu bringen. Zum Abschluss dieses (sowie aller nachfolgenden) Kapitel greift der Verfasser die eingangs gestellte Frage nach dem Wesen der antiken Kunst erneut auf. Anstelle des durch neuzeitliche Vorstellungen stark überprägten ‚Künstlers‘ empfiehlt er den auch für Architekten, Ärzte und andere Fachleute gebräuchlichen Begriff demiourgos (‚der für die Gemeinschaft arbeitet‘), sei doch für diese Zeit kein Sonderstatus des Künstlers gegenüber anderen Professionen festzustellen. Das in den Quellen bisweilen zu Tage tretende Selbstbewusstsein der Bildproduzenten sei denn auch kein Hinweis für sozialen Aufstieg des ‚Künstlertums‘ im Allgemeinen, sondern für die fortschreitende Ausdifferenzierung der Arbeiterklasse, in der einige (wenige) durch die Produktion von Gütern für die Elite ihren eigenen Wert steigern konnten. In einem letzten Gedankengang kommt Hölscher erneut auf das Wesen der Bildwerke zu sprechen, die trotz ihres Artefaktcharakters durch die Einbindung ins Ritual als Akteure im sozialen Miteinander verlebendigt worden seien: „Für die damalige Zeit lag darin kein Widerspruch: Es war gerade die höchste ‚Künstlichkeit‘, die höchste ‚Natürlichkeit‘ bewirkte“ (S. 98). Das Kapitel III „Politische und kulturelle Identität im klassischen Griechenland: Triumph oder Risiko“ (S. 100–150) beginnt mit der kontrovers diskutierten Frage nach dem Zusammenhang zwischen Bilderwelt und Historie – hier wird geschickt zwischen der traditionellen (oftmals allzu optimistischen) Engführung und dem neueren (oftmals allzu forciert vorgetragenen) Ruf nach der Autonomie der Bilder vermittelt – sowie einem knappen forschungsgeschichtlichen Abriss zur Kunst der Klassik von Winckelmanns „edler Einfalt und stiller Größe“ im Zeichen der Freiheit, über das Postulat des klassischen Naturalismus, den Kontrapost als Folge der politischen und sozialen Umwälzungen bis hin zum physiognomischen Ausdruck als Quelle zur Rekonstruktion kollektiver Psychologie. Die daran anschließenden Ausführungen zum Leben mit Bildwerken im klassischen Griechenland (wobei die im Folgenden aufgeführten Fallbeispiele nahezu ausschließlich aus Athen stammen) erörtert der Verfasser vor dem Hintergrund dreier zentraler Voraussetzungen: der fortschreitenden Politisierung des öffentlichen Lebens, der kollektiven und indivi- 1084 Viktoria Räuchle duellen Identität „als explizite Bezeichnung der bewussten wesentlichen Eigenheiten von sozialen Gruppen oder politischen Gemeinschaften“ (S. 103), und schließlich dem von Christian Meier als antikes Pendant zum modernen Fortschrittsbegriff geprägten ‚Könnens-Bewusstsein‘. Anhand der Tyrannenmörder werden unterschiedliche Dimensionen des Politischen (politische Funktion, politische Initiative und politische Ideologie) exemplifiziert, welche das Denkmal zur Ikone der Demokratie gemacht und einen wesentlichen Beitrag zur Formierung der politischen Identität der Athener (auch in Abgrenzung nach außen) geleistet hätten. Den Aspekt der politischen und kulturellen Identitätsbildung vertieft der Autor anhand der ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. immer präsenteren statuarischen Ehrungen von Staatsmännern, Philosophen und Athleten, welche den Dargestellten nicht allein eine über ihre individuelle Lebenszeit hinausgehende konzeptionelle Präsenz ermöglicht, sondern dank der bewussten Wahl bestimmter schêmata (Haltungen, Bewegungen, Kleidungen) darüber hinaus auch als Leitbilder für die Bürgerschaft gedient hätten. Die darin erstmals zu beobachtenden, zaghaften Ansätze zum individuellen Porträt seien dabei „Ausdruck einer neuen, expliziten Form von persönlicher ‚Identität‘“ (S. 118), die sich allerdings gegenüber dem über-individuellen Menschenbild zunächst nicht habe durchsetzen können. Das ambitiöse Bauprogramm auf der Athener Akropolis zeige eindrucksvoll, dass es sich bei der Errichtung von öffentlichen Bauwerken und Weihungen in dieser Zeit um einen heiklen Balance-Akt zwischen den Interessen des Kollektivs und des Individuums gehandelt habe. Auf der Bühne der panhellenischen Heiligtümer hingegen habe die Errichtung öffentlicher Denkmäler vor allem dazu gedient, als geschlossene Gruppe einen Machtanspruch gegenüber anderen Poleis zu formulieren. Gerade die Perserkriege seien dazu genutzt worden, identitätsstiftende Erinnerungskultur zu betreiben, wie an drei abermals Athenischen Denkmälern ausgeführt wird: Die Siegessäule auf dem Schlachtfeld von Marathon, die Stoa Poikile auf der Agora und das Marathonweihegeschenk der Athener in Delphi hätten gemeinsam eine „memoriale Topographie des Sieges“ (S. 130) erzeugt, nämlich am Ort des Geschehens selbst, gegenüber der eigenen Bürgerschaft und schließlich vor den Augen der gesamten griechischen Welt. Neben der politischen und identitätsstiftenden Funktion der Bilder kommt Hölscher erneut auf ihre Rolle als Mitglieder der konzeptuellen Gemeinschaft zu sprechen: Obgleich (oder gerade weil) die Bildwerke in diesen von Weihungen überbordenden öffentlichen Räumen nicht im Einzelnen wahrgenommen worden seien, hätten sie sich, etwa im Rahmen von Prozessionen und Ritualen, „wie reale Zuschauer und Teilnehmer“ verhalten (S. 126). T. Hölscher, Die Geschöpfe des Daidalos 1085 Der komplexe Zusammenhang zwischen Bilderwelt sowie politischer und kultureller Identität wird nun weiter anhand einiger zentraler Sujets auf Symposionsgeschirr eruiert. Dabei seien die Vasenbilder zwar nicht als Spiegel konkreter historischer Ereignisse zu interpretieren, wohl aber als Zeugnisse sich wandelnder Einstellungen und Wahrnehmungen zu psychischen und ethischen Grundfragen. Der Held Theseus fungiere als Garant der athenischen Lebenskultur, die manche Zeitgenossen durch die massiven sozialen Veränderungen der Spätarchaik bedroht sahen; die grausamen Ilioupersis-Bilder des ausgehenden 6. Jahrhunderts v. Chr. seien Reflexe auf die traumatische Erfahrung der Perserkriege, die zeitgleich populären Liebesverfolgungsszenen brächten das Hochgefühl der Athener zum Ausdruck, in der Gunst der Götter zu stehen, und in Bildern von Orpheus unter den Thrakern zeige sich das ambivalente Verhältnis zum Fremden. In den folgenden, nur knappen Ausführungen zu den ‚Menschenbildern‘ der klassischen Zeit gelingt es dem Autor auf meisterhafte Weise, die zu Beginn des Kapitels zitierten Forschungspositionen zusammenzuführen und weiterzuentwickeln. So ersetzt er den Winckelmann’schen Freiheitsbegriff durch den weit weniger in Verruf geratenen Begriff krátos (‚Vermögen’), der sich in klassischer Zeit gegenüber dem nómos (‚Ordnung’) als bestimmendem Prinzip durchgesetzt und in der Kunst wie in der Politik und Kultur ganz neue Spielräume ermöglicht habe. Die Entwicklung des Kontrapost sei, wenn auch nicht als direkte Reaktion auf konkrete historische Ereignisse, so doch als Ausdruck einer neuen Weltanschauung zu verstehen, nach der Mensch, Natur und Gesellschaft gleichermaßen von antithetischen Kräften beherrscht seien. Den für die klassische Skulptur vielfach bemühten ‚Naturalismus‘ problematisiert er zwar mit dem Hinweis auf den schon in früheren Epochen wirksamen ‚konzeptuellen Realismus‘, gesteht dem Begriff in Bezug auf die physische Präsenz der Figuren aber dennoch eine gewisse Gültigkeit zu. Und dem soziologischen Habitus als Analysekategorie wird das altgriechische Pendant hinzugesellt, nämlich die auch in zeitgenössischen Schriften fassbare héxis des Körpers, in der die Einstellungen und Haltungen der dargestellten Figur zum Ausdruck kämen. Hätten die archaischen Bildwerke „den Menschen beschrieben durch die Eigenschaften, die er besaß, und die Handlungen, die er vollführte“, so würden die Bildwerke der klassischen Zeit „den Menschen [erklären] durch die Kräfte, über die er verfügt“ (S. 144). Mit den bei Xenophon überlieferten Gesprächen des Sokrates mit dem Maler Parrhasios und dem Bildhauer Kleiton zur Wiedergabe von Ethos und Pathos in den Künsten beschließt Hölscher seine Gedanken zum klassischen Menschenbild als „Instrument der psychagogía“ (S. 145), um sich anschließend noch 1086 Viktoria Räuchle einmal den Begriffen ‚Künstler‘ und ‚Kunst‘ zuzuwenden. Trotz des weiterhin zu konstatierenden sozialen und kulturellen Aufstiegs von Bildhauern, Malern und anderen Kunsthandwerkern habe es auch in klassischer Zeit nie eine „autonome Sphäre der ‚Kunst‘ als Feld von reiner Kreativität und Imagination“ gegeben (S. 150), wie sie sich seit der Renaissance entwickelt habe (eine Feststellung, die den Verfasser allerdings nicht davon abhält, die Begriffe auch weiterhin zu nutzen). Eine kurze Bilanz thematisiert die Kehrseite des „Birth of Western Art“ (S. 150). Die „emphatische Ausbildung von Identität“ habe zwar die unvergleichliche Erfolgsgeschichte Athens erst ermöglicht, zugleich aber auch zur „Abwehr von Alterität, mit einem erhöhten Potential von Antithesen und Konflikten“ geführt, die im Falle der Abgrenzung von den Persern „noch heute in bedrohlichem Maß wirksam“ sei (S. 150). Durch die allzu knappe Abhandlung droht diese „kritische Bilanz“ zum reinen Lippenbekenntnis zu werden, das potentiellen Skeptikerinnen den Wind aus den Segeln zu nehmen sucht. Die Rezensentin hätte sich hier eine deutlichere Stellungnahme gewünscht, warum es sich dennoch bis heute lohnt, das ‚klassische Erbe‘ – mit all seinen dunklen Seiten – in Ehren zu halten. Das abschließende Kapitel IV ist der emotionsgeladenen Kunst und Kultur des Hellenismus gewidmet („Gesten des Pathos, Pluralität der Kulturen und die Semantisierung der Formen in der hellenistischen Kunst“, S. 151–192). Könnte das Kapitel bei flüchtiger Lektüre deskriptiv wirken, so gelingt es dem Autor hier, seinen aufmerksamen Lesern allein durch die geschickte Auswahl der Fallbeispiele sowie den kaum merklichen Wechsel in einen schwelgerischen Duktus die Voraussetzungen und Folgen dieser kulturellen ‚Revolution‘ verständlich zu machen. Hölscher beschreibt zunächst die Ausbildung einer völlig veränderten Bildsprache durch den ‚neuen Helden‘ Alexander den Großen und seine Nachfolger, rühmt die atemberaubende Vielseitigkeit hellenistischer Porträts, und geht schließlich auf die überwiegend in schriftlichen Quellen fassbaren „Denkmäler und Rituale der Überwältigung“ ein, die für diese Epoche so charakteristisch seien. Auf den folgenden Seiten erörtert er „Pathos und Emotion der großen Geschichte“ (S. 163) am Beispiel des Alexandermosaiks und der Gallieranatheme und schlägt dabei auch die Brücke zur zeitgenössischen „tragischen Geschichtsschreibung“, bei der sich ähnliche Strategien der Pathossteigerung fassen ließen. Bereits im Jahre 1985 in einem bahnbrechenden Aufsatz zu den „Geschlagenen und Ausgelieferten in der hellenistischen Kunst“ ausführlich dargelegt, vermag die Interpretation, nach der „ethische oder gar T. Hölscher, Die Geschöpfe des Daidalos 1087 ideologische Antithesen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘, Recht und Schuld eine sekundäre Rolle gegenüber […] dem heroischen Pathos von Vollbringen und Leiden“ spielten (S. 170), immer wieder aufs Neue zu begeistern7. So ist der Rezensentin keine Untersuchung zu den Galliern bekannt, die es mit der genannten Abhandlung aufnehmen könnte. Die sich anschließenden Beobachtungen zur „Ambivalenz von sinnlicher Nähe und visionärer Distanz“ (S. 173) als ein weit über eine rein ästhetische Pointe hinausgehendes Wesensmerkmal des hellenistischen Götterbildes, zum „multisensorischen Sehen“ (S. 179) einer auf die Erzeugung von Atmosphäre abzielenden Bilderwelt sowie zu den ersten ‚Kunstsammlungen‘ der Antike überzeugen ebenso wie die Ausführungen zur „Semantisierung der Stilformen“ (S. 186), die ihre Vervollkommnung in der kommunikativen Bildsprache des römischen Reiches finden sollten.8 Zum Abschluss der Betrachtung kommt der Verfasser erneut auf die Problematik des Kunstbegriffs zurück und stellt den am Ende jeder Epochenbehandlung gewürdigten Begriffen ‚Kunst‘ und ‚Künstler‘ den ‚Betrachter‘ zur Seite, um die primär betrachterorientierte, interaktive Natur der hellenistischen Bildkultur zum Ausdruck zu bringen. Und damit findet diese kongeniale Studie zum sozialen Leben der griechischen Bildwerke ihr Ende. Mit unerträglicher Leichtigkeit (sic!) ist es Tonio Hölscher auf diesen knapp 200 Seiten wieder einmal gelungen, sein über die Jahre immer komplexeres, aber stets sicher auf dem Fundament des antiken Quellenmaterials ruhendes Theoriegebäude zu skizzieren und darauf aufbauend das Leben von und mit Bildern im antiken Griechenland wiederauferstehen zu lassen. Viele der hier zusammengetragen Beobachtungen sind seinem treuen Leserkreis bereits aus anderen Schriften vertraut, Hauptverdienst des vorliegenden Werkes ist es, ‚Hölschers Welt‘ in verdichteter Form auch dem französischsprachigen Publikum näherzubringen und so zu einer eingehenderen Beschäftigung mit seinem Oeuvre einzuladen. Von der deutschen Übersetzung wird die Fachwelt insofern profitieren, als das Phänomen der ‚lebenden Bildwerke‘ vom Verfasser bislang noch nicht in den Fokus genommen wurde.9 Dass das „komplexe Wechselspiel zwischen Materie und Leben“ (S. 24) dennoch nicht ad unguem                                                                                                             7 8 9 T. Hölscher, Die Geschlagenen und Ausgelieferten in der Kunst des Hellenismus, AK 28, 1985, 120–136. T. Hölscher, Römische Bildsprache als semantisches System, Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 1987, 2 (Heidelberg 1987). Wohl aber von seiner Frau: F. Hölscher, Die Macht der Gottheit im Bild: Archäologische Studien zur griechischen Götterstatue (2017). Zur agency antiker Kunst vgl. auch: T. Hölscher, Semiotics TO Agency. In: C. Marconi [Hg.], The Oxford Handbook of Greek and Roman Art and Architecture (Oxford 2015) 662–686. 1088 Viktoria Räuchle dargelegt wurde und man die Anmerkungen mitunter vergeblich nach den theoretischen Prämissen und literarischen Quellen durchforsten wird, welche die These stützen würden, lässt sich teilweise mit dem Entstehungskontext aus einer Vortragsreihe erklären, zeugt andererseits aber auch von dem großen (vielleicht zu großen) Vertrauen des Autors in das Reflexionsniveau seiner Adressaten. Könnte die Studie dank der konzisen Sprache, der stringenten Gliederung und der Wahl gut bekannter Fallbeispiele auf den ersten Blick als eine Einführung in die griechische Bilderwelt missverstanden werden, so entpuppt sie sich schnell als äußerst voraussetzungsreiches Werk: Wer nicht zumindest mit den großen Strömungen der Ideengeschichte vertraut ist, droht von Bord zu gehen, wenn Hölscher sein argumentatives Schlachtschiff durch entlegenere Nebenarme kulturhistorischer und anthropologischer Forschung steuert. Dabei gehört es zu den herausragenden Fähigkeiten dieses kundigen Fährmannes in den Gewässern der Geisteswissenschaften, die Strudel in ideologischen Untiefen souverän zu umschiffen und die verschiedensten, mitunter auch gegensätzlichen Interpretationsansätze in Einklang zu bringen. Gewandt navigiert er durch die Denkschulen und nimmt überall gerade soviel auf, um sich der komplexen, vielschichtigen und dezidiert ambivalenten Welt der antiken Griechen zu nähern, ohne darob durch zu viel theoretischen Ballast auf Grund zu gehen. Genau diese vermittelnde Herangehensweise prägt auch das diesem Werk zugrundeliegende Verständnis von der „fundamentale[n] Doppel-Struktur des Bildes“ zwischen Person und Gegenstand (S. 83). Dass die Rezensentin ausgerechnet hier die größten Schwierigkeiten hatte, den Ausführungen des Autors zu folgen, mag persönlichen Vorlieben (und Abneigungen) geschuldet sein. So ist aus Sicht der hier Schreibenden die Beweisführung noch nicht abgeschlossen, ob es sich bei der „Verlebendigung der Materie“ (S. 27) durch kulturelles Handeln nicht doch nur um eine Metapher handeln könnte, welche die enorme Wirkmacht bedeutungsvoller Symbole für die antike Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Doch auch diejenigen, die sich der lästigen Ketten einer solch rationalistischen und möglicherweise auch anachronistischen Weltsicht noch nicht vollständig entledigen konnten, werden sich bereitwillig auf diese Reise zu den Geschöpfen des Daidalos mitnehmen lassen. Dr. Viktoria Räuchle Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Klassische Archäologie Katharina-von-Bora-Str. 10 80333 München E-Mail: [email protected]