Ateliers des
Deutschen Historischen Instituts Paris
Herausgegeben vom
Deutschen Historischen Institut Paris
Band 4
R. Oldenbourg Verlag München 2009
Das 19. Jahrhundert
als Mediengesellschaft
Les medias au XIXe slecle
Herausgegeben von Jörg Requate
R. Oldenbourg Verlag München 2009
Inhalt
Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris
Herausgeberin: Prof. Dr. Gudrun Gersmann
Redaktion: Veronika Vollmer
Anschrift: Deutsches Historisches Institut (Institut historique allemand)
Hotel Duret-de-Chevry, 8, rue du Pare-Royal, F-75003 Paris
Jörg REQUATE
EinJeit\}ng
,
,
,
,
,
,
.
7
I.
Konzeptionelle Fragen der Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts,
Questions conceptuelles de la societe des medias au xIX" siecle
Marie-Eve THERENTY
Les debuts de l'ere mediatique en France
20
Jörg REQUATE
Kennzeichen der deutschen Mediengesellschaft
des 19. Jahrhunderts
30
Christian DELPORTE
La societe mediatique du XIXe siecle vue du XXe siecle
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Die Deutsche Nationalbibliothek
verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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© 2009 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München
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Umschlaggestaltung:
Thomas Rein, München
Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem
Papier (chlorfrei gebleicht).
Gesamtherstellung: Grafik + Druck GmbH, München
ISBN 978-3-486-59140-8
43
II.
Presse als Medium gesellschaftlicher Selbstorganisation
Le röle de la presse dans l'evolution societale
Thorsten GUDEWlTZ
Die Nation vermitteln - Die Schillerfeiern von 1859 und die mediale
Konstituierung des nationalen Festraums
56
Alice PRIMI
La presse, un lieu de »citoyennete« pour les femmes? (France et Allernagne,
1848-1870)
66
III.
Die alltäglichen Sensationen - Le sensationnel au quotidien
Anne-Claude AMBROISE-RENDU
Les faits divers ou la naissance d'une instance mediatique de regulation
du monde?
.
78
Philipp MÜLLER
»Educateur« ou »mauvais garcon«?
Le capitaine de Köpenick et les bouleversements
dans I'Allemagne de Guillaume II
.
89
du paysage mediatique
6
Inhalt
JÖRG REQUATE
IV.
Skandalisierung
- Scandalisation
Einleitung
Frank BÖSCH
Limites de »I'Etat autoritaire«. Medias, politique et scandales dans I'Empire
Martin KOHLRAUSCH
Medienskandale und Monarchie. Die Entwicklung der Massenpresse
-große Politik: im Kaiserreich
...
100
und die
116
V.
Visualisierung
- Visualisation
Laurent BIHL
Les donnees legislatives et les politiques de coercition de l'image entre 1881
et 1914
132
Daniela KNEISSL
Illustrierte Presse für den republikanischen Bauern: »Le Pere Gerard,
Gazette nationale des communes« (1878-1887)
152
Ludwig VOGL-BIENEK
Projektionskunst und soziale Frage. Der Einsatz visueller Medien in der
Armenfürsorge um 1900
162
Frank BECKER
Augen-Blicke der Größe. Das Panorama als nationaler Erlebnisraum nach
dem Krieg von 1870/71 .
178
Personenregister
192
Medienregister
194
Autorinnen und Autoren
196
Der Begriff »Mediengesellschaft« ist zu einer gängigen Selbstbeschreibungskategorie
der Gegenwartsgesellschaft
geworden. Ohne im Alltagsgebrauch ganz scharf konturiert zu sein, bezieht er sich auf die, zumindest dem Anschein nach, zentrale Bedeutung der Medien in der Jetztzeit. Die immer neuen Fernsehformate, die ihre eig~nen
Stars und ihre eigenen Skandale hervorbringen und Agenda setzend in die Gesellschaft
hineinwirken, evozieren den Begriff ebenso wie die stets neuen medialen Inszenierungen der politischen Akteure. Trotz unterschiedlicher Mediensysteme und unterschiedlicher Traditionen im Umgang mit den Medien gilt dies für modeme Gesellschaften
insgesamt und konkret für Frankreich in ähnlicher Weise wie für Deutschland. Nachdem etwa in der Bundesrepublik mit Gerhard Sehröder ein Bundeskanzler regierte, der
aufgrund seines offensiven Umgangs mit dem Fernsehen und manchen Zeitungen als
»Medienkanzler« bezeichnet worden ist, nimmt der derzeitige französische Präsident
Sarkozy als Akteur wie als Objekt der Medien eine weltweit fast einzigartige Stellung ein.
Die Medien selbst haben einen erheblichen Anteil daran, den Begriff der Mediengesellschaft zu popularisieren. Sie nehmen die Rolle der Beobachter dritter Ordnung ein,
indem sie die Beschreibungs- oder Analysekategorie
ihrer eigenen medialen Beobachtung zum Gegenstand neuer medialer Betrachtungen machen. Jenseits des eher
diffusen Gefühls von der wachsenden Bedeutung medialer Inszenierungen hat sich in
letzter Zeit vor allem die Mediensoziologie bzw. die Medien- und Kommunikationswissenschaft bemüht, den Begriff der Mediengesellschaft schärfer zu fassen und analytisch verwendbarer zu machen'. So lässt sich die verstärkte Beschäftigung mit den
Medien und der Versuch, deren Bedeutung begrifflich zu fassen, selbst als ein Phänomen der Mediengesellschaft begreifen. Die Entstehung und Expansion der Medienund Kommunikationswissenschaft,
wie sie vor allem in Deutschland zu verzeichnen
ist, kann ohne weiteres als Reaktion auf die Expansion und den Bedeutungsgewinn der
Medien gesehen werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Geschichte der Medien immer schon mit untersucht worden. Die deutsche Geschichtswissenschaft
hat
allerdings erst sehr spät begonnen, sich intensiver mit den Medien zu befassen. Dies ist
insofern von Bedeutung, als sich damit die Perspektive verändert hat. Favorisieren die
Arbeiten, die in einer zeitungs- bzw. medien- und kommunikationswissenschaftliehen
Tradition stehen, einen Blick, der vorrangig die eigene Entwicklungslogik der Medien
untersucht, rücken aus geschichtswissenschaftlicher
Perspektive stärker gesellschafts-,
sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen in den Mittelpunkt.
1
Vgl. u.a. Ottfried JARREN,»Mediengesellschaft«
- Risiken für die politische Kommunikation,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41-42 (2001), S. 10-19; Kurt IMHOFu.a. (Hg.), Demokratie in der Mediengesellschaft, Wiesbaden 2006.
Medienskandale und Monarchie
MARTIN
KOIaRAUSCH
Medienskandale und Monarchie
Die Entwicklung der Massenpresse
und die .große Politik- im Kaiserreich
Wenn künftig einmal ein Forscher, um Beiträge zu einer geistigen Physiognomik unserer Gegenwart zu sammeln, die Jahrgänge unserer heutigen Zeitungen durchblättert, so wird er sicherlich
versucht sein, unsere Zeit das Zeitalter der cause celebre zu nennen. [... ] immer und überall
dasselbe Bild: spaltenlange Berichte über Sensationsprozesse aus aller Herren Länder [... ]. Es
leuchtet ein, dass eine so stark ausgeprägte, so weit verbreitete, so lang andauernde Erscheinung
unseres sozialen Lebens die ernsteste Aufmerksamkeit herausfordert, dass sie an die Wissenschaft
die gebieterische Forderung stellt, sie in ihrer Tatsächlichkeit zu erfassen, sie aus ihren Ursachen
zu begreifen, ihre Stellung unter den übrigen sozialpsychologischen Phänomenen zu bestimmen,
sie sozialethisch zu werten I.
Mit dieser Feststellung resümierte der Jurist Erich Sello, der als Anwalt Kuno von
Moltkes im Eulenburg-Skandal eine entscheidende Rolle spielte, 1910 seine intensiven
Erfahrungen mit diesem Phänomen in den drei vorangegangenen Jahren. Die Wissenschaft, die historische zumal, ist Sellos Aufforderung erst spät nachgekommen. Entweder galten Skandale als belanglose Medienphänomene,
oder, in der Tradition von
Jürgen Habermas' These vom Niedergang der Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, als
Merkmale einer medial bedingten Trivialisierung, die eine rationale politische Diskussion verhinderte oder zumindest erschwertes. Der genaue Blick auf das Wechselspiel
von Politik und Medien zeigt allerdings, dass nicht nur die normative Bewertung von
Skandalen und ihren demokratischen Potenzialen sehr viel differenzierter zu treffen ist,
sondern dass Skandale mit Gewinn als genuin politische Ereignisse mit erheblicher
Wirkmächtigkeit interpretiert werden könneni.
Mit einer luziden Studie über das Großthema »Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age« hat John B. Thompson das Phänomen des mediated scandal
erstmals in seiner historischen Dimension beschrieben. Thompson untersucht Skandale
als Medienereignis, das erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aufkam.
Demnach bezieht sich der Begriff Skandal auf Handlungen oder Ereignisse, die einen
Regelverstoß beinhalten, anderen bekannt werden und schwer genug wiegen, um ein
öffentliches Echo hervorzurufen-, Thompson erkennt im Medienskandal den wesentlichen Typus des Skandals im 19. und 20. Jahrhundert. Die Verbindungen zwischen
1
3
4
Erich SELLO,Zur Psychologie der Cause celebre. Ein Vortrag, Berlin 1910, S. 9.
Jürgen HABERMAS,
Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der
bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995.
Vgl. jetzt: Martin KOHLRAUSCH,
Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und
die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005.
John B. THOMPSON,
Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge
2000,S.13f.
117
Medien und Skandal sind offensichtlich. Die zunehmende Marktorientierung der Medien machte Skandale zu einem reizvollen Thema. Darüber hinaus brachte es die Professionalisierung des Journalismus im 19. Jahrhundert mit sich, dass das Aufdecken
der Geheimnisse der Macht dem Selbstverständnis vieler Journalisten als Wächter des
öffentlichen Wohls entgegenkam>,
Entscheidend für die hier behandelte Frage ist, dass Thompson die These verwirft,
dass Skandale nur in liberalen, parlamentarischen Demokratien aufkommen können.
Ausschlaggebend
seien vielmehr das Vorhandensein
konkurrierender
Kräfte, die
Wichtigkeit der Reputation eines Politikers für dessen Legitimation, die relative Autonomie der Presse und schließlich das Vorhandensein eines Rechtsstaats, das heißt
niedriger persönlicher Risiken bei Kritik an den Machthaberns. Keine dieser Voraussetzungen gilt nicht zumindest teilweise auch für das Kaiserreich.
So kann es auch nicht verwundern, dass es im Kaiserreich eine Unzahl größerer und
kleinerer Medienskandale gab, die oft politische Themen behandelten". Fast nie wurde
allerdings gefragt, was diese Skandale für das politische System des Kaiserreichs
bedeuteten und ebenso wenig, inwieweit diese Skandale durch die besondere politische
Struktur des Kaiserreichs geprägt wurden. Am Beispiel des Monarchen, d.h. anhand
von Skandalen, in die der Monarch involviert war - im Folgenden als Monarchieskandale bezeichnet - soll dieser Zusammenhang in vier Schritten behandelt werden. Zunächst werden in geraffter Form die wichtigsten Merkmale der Durchsetzung der
Massenmedien im Kaiserreich angesprochen, dann das -Comeback: der Monarchie
durch den Aufstieg der Massenmedien skizziert, anschließend werden beispielhaft drei
Monarchieskandale diskutiert und schließlich wird nach der Spezifikation des Verhältnisses von Politik und Massenmedien im Kaiserreich gefragt.
s Vgl. Jörg REQUATE,Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995 (Kritische
Studien zur Geschichtswissenschaft, 109).
6
ThOMPSON,Scandal (wie Anrn. 4), S. 92-95.
7
Vgl. lediglich den allzu knappen Aufsatz von Helmuth ROGGE,Affairen im Kaiserreich. Symptome der Staatskrise unter Wilhelm II., in: Die politische Meinung 8 (1963), S. 58-72 und die
sehr instruktive, wenig beachtete Studie von Alex HALL,Scandal, Sensation and Social Democracy. The SPD Press and Wilhelmine Germany 1890-1914, Cambridge 1977 sowie den
Überblick: Frank BÖSCH,Historische Skandalforschung als Schnittstelle zwischen Medien-,
Kommunikations- und Geschichtswissenschaft, in: Fabio CRlVELLARI,
Kay KIRCHMANN,
Marcus SANDLu.a. (Hg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S. 445-464.
118
Medienskandale
Martin Kohlrausch
DIE MEDIENREVOLUTION
AM ENDE DES 19. JAHRlillNDERTS
Die Durchsetzung der Massenmedien im 19. Jahrhundert ist in der deutschen Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahren intensiv diskutiert wordent. Vor allem
vier Merkmale sind fiir die hier behandelten Monarchieskandale von Bedeutung.
1. Das 19. Jahrhundert brachte einen enormen Fortschritt drucktechnischer Verfahren und eine erhebliche Ausweitung des Leserkreises durch die nahezu vollständige
Alphabetisierung der Bevölkerung. In der Zahl der Zeitungen und ihrer Auflagenhöhe
spiegeln sich diese revolutionären Entwicklungen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Zahl der Tageszeitungen in Deutschland im Jahr 1906 - ein nie mehr
erreichter Höhepunkt - bei über 4000 lag. 40 Jahre zuvor hatte sie nur ein Drittel betragen. Die Gesamtauflage aller Tageszeitungen wird fiir dieses Jahr auf 25,5 Millionen
geschätzt und war damit höher als in allen anderen europäischen Ländern".
2. Diese fundamentalen Veränderungen konnten nicht ohne Einfluss auf den Inhalt
der Zeitungen bleiben. Zwei Haupttrends lassen sich ausmachen: die Verschärfung und
Ausweitung kritischer Kommentierung und die Ausdifferenzierung
des Meinungsspektrums bei parallelem Bedeutungsverlust parteipolitischer Festlegungen von Zeitungenw, Hier spielte das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Journalisten
ebenso eine Rolle wie die Marktmechanismen,
die Zeitungen dazu zwangen, nicht
hinter anderen Blättern zurückzubleiben. Auffällig ist die hohe Interaktivität der Presse. Brachte eine Zeitung einen besonders originellen Artikel, fanden sich sofort andere,
die diesen reproduzierten. Der ständige und hohe Konkurrenzdruck in der Presse fördert den Blick auf die anderen Zeitungen, die ebenfalls die neuesten Nachrichten bringen und nichts verpassen wollen. Thompson spricht, im Hinblick auf die Skandale, von
»zirkulärer Verbreitung von Information«, Dieser Prozess hatte drei bedeutsame Effekte: Erstens wurde so ein gewisser Grad von Homogenität der berichtenswerten Themen
erreicht. Zweitens entstand ein Verstärkereffekt, indem die Signifikanz des skandalier-
ten'>.
4. Angesichts der beschriebenen massiven Veränderungen der Medienlandschaft
kann es nicht verwundern, dass bereits zeitgenössische Kommentatoren sich als Zeugen einer Revolution fiihlten. Selbstreflexivität erscheint geradezu als Signum der
Medienrevolution. Dieser Befund gilt auch und gerade fiir das Verhältnis Monarch und
Medien. So widersprach Herbert Bismarck, der Sohn des Reichskanzlers, seinem Vater
in der Bewertung der sogenannten »Affäre Love«, in die der junge Wilhelm TI. verwickelt war:
Heutzutage machen solche Sachen nur mehr Lärm als früher, weil die Presse viel verbreiteter
u(nd) gemeiner ist als früher, u(nd) weil der deutsche Kaiser mehr en vue ist, als irgendein
Mensch und Monarehis.
THOMPSON, Scandal (wie Anrn. 4), S. 84 .
GangolfHÜBINGER, Die politischen Rollen europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, in:
DERS., Thomas HERTEFELDER(Hg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, München 2000, S. 30-44, hier S. 37.
.3 Kaspar MAASE, Grenzenloses
Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 1997, S. 20-23.
.4 Vgl. hierzu: Peter FRITZSCHE, Reading Berlin 1900, Cambridge (Mass.) 1996, S. 51-53;
Burkhard ASMUSS, Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923, Berlin, New York 1994 (Beiträge
zur Kommunikationsgeschichte,
3), S. 33; Frank BÖSCH, Zeitungsgespräche
im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik
49 (2004), S. 319-336; Thomas LINDENBERGER, Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995, S. 364 .
" Gunda STÖBER, Pressepolitik als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit
im wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Stuttgart 2000 (Historische Mitteilungen, Beiheft 38), S. 28.
is Zitiert nach: John C. G. RÖHL, Wilhelm 1I. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie. 18881900, München 2001, S. 235.
•2
9
•0
Vgl. die konzeptionellen Aufsätze: Jörg REQUATE, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände
historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-33; Axel SCHILDT, Das
Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in:
Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 177-206; Andreas SCHULZ, Der Aufstieg der »vierten Gewalt«. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation,
in:
Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 65-97; Bemd WEISBROD,Medien als symbolische Form
der Massengesellschaft.
Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in:
Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270-283.
Rudolf STÖBER, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000
(Uni-Papers, 8), S. 209; generell: Rolf ENGELSING, Massenpublikum und Joumalistentum im
19. Jahrhundert in Nordwestdeutschland,
Berlin 1966.
Zu Recht attestiert Hans-Ulrich Wehler den Journalisten des Kaiserreichs eine »offenere,
pointiertere, gegebenenfalls aggressivere Sprache, [...] als sie in aller Regel derzeit zu finden
isr«, Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte.
Bd. Ill: Von der »Deutschen
Doppelrevolution«
bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges.
1849-1914, München 1995,
S.1249.
119
ten Gegenstandes durch dessen Darstellung auch durch andere Medien verstärkt wurde. Drittens förderte dieser Prozess die Selbstreferenzialität der Medien!'.
3. Die qualitativen Veränderungen in der Kornmentierung der Presse standen in einem engen Wechselverhältnis zur Etablierung einer nationalen Kommunikationsgemeinschaft. Die »Wissens- und Kornmunikationsrevolution«
verwandelte die liberale
Elitenöffentlichkeit in die »demokratische Massenöffentlichkeiteta.
Die Vermarktung
von Buch, Zeitung, Zeitschrift als Ware, als jedem zugängliche Informations- und
Unterhaltungsmedien bedeutete eine geradezu revolutionäre Umwälzungü. Voraussetzung hierfiir war die Hochurbanisierung, die das Lesen zur alltäglichen Praxis und zum
Gemeinschaftserlebnis
breiter Schichten der Bevölkerung machte 14. Presseinnovationen wie Boulevardzeitungen und sogenannte Generalanzeiger, also bewusst unpolitische Zeitungen, kamen diesem Trend ebenso entgegen wie die Erfindung der Illustrier-
11
8
und Monarchie
120
Martin Kohlrausch
DAS COMEBACK DER MONARCHIE
IN DER MEDIENGESELLSCHAFT
Tatsächlich veränderten die Massenmedien die Monarchie radikal. »Die Zeit schrankenloser Publicität« konnte, wie der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow bereits
Anfang der 1890er Jahre hellsichtig bemerkte, zugunsten der Monarchie, allerdings
genauso zu deren Ungunsten wirken!", Dies galt in besonderem Maße auf grund der
Dynamik in der Medienentwicklung,
aber auch, weil Wilhe1m 11. - wenn er die Entwicklung auch nicht unbedingt begriff - ihr doch offensiv begegneten. Das Wechselspiel von Monarchie und Massenmedien lässt sich wie durch ein Prisma in den visuellen Medien, vor allem dem Film, beobachten. Wilhelm 11. war nicht nur der wahrscheinlich erste Politiker weltweit, der mit einer Filmkamera aufgenommen wurde,
sondern der meistgefilmte Politiker vor dem Ersten Weltkrieg überhauptls. Zwei Charakteristika waren hierfür ausschlaggebend: der Kaiser war ungemein leicht wiederzuerkennen und durch die Vorkehrungen des Zeremoniells war es für die Kameras ein
Leichtes, die Bewegungen des Kaisers vorauszuahnen. Einzigartiges Äußeres und ein
leicht erkennbares und festes Muster öffentlichen Auftretens bildeten wesentliche
Grundlagen für das Comeback der Monarchie im Medienzeitalter, aber sie waren nicht
ausreichend. Mit Blick auf die Presse, um die es mir hier vor allem geht, sind drei
wesentliche Differenzierungen bzw. Ergänzungen vorzunehmen.
1. Distinktion und Alleinstellung. Wilhelm 11. konnte auf die traditionelle Reputation
der Monarchie bauen, aber auch auf seine politischen Prärogativen und Einfluss sowie
eine spezifische, in gewissem Sinne originelle Erscheinung, die Tradition und Macht
als genuine Eigenschaften des Monarchen betonte. Im wilhelminischen Mix aus Glamour und Mummenschanz, im hemmungslos romantisierten und vulgarisierten monarchischen Erbe entstand eine Basis für öffentliche Sichtbarkeit, über die kein anderer
Politiker in Deutschland verfügte - in einer Zeit knapper Aufmerksamkeitsspannen
und vagabundierenden medialen Interesses ein entscheidender Vorteil-''. Es ist kein
Zufall, dass der Kaffee-Unternehmer und Reklamepionier Ludwig Roselius den Kaiser
als ein besonders erfolgreiches Beispiel von Markenkreierung anführte".
17
18
19
20
21
Zit. nach John C. G. RÖHL, Hof und Hofgesellschaft unter Kaiser Wilhelm II., in: DERS. (Hg.),
Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 41995, S. 78-116, hier
S.1I3.
KOHLRAUSCH, Skandal (wie Anm. 3), S. 73-83; Wolfgang KÖNIG, Wilhelm II. und die Modeme. Der Kaiser und die technisch-industrielle
Welt, Paderborn 2007, S. 17.
Zum Kaiser im Film: Martin LOIPERDINGER,Kaiser Wilhelm 11.: Der erste deutsche Filmstar,
in: Thomas KOEBNER (Hg.), Idole des deutschen Films, München 1997, S. 41-53; K1ausDieter POHL, Der Kaiser im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
in: DERS., Hans
WILDEROITER(Hg.), Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil, Gütersloh, München 1991, S. 9-18.
Franziska WINDT, Jürgen LUH, Carsten DILBA (Hg.), Die Kaiser und die Macht der Medien,
Berlin 2005, S. 67-76.
Gerhard VOIGT, Goebbels als Markentechniker, in: Fritz HAUG (Hg.), Warenästhetik. Beiträge
zur Diskussion, Weiterentwicklung und Vermittlung ihrer Kritik, Frankfurt a.M. 1975, S. 231260.
Medienskandale
und Monarchie
121
2. Personalisierung und der rmenschliche Faktorc. Eine Vorbedingung hierfür war
die Personalisierung der Politik, die die Massenmedien deutlich verstärkt hatten. Diese
Personalisierung findet sich nicht nur in der Betonung des Monarchen als politischer
Akteur, sondern vor allem im enormen Interesse an Person und Charakter des Monarchen, in dem, was die -Konstruktion des königlichen Individuums: genannt werden
könnte, und in einer zunehmend emotionalen Kommentierung privater Details über
den Kaiser22.
3. Ein neuer Modus politischer Kommunikation. Die Medienaffinität des Monarchen
- und die Monarchieaffinität der Medien - ging allerdings weit über den »CelebrityAspekt: hinaus. Wilhelms 11. Talent oder eher fatale Angewohnheit, mit kräftigen
Schlagwörtern in die politische Diskussion einzugreifen, kam dem medialen Bedürfnis
nach programmatischer
Verkürzung
entschieden entgegen. Dass die berühmtberüchtigten Kaiserreden überwiegend rhetorische Fehlschläge waren, ist dabei kein
Widerspruch und auch nicht notwendigerweise die beständige und heftige Kritik an
den Reden. Auch kritische Kommentare bezogen sich immer wieder auf ein idealisiertes Modell, in dem der Kaiser einen politischen Vorschlag präsentierte, der dann von
der öffentlichen Meinung akzeptiert, zurückgewiesen oder modifiziert werden sollte,
um in neuer Form in die politische Maschinerie eingespeist zu werden. Angesichts
einer immensen Informationsdifferenzierung
besaß die Aggregation politischer Programmatik im Monarchen als »konkreter Abstraktion« (Siegfried Kaehler) - man
denke etwa an die regelmäßigen Bilanzierungen der Reichspolitik zu Kaisers Geburtstag - durchaus eine gewisse Logik.
Der direkte Austausch zwischen Monarch und Öffentlichkeit über die Medien bot,
so die Theorie, das effektivste, schnellste, aber auch demokratischste und daher genuin
modeme Verfahren, anders als ein kompliziertes und umständliches Parlament - das
zusätzlich noch als englische Erfindung gebrandmarkt war-', Auffällig ist zudem, dass
die Mehrzahl der politischen Strömungen, zeitweise sogar diejenigen der Linken,
immer wieder beanspruchten, den Kaiser auf ihrer Seite zu wissen. Das bedeutete aber
auch, dass Wilhelm 11.mit klar umrissenen Projekten betraut wurde und dass der Vertrauensvorschuss sofort entfiel, sobald der Kaiser sich nicht als der erhoffte Parteigänger entpuppte oder politische Durchsetzungskraft vermissen ließ>.
Schließlich brachte es die entstehende Medienmonarchie mit sich, dass eine politische Öffentlichkeit von Millionen Kaiserexperten mit intimem Wissen und hohem
Verständnis für die Mechanismen dieser Medienmonarchie aufkam. Es ist bezeichnend, dass sensible Beobachter wie die Schriftsteller Thomas Mann, Rudolf Borchardt
22 Vgl. Martin KOHLRAUSCH,Der unmännliche Kaiser. Wilhelm 11. und die Zerbrechlichkeit des
königlichen Individuums, in: Regina SCHULTE (Hg.), Der Körper der Königin, Frankfurt a.M.
2002, S. 254-275.
2J Christoph
SCHÖNBERGER, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer
Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871-1918), Frankfurt a.M. 1997
(Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte,
102), S. 283-292; Mark HEWITSON, The Kaiserreich in Question: Constitutional Crisis in Gerrnany before the First World War, in: The Journal ofModern History 73 (2001), S. 725-780.
24 KOHLRAUSCH,Skandal (wie Anm. 3), S. 84-88.
122
Martin Kohlrausch
und Otto Julius Bierbaum in ihren mehr oder weniger verschlüsselten Auseinandersetzungen mit der wilhelminischen Monarchie zu diesem Zeitpunkt das Volk bewusst
durch ein Publikum ersetztenö.
MONARCHIE SKANDALE
Diese Entwicklung verweist auf die von Bülow beschworene Dialektik der Medienmonarchie. Den Chancen, die sich auch - und gerade - einem politisch einflussreichen,
oder zumindest für einflussreich gehaltenen Monarchen in der neuen Mediengesellschaft boten, standen erhebliche Risiken gegenüber, die sich exemplarisch in den
herausragenden politischen Skandalen des Kaiserreichs nachvollziehen lassen. Ich will
drei Skandale herausgreifen, die ohne den Monarchen als Anlass nicht denkbar gewesen wären. Das heißt allerdings nicht, dass die Skandale nicht wesentlich komplexer
waren und weit mehr als nur den Kaiser zum Gegenstand hatten.
Unter diesen Skandalen gehört die Caligula-Affäre von 1894 zu den heute weniger
prominenten - aber nichtsdestotrotz aufschlussreichen-e, Hier ging es weder um eine
konkrete Fehlleistung des Monarchen - wie bei dem regelmäßigen Aufruhr nach kaiserlichen Reden, Telegrammen oder Interviews - noch um Aufsehen erregende Enthüllungen
aus der Hofgesellschaft oder der Regierung. Die Diskussionen um ein von dem republikanischen Historiker Ludwig Quidde veröffentlichtes Pamphlet mit dem Titel »Caligula.
Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn«, ein verschlüsseltes Porträt Wilhelms ll.,
konzentrierte sich vielmehr auf das Verhältnis Öffentlichkeit - Monarch. Vermittelt über
das römische Beispiel konnte Quidde eine Reihe kräftiger Bilder für die Merkwürdigkeiten Wilhelms ll. ins Spiel bringen. Der direkte Bezug von Quiddes »Caligula« zum
Inhaber des Thrones begründete dabei den Reiz der Schrift. Sechs Jahre nach der Thronbesteigung Wilhelms Il. wurde zum ersten Mal öffentlich die Erfahrung des gänzlich
neuen Regierungsstils Wilhelms ll. aufgegriffen. Nicht zuletzt deshalb verkaufte sich der
»Caligula« innerhalb weniger Wochen ca. 200000-mal und wurde damit zur erfolgreichsten politischen Lektüre des Kaiserreichs überhaupt.
2S
26
Otto Julius BIERBAUM, Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings, München 1907, S. 590. Vgl. auch ibid., S. 595; Thomas MANN, Königliche Hoheit,
BerIin 1909, S. 258 und Rudolf BORCHARDT, Der Kaiser, in: Süddeutsche Monatshefte 5
(1908), S. 237-252, hier S. 240 und 247.
Bisherige Darstellungen der Affäre schildern selbige vornehmlich aus der Perspektive Quiddes.
Vgl. die Einleitung von Hans-Ulrich WEHLER in: DERS. (Hg.), Ludwig Quidde, Caligula.
Schriften über Militarismus und Pazifismus, Frankfurt a.M. 1977, S. 7-18; John C. G. RÖHL,
Wilhelm 11. Eine Studie in Cäsarenwahnsinn, München 1989 (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge, 19), S. 9f. sowie die Schilderungen zum >Tathergang< in Utz-Friedbert TAUBE,
Ludwig Quidde. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Gedankens in Deutschland,
München 1963 (Münchner Historische Studien, Abt. Neuere Geschichte, 5), S. 3f. Wesentlich
mehr Informationen über Hintergrund und Rezeption des »Caligula« sowie einen Nachdruck
von Quiddes Text bieten jetzt: Karl HOLL, Hans KLoFT, Gerd FESSER (Hg.), Caligula - Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn.
Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel
des »Caligula« von Ludwig Quidde, Bremen 2001.
Medienskandale
und Monarchie
123
Bezeichnenderweise wurde gerade diese Zahl, d.h. das ungeheure öffentliche Interesse
am Tabubruch, zum eigentlichen Skandals". Die vielen Rezensionen und Pamphlete,
die auf Quiddes Provokation reagierten, erlauben Rückschlüsse auf die Verunsicherungen monarchischer Loyalitäten und Verschiebungen im Monarchiediskurs-s.
Im Hintergrund standen die Auseinandersetzung um die programmatische Ausrichtung
der Monarchie und der zunehmend aggressiver geführte Kampf um den öffentlichpolitischen Raum. In den häufig sehr reflektierten Kommentaren ging es um die Kommunikation zwischen Monarch und Volk, die auch in Quiddes Diagnose den roten
Faden bildete. Quidde verstand den von ihm diagnostizierten Cäsarenwahn als Resultat
einer unterwürfigen und unkritischen Haltung gegenüber dem Monarchen. Selbstverständlich wurde Cäsarenwahn aber landläufig eher als individuelles Charakteristikum
verstanden. Tatsächlich verhandelte der Skandal auch erstmals die erhebliche Diskrepanz zwischen den hohen Erwartungen an Wilhelm Ir. und der ernüchternden Realität.
Interessanter- und typischerweise half der Skandal, die Lücke zwischen Erwartung
und Realität teilweise zu schließen, weil er gewissermaßen eine reinigende Wirkung
versprach. Insbesondere die Kommunikation zwischen Monarch und Volk - tatsächlich meinten die Pressekommentare zwischen Monarch und Medien - so die Hoffnung,
sollte nun verbessert werden und den medial grundierten Partizipationswünschen
besser entsprechen. Zwar erfuhren die Medien sich noch nicht als einheitlich handelnde Kraft gegenüber dem Monarchen, wohl aber als Schrittmacher der Diskussion und
als Instanz, welche die Themen für die Diskussion des Staatsoberhauptes vorgabö'.
Weit prominenter als die Caligula-Affäre ist der Eulenburg-Skandal, das heißt die
Skandalisierung prominenter Mitglieder der Umgebung Wilhelms Ir. durch den Journalisten Maximilian Hardenw. Der Eulenburg-Skandal brach aus, nachdem Maximilian
27
28
29
30
Stellvertretend seien die wichtigsten Pamphlete zum Thema genannt: Wilhelm BORN, Anarchisten, Schlafmützen, Grüne Jungen. - Reichsfortschrittspartei.
In Veranlassung der CaligulaFlugschriften, Hagen i.W. 1894; E. BIER, Der neue Schuster oder Der Tod Caliguli. Ein litterarisch-satyrisches Sittendrama in fünf Aufzügen und Versen, Leipzig 1894; Anonym, Die Caligula-Affaire und die Staatsanwaltschaft. Von einem Eingeweihten, Berlin 1894; Gustav DANNEHL,
Cäsarenwahn oder Professorenwahn? Eine biographisch-historische
Studie über Quiddes Caligula, Berlin 1894; MUISZECH, Graf Vandalin, >Quiddes Caligulac. Ein Stiefelmärchen aus altaegyptischer Zeit, Frankfurt a.M. 1894; Hermann Heinrich QUIDAM (d.i. Hermann Heinrich
ROTHE), Contra Caligula. Eine Studie über deutschen Volkswahnsinn, Leipzig 1894; Guido
RENE, Der Quidde'sche Caligula Kladderadatsch oder »Sie werden nicht alle«. Auch 'ne Studie mit 24 Illustrationen, Stettin 1894; Felix SCHMITT, Caligula, BerIin 1894 (Gekrönte Häupter, 8); SOMMERFELDT,Gustav, Fin-de-Siecle-Geschichtsschreibung,
Politik, Pamphletomanie. Wahrheitsgemäes
über die Caligula-Excentritäten,
BerIin 1895; Dr. STEINHAMMER,Der
Caligula-Unfug, BerIin 1894; Anonym, Ist Caligula mit unserer Zeit vergleichbar? Eine Ergänzung und Beleuchtung zu Quidde's Caligula, Leipzig 1894.
Joachim Radkau beispielsweise stellt die Aufregung über den »Caligula« in den Kontext des
Nervendiskurses. Vgl. Joachim RADKAU, Das Zeitalter der Nervosität, Deutschland zwischen
Bismarck und Hitler, München, Wien 1998, S. 275f.
KOHLRAUSCH,Skandal (wie Anrn. 3), S. 147-154.
Vgl. James D. STEAKLEY, Iconography of a Scandal. Political Cartoons and the Eulenburg
Affair, in: Wayne R. DYNES, Stephen DONALDSON(Hg.), History ofHomosexuality
in Europe
and Arnerica, New York, London 1992, S. 323-385; Isabel V. HULL, The Entourage ofKaiser
Wilhelm 11 1888-1918, Cambridge 1982, S. 109f. Quellenmaterial zum Thema findet sich vor
124
Martin Kohlrausch
Harden, der wohl einflussreichste politische Journalist des Kaiserreichs, im Herbst
1906 immer deutlichere Andeutungen zur Homosexualität von Mitgliedern der kaiserlichen Entourage gemacht hatte. Insbesondere Philipp Fürst Eulenburg, lange Zeit der
engste Begleiter und Berater WiIheIms 11., geriet ins Visier Hardens und wurde
schließlich, im Mai 1907, politisch untragbar. Eulenburg galt Harden als verantwortlich für eine zu weiche Außenpolitik in der Marokkokrise 1905/06 und vor allem als
Architekt einer Kamarilla um Wilhelrn 11., die die Kommunikation mit dem Monarchen unterdrücke und ihn in seinen autokratischen Neigungen bestärke.
Eulenburg und vor allem der ebenfalls von Harden attackierte Berliner Stadtkommandant, Kuno von Moltke, versuchten daraufhin, durch rechtliche Schritte ihren Namen
reinzuwaschen, und lösten eine regelrechte Kaskade von Prozessen aus. Vom ersten
Tag an wurden diese Prozesse von einem ungekannten Medienecho begleitet, das sich
in detaillierten Schilderungen der oft drastischen Gerichtsaussagen und in sehr offenen
und kritischen Kommentaren des Geschehens äußerte. Allein das »Berliner Tageblatt«,
alles andere als eine Gossenzeitung, widmete dem Thema mindestens 150 Artikel.
Vor allem zwei Bedingungen sorgten - neben dem Rahmen immer neuer Gerichtsprozesse - dafür, dass die Prozesse es bis in den Sommer 1909 auf die Titelseiten schafften.
Einmal der delikate Gegenstand Homosexualität, der in diesem Umfang und dieser Deutlichkeit erstmals in die Öffentlichkeit gelangte, und zum anderen der Kaiser, der eine
Figur wie Eulenburg überhaupt erst interessant und relevant machte, der den politischen
Gehalt des Skandals garantierte und damit Grenzüberschreitungen ermöglichte - z.B. das
Wandern von Boulevardthemen in die Kommentarspalten der Qualitätspresse.
Zum wichtigsten Schlagwort der Prozessberichterstattung
wurde die Kamarilla, ein
schillerndes Monstrum, das als solches auch in zahlreichen außerordentlich expliziten
Karikaturen auftratu. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Am 5. Juni 1907 brachte die
»Kölnische Volkszeitung« einen ausführlichen Artikel mit dem schlichten Titel »Kamarilla«. Am nächsten Tag folgte ein Artikel unter der Überschrift »Die Kamarilla«,
während ein Bericht vom 7. Juni bereits mit »Immer noch die Kamarilla« überschrieben war. Am 8. Juni reichte der Hinweis »Das Neueste in der Tagesfrage«, um den
Lesern zu veranschaulichen, worum es ging. Wenige Tage später folgte der Titel: »Die
verkannte Kamarilla« (12. Juni), kurz darauf »Von der xKarnarillac« (15. Juni) und
schließlich, nun abstrakt, »Zur Karnarillafrage« (16. Juni)32. Im Bild der Kamarilla
vermengten sich nicht nur high and low, Politik und Klatsch, sondern es zielte auch
direkt auf das Thema Kommunikation bzw. verhinderte Kommunikation. Aufgrund der
Medienskandale
31
32
Es handelt sich hier um die Nr. 483, 487, 489, 492, 506, 515 und 517 der »Kölnischen Volkszeitung« des Jahrgangs 1907. Neben den genannten Artikeln erschienen, unter anderen Überschriften, diverse weitere Artikel zur Thematik in diesem Zeitraum.
125
auch von den linksliberalen Kommentatoren weitgehend geteilten Annahme, dass
Homosexuelle besonders zur Gruppenbildung und Intrige neigten, andererseits offenen
Austausch verhinderten, konnte die angebliche homosexuelle Kamarilla als Kommunikationshindernis - nicht so sehr als Quelle falscher politischer Entscheidungen - ein so
eminent politisches Thema werden. Das Thema funktionierte aber auch deshalb so gut,
weil es Isich in schlagkräftige, kulturell gut eingeführte Bilder - die Clique um den
Monarchen, der intrigante Berater, der an sich wohlmeinende, der Aufklärung bedürfende Monarch - fassen ließ33. Im Kampf gegen den allseits beklagten Byzantinismus
knüpfte die Presse nicht nur an die Caligula-Affäre an, sondern schrieb sich vor allem
selbst die entscheidende Rolle zu. Durch die Überwindung des stark mit den alten,
adligen Kräften assoziierten Byzantinismus sollte eine direkte Aussprache zwischen
Monarch und öffentlicher Meinung ermöglicht werden>,
Der Reportagecharakter der Enthüllungen über Eulenburg verweist auf die großen
Politskandale des 20. Jahrhunderts und hat, trotz oberflächlicher Analogien, mit dem
großen historischen Referenzpunkt, der Halsbandaffäre, nicht mehr viel gerneins. Begünstigt durch 1907 stark gelockerte, darüber hinaus in der praktischen Anwendung
fast obsolet werdende Majestätsbeleidigungsgesetze
boten die Prozesse um die Kamarilla Rahmen und Aufhänger für eine lang andauernde, begrifflich konsistente, immer
radikalere und fokussierte Diskussion des Monarchen. Dies hatte auch Folgen für die
inhaltliche Argumentation der verschiedenen Zeitungen. Bei Fortdauer maturgegebener: Unterschiede, bedingt durch die politische Position, lässt sich eine inhaltliche
Angleichung, insbesondere in den Kategorien der Argumentation, beobachten. Dies
wird besonders deutlich in der Daily-Telegraph-Affäre
vom November 1908, die nur
im Kontext des Eulenburg-Skandals zu verstehen isP6.
Der Skandal brach Ende Oktober 1908 aus, als die Öffentlichkeit noch immer auf
tief greifende Konsequenzen aus dem Eulenburg-Skandal wartete. In einer im »Daily
Telegraph« - mit Einverständnis des Kaisers - veröffentlichten Zusammenfassung
verschiedener Gespräche Wilhelms H. mit einem englischen Offizier fanden sich für
die deutsche Öffentlichkeit hochgradig provokante Behauptungen. WiIheIm II. präsentierte sich als einer der wenigen Freunde Englands, der aktiv englische außenpolitische
Interessen gefordert habe - ohne Rücksichtnahme auf die Stimmung in Deutschlands".
Der in Umfang und Schärfe ungekannte Aufruhr der Medien nach der Veröffentli-
33
allem bei ROGGE, Holstein und Harden, sowie John C. G. RÖHL (Hg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, 3 Bde., Boppard a. Rh. 1976-1983 (Deutsche Geschichtsquellen des
19. und 20. Jahrhunderts, 52). Karsten HECHT, Die Harden-Prozesse - Strafverfahren, Öffentlichkeit und Politik im Kaiserreich (Jur. Diss.), München 1997.
Die umfangreichste - allerdings immer noch stark beschränkte - Sammlung findet sich in:
STEAKLEY,Iconography (wie Anm. 30), S. 323-385. Vgl. auch die in Anm. 33 genannten Sondernummern.
und Monarchie
34
35
36
37
Bei den Sondernummern handelt es sich um: Simplicissimus Nr. 27 - Byzanz-Nummer,
30.9.1907; Nr. 33 - Prozeß Moltke-Harden-Nummer,
11.11.1907; Nr. 36 - Harden-Nummer,
2.12.1907; Jugend Nr. 25,17.6.1907; Lustige Blätter Nr. 45, 5.11.1907.
KOHLRAUSCH,Skandal (wie Anrn. 3), S. 176-185.
Für den Zusammenhang von politischen Skandalen und der Monarchie siehe: Sarah MAzA,
Private Lives and Public Affairs. Causes Celebres of Prerevolutionary France, Berkeley u.a.
1993, S. 167-170.
Die Veröffentlichung des Daily- Telegraph-Interviews
ist sehr gut erforscht. Vgl. die Studien
zum Thema von Terence F. COLE, The Daily-Telegraph affair, in: John C. G. RÖHL, Nicolaus
SOMBART (Hg.), Kaiser Wilhelm Ir. New Interpretations, Cambridge 1982, S. 249-268; und
zuletzt: Peter WINZEN, Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre
und das HaleInterview von 1908, Stuttgart 2002 (Historische Mitteilungen, 43).
Ibid., S. 140f.
126
Martin Kohlrausch
Medienskandale
chung des bizarren Gesprächs legte sich erst, als der Kaiser eine Art Unterwerfungserklärung akzeptierte. Diese Erklärung war zuvor in der Presse bis ins Detail diskutiert
worden und verpflichtete Wilhelm 11. darauf, politische Anliegen der Öffentlichkeit
aufzunehmen und selbst politische Zurückhaltung zu üben.
Sowohl Eulenburg-Skandal wie Daily-Telegraph-Affäre
zeigten bereits für die Zeitgenossen sehr deutlich, dass die Macht der Presse kein abstraktes Phänomen war. In
den Hochphasen der Skandale, d.h. während der gerichtlichen Auseinandersetzungen
um Eulenburg und in den zwei Wochen im Anschluss an das Daily-TelegraphInterview, entwickelte sich eine zeitlich stark komprimierte, ungewöhnlich intensive
Diskussion des Monarchen mit scheinbar direkt auf mediale Intervention rückführbaren Ergebnissen: Eulenburg musste den Hof verlassen, Wilhelm 11. stimmte einer
>Unterwerfungserklärung< zu. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die zahlreichen Neuinterpretationen
der Monarchie der Jahre 1908/09 einen den Bedürfnissen
einer medialen Öffentlichkeit angepassten Monarchen beschrieben. Der hier angestrebte, immer noch für erreichbar gehaltene Idealzustand war die Domestizierung des
unberechenbaren Monarchen durch die Medien.
POLITIK UND MASSENMEDIEN
IM KAISERREICH
In der Ökonomie der Aufmerksamkeit des Kaiserreichs nahm der Monarch den führenden Platz ein. Als Personalisierung immer komplexerer und anonymerer Prozesse in
Bürokratie und Regierung kam der Kaiser den Plakativitätsanforderungen
der Massenmedien entschieden entgegen. Über die >Bande< Monarch kommunizierten zudem
alle politischen Richtungen der »rnedial integrierten« Gesellschaft miteinanderes. Kein
anderes politisches Thema besaß über 30 Jahre hinweg in Zeitungen, Zeitschriften und
Pamphleten aller politischen Richtungen eine derartige Präsenz und zeigt damit das
frühe Funktionieren des »Medienverbundes« im Kaiserreichis.
Dabei bestätigt die Diskussion des Monarchen die erheblichen Freiräume der Presse
und deren hoch einzuschätzendes kritisches Potenzial. Ursächlich hierfiir waren mehrere zeitgleich verlaufende Entwicklungen, die sich unter dem Stichwort Medienrevolution zusammenfassen lassen. Diese Entwicklungen begünstigten erstens, dass bei
hoher Pluralität der Medienlandschaft negative Aussagen über den Monarchen ausgedrückt werden konnten, zweitens, dass es aus wirtschaftlichen Erwägungen für die
38
39
Den Begriff prägte Hermann LÜBBE, Die Metropolen und das Ende der Provinz. Über Stadtmusealisierung, in: Hans-Michael KÖRNER, Katharina WEIGAND (Hg.), Hauptstadt. Historische Perspektiven eines deutschen Themas, München 1995, S. 15-27, hier S. 18.
Zum Begriff Medienverbund vgl.: Bernd SÖSEMANN, Einführende Bemerkungen zur Erforschung der Geschichte der Medien und der öffentlichen Kommunikation in Preußen, in: DERS.
(Hg.), Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart
2002, S. 9-21, hier S. 10. Noch anschaulicher wird das Phänomen im Blick auf die Zeitschriften. Intellektuelle, teils avantgardistische Neugründungen wie die »Süddeutschen Monatshefte«
(1904), der »März« (1907), das »Kulturparlament« und die »Tat« (jeweils 1909), brachten in
ihren frühen Nummern an prominenter Stelle das Kaiserthema.
und Monarchie
127
Zeitungen naheliegend war, Aufmerksamkeit
versprechende
Informationen
oder
Kommentare zu bringen, und drittens, dass ein wirtschaftlicher und durch die Kontrolle der anderen Medien bedingter Zwang existierte, derartige Informationen und Kommentare aufzunehmen bzw. weiterzuspinnen. Hinzu kam, dass neue mediale Formen
wie die Lokalanzeiger, die Boulevardblätter, aber auch und gerade die billigen sMassenpamphlete: Orte boten, die in ihren spezifischen Strukturen die Dynamik des Monarchiediskurses beförderten und generell zu dessen Entgrenzung beitrugen. Die Presse konnte zunehmend auch den Monarchen kritisieren. Spätestens mit Beginn des
Eulenburg-Skandals nahm diese Kritik radikale Züge an40•
Selbstverständlich war die Monarchie nur eines unter vielen politischen Themen, denen die Massenmedien Auftrieb verliehen. Selbstverständlich lässt sich auch die wilhelminisehe Monarchie nicht auf den sMedienkaisen reduzieren. Doch der Blick auf die
genannten Monarchieskandale vermag signifikante Charakteristika der Medienentwicklung im Kaiserreich zu erhellen. Zusammenfassend lassen sich fiinfErgebnisse festhalten:
1. Bezeichnenderweise waren im monarchischen System des Kaiserreichs voll ausgebildete Medienskandale möglich und in gewisser Hinsicht sogar typisch. Gerade weil im
Kaiserreich keine Wahlen über die für politisch entscheidend gehaltenen Instanzen Monarch und mit Abstrichen Reichskanzler - stattfanden, konnten Skandale eine
solche Bedeutung gewinnen. Skandale dienten insofern auch als Surrogat für die über das
Parlament nur unzureichend mögliche Partizipation. Dies gilt in einem allgemeinen Sinne,
weil die Skandale den Monarchen der Diskussion der Medien auslieferten. Dies gilt aber
auch in einem speziellen Sinne, weil die Monarchieskandale insbesondere in Schlagbildern wie dem Cäsarenwahn oder der Kamarilla die Kommunikation mit dem Monarchen bzw. dessen Information skandalisierten. Dies wird bestätigt durch die auffällige
Tatsache, dass die für die Skandale relevanten Medien keineswegs von einem Ethos des
>Skandalaufdeckens< geleitet waren. Keiner der untersuchten Skandale, auch nicht der um
Eulenburg, war Resultat eines investigativen Journalismus. Durchaus zeigt sich aber, wie
sehr Politik auch Teil des Unterhaltungsgenres geworden war. In allen drei Fällen spielte
der sensationelle, im engeren Sinne unpolitische Aspekt der jeweiligen Ereignisse eine
wesentliche Rolle für die Dynamik, die die Presse dem jeweiligen Skandal verlieh.
2. Gerade in den großen politischen Skandalen lassen sich die relevanten Charakteristika
der wilhelminischen Presse feststellen: Der sehr weit gesteckte Freiraum in der Diskussion
selbst der sensibelsten Politikbereiche sowie eine enorme Dynamik und Reflexivität, die
bewusste Tabubrüche beförderten. In den Skandalen offenbart sich ein weit reichender
Konsens über den Primat der öffentlichen Meinung, der unterschiedlichen politischen
Nuancierungen vorgelagert war. Dieser Konsens war von unmittelbarer politischer Bedeutung. Die direkten Folgen von Skandalen wie die Entfernung Eulenburgs oder die sKapitulationserklärung< Wilhelms 11.in der Daily-Telegraph-Affäre waren lediglich ein sichtbarer
Ausdruck dessen. Entscheidend war nicht nur das Vorhandensein dieses Konsenses,
sondern dessen praktische Wirkmächtigkeit in politischen Entscheidungssituationen.
40
Jost REBENTISCH, Die vielen Gesichter des Kaisers. Wilhelm II. in der deutschen und britischen Karikatur, Berlin 2000 (Quellen und Forschungen zur brandenburgisch-preußischen
Geschichte, 20), S. 56-60.
128
Martin Kohlrausch
3. Auch und gerade für die Monarchieskandale gilt Niklas Luhrnanns Feststellung: »Insoweit der Skandal nämlich auf einer Enttäuschung beruht und diese Empfindung zu
dessen Thema wird, dokumentiert er immer auch die Fortgeltung der zuvor bestehenden
Erwartungen«. So konnten Skandale als ein »Mechanismus der Enttäuschungsabwicklung« dienen+l. Der Charakter des Skandals war insofern eher der eines Revolutionsersatzes, eines Ventils sozialen Überdrucks, denn der eines wirklich revolutionären Aktes.
Zeitgenössisch konnten die Monarchieskandale auf zwei Arten interpretiert werden, die
sich nicht gegenseitig ausschließen mussten. Die Skandale schienen die Unfähigkeiten des
derzeitigen Monarchen zu beweisen, sie ließen aber auch das offensichtlich faszinierende
Modell eines direkten Austausches zwischen Monarch und Öffentlichkeit als genuin
modernes Kommunikationsmodell durchsetzbar erscheinen. Die Skandale besaßen eine
allgemeine Stabilisierungsfunktion, indem sie die Hoffnung auf Verbesserung politischer
Abläufe nährten. Bis zu einem gewissen Punkt gaben sie dem Glauben an die demokratische Erweiterbarkeit der Monarchie Auftrieb. Mit ihren schnell sichtbaren Ergebnissen
beförderten sie die Vorstellung, dass eine direkte Steuerung des Monarchen durch die
öffentliche Meinung möglich sei. Der kontinuierlich beschworene Mythos der Möglichkeit
der perfekten Information des Monarchen nährte die Hoffnung auf partizipative Möglichkeiten im existierenden System. In der Illusion der optimalen Information des Monarchen
und der damit einhergehenden substanziellen Verbesserung der politischen Situation trafen
beide Faktoren - die allgemeine Stabilisierungsfunktion des Skandals und die Hoffnung
auf eine >Demokratisierung< der Monarchie - zusammen.
4. Ein sprechender Ausdruck dieser Tendenz waren die unzähligen Versuche zur
Neuinterpretation der Monarchie nach 1908 und die zunehmend beschworene Wachsamkeit gegenüber Wilhelm II. Fehlleistungen des Monarchen wurden registriert und
auf zukünftige Verfehlungen, für die die erlebten Skandale immer einen Referenzpunkt
bereitstellten, angerechnet. Der kurzfristigen Stabilisierungsfunktion
der Skandale
stand eine ilmen ebenfalls inhärente, langfristige Dynamisierungstendenz
gegenüber.
Ein Grundtrend, den die Skandale aufnahmen, auf dem sie beruhten und den sie
gleichzeitig verstärkten, war die Personalisierung politischer Fragen im Charakter und
Handeln Wilhelms II. Die Skandale fokussierten notwendigerweise auf die Persönlichkeit Wilhelms II. Diese verengte Diskussion lenkte den Blick vor allem auf personelle
Alternativen in >Führergestalt<, erstaunlich selten hingegen auf institutionelle Reformen in Form einer einschneidenden Parlamentarisierung.
Unter Rückgriff auf den
eingangs zitierten Thompson lässt sich hierin durchaus eine strukturelle Logik des
modernen Medienskandals erkennen. Von Thompson so genannte »Machtskandale«
drehen sich um die Aufdeckung von Aktivitäten, welche die Regeln der Ausübung
politischer Macht betreffen. Im Machtskandal gerät das von Simmel angesprochene
Geheimnis der Macht plötzlich ins Rampenlicht. Nun geht es um Reputation. und
41
Klaus LAERMANN, Die gräßliche Bescherung. Zur Anatomie des politischen Skandals, in:
Kursbuch 77 (1984), S. 159-172, hier S. 170; Sighard NECKEL, Das Stellhölzchen der Macht.
Zur Soziologie des politischen Skandals, in: Leviathan 14 (1986), S. 581-605, hier S. 603.
Medienskandale
und Monarchie
129
Vertrauerr's. In einem Kontext tiefen Misstrauens, und wenn einer der Faktoren für
dieses Misstrauen gegenüber der politischen Führung bestimmte Charaktereigenschaften
eines politischen Führers sind, rücken diese in den Mittelpunkt, und Forderungen nach
einer mit besseren Charaktereigenschaften ausgestatteten Alternative werden laut.
Zweifellos prägte das Vorhandensein eines politisch einflussreichen - vor allem aber
als außerordentlich einflussreich eingeschätzten - Monarchen die Entwicklung der öffentlichen Debatte im Kaiserreich entscheidend. Dies gilt vor allem für die Personalisierung der politischen Diskussion. In der für das Kaiserreich oft beschworenen »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«
(Reinhart Koselleck), im Aufeinanderprallen
von
modernen Massenmedien mit ihren demokratischen Potenzialen und einer Monarchie, die
sich zwar in ihren Ausdrucksformen teilweise modernisierte, aber auf ihren traditionellen
Prärogativen erfolgreich beharrte, ist das in dieser Hinsicht wichtigste Phänomen zu
erkennen. Von einem deutschen Sonderweg wäre dann insofern zu sprechen, als das
Kaiserreich zwar generelle mediale Trends mit vollzog oder sogar initiierte, diese aber
- im Vergleich mit den westlichen Staaten - auf eine andersartige politische Struktur in
Gestalt der starken Monarchie trafen. Für die Partizipationsforderungen
der Presse
hatte diese Tatsache unmittelbare Folgen. In einer Art self-fuljilling prophecy beschwor
die Presse in den Monarchieskandalen nicht nur ihre eigene Bedeutung, sondern demonstrierte sie auch und erfuhr sich so als bedeutsam. Dies bewirkte ein Wechselspiel, in dem
sich die Macht der Presse kontinuierlich steigerte. Die Presse redete sich stark und erfuhr
sich als stark. Insofern prägte die Monarchie die Medien zwar nicht in dem Maße, wie
dies umgekehrt der Fall war, ging an den Medien aber auch nicht spurlos vorüber.
Zusammenfassend lässt sich von einer dialektischen Entwicklung aus Politisierung im Sinne einer Konstituierung der öffentlichen Meinung gegenüber dem Monarchen und Depolitisierung der Medien sprechen. Letzteres heißt, dass Kritik und Kommentierung des Monarchen implizit immer unter der Voraussetzung erfolgten, dass sie in
letzter Konsequenz folgenlos bleiben mussten. Die Medien erfuhren gegenüber dem
Monarchen ihre neue Macht, allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze, da die entscheidenden Veränderungen - d.h. die Abdankung des Monarchen - unter normalen
Umständen nicht im Bereich des Möglichen lagen. Hier mag man, ohne dass ein kausaler Zusammenhang zu beweisen wäre, einen Grund dafür sehen, dass trotz des hohen
kritischen Potenzials der deutschen Presse pragmatische Einschätzungen politischer
Reformmöglichkeiten vergleichsweise selten zu finden waren.
Zudem sollte, auch wenn der generell demokratisierende Charakter der Monarchieskandale betont werden muss, nicht vergessen werden, dass diese Medienereignisse in
ihrer Struktur einer oft naiven Personalisierung politischer Fragen Vorschub leisteten.
Die angesprochene Betonung der >Charakterfrage<, die in der Logik der Massenmedien
lag, trug auch - wenn auch selbstredend nicht als einziger Grund - zum großen Erfolg
der vielfältigen Einforderungen eines politischen Führers bei, die nicht zufällig in der
Zeit des Eulenburg-Skandals und der Daily-Telegraph-Affäre reüssierterrü.
42
43
Georg SIMMEL, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung,
21968 (1908), S. 277; THOMPSON, Scandal (wie Anm. 4), S. 248.
Vgl. zu diesem Zusammenhang: KOHLRAUSCH,Skandal (wie Anm. 3), S. 469-473.
Berlin