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IV Ästhetik und Poetologie
24 Komposition
24.1 Ovids wohlkomponiertes Leben
Formale Aspekte der poetischen Komposition sind
bei Ovid sowohl mit dem Inhalt seiner Gedichte als
auch mit ihrer Stellung innerhalb seines Gesamtwerkes und innerhalb der römischen Literaturgeschichte
untrennbar verbunden.
In Amores 1, 1 schildert Ovid den Ursprung seiner
elegischen Liebesdichtung wie einen aitiologischen
Mythos: Der Dichter sei gerade dabei gewesen, mit
dem Schreiben eines großen Hexameterepos anzufangen, als der Gott Amor plötzlich einen Fuß aus dem
zweiten Vers gestohlen und somit das begonnene Werk
in eine Liebeselegie verwandelt habe (1, 1, 1–4, vgl.
Holzberg 1997, 55–56). Die verspielte Manieriertheit
dieses Bildes dient aber auch dazu, das Schreiben der
Liebeselegie als einen vom Willen des Dichters gleichsam unabhängigen, aus einem inneren Drang erfolgenden Prozess darzustellen (vgl. 1, 26). Diese fingierte
Natürlichkeit geht wiederum damit einher, dass Ovids
Amores – vor allem im Kontrast zur elegischen Dichtung seines unmittelbaren Vorgängers Properz (vgl.
Wyke 1989) – die Illusion eines auf eigener Erfahrung
basierenden autobiographischen ›Liebesromans‹ (vgl.
Holzberg 1997, 24–26) erzeugen können.
Dieser Spontaneitätsbekundung wird im einleitenden Epigramm eine strenge auktoriale Kontrolle entgegengesetzt: Die personifizierten Amores behaupten
hier, sie hätten ursprünglich aus fünf Büchern bestanden, seien aber, um dem Leser den Genuss zu erleichtern, auf drei Bücher reduziert worden (vgl. Harrison
2017, 190). Unabhängig davon, ob diese Behauptung
die Existenz von zwei verschiedenen Auflagen der
Sammlung impliziert (vgl. Barchiesi 2001, 159–161),
erscheint Ovids Schwanken zwischen den Zahlen fünf
und drei höchst bedeutungsvoll – insbesondere angesichts der Existenz der vier Bücher des Properz, die
vor dem Erscheinen der überlieferten Version der
Amores alle bereits publiziert worden waren (vgl.
Holzberg 1997, 41–48 und Hutchinson 2006, 2–7).
Das poetische Werk des Properz besteht aus zunächst
drei Büchern, in denen sich der männliche Sprecher
als eine Art Eroberer des bis dahin durch Gallus dominierten Terrains der römischen Liebeselegie darstellt (vgl. Cairns 2006, 70–249), gefolgt von einem
auffällig andersartigen vierten Buch (vgl. Janan 2001).
Aus dieser Perspektive heraus könnte man den epigrammatischen Prolog der Amores wie eine Bescheidenheitsgeste interpretieren: Die ursprünglich über
das durch Properz vorgegebene Maß hinausgehende
Sammlung der Amores (ein Buch länger als Properz’
Gesamtwerk) sei demnach auf die ›richtige‹, aus drei
Büchern bestehende Länge gestutzt worden, wobei die
Anlehnung an das properzische Vorbild unter anderem dadurch deutlich gemacht wird, dass Ovid in der
letzten Elegie des dritten Buches den Abschied von
der Liebeselegie, den Properz am Ende seines dritten
Buches ankündigt, unmissverständlich evoziert (Prop.
3, 24 und Ov. am. 3, 15).
Im Kontext von Ovids elegischem Gesamtwerk
wird jedoch diese Verbeugung vor der Autorität des
Vorgängers dadurch zunichte gemacht, dass Ovid im
Umgang mit den im vierten Buch des Properz behandelten Themen sein Vorbild maßlos überbietet. Die elf
Elegien des vierten Buches des Properz teilen sich in
zwei Gruppen auf: In gut der Hälfte der Gedichte steht
nicht mehr der männliche Protagonist, sondern eine
Vielzahl von Frauenfiguren im Mittelpunkt, während
in den übrigen Elegien aitiologische Mythen über die
Entstehung römischer religiöser Bräuche erzählt werden. Unter den Frauengedichten des vierten Buches,
deren Protagonistinnen ansonsten verstorbene (mythische, fiktionale und reale) Frauen sind (vgl. Wyke
1987), fällt besonders 4, 3 auf – ein Gedicht, in dem
eine römische Matrone einen Brief an ihren Ehemann
schreibt, der als heldenhafter Soldat dem Reich immer
neue Gebiete einverleibt (vgl. Janan 2001, 53–69). Die
›weibliche‹ Hälfte des vierten Buches findet eine überdimensionierte Entsprechung in Ovids Heroides – einer möglicherweise ursprünglich aus drei Büchern
bestehenden (und später erweiterten) Sammlung von
elegischen Briefen (vgl. Holzberg 1997, 84–96), die
mythische (also, wie die meisten Frauen des vierten
Buches des Properz, bereits versorbene) Frauen, dem
Vorbild der Matrone von Properz 4, 3 folgend, an ihre
abwesenden heroischen Liebhaber oder Ehemänner
schreiben (vgl. Knox 1995, 17–18). Einer noch größeren Ausdehnung wird die aitiologische Hälfte des
vierten Buches des Properz in Ovids Fasti unterzogen:
Ovids ätiologische Stücke umfassen ganze sechs Bücher, die auch in ihrem thematischen Umfang Properz’ Auswahl von Gründungsgeschichten aus der legendären Vorzeit Roms bei Weitem übertreffen, indem sie sich vornehmen, die mythischen Ursprünge
aller Festtage des römischen Kalenders zu erklären.
Deutlicher als in den Amores vermischt sich der
Schein einer unverfälschten Natürlichkeit mit der Inszenierung eines sich komplett nach literarischen Vorbildern orientierenden Lebens in Ovids didaktischen
Elegien, also in der Ars amatoria und in den Remedia
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021
M. Möller (Hg.), Ovid-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05685-6_24
24 Komposition
amoris. Die Pose eines elegischen praeceptor amoris,
die Ovid einnimmt, fingiert eine geradezu intime
Kommunikation mit dem Leser wobei die Komposition des erotischen Ratgebers nur durch die Belange
dieser Kommunikation bestimmt zu sein scheint: In
den ersten zwei Büchern der Ars amatoria erklärt er
allen römischen Männern (vgl. ars 1, 1, in hoc populo),
wie sie sich die in den Amores geschilderten erotischen
Erfahrungen zu eigen machen können; das dritte, an
Frauen gerichtete Buch folgt nur, weil auch Frauen
ausdrücklich nach Ratschlägen verlangt haben sollen
(vgl. ars 2, 745, rogant); und die Remedia entstehen
nur, weil es dem Dichter am seelischen Wohlbefinden
seiner unglücklich verliebten Leser(innen) angeblich
viel liegt (vgl. rem. 1–40). Als Folge projizieren Ovids
didaktische Elegien das literarische Konstrukt der elegischen Liebe uneingeschränkt auf alle Römer, wodurch die Nachahmung von Ovids Amores zum von
ganz Rom angestrebten erotischen Ideal erklärt wird.
Paradoxerweise resultiert also die durch die rhetorische Kommunikationsstruktur der didaktischen Elegien inszenierte Nähe zwischen dem Dichter und seinen Leser(innen) nicht so sehr in einer ›lebensähnlichen‹ Literatur wie in einem ›literaturähnlichen‹ Leben (vgl. Sharrock 2002). Der Status des erotischen
Ratgebers selbst als literarisches Konstrukt wird zusätzlich auch dadurch betont, dass er – genauso wie
die Elegien des Properz – aus vier Büchern besteht,
wobei, scheinbar auch in Anlehnung an Properz, die
ersten drei (die Ars amatoria) die elegische Liebe als
das höchste Lebensziel darstellen und das vierte (die
Remedia amoris) den Abschied von der Liebe zum
Thema hat.
Der Kontrast zwischen den Fasti und Ovids Liebesdichtung ist wesentlich größer (vgl. Newlands 1995,
51–86) als der Kontrast zwischen dem aitiologischen
vierten Buch des Properz und seinen früheren drei
Büchern. Zu Ovids wichtigsten Vorbildern in den Fasti zählt nicht nur der sich als Callimachus Romanus
bezeichnende Properz (Prop. 4, 1, 64), sondern auch
Kallimachos selbst (vgl. Newlands 1995, 64–66). So
wie Kallimachos in den Aitien die Musen nach den
Ursprüngen von verschiedenen griechischen Riten,
Kulten und Städten befragt und dabei das ptolemäische Königspaar ausgiebig lobt (vgl. Asper 2004, 23–
31), so kommuniziert nun auch Ovid nicht mehr mit
seinen Lesern, sondern nur mit den von ihm gelobten
Machthabern (Augustus und Tiberius) sowie mit den
Musen und anderen Gottheiten, die ihm detaillierte
Informationen über die Ursprünge römischer Festtage verraten (vgl. Holzberg 1997, 159–180).
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Es ist jedoch der auffällige Unterschied zu Kallimachos’ Aitien, der die Eigenartigkeit von Ovids aitiologischem Projekt besonders deutlich macht. Die
scheinbar beliebige Auswahl von aiotiologischen Geschichten, die Kallimachos in den Aitien zusammenträgt, lässt sich als repräsentativer Blick auf die virtuelle Karte der kulturellen Erinnerungen der griechischen Einwohner Alexandrias und somit als Abbild
der in Alexandria entstehenden multikulturellen Realität verstehen (vgl. Asper 2001). Bei Ovid wird dieses
offene, wie eine Synekdoche der griechischen Welt
wirkende räumliche Bild durch ein das gesamte römische Festkalender lückenlos abdeckendes zeitliches
Schema ersetzt, wobei jedem Monat ein eigenes Buch
gewidmet ist. Die Tatsache, dass der augusteische
Festkalender, der als Grundlage für Ovids poetische
Ausarbeitung diente, nicht nur alle offiziellen Festtage
auflistete, sondern auch aitiologiche Informationen
über deren Ursprünge enthielt (wie zum Beispiel in
den fragmentarisch überlieferten Fasti Praenestini,
vgl. Feeney 2007, 185–187), bedeutet, dass Ovid sich
in einem im Vergleich zu Kallimachos außerordentlich engen, für kompositorische Experimente geradezu ungeeigneten Raum bewegen musste, so dass selbst
seine Bemühungen, diese Enge zu überwinden, indem
er einige seiner Erzählungen detaillierter ausarbeitete
als andere und sowohl formale als auch inhaltliche
Verbindungen zwischen weit voneinander entfernten
Episoden herstellte (vgl. Braun 1982), die Rigidität der
vorgegebenen Kalenderstruktur umso deutlicher spüren lassen (vgl. Barchiesi 1997b, 45–252).
Doch die ideologische Aussage der Fasti basiert
nicht nur auf einer (je nach Lesart) ideologisch getreuen oder unterschwellig subversiven Wiedergabe der
legendären römischen Geschichte, die im zyklischen
Festkalender zu einem statischen Symbol erstarrt (vgl.
Newlands 1995), sondern auch auf der Darstellung eines umfangreichen Zeitrahmens, der wie in den Metamorphosen die gesamte Entwicklung der Welt ab origine mundi bis zum vermeintlichen Ende der Geschichte unter Augustus einschließt (vgl. Holzberg 1997,
159–161): So wie am Anfang der Fasti Janus sich selbst
mit der Entstehung sowohl der Zeit als auch der geordneten Welt aus dem Chaos identifiziert (Ov. fast. 1,
101–132), so wird in zahlreichen panegyrischen Passagen auch Augustus mit der imperialen Ordnung
und mit dem unabänderlichen Lauf des offiziellen
Festkalenders symbolisch gleichgesetzt (z. B. Ov. fast.
1, 587–616, 1, 637–650, 2, 119–148). Obwohl der
überlieferte Text der Fasti nur sechs Bücher enthält
und somit nur die Hälfte des Kalenderjahres behan-
164
IV Ästhetik und Poetologie
delt, erscheint in diesem scheinbar auf halber Strecke
abgebrochenen Werk (vgl. Ov. trist. 2, 549–552) die
schematische Darstellung der Geschichte der Welt
von ihrer Entstehung bis zu ihrem Gipfelpunkt unter
Augustus so abgeschlossen, dass man ihr nichts Wesentliches hinzufügen könnte. Die formale Einheit der
vorhandenen sechs Bücher (vgl. Barchiesi 1997a, 197–
207) weist wohl auch darauf hin, dass es Ovid weniger
auf die Ganzheit des Kalenders als auf die Abgeschlossenheit dieses augusteischen Ideologems ankam.
Aus dieser Perspektive heraus könnte auch die genaue Anzahl der überlieferten Bücher der Fasti eine
zusätzliche Bedeutung erhalten. Die Tatsache, dass die
Fasti genauso wie Lukrez’ De rerum natura aus sechs
Büchern bestehen, könnte unsere Aufmerksamkeit
darauf lenken, dass Ovids Gedicht nicht nur zahlreiche erkennbar lukrezische Motive behandelt – z. B. eine Kosmogonie (vgl. Ov. fast. 1, 101–118 und Lucr. 5,
416–508), ein Venus-Hymnus (vgl. Ov. fast. 4, 3–132
und Lucr. 1, 1–43), die Vorstellung von der Befriedung
des Mars durch Liebe (vgl. Ov. fast. 3, 1–166 und Lucr.
1, 29–40), eine detaillierte Beschreibung des KybeleKults (vgl. Ov. fast. 4, 179–372 und Lucr. 2, 600–660)
–, sondern auch auf einer erkennbar lukrezischen panegyrischen Rhetorik basiert: So wie Lukrez den vergöttlichten Epikur für die Ermöglichung eines philosophischen Daseins lobt, in dem die distanzierte Betrachtung ›der Natur der Dinge‹ von einem gleichsam
außerhalb der Natur befindlichen Standpunkt heraus
eine vollkommene Seelenruhe garantiert (vgl. Gale
1994), so lässt auch Ovid den göttlichen Augustus als
Erschaffer einer außerhalb der Geschichte befindlichen Zeit erscheinen, deren angebliche grenzenlose
Perfektion gerade durch eine distanzierte Betrachtung
der im Festkalender verewigten Geschichte bestätigt
wird (vgl. Ov. fast. 2, 126–144).
In den Metamorphosen inszeniert Ovid den Prozess
der Selbstbefreiung von einer solchen ›göttlichen‹
Ordnung, die paradoxerweise mit einer Abkehr von
der Elegie einhergeht. Wie die Amores werden auch die
Metamorphosen als Ergebnis einer Verwandlung dargestellt. Die Leser, die Ovid hauptsächlich als Elegiker
kennen, würden nach der Zäsur im zweiten Vers (met.
1–2 corpora: di coeptis) mit Sicherheit eine zweite Pentameterhälfte erwarten. Der Vers wird aber als Hexameter fortgesetzt (nam vos mutastis et illa), wobei diese
überraschende Transformation, wie in den Amores, einer göttlichen Intervention zugeschrieben wird:
»Denn ihr (= Götter) habt auch sie (= die ›Anfänge‹
meines Gedichts) verwandelt« (vgl. Knox 1986, 9–26).
Die Ähnlichkeit zum Anfang der Amores verdeckt aber
einen wichtigen Unterschied: Während der Gott Amor
als Symbol eines inneren erotischen Impulses verstanden werden kann, fungieren die alles nach ihrem Gutdünken verwandelnden Götter des MetamorphosenPrologs wie eine äußere Macht, die dem Dichter ihren
Willen auferlegt (vgl. Feldherr 2010, 1–11). Mit dieser
Verwandlung von Ovids Elegie in ein Epos geht auch
einher, dass Ovid in den Metamorphosen den Stellenwert seiner Dichtung anders konzipiert: Während er in
den Liebeselegien die ›natürlich‹ entstehende Nähe zu
seinen Lesern in den Mittelpunkt stellt, inszeniert er in
den Metamorphosen einen schmerzhaften Prozess, bei
dem die poetische Stimme sich in einen schriftlichen
Text verwandelt und dadurch ihre Unabhängigkeit
von den ›göttlichen‹ Mächten erlangt. Die formalen
Aspekte der Werkkomposition spielen bei dieser Inszenierung eine entscheidende Rolle.
Die ›göttlichen Anfänge‹ des Werks spiegeln sich
auch in seiner transparenten Struktur wider, denn die
fünfzehn Bücher der Metamorphosen lassen sich trotz
fließender Übergänge relativ klar in drei Pentaden
aufteilen (vgl. Holzberg 1997, 123–158) – die Erschaffung der Welt und die Gründungsphase der griechischen Mythologie, in der die Götter mit sterblichen
Frauen ›heroischen‹ Nachwuchs zeugen (Bücher 1–5);
die Heldensagen, die dem Trojanischen Krieg vorausgehen (die Argonauten, Theseus, Hercules, Orpheus:
Bücher 6–10); die Zeit vom Trojanischen Krieg bis zur
augusteischen Gegenwart (Bücher 11–15). Dabei fungiert die Metamorphose nicht nur als das Hauptthema
des Werks, sondern auch als grundlegendes Kompositionsprinzip, das verschiedene Transformationsarten
– die graduelle Transformation der Welt ab origine
mundi ad mea tempora (met. 1, 1, 1–4), die Verwandlung einzelner Geschichten ineinander, die Verwandlung zahlreicher literarischer Vorbilder – als Facetten
eines allumfassenden Phänomens erscheinen lässt
(vgl. Schmidt 1991).
Doch die aussagekräftigste Transformation, die im
Laufe der Metamorphosen stattfindet, ist zweifelsohne
Ovids Darstellung der graduellen Verwandlung einer
schwachen, der göttlichen Macht völlig ausgelieferten
menschlichen Stimme in einen autoritätsreichen, für
die Ewigkeit bestimmten schriftlichen Text. Diese
Verwandlung vollzieht sich in drei Stufen, die den drei
Pentaden entsprechen, in die sich das Werk gliedert.
In den ersten fünf Büchern hängen Verwandlungen
oft mit Vergewaltigungen sterblicher Frauen durch
Götter zusammen (vgl. Richlin 1992), wobei der Verwandlungsprozess oft als Substitution einer menschlichen Sprache durch ein die göttliche Macht verewi-
24 Komposition
gendes ›Monument‹ aufgefasst wird (z. B. Daphne:
met. 1, 452–567). Am Anfang der zweiten Pentade findet dann eine bemerkenswerte Verschiebung statt. Im
sechsten Buch werden zunächst zwei »schriftliche
Texte« miteinander kontrastiert – die sich durch eine
klare Struktur auszeichnende Tapisserie der Minerva,
auf der Götter dargestellt werden, die Sterbliche für
ihre Unbotmäßigkeit mit Verwandlungen bestrafen,
und die dagegen chaotisch wirkende Tapisserie der
Arachne, die den engen Zusammenhang zwischen
Verwandlung und göttlicher Gewalt thematisiert, wobei die anschließende Verwandlung Arachnes durch
Minerva die Gültigkeit beider Botschaften bestätigt
(vgl. Johnson 2008, 74–95). Am Ende des Buchs wird
ein ähnliches Machtgefälle auf eine rein menschliche
Ebene projiziert. Dabei wird aber der Schrift eine besondere Bedeutung beigemessen: Da Tereus Philomela nicht nur vergewaltigt, sondern auch ihre Zunge herausschneidet (vgl. Monella 2005), kann sie von seinem Verbrechen nur mittels eines schriftlichen Texts
berichten, den sie auch in eine Tapisserie hineinwebt,
was am Ende zu einer grausamen Bestrafung des Vergewaltigers führt (met. 6, 424–674, vgl. Salzman-Mitchell 2005, 139–149). Zusätzlich zur Kraft der Schrift
wird aber in der zweiten Pentade auch die offensichtliche Fiktionalität der Verwandlungsgeschichten immer wieder thematisiert, deren Glaubwürdigkeit einzig und allein von der rhetorischen Überzeugungskraft bzw. von der göttlichen Macht des jeweiligen Erzählers abhängt (vgl. Feldherr 2010, 51–59). In der
dritten Pentade wird anschließend hervorgehoben,
dass Dichtung nur als schriftliches Medium eine
dauerhafte Wirkung erzielen kann. Der fließende
Übergang von der zweiten zur dritten Pentade wird
von der Figur des Orpheus dominiert, der als Inbegriff
der mündlichen Dichtung geschildert wird und als
solcher selbst Götter zu Tränen rühren kann (met. 10,
1–52). Nachdem aber sein Körper am Anfang des elften Buches in Stücke gerissen wird, wandert er in die
Unterwelt hinab, ohne in der Welt der Lebenden irgendwelche Spuren zu hinterlassen (met. 11, 1–66, vgl.
Feldherr 2010, 160–198). Dagegen wird am Ende des
fünfzehnten Buches das Fatum als unabänderlicher
schriftlicher Text dargestellt, laut dem der Tod absolut
unausweichlich ist (met. 15, 813–814), während Augustus wie ein typisch ovidischer ›göttlicher‹ Erzähler
erscheint, der die verewigende Fiktion von der Verwandlung des Julius Caesar in einen Kometen (vgl.
Schmitzer 1990, 84–97) nur deshalb propagieren
kann, weil er die uneingeschränkte Macht über die
ganze Welt besitzt (vgl. Feldherr 2010, 63–83). Im Epi-
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log erscheint dann der schriftliche Text, in den sich
Ovid nun verwandelt, als die einzige Möglichkeit, den
schriftlichen Text des Fatums dauerhaft zu überlisten:
Denn die Ewigkeit des Werks, das Ovid nun zu Ende
komponiert hat (met. 15, 871 iamque opus exegi),
hängt weder vom ›göttlichen Zorn‹ noch vom Feuer
ab (15, 871 nec Iovis ira nec ignes), sondern nur davon,
dass es überall in der römischen Welt gelesen wird
(met. 15, 878 ore legar populi, vgl. trist. 3.7).
Die Unabhängigkeit des poetischen Überlebens
Ovids vom ›göttlichen Zorn‹ wird auch zu einem der
Leitmotive von Ovids Exildichtung (vgl. Holzberg
1997, 181–202). Das Exil selbst wird sowohl als Folge
seiner poetischen Tätigkeit als auch als eine wahr gewordene ovidische Fiktion dargestellt: Die Publikation
der Ars soll dazu geführt haben, dass Ovid selbst nun
wie eine Figur aus den Metamorphosen erscheint (vgl.
trist. 2, 493–494 und 1, 1, 119–120). Die Tatsache, dass
er auch im Exil ein Buch nach dem anderen schreibt
(fünf Bücher der Tristien, gefolgt von vier Büchern der
Epistulae ex Ponto), erscheint dabei wie eine Art ›lebensrettende Maßnahme‹: Die immer größer werdende Anzahl neuer Bücher, die er in regelmäßigen Abständen vom Schwarzen Meer nach Rom schickt, soll
als Beweis dafür dienen, dass der ›göttliche Zorn‹ des
Augustus tatsächlich nur Macht über seinen Körper
hat (vgl. trist. 1, 105–116). Dadurch wird auch seine
physische Abwesenheit aus Rom völlig unerheblich,
denn die durch seine Gedichte vermittelte imago bleibt
in Rom ja weiterhin zugänglich (vgl. trist. 1, 7, 11 sed
carmina maior imago), wobei die im Exil entstandenen
neuen Bücher sich zu den alten gesellen, um das Bild
zu vervollständigen (trist. 1.1). Seine sowohl im Epilog
der Metamorphosen als auch in den Tristien geäußerte
Zuversicht, dass dieses poetische Bild auch seinen Tod
überdauern wird, hängt also nur damit zusammen,
dass er dank seiner Popularität bei den Lesern (vgl.
trist. 4, 10, 132 candide lector) bereits zu Lebzeiten zu
einem kanonischen Autor geworden ist.
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Alexander Kirichenko