Elias Zimmermann (Université de Lausanne)
Kannibalische res publica
Werner Schwabs ÜBERGEWICHT und die Gewalt der Demokratie
Man muß im Leben immer solidarisch sein mit dem ganzen Lebensgebilde, einfach mit
allem, was lebensförmig ausschaut, und einfach keinen Unterschied einreißen lassen zwischen den Lebewesen. […] Wissen Sie, Herr Schweindi, bisweilen tritt meine Person einfach an einen schlichten Würstelstand heran und ißt mit den wirklich nur sogenannten
einfachen Menschen ein gutes und bloß vermeintlich ordinäres Würstchen. Freilich weiß
ich, daß so eine Wurst für einen geistig arbeitenden Menschen keine gesunde Nahrung
darstellen kann […]. Aber man muß den Symbolwert so einer Wurst sich rechnen lassen
können. Das Würstel als Metapher für eine kulturelle Solidarität, wissen Sie, als billiger
massenhafter Zugang zum tierischen Eiweiß.1
Werner Schwabs Drama ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM. Ein europäisches Abendmahl stellt die Frage nach der Solidarität einer Gemeinschaft, deren
historische und soziale Position von einer radikalen, fortschreitenden Entsolidarisierung betroffen ist. Es ist 1991, zwei Jahre nach dem Fall der Berliner
Mauer, das Jahr, in welchem sich die UDSSR definitiv auflöst, der Moment des
finalen Triumphes des westlichen Machtblocks. Jugoslawien bricht auseinander
und österreichische Truppen werden an die Grenze verlegt, Schwabs groteske
Figuren erleben auf der Bühne des Schauspielhauses Wien ihre Erstaufführung,
sie streiten und schlagen sich, bis sie sich töten und verschlingen.
Die Protagonisten von ÜBERGEWICHT, wie das Stück im Folgenden der
Einfachheit halber genannt wird, wähnen sich in der Mitte einer bürgerlichen
Gesellschaft und sind doch keine Nutznießer des Siegs über den Sozialismus, der
nur durch die Abwesenheit gesellschaftlicher Alternativen im Drama präsent
ist. In einem Gasthof hat sich eine Gruppe von Verlierern zusammengefunden,
die sich ihre prekäre Stellung nicht eingestehen wollen: Jürgen, ein eingebildeter
Sozialwissenschaftler, doch eigentlich nur Primarschullehrer; Fotzi, eine alternde, obszöne Matrone; Karli, ein Prolet, der seine Freundin Herta misshandelt
und diese selbst, eine verbrauchte Schönheit am Rande des Zusammenbruchs.
Das kleinbürgerliche Ehepaar namens Hasi und Schweindi spielt Familie, doch
macht seine Pädophilie ihren Kinderwunsch zunichte. Über allen thront die
Wirtin, bemüht, das soziale Gleichgewicht herzustellen und den Marktgesetzen
1 Schwab, Werner: ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM. Ein europäisches Abendmahl, in:
Ders.: Fäkaliendramen, Graz/Wien 2007, S. 59–120, hier S. 65.
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– den einzigen Gesetzen, die hier noch herrschen – Genüge zu tun: „Ich führe
mein Regiment, das denen gehört, die bei mir eine Gesellschaft kaufen. […]
Eine Gastwirtschaft befreit die Welt von einer falschen Einsamkeit ihrer Bestandteile.“2 Diese Einsamkeit kann durch den ‚freien Markt‘ gelindert werden,
der sich zurecht als Verbrechen äußere:
Aber ein Verbrechen ist kein richtiges Verbrechen mehr, wenn man friedlich neben einem Verbrechen sitzt und wenn das Verbrechen von einem Kerzenlicht beleuchtet wird.
Alle Menschen sind Verbrecher. […] Ein Verbrechen ist ja nichts Schlechtes, man muß
nur wissen, was man aus einem Verbrechen machen kann, ein Verbrechen ist der freie
Markt im Menschen, darum habe ich immer einen ganzen Haufen Kerzen eingesteckt.3
So schreitet die Tischgesellschaft zur Tat und verübt ein Verbrechen, das kein
richtiges Verbrechen sein will, weil es nur auf ein inneres Ungleichgewicht
von affektivem Angebot und triebgesteuerter Nachfrage reagiert. Ein schönes
und reiches Liebespaar am Nebentisch wird belästigt, kollektiv vergewaltigt,
geschlachtet und an Ort und Stelle noch roh und blutig aufgefressen. Danach
tritt Trübsal ein, man beschuldigt sich gegenseitig des Übermaßes, erinnert
sich daran, dass sich Ähnliches jede Woche einmal im Gasthof abspielt und
tröstet sich schließlich damit, dass ganz Europa ein Hort der Verbrechen ist,
war und sein wird. Gemeinsam meditieren sie über eine Vision Jürgens, der
„ein von Menschen befreites Land“4 beschreibt und damit das radikalste aller
Verbrechen, die Auslöschung der Menschen selbst erträumt. In ihr leben sie
fort, nun eins mit der Natur: „Einmal sind Herr Schweindi und die Frau Hasi
ein Schwarm Saatkrähen, dann ein reifes Tollkirschenunterholz […].“5
Diese Phantasie einer ‚rettenden‘ Entmenschlichung und Naturalisierung
wird durch einen kurzen, epiloghaften dritten Akt konterkariert, in dem das
Geschehen vor die kannibalische Szene zurückspringt und sich konträr entwickelt: Anstatt gefressen zu werden, macht sich das ‚schöne Paar‘ nun über
die „traurige Gesellschaft“6 lustig. Diese ist ein ‚gefundenes Fressen‘ für den
Standesdünkel des Paars und so ‚verleiben‘ sie sich die ‚Untermenschen‘ nun
– freilich nur noch metaphorisch – ihrerseits ein.7 Als den Privilegierten die
2
3
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5
6
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Ebd., S. 100.
Ebd., S. 101.
Ebd., S. 105.
Ebd., S. 106.
Ebd., S. 119.
Vgl. Campanile, Anne: ‚Die Diskurse kommen und gehen, der Appetit bleibt!‘ Kannibalismus
im Theater der Nachkriegszeit: George Tabori, Werner Schwab, Libuse Monikova, Heiner
Müller, in: Das andere Essen: Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur, hg. von
Daniel Fulda und Walter Pape, Freiburg i. Br. 2001 (= Reihe Litterae 70), S. 445–481, hier S. 462.
Kannibalische res publica
„geile Show“8 der Tischgesellschaft zu viel wird, lassen sie diese in Tränen
zurück. Die gewalttätigen Affekte von Schweindi, Hasi und Co. richten sich
nunmehr in Selbstanklagen gegen sich; das große, einigende Vergehen ist ein
uneingelöstes Versprechen. Unabhängig davon, ob man das kannibalische Geschehen rückwirkend als Imagination oder als tatsächliches, aber ungeschehen
gemachtes Vorkommnis liest, bleibt es weitgehend wirkungslos. Denn auch
ein realer Kannibalismus scheint angesichts der im letzten Akt vollends augenscheinlich gewordenen Entsolidarisierung der Tischgesellschaft keine Erlösung
zu bringen, so oft die Schlachtung auch realiter oder im Geiste wiederholt wird.
ÜBERGEWICHT reflektiert 1991 nicht nur die verdrängte europäische und
spezifisch österreichische Vergangenheit nationalistischer und nationalsozialistischer Verbrechen, sondern auch eine anbrechende soziale Restrukturierung
im Zeichen liberaler Märkte. Das europäische Abendmahl, das der Untertitel
ankündigt, findet in diesem Licht in mehrfacher Hinsicht statt: als groteske Apotheose der europäischen Wertegemeinschaft, als geteiltes Opfer und
gemeinsame Sühne im Sinne religiöser Heilsversprechen und als perverse Ritualisierung marktwirtschaftlicher Prozesse. Der Titel ÜBERGEWICHT spielt
auf ein Bild Europas an, das sich an seinen eigenen Idealen überfressen hat.
Versatzstücke der Aufklärung werden als Selbstverständlichkeiten vor sich
hergetragen, durchgekaut und ausgespien. So proklamiert der vermeintliche
Intellektuelle Jürgen noch kurz vor dem kannibalischen Exzess: „Man muß
eine freiheitliche Seelenlandschaft in seinem Innenraum hineinaquellieren. Die
Menschenwürde in einem Menschen muß man einfach anerkennen wie die
tägliche Wetterlage, dann kann man nicht verstoßen gegen sie.“9 Diese Solidarität, die auf der Anerkennung der Menschenwürde basieren soll, drückt sich für
Jürgen bezeichnenderweise in nichts so treffend aus wie im „bloß vermeintlich
ordinäre[n] Würstchen“. In Europa um 1990 kann sie nur eine vermeintliche
Solidarität von Vielfraßen sein, die sich als Schlächter gerieren und jederzeit
auch übereinander herfallen. Das Abendmahl als Akt abendländischer Gemeinschaftsbildung ist hier zwangsläufig ein kannibalischer, aber zur echten
Gemeinschaftsbildung untauglicher Akt geworden.
1.
Genealogie der kannibalischen Republik
Diese ganz wörtlich beißende Gesellschaftskritik Werner Schwabs erübrigt
sich nicht in ihrer Zeitzeugenschaft, mag das Stück auch zurecht als Abgesangs
auf die neue Alternativlosigkeit liberaler und nationaler Ideologie und die
8 Schwab: Übergewicht, S. 118.
9 Ebd., S. 69.
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schwindende Verbindlichkeit einer lächerlich gewordenen Bürgerlichkeit gelesen werden. Der symbolisch derart mehrdeutige Kannibalismus im Zentrum
des Stückes steht darüber hinaus mit einer älteren und grundlegenderen Problematik in Zusammenhang: Der Imagination eines kannibalischen Volkswillens,
einer dadurch kannibalischen Demokratie und Republik, ja letztlich einer Imagination der res publica, des öffentlichen Gegenstands selbst als menschliches
Leben, als Menschenfleisch – oder um es mit Jürgen zu sagen – als „Würstchen“,
dessen Konsum Individuen zur Gemeinschaft zusammenschließt.
Das politische Imaginäre einer solchen kannibalischen Gewalt der Vergesellschaftung äußert sich nicht zufällig in historischen Umbruchsmomenten
wie 1991 am radikalsten. Der Topos wird dabei nicht nur aktualisiert, sondern
reformuliert und im Kontext oder im Widerspruch zu hegemonialen Diskursen neu gedeutet. Will man ÜBERGEWICHT mithin als eine solche Deutung
verstehen, so muss die Position des Stückes in einer Diskursgeschichte der
kannibalischen Demokratie verortet werden.
1.1 Antike Mythologie
Die Anfänge einer solchen setzen wie die Ideengeschichte der Demokratie
selbst in der Antike beziehungsweise noch etwas früher ein. Der Altphilologe Walter Burkert betont die gesellschaftlich wirkungsvolle Paradoxie eines
imaginären Kannibalismus im archaischen Griechenland, wo das Essen von
Menschenfleisch einerseits tabuisiert, andererseits stellvertretend an Tieren
rituell vollstreckt wird.10 Das Tier – und Burkert denkt hier zweifellos an das
Totemtier und seine Interpretation bei Freud – sei dem frühen Menschen noch
ein ‚Bruder‘ gewesen, seine notwendige Tötung machte ihn darum schuldig.
Im religiösen Opfer der anbrechenden Antike werde diese Schuld immer von
neuem heraufbeschworen und verarbeitet. In der gemeinschaftlichen Jagd, so
Burkert, fand der erste Schritt zur Aufgabenteilung und Solidarisierung statt, die
gewalttätige Schuldigkeit ist darum das sine qua non, unter welchem weiterhin
gesellschaftliche Solidarität stehen wird.
Auch wenn Burkerts anthropologische Erzählung vom ursprünglichen Jagdmenschen, der bis heute ‚in uns‘ überlebt hat, selbst als bürgerlicher Mythos
hinterfragt werden muss,11 hat seine genaue Analyse altgriechischer Mythen,
Rituale und Feste trotzdem Geltung. Ihr Verhältnis von Beschreibung und
Gegenstand muss jedoch umgedreht werden. Die Mythen des Kannibalen
10 Vgl. Burkert, Walter: Homo necans: Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen,
Berlin u. a. 1972, S. 28–29.
11 Zum Problem vermeintlicher anthropologischer Wahrheiten über einen ‚ursprünglichen‘ und
deshalb ewigen Menschen vgl. z. B. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe,
übers. v. Horst Brühmann, Berlin 2012, S. 292.
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beschreiben keine anthropologische Wahrheit, sondern imaginieren auf apodiktische Weise, was die Ursprünge der Menschengemeinschaft und damit des
Menschen als soziales Wesen sind.
Zwei altgriechische Mythologeme über die Vergesellschaftung durch Gewalt sind hierbei von besonderem Interesse. Das eine strukturiert nachhaltig
die antike Vorstellung, wie politische Ordnung hergestellt wird: Die Abfolge
des Göttergeschlechtes von Uranos über Kronos zu Zeus ist bekanntlich von
kannibalischer Gewalt gezeichnet. Uranos sichert seine Herrschaft, indem er
seine Kinder in den Leib seiner Frau, Gaia, einschließt und damit ungeboren
macht. Nachdem ihn Kronos kastriert hat, stellt dieser eine erste politische
Götterordnung her. Doch auch Kronos kann nur herrschen, indem er seine
eigene Nachkommenschaft von bereits besetzten Machtpositionen fernhält.
Anders als sein Vater inkorporiert er seine Kinder selbst, bis ihn Zeus in den
Tartaros verbannt und dadurch den Weg für eine fortgesetzte Genealogie, ein
komplexeres Machtgefüge und subtilere Machtmittel ebnet.12 Kronos’ Kannibalismus fungiert damit gleichsam als Stufe zwischen dem ungeschlachten
Chaos Uranos und der Kulturisation Zeus’. Entsprechend ambivalent ist seine
Stellung im altgriechischen Wertesystem: Kronos steht für die Verhinderung
von Entwicklung und zugleich für ein goldenes Zeitalter, für Unordnung und
ihre basale Beherrschung.13
Das zweite kannibalische Mythologem handelt davon, wie in einer bestehenden Ordnung Gewalt eingegrenzt wird. Der Herrscher Lykaion testet in einem
Anflug von Hybris den Göttervater Zeus, indem er ihm Menschenfleisch vorsetzt. Die Bedeutung dieses Affronts wird – über das scheinbar unhintergehbare
Tabu des Kannibalismus hinaus – über die Rolle Kronos’ klarer: Lykaion droht
Zeus auf die kulturelle Zwischenstufe seines Vaters zurückzuwerfen, will ihn
also gleichsam primitivieren und fordert damit seine differenzierte Gesetzesmacht heraus. Zeus reagiert mit der Umkehrung der Straftat in eine Spiegelstrafte: Anstatt sich zum Kannibalen machen zu lassen, verwandelt er Lykaion
in einen Werwolf, der sich von Menschenfleisch ernährt.14
Dieser Mythos steht in einem intrikaten Verhältnis zum selbst nur durch
Mythen belegten Ritual des arkadischen Tempels des Zeus Lykaion. In ihm
wird bei einem jährlichen Fest Menschenfleisch unter anderes Fleisch gemischt
12 Vgl. Hesiod: Theogonie: griechisch und deutsch, in. Ders.: Theogonie. Werke und Tage, hg.
und übers. von Albert von Schirnding, Berlin 2012, S. 6–81, hier S. 43.
13 Zur daraus resultierenden Ambivalenz Kronos’ bzw. seiner Festlichkeiten, der Kronia, vgl.
Versnel, Henk: Inconsistencies in Greek and Roman Religion, Volume 2: Transition and
Reversal in Myth and Ritual, Leiden/New York/Köln 1992, S. 90–135.
14 Die berühmteste Schilderung dieses Mythos findet sich bei Ovid, vgl. Publius Ovidius Naso:
Metamorphosen, hg. und übers. von Michael von Albrecht, Stuttgart 2010 (= UniversalBibliothek 1360), S. 21–22 (I, 209–239).
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und in einem Dreifuss-Kessel gekocht. Derjenige, der zufällig das Menschenfleisch isst, verwandelt sich in einen Werwolf und wird für die nächsten neun
Jahre in die Wildnis verbannt, bevor er sich erneut in Gesellschaft begeben
darf – vorausgesetzt, dass er in dieser Zeit kein Menschenfleisch gegessen hat.
Der Verbannte nimmt die Rolle Lykaions an, aber nicht für immer und nicht
aus schändlicher Gesinnung, sondern aus purem Zufall. Burkert erklärt diese
Abweichung damit, dass das Ritual nicht dem Mythos Lykaions folgt, sondern
umgekehrt Lykaions Tat das Ritual dort erklären soll, wo sein eigentlicher
Grund, das reenactment der Jagdgemeinschaft, unbewusst bleiben muss. Die
Gesellschaft um den Dreifusskessel ist laut Burkert also die rituelle Nachstellung
der gewalttätigen, schuldigen Jagdgemeinschaft.15 Sie projiziert ihre tradierte
Schuld nun auf den einen ‚Zufallskannibalen‘ und versetzt diesen stellvertretend
in einen ursprünglichen Zustand zurück, in dem er als Jäger in der Wildnis
überleben muss.
Die Ambivalenz Kronos’ und die Ambivalenz des Jägers, der seine tierischen
Artgenossen verschlingt, fallen in eins. Doch neben der rituellen Wiederholung
und Überwindung einer früheren Kulturisationsstufe und eines älteren Göttergeschlechts besaß das arkadische Ritual laut Burkert eine soziale Funktion.
Er vermutet, dass mit der ‚Verwandlung‘ des zufälligen Kannibalen in einen
Werwolf der Ausschluss besonders gewalttätiger, insbesondere jugendlicher
Gesellschaftsmitglieder institutionalisiert wurde.16 Das vermeintliche Stück
Menschenfleisch und seine vermeintlich verzaubernde Wirkung wäre demnach
ein Mittel kollektiver Imagination, die diesen Ausschluss vereinfacht und auf
einer religiösen Ebene rechtfertigt. Wer so zum Werwolf gemacht wird, ist
schuldlos schuldig; dieser ambivalente Status ermöglicht es ihm, nach neun
Jahren der Gewaltabstinenz erneut zum Mitglied der Gesellschaft zu werden.
1.2 Platon und der kannibalische Demos
Kronos und Lykaion führen vor Augen, wie das Imaginäre des Kannibalen
bereits im Mythos die fundamentale Rolle innehat, Vergesellschaftung durch
Gewalt und Gegengewalt zu erklären. Es ist darum nicht weiter verwunderlich,
dass der Kannibale später in der altgriechischen Philosophie diese Rolle unter
neuen Bedingungen weiter zu spielen hat.
Explizit beruft sich Platon auf das arkadische Ritual im Tempel des Zeus
Lykaion um zu illustrieren, wie ein Aufwiegler aus der Mitte des Volkes ein
tyrannisches Regime und damit eine ungerechte Herrschaft begründen kann.
Im Staat spricht sich Platon gegen die Demokratie aus, weil die Herrschaft der
‚schwachen Masse‘ und ihre Vorliebe für Volkstribune zwangsläufig Despoten
15 Vgl. Burkert: Homo necans, S. 98–108.
16 Zur Funktion der rites de Passage vgl. Burkert: Homo necans, S. 95.
Kannibalische res publica
hervorbringe. So, wie derjenige, der aus der gemeinsamen Opferschale zufällig
das Menschenfleisch isst, „notwendigerweise ein Wolf werden“17 muss, so werde
derjenige, der die Massen zu kontrollieren verstehe, zum figurativen Ungeheuer
in Menschengestalt:
wenn dieser Mann sich nicht freihält von stammverwandtem Blut, sondern den Gegner
wider Recht […] vor Gericht schleift und sich dann mit Blut befleckt, weil er ein Menschenleben vernichtet […], dann ist es diesem Mann verhängt und schicksalsbestimmt
[…] ein Tyrann zu werden, aus einem Menschen also ein Wolf. […] Dieser Mann hetzt
nun gegen die Besitzenden.18
Wie problematisch die rhetorische Diffamation des Volkstribuns hier ist, zeigt
sich in der ambigen Formulierung, er schleife seine Gegner „wider Recht […]
vor Gericht“. Da dem ‚wölfischen‘ Politiker keine außerjuristische bzw. außerdemokratische Bluttat vorgeworfen werden kann, wird seine Anrufung des
Gerichts als vorgeblich widerrechtlich, eigentlich aber als ungerecht innerhalb
von Gesetz und Gemeinschaft markiert. Denn ungerecht ist diese Tat nicht
hinsichtlich ihrer Mittel des Gerichtverfahrens und der Todesstrafe (die Platon
andernorts rechtfertigt),19 sondern ihres Zwecks, der ‚kannibalischen‘ und darum per se ungerechten Verfolgung des reicheren Gegners. Der Vorwurf, dass
der Volkstribun „notwendig“ verwerflich agiert, wenn er seine Gegner anklagt,
basiert auf einem ideologischen Argument: Kannibalisch ist das Todesurteil,
weil es jene trifft, denen aufgrund von Stand und Besitz die Macht im Staat
zusteht.
Platons diffamatorische Erklärung demokratisch-juristischer Machtprozesse mithilfe des Kannibalen-Mythos ist im Lichte von Burkerts Interpretation
des Lykaion-Rituals nicht nur dessen ideologische Vereinnahmung, sondern
auch dessen Rückführung auf das in ihm maskierte aber zugleich aufgehobene
Problem: Wie lässt sich Gewalttätigkeit derart kanalisieren, dass sie sich nicht
gegen die Gemeinschaft richtet, sondern dieser dienstbar wird? Während das
Ritual mit dem ‚kannibalisierenden‘ Schuldspruch eine (laut Burkert) einst
notwendige Gewalttätigkeit transformiert – und damit die Rolle Kronos’ heraufbeschwört –, so geht laut Platon in der demokratischen Staatsform eine
solche Absonderung und Reintegration der Gewalt notwendigerweise schief.
Platons Analogie behauptet also mehr denn nur die Bestialität des Volkstribuns.
Die Demokratie versetze eine ausdifferenzierte, weil hierarchische Gesellschaft
17 Platon: Der Staat (Politeia), hg. und übers. von Karl Vretska, Stuttgart 1999 (= UniversalBibliothek 8205), S. 394.
18 Ebd.
19 Zu den verschiedenen Argumentationslinien Platons in seinem Gesamtwerk vgl. Ladikos,
Anastasios: Plato’s views on Capital Punishment, in: Phronimon 6.2 (2005), S. 49–61.
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in einen kannibalischen Urzustand zurück, der im Lykaion-Ritual eigentlich
bereits überwunden ist. Die wahre Gefahr der Demokratie ist nicht der Volkstribun, sondern das latent kannibalische Volk selbst.20
Platons Diffamierung des Volkes als demokratische Bestie ist wirkmächtiger, als die vergleichsweise kurze und selten diskutierte Stelle seiner Politeia
erahnen lässt. Hobbes’ Wendung des homo homini lupus begründet die Notwendigkeit eines starken, ja grausamen Alleinherrschers. An Platons Argument, die Volksherrschaft sei letztlich selbstzerstörerisch, schließen aber auch
Gründungsschriften des amerikanischen Staates an, um trotz republikanischer
Gesinnung eine Vormacht der Vermögenden zu institutionalisieren.21 In der
Anti-Jakobinischen Rhetorik zwanzig Jahre später wird das aufständische Volk
zu jener Rotte vertiert,22 die auch noch in Dantons Tod Paris durchstreift:
„Unsere Weiber und Kinder schreien nach Brot, wir wollen sie mit Aristokratenfleisch füttern!“23 Und heute noch ist im Horrorgenre eine Darstellung der
kannibalischen Unterschicht virulent, die mit der Angst der liberal-progressiven
Bevölkerung vor einer Übermacht ungebildeter, reaktionärer Maßen spielt,24
seien es Hillbillys in Texas Chainsaw Massacre (1974) oder Zombies in Night of
the Living Dead (1968), die bezeichnenderweise nach dem streben, was sie sich
nicht sinnvoll aneignen können: nach Hirn.25
Es scheint an diesem Punkt auf der Hand zu liegen, zu Schwabs Stück zurückzukommen und in ihm eine Fortsetzung dieser Argumentationslinie wiederzuerkennen. Eine naheliegende Lektüre des Theaterstückes macht in der
kannibalischen Tischgesellschaft eine obszöne Ur- bzw. Jagdgemeinschaft aus.26
20 Dies wird weiter durch die von Platon implizierte Analogie des demokratischen Losverfahrens
mit dem Zufalls-Kannibalismus im Tempel von Zeus Lykaion untermauert. Gerade jedoch
das Losverfahren sollte die Wahl von allzu machtbesessenen oder korrupten Politikern eindämmen. Es bleibt offen, ob Platon diese Wirkung durch die Analogie zwischen Dreifußkessel
und Auslosung in Zweifel zieht.
21 Vgl. Vogl, Joseph: Der Souveränitätseffekt, Zürich 2015, S. 153.
22 Vgl. Foucault, Michel: Die Anormalen: Vorlesungen am Collège de France (1974–1975),
Frankfurt a.M. 2008, S. 131–134. Siehe hierzu auch Vogl, Joseph und Matala de Mazza, Ethel:
Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie. In: Sylvia Sasse und Stefanie Wenner
(Hg.): Kollektivkörper: Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld 2002, S. 285–298.
23 Büchner, Georg: Dantons Tod. Drama, Stuttgart 1968 (= Universal-Bibliothek 6060), S. 12.
24 Vgl. Brown, Jennifer: Cannibalism in Literature and Film, Houndsmill u. a. 2012, S. 107–152.
25 Der Erfinder des modernen Zombie-Filmes, George A. Romero, weiß genau diesen Aspekt
im Verlaufe seines Werkes kritisch zu unterminieren: Seine Zombies verwandeln sich von
Repräsentanten eines hirnlosen Kapitalismus zusehends selbst zu dessen Leidtragenden und
entwickeln affirmierte revolutionäre Tendenzen, vgl. insbesondere Romeros Land of the Dead
(2005).
26 Campanile: Die Diskurse, S. 462.
Kannibalische res publica
Die boshafte Überlegenheit des schönen Paars im dritten Akt, die sich als Vertreter einer wirklich zivilisierten Oberschicht über die nur vermeintlich zivilisierte
breite Masse lustig macht, wäre demnach gleichsam gerechtfertigt. So unsympathisch das Paar gerade dann wird, als sein Tod rückgängig gemacht ist, so
zynisch scheint sich hier doch eine Grundidee abendländischen Denkens zu
bewahrheiten: Schlimmer noch als die Mächtigen und ihr figurativer Kannibalismus ist der reale Blutdurst der Plebs.
ÜBERGEWICHT sollte jedoch nicht vorschnell in diese Diskurslinie eingeordnet werden. Denn neben ihr ist ein Gegendiskurs zu verzeichnen, der
dem Kannibalen eine konträre Stellung zuweist: Nicht diejenige des tierischen,
sondern des edlen Wilden, nicht diejenige eines rebellischen Wolfes, sondern
einer revolutionär-gerechten Gewalt.
1.3 Der Gegendiskurs von Montaigne bis Benjamin
Seinen Ursprung nimmt dieser Gegendiskurs, wo Michel de Montaigne 1580
erstmals eine anthropophage Gesellschaft durchwegs positiv zeichnet.27 Die
brasilianischen Kannibalen würden aufgrund ihrer natürlich-reichen Umwelt
im Überfluss leben, sie benötigten keinen Ackerbau und keinen Handel und
darum keine starren Institutionen und Hierarchien. Im kannibalischen Brauch
lasse sich die äußerste Form kriegerischen Mutes erkennen, Menschenfleisch
werde zum Zeichen einer edlen Rache gegessen. Umgekehrt könne sich der
Gefangene als besonders mutig und loyal beweisen, indem er seine Begnadigung ablehnt: Lieber wird er gefressen, als seine Unterlegenheit einzugestehen.
Im impliziten „kannibalischen Pakt“28 zwischen Täter und Opfer könne sich
im scheinbar Grausamsten die edelste, gemeinschaftsbildende Tugend zeigen.
Denn der Mutigste, der sich derart für die Ehre seines Stammes aufzuopfern bereit ist, ist zugleich ein selbstloser Anführer. Als Häuptling hat er keine anderen
Privilegien, als dem Stamm im Krieg vorangehen zu dürfen.29
Diesen Kannibalen ist die Schuld der imaginären Jagdgemeinschaft unbekannt, die Burkert in der altgriechischen Mythologie rekonstruiert hat. Indem
Montaigne ihnen eine „anakreontische“ Sprache verleiht30 , gleicht er sie dem
27 Vgl. Montaigne, Michel Eyquem de: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung, übers. v. Hans
Stilett, Frankfurt a.M. 1998, S. 110–115.
28 Moser, Christian: Kannibalische Katharsis: Literarische und filmische Inszenierungen der
Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis, Bielefeld 2005, S. 13–14.
29 Diese Beschreibung deckt sich teilweise mit modernen ethnologischen Untersuchungen indigener südamerikanischer Gesellschaftsformen. Pierre Clastres beschreibt Mechanismen
ritualisierter Gewalt, welche die Ausformung starrer Hierarchien und Privilegien und damit
eines Staates im westlichen Sinne verhindern. Vgl. Clastres, Pierre: La société contre l’Etat:
Recherches d’anthropologie politique, Paris 1974.
30 Montaigne: Essais, S. 115.
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goldenen Zeitalter des griechischen Mythos an; indem er ihren Kontinent
Amerika explizit von Platons Atlantis unterscheidet, verortet er sie zugleich
jenseits der abendländischen Ideengeschichte. Er erschafft im radikal neuen
Ort einen ebenso neuen politischen Mythos: Den eines demokratischen, ja
proto-kommunistischen Lebens im Einklang mit der Natur.
An dieses Bild knüpft hundert Jahre später Baron von Lahontan in seinem
Supplement aux Voyages an. Ein kannibalischer Irokese lobt seine basisdemokratische Gesellschaft und kritisiert die unterdrückenden Hierarchien der
Europäer.31 Und darauf wiederum beruft sich implizit Jean-Paul Marat, wenn
er 1789 in seiner Constitution proklamiert, in der Revolution gegen den ungerechten Unterdrücker habe man das Recht, diesen zu töten, ja sein ‚bebendes
Fleisch zu verschlingen‘. Der freie, demokratische Kannibale ist zum Revolutionär geworden, der den idyllischen Zustand erst noch herzustellen hat.32
Es mutet wie eine historisch-dialektische Zwangsläufigkeit an, dass der Kannibale kurz vor dem ersten Weltkrieg erneut als zentrale Verhandlungsfigur
politischer Gewalt wiederauftaucht. Sigmund Freud beschwört 1913 in Totem
und Tabu das Bild einer solidarischen Urgemeinschaft, die sich erst über die
Tötung und den Verzehr ihres Vaters konstituieren kann. Es resultiert eine „ursprüngliche demokratische Gleichstellung aller einzelnen Stammesgenossen“33 .
Denn die befreiende Tat hätte zu einer beständig rituell zu verarbeitenden
Schuld geführt, welche die Reinstallation eines Übervaters und die gegenseitige
Vernichtung verhindert. Die Apodiktik, mit welcher Freud die historische Distanz zu diesem – seiner Meinung nach realen – Urereignis herzustellen sucht,
verrät, wie nah der politische ‚Vatermord‘ im Europa seiner Zeit liegt. Überall
drängen radikale Kräfte auf die Wiederholung des letzten großen Königmordes
in der Französischen Revolution. Anders freilich ergeht es der bürgerlichen
Mitte, aus der Freud spricht; seine Scheu vor einem politischen Umbruch äußert
sich in der Ambivalenz, mit welcher er die kannibalische Urhorde zeichnet: Es
muss sie gegeben haben, aber es kann – eigentlich: es darf – sie nicht erneut
geben.
31 Vgl. Lahontan, Louis-Armand de: Neueste Reisen nach dem mitternächtlichen Amerika [frz.
1703], hg. von Dragsta Rolf, Kamper Dietmar, Berlin 1982; Harris, Marvin: Cannibals and
Kings: The Origin of Cultures, Glasgow 1978, S. 115.
32 Die oben erwähnte antirevolutionäre Diffamation des Jakobiners als Kannibale entbehrt also
nicht der Grundlage, um nicht zu sagen: der Steilvorlage in der revolutionären Rhetorik selbst.
Vgl. Marat, Jean-Paul: La Constitution ou Projet de déclaration des droits de l’Homme et
du citoyen suivi d’un plan de Constitution juste, sage et libre, Paris 1789, S. 15; Avramescu,
Cătălin: An Intellectual History of Cannibalism, übers. v. Alistair Ian Blyth, Princeton/Oxford
2011, S. 22.
33 Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt a.M. 1999, S. 179.
Kannibalische res publica
Ganz anders schließlich argumentiert Walter Benjamin in seinem Essay über
Karl Kraus, das zwei Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten
erscheint. Obschon ausgehend von den Satiren Swifts und Kraus’, repräsentiert
der ‚Menschenfresser‘ zum Ende des Textes mehr denn nur eine satirischrhetorische Trope. Er wird zur Allegorie einer „Gerechtigkeit, die destruktiv
den konstruktiven Zweideutigkeiten des Rechtes Einhalt gebietet“34 . Nur noch
der blutige Zorn des Kannibalen, so Benjamin, ist dem heuchlerischen Humanismus der bürgerlichen Mitte entgegenzusetzen, die sich mit den Faschisten
arrangiert. Als spätes Echo Montaignes ist der Menschenfresser darum Inbegriff
einer „Humanität, die sich an der Zerstörung bewährt“35 . Und in Anspielung
auf Freuds Urhorde verkündet Benjamin: „Der Ursprung ist das Ziel.“36 Aus
den dunklen letzten Sätzen des Essays spricht nicht bloße Verzweiflung über
eine zusehends ausweglose politische Lage, in ihnen glimmt die letzte Hoffnung
auf ein revolutionäres Aufbegehren, das die gerechte Gemeinschaft in einem
bewussten Akt der Gewalt herzustellen bereit ist.
2.
Der Kannibale im Zeitalter des Konsums
Die plötzlich losbrechende Gewalt von Schwabs Tischgesellschaft muss auch
vor diesem Hintergrund gelesen werden. Der Triumph des schönen Paars am
Ende ist keine Rechtfertigung der notwendigen Erniedrigung und Kontrolle
des kannibalischen Plebs. Er steht stattdessen für das Versagen einer Gemeinschaft, die ihre Affekte nicht sinnvoll gegen Unterdrücker und Nutznießer des
Systems zu richten fähig ist. Es bleibt der Tischgesellschaft verwehrt, die eigene
Unmenschlichkeit im Sinne Benjamins dem lügnerischen Humanismus des
Bürgertums entgegenzusetzen, weil sie sich diesem Humanismus in aller Barbarei verpflichtet fühlt. Weder entwickelt die Tischgesellschaft eine revolutionäre
noch eine solidarische Haltung, stattdessen ist sie getrieben von Ressentiments
gegenüber allem, was ihr fremd ist – und fremd ist sie sich nicht zuletzt auch
selbst. Der gemeinsame Kannibalismus ist eine schuldhafte Selbstbefreiung nur
auf Zeit oder nur in der Imagination, die bezeichnenderweise den idyllischen
menschlichen Naturzustand Montaignes ad absurdum führt. In Jürgens Vision
lebt die urtümliche kannibalische Gemeinschaft nicht im Einklang mit der
Natur, sie verschmilzt mit dieser: „Einmal ist die Frau Wirtin der Kieselgrund
34 Benjamin, Walter: Karl Kraus [1931], in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2, hg. von Rolf
Tiedemann, Frankfurt a. M. 1991, S. 332–367, hier S. 367. Vgl. dazu Rickels, Laurence A.:
‚Aristokritik‘, in: Fulda, Daniel, Pape, Walter (Hg.): Das andere Essen: Kannibalismus als Motiv
und Metapher in der Literatur, Freiburg i. Br. 2001 (= Reihe Litterae 70), S. 369–392.
35 Benjamin: Karl Kraus, S. 367.
36 Ebd., S. 360.
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Elias Zimmermann
des Flüßchens, dann ein dampfendes Moorgebiet.“37 Die Tischgesellschaft sieht
sich in die titelgebende Unform transformiert, ihr kurzer Moment des Glücks
besteht im vollständigen Selbstverlust. Im Sinne eines Sisyphos, der seinen
Sinn im Wiederholungszwang findet, entwirft Schwab eine gerade aufgrund
ihrer Schuld höchst prekär stabilisierte Kannibalen-Gemeinschaft. Anders als
Montaignes Kannibalen stellt sich durch die Gewalt keine Harmonie ein, im Gegensatz zur Ritual-Gemeinschaft des Lykaion Tempels und zur Urhorde Freuds
ist die Gesellschaft nicht fähig, ihren Kannibalismus lediglich symbolisch zu
wiederholen und damit zu sublimieren, geschweige denn zu verarbeiten. Sie
muss die kannibalische Tat und damit ihre Schuld immer wieder an weiteren Opfern erneuern, um die brüchig gewordene Vorstellung von Solidarität
aufrechtzuerhalten.
Am Schluss liegen die Sympathien des Zuschauers auf Seiten der mitleiderregenden, „traurige[n] Gesellschaft“ und nicht auf jener des schönen Paars.
Der emotionale Zusammenbruch der Menschenfresser ist im Spannungsbogen
der tragischste Moment, nicht ihr kannibalischer Exzess. Die essenzielle Provokation von Schwabs Stück besteht darum nicht im Kannibalismus, sondern
in dessen Vergeblichkeit, die Versprechen eines kannibalischen europäischen
Abendmahls zu verwirklichen.
Die Funktion von Schwabs kannibalischer res publica lässt sich nun genauer
ab- und eingrenzen. Das kannibalisch Demokratische, wie bereits das Bürgertum und seine aufklärerischen Ideale, tritt nur noch als Schwundstufe, als
sprichwörtliche Wurstiade in Erscheinung; es bleibt trauriger Selbstzweck ohne
langfristige politische Perspektive. Eines der radikalsten und ambivalentesten
Bilder der europäischen Philosophie, die kannibalische Gewalt der Demokratie,
existiert in Schwabs Stück nurmehr in Form der Groteske. In ihr werden die
verbliebenen politischen Affekte abreagiert, ohne selbst eine gesellschaftspolitische Veränderung – etwa in Richtung von Montaignes Proto-Kommunismus,
Marats republikanischer Revolution oder Freuds Ur-Demokratie – zu zeitigen.
Von den Umwälzungen, die Schwab 1991 in seinem Stück reflektiert und parodiert, ist dies wohl die entscheidende: In einer neuen Zeit, die sich selbst als
postideologische versteht, kann selbst die kannibalische Gemeinschaft keinen
stabilen politischen Zusammenhalt mehr finden. Übrig bleibt die Rede Jürgens von der Wurst „als Metapher für eine kulturelle Solidarität“: der Konsum
als jener gesellschaftliche Bindungsmechanismus, der sich beständig selbst zu
verschlingen droht.
37 Schwab: ÜBERGEWICHT, S. 106.
Kannibalische res publica
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