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Ovids wohlkomponiertes Leben. In: M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch 2021

2020

162 IV Ästhetik und Poetologie 24 Komposition 24.1 Ovids wohlkomponiertes Leben Formale Aspekte der poetischen Komposition sind bei Ovid sowohl mit dem Inhalt seiner Gedichte als auch mit ihrer Stellung innerhalb seines Gesamtwerkes und innerhalb der römischen Literaturgeschichte untrennbar verbunden. In Amores 1, 1 schildert Ovid den Ursprung seiner elegischen Liebesdichtung wie einen aitiologischen Mythos: Der Dichter sei gerade dabei gewesen, mit dem Schreiben eines großen Hexameterepos anzufangen, als der Gott Amor plötzlich einen Fuß aus dem zweiten Vers gestohlen und somit das begonnene Werk in eine Liebeselegie verwandelt habe (1, 1, 1–4, vgl. Holzberg 1997, 55–56). Die verspielte Manieriertheit dieses Bildes dient aber auch dazu, das Schreiben der Liebeselegie als einen vom Willen des Dichters gleichsam unabhängigen, aus einem inneren Drang erfolgenden Prozess darzustellen (vgl. 1, 26). Diese fingierte Natürlichkeit geht wiederum damit einher, dass Ovids Amores – vor allem im Kontrast zur elegischen Dichtung seines unmittelbaren Vorgängers Properz (vgl. Wyke 1989) – die Illusion eines auf eigener Erfahrung basierenden autobiographischen ›Liebesromans‹ (vgl. Holzberg 1997, 24–26) erzeugen können. Dieser Spontaneitätsbekundung wird im einleitenden Epigramm eine strenge auktoriale Kontrolle entgegengesetzt: Die personifizierten Amores behaupten hier, sie hätten ursprünglich aus fünf Büchern bestanden, seien aber, um dem Leser den Genuss zu erleichtern, auf drei Bücher reduziert worden (vgl. Harrison 2017, 190). Unabhängig davon, ob diese Behauptung die Existenz von zwei verschiedenen Auflagen der Sammlung impliziert (vgl. Barchiesi 2001, 159–161), erscheint Ovids Schwanken zwischen den Zahlen fünf und drei höchst bedeutungsvoll – insbesondere angesichts der Existenz der vier Bücher des Properz, die vor dem Erscheinen der überlieferten Version der Amores alle bereits publiziert worden waren (vgl. Holzberg 1997, 41–48 und Hutchinson 2006, 2–7). Das poetische Werk des Properz besteht aus zunächst drei Büchern, in denen sich der männliche Sprecher als eine Art Eroberer des bis dahin durch Gallus dominierten Terrains der römischen Liebeselegie darstellt (vgl. Cairns 2006, 70–249), gefolgt von einem auffällig andersartigen vierten Buch (vgl. Janan 2001). Aus dieser Perspektive heraus könnte man den epigrammatischen Prolog der Amores wie eine Bescheidenheitsgeste interpretieren: Die ursprünglich über das durch Properz vorgegebene Maß hinausgehende Sammlung der Amores (ein Buch länger als Properz’ Gesamtwerk) sei demnach auf die ›richtige‹, aus drei Büchern bestehende Länge gestutzt worden, wobei die Anlehnung an das properzische Vorbild unter anderem dadurch deutlich gemacht wird, dass Ovid in der letzten Elegie des dritten Buches den Abschied von der Liebeselegie, den Properz am Ende seines dritten Buches ankündigt, unmissverständlich evoziert (Prop. 3, 24 und Ov. am. 3, 15). Im Kontext von Ovids elegischem Gesamtwerk wird jedoch diese Verbeugung vor der Autorität des Vorgängers dadurch zunichte gemacht, dass Ovid im Umgang mit den im vierten Buch des Properz behandelten Themen sein Vorbild maßlos überbietet. Die elf Elegien des vierten Buches des Properz teilen sich in zwei Gruppen auf: In gut der Hälfte der Gedichte steht nicht mehr der männliche Protagonist, sondern eine Vielzahl von Frauenfiguren im Mittelpunkt, während in den übrigen Elegien aitiologische Mythen über die Entstehung römischer religiöser Bräuche erzählt werden. Unter den Frauengedichten des vierten Buches, deren Protagonistinnen ansonsten verstorbene (mythische, fiktionale und reale) Frauen sind (vgl. Wyke 1987), fällt besonders 4, 3 auf – ein Gedicht, in dem eine römische Matrone einen Brief an ihren Ehemann schreibt, der als heldenhafter Soldat dem Reich immer neue Gebiete einverleibt (vgl. Janan 2001, 53–69). Die ›weibliche‹ Hälfte des vierten Buches findet eine überdimensionierte Entsprechung in Ovids Heroides – einer möglicherweise ursprünglich aus drei Büchern bestehenden (und später erweiterten) Sammlung von elegischen Briefen (vgl. Holzberg 1997, 84–96), die mythische (also, wie die meisten Frauen des vierten Buches des Properz, bereits versorbene) Frauen, dem Vorbild der Matrone von Properz 4, 3 folgend, an ihre abwesenden heroischen Liebhaber oder Ehemänner schreiben (vgl. Knox 1995, 17–18). Einer noch größeren Ausdehnung wird die aitiologische Hälfte des vierten Buches des Properz in Ovids Fasti unterzogen: Ovids ätiologische Stücke umfassen ganze sechs Bücher, die auch in ihrem thematischen Umfang Properz’ Auswahl von Gründungsgeschichten aus der legendären Vorzeit Roms bei Weitem übertreffen, indem sie sich vornehmen, die mythischen Ursprünge aller Festtage des römischen Kalenders zu erklären. Deutlicher als in den Amores vermischt sich der Schein einer unverfälschten Natürlichkeit mit der Inszenierung eines sich komplett nach literarischen Vorbildern orientierenden Lebens in Ovids didaktischen Elegien, also in der Ars amatoria und in den Remedia J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021 M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_24 24 Komposition amoris. Die Pose eines elegischen praeceptor amoris, die Ovid einnimmt, fingiert eine geradezu intime Kommunikation mit dem Leser wobei die Komposition des erotischen Ratgebers nur durch die Belange dieser Kommunikation bestimmt zu sein scheint: In den ersten zwei Büchern der Ars amatoria erklärt er allen römischen Männern (vgl. ars 1, 1, in hoc populo), wie sie sich die in den Amores geschilderten erotischen Erfahrungen zu eigen machen können; das dritte, an Frauen gerichtete Buch folgt nur, weil auch Frauen ausdrücklich nach Ratschlägen verlangt haben sollen (vgl. ars 2, 745, rogant); und die Remedia entstehen nur, weil es dem Dichter am seelischen Wohlbefinden seiner unglücklich verliebten Leser(innen) angeblich viel liegt (vgl. rem. 1–40). Als Folge projizieren Ovids didaktische Elegien das literarische Konstrukt der elegischen Liebe uneingeschränkt auf alle Römer, wodurch die Nachahmung von Ovids Amores zum von ganz Rom angestrebten erotischen Ideal erklärt wird. Paradoxerweise resultiert also die durch die rhetorische Kommunikationsstruktur der didaktischen Elegien inszenierte Nähe zwischen dem Dichter und seinen Leser(innen) nicht so sehr in einer ›lebensähnlichen‹ Literatur wie in einem ›literaturähnlichen‹ Leben (vgl. Sharrock 2002). Der Status des erotischen Ratgebers selbst als literarisches Konstrukt wird zusätzlich auch dadurch betont, dass er – genauso wie die Elegien des Properz – aus vier Büchern besteht, wobei, scheinbar auch in Anlehnung an Properz, die ersten drei (die Ars amatoria) die elegische Liebe als das höchste Lebensziel darstellen und das vierte (die Remedia amoris) den Abschied von der Liebe zum Thema hat. Der Kontrast zwischen den Fasti und Ovids Liebesdichtung ist wesentlich größer (vgl. Newlands 1995, 51–86) als der Kontrast zwischen dem aitiologischen vierten Buch des Properz und seinen früheren drei Büchern. Zu Ovids wichtigsten Vorbildern in den Fasti zählt nicht nur der sich als Callimachus Romanus bezeichnende Properz (Prop. 4, 1, 64), sondern auch Kallimachos selbst (vgl. Newlands 1995, 64–66). So wie Kallimachos in den Aitien die Musen nach den Ursprüngen von verschiedenen griechischen Riten, Kulten und Städten befragt und dabei das ptolemäische Königspaar ausgiebig lobt (vgl. Asper 2004, 23– 31), so kommuniziert nun auch Ovid nicht mehr mit seinen Lesern, sondern nur mit den von ihm gelobten Machthabern (Augustus und Tiberius) sowie mit den Musen und anderen Gottheiten, die ihm detaillierte Informationen über die Ursprünge römischer Festtage verraten (vgl. Holzberg 1997, 159–180). 163 Es ist jedoch der auffällige Unterschied zu Kallimachos’ Aitien, der die Eigenartigkeit von Ovids aitiologischem Projekt besonders deutlich macht. Die scheinbar beliebige Auswahl von aiotiologischen Geschichten, die Kallimachos in den Aitien zusammenträgt, lässt sich als repräsentativer Blick auf die virtuelle Karte der kulturellen Erinnerungen der griechischen Einwohner Alexandrias und somit als Abbild der in Alexandria entstehenden multikulturellen Realität verstehen (vgl. Asper 2001). Bei Ovid wird dieses offene, wie eine Synekdoche der griechischen Welt wirkende räumliche Bild durch ein das gesamte römische Festkalender lückenlos abdeckendes zeitliches Schema ersetzt, wobei jedem Monat ein eigenes Buch gewidmet ist. Die Tatsache, dass der augusteische Festkalender, der als Grundlage für Ovids poetische Ausarbeitung diente, nicht nur alle offiziellen Festtage auflistete, sondern auch aitiologiche Informationen über deren Ursprünge enthielt (wie zum Beispiel in den fragmentarisch überlieferten Fasti Praenestini, vgl. Feeney 2007, 185–187), bedeutet, dass Ovid sich in einem im Vergleich zu Kallimachos außerordentlich engen, für kompositorische Experimente geradezu ungeeigneten Raum bewegen musste, so dass selbst seine Bemühungen, diese Enge zu überwinden, indem er einige seiner Erzählungen detaillierter ausarbeitete als andere und sowohl formale als auch inhaltliche Verbindungen zwischen weit voneinander entfernten Episoden herstellte (vgl. Braun 1982), die Rigidität der vorgegebenen Kalenderstruktur umso deutlicher spüren lassen (vgl. Barchiesi 1997b, 45–252). Doch die ideologische Aussage der Fasti basiert nicht nur auf einer (je nach Lesart) ideologisch getreuen oder unterschwellig subversiven Wiedergabe der legendären römischen Geschichte, die im zyklischen Festkalender zu einem statischen Symbol erstarrt (vgl. Newlands 1995), sondern auch auf der Darstellung eines umfangreichen Zeitrahmens, der wie in den Metamorphosen die gesamte Entwicklung der Welt ab origine mundi bis zum vermeintlichen Ende der Geschichte unter Augustus einschließt (vgl. Holzberg 1997, 159–161): So wie am Anfang der Fasti Janus sich selbst mit der Entstehung sowohl der Zeit als auch der geordneten Welt aus dem Chaos identifiziert (Ov. fast. 1, 101–132), so wird in zahlreichen panegyrischen Passagen auch Augustus mit der imperialen Ordnung und mit dem unabänderlichen Lauf des offiziellen Festkalenders symbolisch gleichgesetzt (z. B. Ov. fast. 1, 587–616, 1, 637–650, 2, 119–148). Obwohl der überlieferte Text der Fasti nur sechs Bücher enthält und somit nur die Hälfte des Kalenderjahres behan- 164 IV Ästhetik und Poetologie delt, erscheint in diesem scheinbar auf halber Strecke abgebrochenen Werk (vgl. Ov. trist. 2, 549–552) die schematische Darstellung der Geschichte der Welt von ihrer Entstehung bis zu ihrem Gipfelpunkt unter Augustus so abgeschlossen, dass man ihr nichts Wesentliches hinzufügen könnte. Die formale Einheit der vorhandenen sechs Bücher (vgl. Barchiesi 1997a, 197– 207) weist wohl auch darauf hin, dass es Ovid weniger auf die Ganzheit des Kalenders als auf die Abgeschlossenheit dieses augusteischen Ideologems ankam. Aus dieser Perspektive heraus könnte auch die genaue Anzahl der überlieferten Bücher der Fasti eine zusätzliche Bedeutung erhalten. Die Tatsache, dass die Fasti genauso wie Lukrez’ De rerum natura aus sechs Büchern bestehen, könnte unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Ovids Gedicht nicht nur zahlreiche erkennbar lukrezische Motive behandelt – z. B. eine Kosmogonie (vgl. Ov. fast. 1, 101–118 und Lucr. 5, 416–508), ein Venus-Hymnus (vgl. Ov. fast. 4, 3–132 und Lucr. 1, 1–43), die Vorstellung von der Befriedung des Mars durch Liebe (vgl. Ov. fast. 3, 1–166 und Lucr. 1, 29–40), eine detaillierte Beschreibung des KybeleKults (vgl. Ov. fast. 4, 179–372 und Lucr. 2, 600–660) –, sondern auch auf einer erkennbar lukrezischen panegyrischen Rhetorik basiert: So wie Lukrez den vergöttlichten Epikur für die Ermöglichung eines philosophischen Daseins lobt, in dem die distanzierte Betrachtung ›der Natur der Dinge‹ von einem gleichsam außerhalb der Natur befindlichen Standpunkt heraus eine vollkommene Seelenruhe garantiert (vgl. Gale 1994), so lässt auch Ovid den göttlichen Augustus als Erschaffer einer außerhalb der Geschichte befindlichen Zeit erscheinen, deren angebliche grenzenlose Perfektion gerade durch eine distanzierte Betrachtung der im Festkalender verewigten Geschichte bestätigt wird (vgl. Ov. fast. 2, 126–144). In den Metamorphosen inszeniert Ovid den Prozess der Selbstbefreiung von einer solchen ›göttlichen‹ Ordnung, die paradoxerweise mit einer Abkehr von der Elegie einhergeht. Wie die Amores werden auch die Metamorphosen als Ergebnis einer Verwandlung dargestellt. Die Leser, die Ovid hauptsächlich als Elegiker kennen, würden nach der Zäsur im zweiten Vers (met. 1–2 corpora: di coeptis) mit Sicherheit eine zweite Pentameterhälfte erwarten. Der Vers wird aber als Hexameter fortgesetzt (nam vos mutastis et illa), wobei diese überraschende Transformation, wie in den Amores, einer göttlichen Intervention zugeschrieben wird: »Denn ihr (= Götter) habt auch sie (= die ›Anfänge‹ meines Gedichts) verwandelt« (vgl. Knox 1986, 9–26). Die Ähnlichkeit zum Anfang der Amores verdeckt aber einen wichtigen Unterschied: Während der Gott Amor als Symbol eines inneren erotischen Impulses verstanden werden kann, fungieren die alles nach ihrem Gutdünken verwandelnden Götter des MetamorphosenPrologs wie eine äußere Macht, die dem Dichter ihren Willen auferlegt (vgl. Feldherr 2010, 1–11). Mit dieser Verwandlung von Ovids Elegie in ein Epos geht auch einher, dass Ovid in den Metamorphosen den Stellenwert seiner Dichtung anders konzipiert: Während er in den Liebeselegien die ›natürlich‹ entstehende Nähe zu seinen Lesern in den Mittelpunkt stellt, inszeniert er in den Metamorphosen einen schmerzhaften Prozess, bei dem die poetische Stimme sich in einen schriftlichen Text verwandelt und dadurch ihre Unabhängigkeit von den ›göttlichen‹ Mächten erlangt. Die formalen Aspekte der Werkkomposition spielen bei dieser Inszenierung eine entscheidende Rolle. Die ›göttlichen Anfänge‹ des Werks spiegeln sich auch in seiner transparenten Struktur wider, denn die fünfzehn Bücher der Metamorphosen lassen sich trotz fließender Übergänge relativ klar in drei Pentaden aufteilen (vgl. Holzberg 1997, 123–158) – die Erschaffung der Welt und die Gründungsphase der griechischen Mythologie, in der die Götter mit sterblichen Frauen ›heroischen‹ Nachwuchs zeugen (Bücher 1–5); die Heldensagen, die dem Trojanischen Krieg vorausgehen (die Argonauten, Theseus, Hercules, Orpheus: Bücher 6–10); die Zeit vom Trojanischen Krieg bis zur augusteischen Gegenwart (Bücher 11–15). Dabei fungiert die Metamorphose nicht nur als das Hauptthema des Werks, sondern auch als grundlegendes Kompositionsprinzip, das verschiedene Transformationsarten – die graduelle Transformation der Welt ab origine mundi ad mea tempora (met. 1, 1, 1–4), die Verwandlung einzelner Geschichten ineinander, die Verwandlung zahlreicher literarischer Vorbilder – als Facetten eines allumfassenden Phänomens erscheinen lässt (vgl. Schmidt 1991). Doch die aussagekräftigste Transformation, die im Laufe der Metamorphosen stattfindet, ist zweifelsohne Ovids Darstellung der graduellen Verwandlung einer schwachen, der göttlichen Macht völlig ausgelieferten menschlichen Stimme in einen autoritätsreichen, für die Ewigkeit bestimmten schriftlichen Text. Diese Verwandlung vollzieht sich in drei Stufen, die den drei Pentaden entsprechen, in die sich das Werk gliedert. In den ersten fünf Büchern hängen Verwandlungen oft mit Vergewaltigungen sterblicher Frauen durch Götter zusammen (vgl. Richlin 1992), wobei der Verwandlungsprozess oft als Substitution einer menschlichen Sprache durch ein die göttliche Macht verewi- 24 Komposition gendes ›Monument‹ aufgefasst wird (z. B. Daphne: met. 1, 452–567). Am Anfang der zweiten Pentade findet dann eine bemerkenswerte Verschiebung statt. Im sechsten Buch werden zunächst zwei »schriftliche Texte« miteinander kontrastiert – die sich durch eine klare Struktur auszeichnende Tapisserie der Minerva, auf der Götter dargestellt werden, die Sterbliche für ihre Unbotmäßigkeit mit Verwandlungen bestrafen, und die dagegen chaotisch wirkende Tapisserie der Arachne, die den engen Zusammenhang zwischen Verwandlung und göttlicher Gewalt thematisiert, wobei die anschließende Verwandlung Arachnes durch Minerva die Gültigkeit beider Botschaften bestätigt (vgl. Johnson 2008, 74–95). Am Ende des Buchs wird ein ähnliches Machtgefälle auf eine rein menschliche Ebene projiziert. Dabei wird aber der Schrift eine besondere Bedeutung beigemessen: Da Tereus Philomela nicht nur vergewaltigt, sondern auch ihre Zunge herausschneidet (vgl. Monella 2005), kann sie von seinem Verbrechen nur mittels eines schriftlichen Texts berichten, den sie auch in eine Tapisserie hineinwebt, was am Ende zu einer grausamen Bestrafung des Vergewaltigers führt (met. 6, 424–674, vgl. Salzman-Mitchell 2005, 139–149). Zusätzlich zur Kraft der Schrift wird aber in der zweiten Pentade auch die offensichtliche Fiktionalität der Verwandlungsgeschichten immer wieder thematisiert, deren Glaubwürdigkeit einzig und allein von der rhetorischen Überzeugungskraft bzw. von der göttlichen Macht des jeweiligen Erzählers abhängt (vgl. Feldherr 2010, 51–59). In der dritten Pentade wird anschließend hervorgehoben, dass Dichtung nur als schriftliches Medium eine dauerhafte Wirkung erzielen kann. Der fließende Übergang von der zweiten zur dritten Pentade wird von der Figur des Orpheus dominiert, der als Inbegriff der mündlichen Dichtung geschildert wird und als solcher selbst Götter zu Tränen rühren kann (met. 10, 1–52). Nachdem aber sein Körper am Anfang des elften Buches in Stücke gerissen wird, wandert er in die Unterwelt hinab, ohne in der Welt der Lebenden irgendwelche Spuren zu hinterlassen (met. 11, 1–66, vgl. Feldherr 2010, 160–198). Dagegen wird am Ende des fünfzehnten Buches das Fatum als unabänderlicher schriftlicher Text dargestellt, laut dem der Tod absolut unausweichlich ist (met. 15, 813–814), während Augustus wie ein typisch ovidischer ›göttlicher‹ Erzähler erscheint, der die verewigende Fiktion von der Verwandlung des Julius Caesar in einen Kometen (vgl. Schmitzer 1990, 84–97) nur deshalb propagieren kann, weil er die uneingeschränkte Macht über die ganze Welt besitzt (vgl. Feldherr 2010, 63–83). Im Epi- 165 log erscheint dann der schriftliche Text, in den sich Ovid nun verwandelt, als die einzige Möglichkeit, den schriftlichen Text des Fatums dauerhaft zu überlisten: Denn die Ewigkeit des Werks, das Ovid nun zu Ende komponiert hat (met. 15, 871 iamque opus exegi), hängt weder vom ›göttlichen Zorn‹ noch vom Feuer ab (15, 871 nec Iovis ira nec ignes), sondern nur davon, dass es überall in der römischen Welt gelesen wird (met. 15, 878 ore legar populi, vgl. trist. 3.7). Die Unabhängigkeit des poetischen Überlebens Ovids vom ›göttlichen Zorn‹ wird auch zu einem der Leitmotive von Ovids Exildichtung (vgl. Holzberg 1997, 181–202). Das Exil selbst wird sowohl als Folge seiner poetischen Tätigkeit als auch als eine wahr gewordene ovidische Fiktion dargestellt: Die Publikation der Ars soll dazu geführt haben, dass Ovid selbst nun wie eine Figur aus den Metamorphosen erscheint (vgl. trist. 2, 493–494 und 1, 1, 119–120). Die Tatsache, dass er auch im Exil ein Buch nach dem anderen schreibt (fünf Bücher der Tristien, gefolgt von vier Büchern der Epistulae ex Ponto), erscheint dabei wie eine Art ›lebensrettende Maßnahme‹: Die immer größer werdende Anzahl neuer Bücher, die er in regelmäßigen Abständen vom Schwarzen Meer nach Rom schickt, soll als Beweis dafür dienen, dass der ›göttliche Zorn‹ des Augustus tatsächlich nur Macht über seinen Körper hat (vgl. trist. 1, 105–116). Dadurch wird auch seine physische Abwesenheit aus Rom völlig unerheblich, denn die durch seine Gedichte vermittelte imago bleibt in Rom ja weiterhin zugänglich (vgl. trist. 1, 7, 11 sed carmina maior imago), wobei die im Exil entstandenen neuen Bücher sich zu den alten gesellen, um das Bild zu vervollständigen (trist. 1.1). Seine sowohl im Epilog der Metamorphosen als auch in den Tristien geäußerte Zuversicht, dass dieses poetische Bild auch seinen Tod überdauern wird, hängt also nur damit zusammen, dass er dank seiner Popularität bei den Lesern (vgl. trist. 4, 10, 132 candide lector) bereits zu Lebzeiten zu einem kanonischen Autor geworden ist. Literatur Asper, Markus: Gruppen und Dichter: Zur Programmatik und Adressatenbezug bei Kallimachos. A&A, 47 (2001), 84–116. Asper, Markus: Kallimachos. Werke. Griechisch und deutsch. Darmstadt 2004. Barchiesi, Alessandro: Endgames: Ovid’s ›Metamorphoses‹ 15 and ›Fasti‹ 6. In: Deborah H. Robert/Francis M. Dunn/ Don Folwer (Hrsg.): Classical Closure: Reading the End in Greek and Latin Literature. Princeton 1997a, 181–208. Barchiesi, Alessandro: The Poet and the Prince: Ovid and Augustan Discourse. Berkeley 1997b. 166 IV Ästhetik und Poetologie Barchiesi, Alessandro: Speaking Volumes. Narrative and Intertext in Ovid and Other Latin Poets. London 2001. 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