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NS-Zwangsarbeit ausgraben Archäologie auf dem Tempelhofer Feld Institut für Vorderasiatische Archäologie Freie Universität Berlin Landesdenkmalamt Berlin Berlin 2017 Vorwort Berlins Tempelhofer Flugfeld bietet mit seiner riesigen Grünfläche und Möglichkeiten für Sport und Gärtnern mitten in der Stadt einen Ort des Abstands vom hektischen Alltag. Eine ganz andere Seite Tempelhofs ist seine Vergangenheit. Mit dem KZ Columbia befand sich hier ein berüchtigter Folterort aus den frühen NS-Jahren. Im Zweiten Weltkrieg wandelte sich das Gelände in einen Ort der NS-Rüstungsproduktion mit großen Zwangsarbeitslagern. Über die Zustände in diesen Lagern ist kaum etwas bekannt. Doch eine sich entwickelnde Archäologie der Moderne kann diese Verhältnisse genauer erforschen und dabei bislang unbekannte Facetten aus Berlins Geschichte aufzeigen. Im Sommer 2012 bekam die Freie Universität vom Landesdenkmalamt Berlin den Auftrag, auf dem Tempelhofer Feld Ausgrabungen im Bereich dreier Zwangsarbeitslager durchzuführen. Zur Zeit der Ausgrabungen sahen Senatsplanungen Bodeneingriffe für Gartenanlagen und spätere Bebauung vor, die die noch im Boden befindlichen Reste zerstört hätten. Die Ausgrabungen konnten mit finanzieller Unterstützung der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und der Mitarbeit vieler Student_innen bis zum Entscheid gegen die Bebauung des Feldes im Mai 2014 fortgeführt werden. Dabei wurden auf siebzehn Grabungsflächen insgesamt fünfundzwanzig Grabungsschnitte geöffnet, in denen Reste von zehn Baracken, drei Luftschutzgräben und zwei Feuerlöschteichen zutage kamen. Zudem fanden wir spärliche Baureste des KZ Columbia und des im Krieg zerstörten alten Flughafengebäudes. In unserer Registratur befinden sich 26 768 Fundnummern mit einem Gesamtfundbestand von 92 255 Objekten. Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung des riesigen Fundbestandes wird derzeit durchgeführt. Ziel dieser Broschüre ist es, das Potenzial einer solchen Gesamtanalyse zu zeigen. Angesprochene Themen fügen sich zudem in das Forschungscluster 5 “Archäologie und Krieg” des Deutschen Archäologischen Instituts ein, welches Gewalt auf vergleichender Ebene untersucht. Die Funde sind auch Bestandteil einer Erinnerungskultur, die sich zunehmend mit den materiellen Resten der Vergangenheit beschäftigt. Wir bedanken uns bei allen an den Ausgrabungen, deren Auswertung und den an der Ausarbeitung dieser Broschüre Beteiligten, in erster Linie Frau Dr. Barbara Hausmair als Leiterin der derzeitigen wissenschaftlichen Aufarbeitung und Frau Dr. Karin Wagner, der Leiterin des Landesdenkmalamts Berlin. Ebenso sei Herrn Manfred Kühne von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung gedankt, Herrn Prof. Svend Hansen (Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts) und unseren Ausgrabungsmitarbeiter_innen Jan Trenner M.A., Edward Collins, Dr. Maria Theresia Starzmann, Verena Schwartz M.A., Jessica Meyer M.A. und Beatrix Nordheim. Berlin, im Oktober 2017 Reinhard Bernbeck und Susan Pollock 3 Geschichtete Geschichte – Das Tempelhofer Feld Das Tempelhofer Feld hat eine vielschichtige Vergangenheit. Mit der Nutzung als Parade- und Exerzierplatz der preußischen Armee ab 1722 und der Errichtung einer Militär-Arrest-Anstalt, einer Kaserne und des Garnisonfriedhofs im 19. Jahrhundert erhält der Ort einen militärischen Charakter. Der in den 1920er Jahren erbaute Zentralflughafen wird rasch zu einem Knotenpunkt des internationalen Flugverkehrs, auf dem sich Menschen aus ganz Europa begegnen. 1936 beginnen die Nazis mit dem Bau des monumentalen, heute noch stehenden neuen Flughafengebäudes. Sie wandeln die Arrest-Anstalt in ein Gestapo-Gefängnis und Konzentrationslager um. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs stellen sie die zivile Luftfahrt ein und transformieren das Flugfeld in ein Zentrum der Rüstungsindustrie, in dem tausende Zwangsarbeiter_innen ausgebeutet werden. Ein „Rosinenbomber“ der US-Armee mit Versorgungsgütern im Anflug auf Tempelhof während der Blockade Westberlins, 1948 (AFHRA). Kaiser Wilhelm bei einer Parade auf dem Tempelhofer Feld (Hofkunstanstalt A. Frisch, 1911). In der Nachkriegszeit richtet die US-Armee eine Militärbasis in Tempelhof ein, die bis 1993 besteht. Während Stalins Blockade Westberlins 1948 bis 1949 wird der Flughafen als Teil der Luftbrücke zu einer Hauptschlagader für die Versorgung der Bevölkerung. Ab 1951 setzt der zivile Flugverkehr wieder ein und läuft weiter bis zur endgültigen Schließung des Flughafens 2008. Freiluftterrasse mit Restaurant am Zentralflughafen Tempelhof, c. 1930 (PA Bernbeck/Pollock). Kaiser Wilhelm bei einer Parade auf dem Tempelhofer Feld (Hofkunstanstalt A. Frisch, 1911). Tempelhof im Sommer 1945. Ehemalige Lagerbereiche werden von den Alliierten als Schrottdeponien oder für die eigene Verwaltung verwendet (ABFG). 5 Ausgrabungen in Zwangsarbeitslagern der NS-Rüstungsindustrie Bei den Ausgrabungen 2012 wird der Schriftzug des alten Zentralflughafens wiederentdeckt (Collins/LDA). Zwischen 2012 und 2014 führten das Landesdenkmalamt Berlin und die Freie Universität Berlin gemeinsam mehrere Grabungen auf dem Tempelhofer Feld durch, deren Hauptaugenmerk auf den materiellen Spuren des 20. Jahrhunderts lag, insbesondere den Überresten der nationalsozialistischen Zwangsarbeitslager. Noch immer prägt der ehemalige Flughafen das Erscheinungsbild des Feldes. Aber auch die weniger bekannte Vergangenheit ist nicht spurlos verschwunden. Nur knapp unter der Rasenfläche liegen ihre Relikte verborgen. Schichten voller Geschichte. Die Archäologie bietet die Chance, insbesondere die Ungerechtigkeiten weiter zu erforschen, denen Menschen hier während der Nazi-Zeit ausgesetzt waren, indem die materiellen Hinterlassenschaften aufgedeckt werden und an das vergangene Leid erinnern. Archäologie-Studierende bei der Freilegung von Resten der Wohnbaracken (E. Collins/LDA). Sarggriff aus dem Garnisonfriedhof – Weinglas aus der Flughafengastronomie der 1920er und 30er Jahre – Erkennungsmarke und Zahnpastatube von US-Soldaten (J. Meyer). 6 Ab 1939/40 produzierten und reparierten die Firmen Weserflug und Lufthansa auf dem Tempelhofer Feld Kampfflugzeuge für die Luftwaffe. Die über 2000 Menschen, die unfreiwillig für Nazi-Deutschland ausgebeutet wurden, waren in drei Lagern auf dem Feld eingesperrt. Historische Quellen bestehen v.a. aus Bauplänen, administrativen Dokumenten und Luftbildern. Es gibt nur sehr wenige ehemalige Zwangsarbeiter_innen, die über ihr Leben in Tempelhof berichtet haben. Ziel der Ausgrabungen war, durch wissenschaftliche Analysen der Funde einen tieferen Einblick in die Infrastruktur der Lager, v.a. aber die Wohnsituation und den Alltag der Zwangsarbeiter_innen zu gewinnen. 7 Fünfundzwanzig Untersuchungsflächen wurden ausgegraben. In ihnen kamen die Reste abgerissener und zerbombter Baracken, verstürzte Luftschutzgräben, Müllgruben, aber auch Gebäudereste des alten Zentralflughafens, Gräber des Garnisonfriedhofs und Abfalldeponien der US-Militärbasis zu Tage, sowie eine enorme Menge an Funden. Über 90 000 Artefakte wurden geborgen und inventarisiert. Welches Potential die gerade angelaufene wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Relikte in sich birgt, zeigen die nächsten Seiten. Tempelhof 1945 und 2016: Ausgrabungen erfolgten (1) im Lager Lilienthalstraße, (2) dem sogenannten Richthofen-Gemeinschaftslager, (3) dem Lager Berliner Straße, (4) dem ehemaligen Standort des KZ Columbia und (5) im alten Zentralflughafen. (6) markiert das neue Flughafengebäude. Die archäologischen Untersuchungsflächen sind rot markiert, die Umrisse der Lager türkis (B. Hausmair/FU, Hintergrund: Google Earth). 8 Fundreinigung, Verwaltung, Dokumentation (Fotos: J. Meyer; Zeichnung: B. Nordheim). 9 Wer waren die Menschen in den Lagern? Wegen mangelnder historischer Quellen ist bis heute nur wenig darüber bekannt, wer die Menschen in den Tempelhofer Lagern waren. Pläne des Richthofen-Gemeinschaftslagers am Columbiadamm zeigen die geplante Ausdehnung der Anlage und welche Zwangsarbeiter_innen darin untergebracht werden sollten: französische Kriegsgefangene und russische Arbeiter_innen, aber auch Mitglieder der deutschen Belegschaft. Zeitzeug_innenberichte und historische Dokumente belegen, dass auch Kinder in dem Lager lebten. Unterirdisch verlegter Stacheldraht in Bauanleitungen des Heeres-Oberkommandos (1942). Zudem zeigen Analysen von zeitgenössischen Luftbildern deutlich, dass das Lager nicht in allen Bereichen entsprechend der Planung umgesetzt wurde. Mehrere projektierte Baracken wurden nicht gebaut. Erst archäologische Vergleiche der ausgegrabenen Gebäudereste mit Planunterlagen können Aufschlüsse über die tatsächlichen Wohnbedingungen und Infrastruktur in den Lagern liefern. Unter den nicht gebauten Baracken (orange) waren u.a. auch solche, die der hygienischen Verbesserung der Zustände dienen sollten. Auch der Zaun im „Russenlager“ (grün) ist auf dem Plan nicht verzeichnet (o: BArch; u: NCAP). Unterirdisch verlegter Stacheldraht während der Ausgrabung 2013 (E. Collins/LDA). Knopf einer französischen oder belgischen Marineuniform (J. Meyer). Erst die Ausgrabungen zwischen Baracken für russische Männer zeigen, dass hier nicht Zivilisten, sondern Kriegsgefangene eingesperrt waren. Unterirdisch verlegter Stacheldraht, der zwischen den Gebäuden gefunden wurde, entspricht den Bauvorschriften des Nazi-Regimes für Unterkünfte gefangener Soldaten der Roten Armee. Untersuchungen von persönlichen Gegenständen von Zwangsarbeiter_innen erbringen zusätzliche Informationen zu deren Herkunft. 10 11 Zwangsarbeit und Kontrolle Eine reibungslose Rüstungsproduktion war für die Firmen und das Nazi-Regime kriegswichtig. Um sie zu garantieren, mussten die Zwangsarbeiter_innnen oft extrem lange Schichten in den Montagehallen arbeiten und waren nicht selten der gewaltsamen Kontrolle der Aufseher ausgesetzt, wie Stanislawa Michalowska, eine der wenigen Zeitzeug_innen, berichtet. Dokumente der Gestapo belegen, dass die Firma Weserflug eigene Gefängniszellen im Lager hatte und eingesperrte Arbeiter_innen von der Gestapo abholen ließ. „Die Arbeit … endete je nach Bedarf … ich arbeitete 8, 12, 24 oder 36 Stunden lang. Der Leiter der Halle … war Herr Labuch, ein aggressiver Mensch, der die Arbeiter oft schlug, ein Mensch vor dem alle Angst hatten.“ Stanislawa Michalowska wurde in Polen geboren, von den Nazis nach Berlin verschleppt und musste dort in den Tempelhofer Flugzeugwerken bis 1945 unter Zwang arbeiten. (Berliner Geschichtswerkstatt EV). Bei den Grabungen 2012 werden Kellerräume des alten Zentralflughafens gefunden, in denen zur Nazi-Zeit Flugzeuge montiert wurden (J. Meyer). Die Kontrolle der Arbeiter_innen zeigt sich auch in den Funden. Bei Blechplättchen mit Nummern könnte es sich um Werkzeugmarken handeln, die bei Arbeitsbeginn mit den Werkzeugen ausgehändigt wurden, um deren Zirkulation zu kontrollieren und Entwendungen zu unterbinden. In den Lagern zeugen nicht nur unzählige Stacheldrahtreste und Vorhängeschlösser von der umfassenden Bewachung. Reste von Handschweinwerfern stammen von den Kontrollgängen des Wachpersonals. Zwangsarbeiter_innen fanden dennoch immer wieder Möglichkeiten, die Kontrollen zu umgehen, wie Werkzeuge aus den Wohnbaracken nahelegen, die wohl unautorisiert von den Arbeitsplätzen mitgenommen wurden. Hier macht Archäologie subversives Handeln sichtbar. Werkzeugmarken aus dem Richthofen-Gemeinschaftslager (J. Meyer). Die Flugzeuge werden in den Hallen des alten und neuen Flughafens montiert (HAAOB). Stacheldraht – Zange – Scheinwerfer – Vorhängeschloss – Schraubenzieher (J. Meyer) 13 Leben im Lager Über den Lageralltag ist aus historischen Quellen kaum etwas bekannt. Hier erlauben Gegenstände des täglichen Gebrauchs und Abfälle einen Einblick in die Versorgung der Zwangsarbeiter_innen und der deutschen Belegschaft. Persönliche Gegenstände aus den Baracken werden außerdem Aufschlüsse darüber liefern, was Menschen mit sich brachten, wenn sie in die Lager verschleppt wurden, oder welche Objekte sie dort selbst herstellten oder von außerhalb des Lagers beschaffen konnten – wertvolle Einblicke in die Alltagspraxis in der Gefangenschaft, die anderweitig kaum dokumentiert sind. So stehen Porzellanfunde aus dem Bereich des Lilienthallagers, in dem auch die deutsche Belegschaft verköstigt wurde, in starkem Kontrast zu minderwertigem Blechgeschirr aus den Bereichen der Zwangsarbeiter_innen. Die Analyse der Funde – Essensreste wie Tierknochen eingeschlossen – wird zeigen, ob bzw. wie unterschiedlich die Versorgung der Zwangsarbeiter_innen in den verschiedenen Lagerbereichen war. Menschen aus Osteuropa galten in Nazi-Deutschland als minderwertig und waren auf Anweisung des Regimes schlechter zu behandeln als Gefangene aus Frankreich oder anderen westeuropäischen Ländern. Handgefertigte Spielsteine, Murmeln und eine Mundharmonika verraten, wie sich die Arbeiter_innen in der wenigen arbeitsfreien Zeit im Lager beschäftigten (J. Meyer). Kantinengeschirr des „Amtes für die Schönheit der Arbeit“ für deutsche Mitarbeiter_innen und Blechgeschirr aus den Zwangsarbeitsbaracken (J. Meyer). Zahlreiche Bügelverschlüsse von Bierflaschen aus einer Baracke für französische Kriegsgefangene deuten auf unautorisierten Alkoholkonsum hin. In den Baracken russischer Gefangener fehlen vergleichbare Funde (J. Meyer). Oben: 2013 werden die Fundamente und Innenbereiche von vier Baracken des Richthofen-Gemeinschaftslager teilweise ausgegraben (E. Collins/LDA). Das Richthofen-Gemeinschaftslager 1944 (SAB). Luftschutzgräben – Ambivalente Räume Anleitung zum Bau von Luftschutzanlagen in Fertigbauweise, c. 1944 (OT Heft 1, S. 11). Mehrere Luftschutzgräben werden 2012-2014 abschnittsweise ausgegraben (J. Meyer; J. Trenner/LDA). Wegen der Bombengefahr wurden in allen Lagern Luftschutzgräben gebaut – weniger um Menschenleben zu schützen, als um die billigen Arbeitskräfte nicht zu verlieren. Oft mussten die Menschen stundenlang in schmalen Tunneln ausharren, bis die Angriffe vorbei waren. Was nahm man bei Fliegeralarm mit und was machte man in all der Zeit auf so engem Raum? Ein Rosenkranz weist auf Gebete hin, mit denen man versuchte, die Gefahr des Bombenhagels zu bannen. Aber auch Gegenstände für Körperpflege stammen aus den Gräben. Die Anlagen scheinen aber auch für ganz andere Aktivitäten genutzt worden zu sein, wie etwa ein Kondom vermuten lässt. Möglicherweise hatten Arbeiter_innen aus dem Lager eine Liebesbeziehung begonnen und hier einen geheimen Rückzugsort gefunden. Wahrscheinlicher ist, dass der Fund auf sexuelle Gewalt durch einen Aufseher verweist – in Lagern der Nazis keine Seltenheit. Sex mit „fremdrassigen“ Menschen galt aber als Blutschande und wurde hart bestraft. Eine Schwangerschaft oder Ansteckung mit Krankheiten wäre ein großes Problem gewesen, weshalb ein Gewalttäter vermutlich diese Konsequenzen zu verhindern versucht hätte. Funde wie das Kondom geben keine präzise Geschichte preis, aber sie verweisen auf Aktivitäten, die nicht vom Regime oder den Lagerbetreibern geduldet waren. Präservative waren leicht an vielen öffentlichen Orten, wie Bahnhöfen, aus Automaten zu besorgen (J. Meyer). Ein im Luftschutzgraben verlorener Kamm trägt das eingeritzte Datum 19.6.42. An diesem Tag wurde Tempelhof nicht bombardiert. Vielleicht ritzte ein(e) Arbeiter_in hier das Anfangsdatum des Zwangsdienstes ein (B. Nordheim). Fragmente eines Rosenkranzes aus einem Luftschutzgraben (J. Meyer). 16 17 Bombenhagel im archäologischen Befund Die Archäologie des 20. Jahrhunderts ist sehr jung. Es gibt noch kaum Erfahrungswerte, wie Bombenschäden im archäologischen Befund aussehen und welche Auswirkungen die Druckwelle und Hitzeentwicklung auf Barackenbauten der 1940er Jahre hatten. Eine Vielzahl der geborgenen Funde stammt aus bombengeschädigten Gebäuden oder deren Umgebung – verschmolzenes Glas, verkohltes Baumaterial, angeschmorte Armaturen. Analysen zu Verbrennungsgraden und die räumliche Verteilung unterschiedlich schwer beschädigter Objekte in Relation zu den auf Luftbildern sichtbaren Bombentreffern werden hier erstmals Einblicke in archäologische Formationsprozesse ermöglichen, die durch industrielle Kriegsführung geprägt sind. Verschmorte und durch Hitze zerstörte Funde aus den Lagern (J. Meyer). B-17 Bomber der US Air Force beim Angriff auf Berlin, 1944 (NARA). Im Laufe des Krieges wurden die Rüstungsbetriebe und Lager in Tempelhof immer wieder Ziel von Luftangriffen der Alliierten. Die Bomben richteten schwere Schäden an. Das Barackenlager am Columbiadamm musste bereits 1944 geschlossen werden, weil es durch Brandbomben weitgehend zerstört war. Der zerbombte Flughafen Berlin-Tempelhof, Anfang Mai 1945 (Fotokorrespondent Timofej Melnik, Museum Berlin-Karlshorst). 1945 ist nur das Lager Berliner Straße noch teilweise intakt, aber auch hier haben Bombeneinschläge (orange) schwere Schäden angerichtet (B. Hausmair/FU, Hintergrund: Google Earth). 18 KZ Columbia – Präsenz der Absenz Tempelhof war während der Nazi-Zeit nicht nur ein Ort der Unfreiheit, es war auch ein Ort des Mordens und NS-Terrors. 1933/34 wurde in der ehemaligen Militär-Arrest-Anstalt am nördlichen Flughafenrand ein Gestapo-Gefängnis und später das KZ Columbia eingerichtet – eines der ersten „wilden“ Konzentrationslager, in dem Regimegegner bis 1936 gefoltert und ermordet wurden. Im Februar 1938 sind die Bauarbeiten für den neuen Flughafen voll im Gange. Das Columbia-Haus wird nur wenige Monate nach dieser Aufnahme abgerissen (ABFG). Das Gebäude wurde bereits 1938 abgerissen, wie auch aus historischen Akten hervorgeht. Es musste dem Monumentalbau des Flughafens weichen. Grabungen im Bereich des Columbia-Hauses zeigen, wie umfangreich dieser Abriss war. Außer einem verstürzten Mauerstück und ein paar wenigen Bodenfliesen waren kaum Spuren des ursprünglich so massiven Gebäudes mehr erhalten. Archäologisch mag dieser Befund zunächst enttäuschend wirken. Aber gerade durch das Fehlen jeglicher anderer Spuren des KZ und durch das Zusammenspiel der wenigen Funde mit Erinnerungen von Opfern des Nazi-Terrors erhalten diese wenigen Objekte eine besondere Authentizität. Die Militär-Arrest-Anstalt, späteres KZ Columbia, im Süden der Kaserne (Straube Stadtplan, 1905). Fliesen, die höchstwahrscheinlich aus den Fluren des KZ stammen (J. Meyer). Kurt Hiller, der 1933 im Columbia-Haus festgehalten wurde, erinnert sich an diesen Belag: „Ich muss den Korridor scheuern, man tritt mich ins Schmutzwasser; ich muss ihn mittels eines defekten Besens fegen und dreißig oder vierzig Meter lang jedes Strohpartikelchen, noch das mikroskopisch kleinste, mit den Fingern aus den Fliesenrillen lesen. Ich muss diesen Korridor gelegentlich auch auf allen Vieren entlangkriechen.“ (Hiller 1990, 96) Historische Dokumente zeigen, dass der komplette Abriss des KZ Columbia detailliert geplant war (ABFG). 20 Die letzten Reste des Columbia-Hauses werden 2013 entdeckt (E. Collins/LDA). 21 Archäologie gegen das Vergessen Objekte aus historischen Kontexten haben eine besondere Aura. Sie verkörpern vergangene Lebensrealitäten und ermöglichen so einen sinnlich erfahrbaren Brückenschlag zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Damit werden archäologische Untersuchungen zu einer Arbeit gegen das Vergessen. Die Verbrechen des Nazi-Regimes haben Menschen aus ganz Europa geprägt und wirken bis heute nach. Die bewusste Auseinandersetzung mit den historischen Dimensionen und die Erinnerung an die Opfer ist von großer gesellschafspolitischer Wichtigkeit, um zu einer demokratischen und toleranten Zukunft beizutragen. Archäologie und die Materialität der Dinge machen diese Ungerechtigkeiten sichtbar, greifbar und geben ihnen eine unleugbare Gewissheit. Diese wird untermauert durch moderne wissenschaftliche Auswertungsmethoden wie GIS und Statistik in Verbindung mit Archivrecherchen. Schon während der Grabungen waren das öffentliche Interesse und die Anteilnahme von Besucher_innen sehr groß. Interessierte Menschen wurden durch Führungen, Medienberichte und Vorträge über die Untersuchungen informiert. Die Auswertung des Tempelhofer Fundmaterials zielt primär auf den detaillierten historischen Erkenntnisgewinn ab. Sie macht aber ebenso die Relikte der Zwangsarbeit für die Vermittlungsarbeit in Gedenkstätten und Museen zugänglich. Die Funde eignen sich als „erzählende“ Objekte für Ausstellungen, als „Geschichte zum Greifen“ für pädagogische Workshops mit Jugendlichen, oder als Medien für künstlerische Projekte, um die schwierige Vergangenheit des Feldes vor Ort wieder sichtbar zu machen. Zur Archäologie der Zwangsarbeit am Tempelhofer Feld sind bisher erschienen: R. Bernbeck. Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. 2017. R. Bernbeck / S. Pollock. Funde aus Zwangsarbeiterlagern in Berlin-Tempelhof und ihr Zusammenhang mit einer Geschichte des Leidens. Blickpunkt Archäologie 2015 (3): 184–192. R. Bernbeck / J. Haspel / S. Pollock / J. Trenner / K. Wagner / D. Wollenberg. Pars pro toto – der Denkmalort Flughafen Berlin-Tempelhof. In LDA Berlin (Hg.): Zwischen Welterbe und Denkmalalltag – Jahrestagung 2014. 2015: 94–119. C. Boeckh / A. Schmidt. Archäologische Grabungen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Geschichte. Filmdokumentation. 2014. M. T. Starzmann. Zeitschichten/Bedeutungsschichten: Archäologische Untersuchungen zur NS-Zwangsarbeit in Berlin-Tempelhof. Historische Archäologie 2015 (2): 1–19. J. Trenner / E. Collins. Tempelhofer Flugfeld – die dunklen Seiten eines Rüstungsbetriebs. Archäologie in Deutschland 2014 (2): 64–67. 22 Förderung Das Projekt „Archäologie am Tempelhofer Flugfeld“ wird vom Landesdenkmalamt Berlin gefördert. Die Ausgrabungen wurden mit Unterstützung der Tempelhof Projekt GmbH und der Firma Grün Berlin durchgeführt. Der Druck dieser Broschüre wurde durch die Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts unterstützt. Projektteam Prof. Susan Pollock, FU Berlin Prof. Reinhard Bernbeck, FU Berlin Dr. Barbara Hausmair, FU Berlin Abbildungsverzeichnis Frontcover: oben: Google Earth Pro V 7.1.8, Flughafen Tempelhof, Berlin, Deutschland, 19.03.1945, 52°28’30.92’’N, 13°24’04.87”O, Sichthöhe 3.55km, Bild US National Archives, Bild © 2017 The Geoinformation Group, Download: [17.07.2017]; unten: J. Meyer | S. 2: J. Meyer | S.4: oben: Privatarchiv Bernbeck/Pollock; unten: Hofkunstanstalt A. Frisch 1911 | S. 5: oben: US Air Force Historical Research Agency (AFHRA)/7070119-F-0000R-101: USGOV-PD; unten: Archiv Berliner Flughafen-Gesellschaft (ABFG) | S. 6: oben: E. Collins/Landesdenkmalamt Berlin (LDA); unten: J. Meyer | S. 7: E. Collins/LDA | S. 8: B. Hausmair (Hintergrund: Google Earth Pro, Tempelhof 1945 - s. o.; Google Earth Pro V 7.1.8, Flughafen Tempelhof, Berlin, Deutschland, 07.06.2016, 52°28’30.92’’N, 13°24’04.87”O, Sichthöfe 3.55km, Bild © Google Earth, Download: [19.10.2017]); unten: E. Collins/LDA | S. 9: oben und li/mi unten: J. Meyer; re unten: B. Nordheim | S. 10: oben: Bundesarchiv (BArch)/Bestand R 4606, Akt 4916; unten: UK National Collection of Aerial Photography (NCAP)/Sortie E 0138, Frame 4094 | S. 11: oben: Behelfsmäßiges Bauen im Kriege 2: Ergänzungs- und Sonderbauten, hg. Oberkommando des Heeres HVA, Leipzig, 1942, Abb. 27; li unten: E. Collins/LDA; re unten: J. Meyer | S. 12: oben: J. Meyer; unten: Historisches Archiv Airbus Operations Bremen (HAAOB) | S. 13: oben: J. Trenner/LDA; unten: J. Meyer | S. 14: oben: J. Meyer; unten: Staatsarchiv Bremen (SAB)| S. 15: oben: J. Meyer | S. 16: oben: E. Collins, J. Trenner/LDA; unten: J. Meyer | S. 17: oben: OT Luftschutzbauten Heft 1, LS-Gräben, hg. Organisation Todt und E. Neufert, c. 1944, S. 11; mittig: J. Meyer; unten: B. Nordheim | S. 18: oben: US National Archives and Records Administration (NARA)/197269; unten: B. Hausmair (Hintergrund: Google Earth, Tempelhof 1945, s.o.) | S. 19: oben: J. Meyer; unten: T. Melnik/Museum Berlin-Karlshorst | S. 20: oben: Stadtplan Berlin, hg. Verlag Julius Straube, Berlin, 1905; li unten: J. Meyer; re unten: K. Hiller, „Schutzhäftling 231“. In: Columbia-Haus. Berliner Konzentrationslager 1933-1936, Berlin, 1990, S. 87–104, hier: S. 96 | S. 21: oben, li unten: ABFG; re unten: E. Collins/LDA | S. 23: li oben: Google Earth Pro V 7.1.8, Flughafen Tempelhof, Berlin, Deutschland, 01.01.1943, 52°28’30.92’’N, 13°24’04.87”O, Sichthöhe 3.55km, Bild © 2017 The Geoinformation Group, Download: [08.08.2017]; re oben, li mittig: J. Meyer; re mittig: S. Pollock; li unten: R. Bernbeck; re unten: . Hausmair (Hintergrund: Google Earth Pro, Tempelhof 1945; Google Earth Pro V 7.1.8, Flughafen Tempelhof, Berlin, Deutschland, 21.08.2010, 52°28’30.92’’N, 13°24’04.87”O, Sichthöfe 3.55km, Bild © 2017 AeroWest, Download: [08.08.2017] | Backcover: E. Collins/LDA. Wir haben uns um Einholung aller Bildrechte bemüht. Da die Urheber und Urheberinnen nicht in allen Fällen eindeutig auszumachen waren, werden Ansprüche nach Geltendmachung von der Projektleitung erstattet. Impressum Text und Redaktion: Dr. Barbara Hausmair, FU Berlin Layout: Barbara Huber, FU Berlin; Anke Reuter, Deutsches Archäologisches Institut, Eurasien-Abteilung Druck: xxx Auflage: 1000 24