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RGOW 3 / 2017 45. Jahrgang Religion & Gesellschaft IN OST Zwischenbilanzen Usbekistan, Polen, Ukraine Perestrojka à la Usbekistan? 10 Justizreform in Polen 12 Die Ukraine und die vatikanische Ostpolitik 16 UND WEST 2 EDITORIAL Nr. 3 2017 RGOW I N H A LT 3 I M F O K US Stefan Kube Rückblick auf Havanna und Perspektiven des Dialogs 4 10 RU N DS C H AU US B E K I S TA N Vor gut einem Jahr fand die historische Begegnung zwischen Papst Fran- Ataman Burnash Perestrojka à la Usbekistan? erste Zwischenbilanz zu ziehen, wie sich seitdem der Dialog zwischen POLEN 12 14 Liebe Leserin Lieber Leser ziskus und Patriarch Kirill auf Kuba statt. Es ist also an der Zeit, eine der katholischen Kirche und der Russischen Orthodoxen Kirche entwickelt hat. Dies war auch der Beweggrund für ein Treffen zwischen dem Justyna Zając Justizreform in Polen Leiter des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metro- L I TAU E N Ökumene im Vatikan, am ersten Jahrestag der historischen Begegnung Jürgen Buch Das multireligiöse Erbe von Kėdainiai polit Ilarion (Alfejev), und Kardinal Kurt Koch, verantwortlich für die in Fribourg (s. in diesem Heft, S. 3). Der Kardinal sprach dabei von einem „Hoffnungszeichen“, das die zwischenkirchlichen Beziehungen intensi- UKRAINE viert habe. Metropolit Ilarion würdigte die Gemeinsame Erklärung der Gerhard Simon Die Ukraine und die vatikanische Ostpolitik beiden Kirchenoberhäupter als Charta und Richtschnur für den weiteren 16 Tatjana Hofmann Dem Kulturleben der Krim auf der Spur hard Simon die Gemeinsame Erklärung: Deren Abschnitte zur Ukraine 18 RU M Ä N I E N 20 Jürgen Henkel Wen(n) zu viel Ökumene stört K AU K A SUS 22 26 28 30 31 Ansgar Jödicke, Andrea Friedli, Ketevan Khutsishvili Das Lomisoba-Fest: Volksreligiosität und Kirche in Georgien Irene Suchy Spiritualität und Patriotismus – der Klang des Glaubens ökumenischen Dialog. Kritisch kommentiert dagegen der Historiker Gerspiegelten weitgehend die Moskauer Lesart der politischen und kirchenpolitischen Verhältnisse in der Ukraine wider und vermieden es, klar Stellung zu beziehen, wer Opfer und wer Aggressor im Krieg im Donbass sei (s. in diesem Heft, S. 16–17). Um Zwischenbilanzen ganz anderer Art geht es auch in weiteren Beiträgen der vorliegenden Ausgabe: Nach dem Tod des usbekischen Langzeitherrschers Islam Karimov, der das Land seit der Unabhängigkeit ein Vierteljahrhundert mit eiserner Hand regiert hatte, stellt sich die Frage, in welche Richtung sich Usbekistan zukünftig entwickelt. Die ersten Maßnahmen des neuen Präsidenten Shavkat Mirsijojev sind widersprüchlich, worauf Ataman Burnash hinweist: Auf der einen Seite hat er langjährige politische Gefangene frei gelassen und Bereitschaft zu Reformen RUSS L A N D signalisiert, auf der anderen Seite stehen grundlegende strukturelle Roman Lunkin Orthodoxe Charismatiker: Mit Mozart gegen Stalin Veränderungen immer noch aus. So übt der Nationale Sicherheitsdienst weiterhin fast unbegrenzte Macht und Kontrolle über alle Aspekte des politischen und ökonomischen Lebens aus. – Eine grundlegende struk- B U C H B ES P R EC H U N G E N turelle Veränderung strebt dagegen die Regierungspartei Recht und Alexander Agadjanian (ed.) Armenian Christianity Today Gerechtigkeit (PiS) mit ihrer Justizreform in Polen an. Ihr erstes Regie- Ilja Karenovics Weisheitsfreunde. Der Kreis der „Ljubomudry“ 1820–1830 das die PiS unter ihre Kontrolle zu bringen versucht. Mit der Justizreform Myroslava Rap The Public Role of the Church in Contemporary Ukrainian Society rungsjahr war vor allem vom Konlikt um das Verfassungsgericht geprägt, drohen so eine Politisierung der Justiz und eine Aushebelung der Gewaltenteilung, wie Justyna Zaj̨c berichtet. Last but not least haben wir auch unsere eigene Zwischenbilanz in Form unseres Jahresberichts 2016 erstellt. Dieser ist online unter www.g2w.eu abrufbar oder kann bei uns im Institut bestellt werden. Die Zeitschrift RGOW wird vom Institut G2W, Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft herausgegeben, das vom gleichnamigen Verein getragen wird. © Nachdruck von Texten und Übernahme von Bildern nur mit Genehmigung der Redaktion. Stefan Kube, Chefredakteur Nr. 3 2017 RGOW IM FOKUS Stefan Kube RÜCKBLICK AUF HAVANNA UND PERSPEKTIVEN DES DIALOGS Der Ort des Treffens war dieses Mal nicht ganz so exotisch wie vor einem Jahr. Um der Begegnung zwischen Papst Franziskus und Patriarch Kirill am 12. Februar 2016 am Flughafen von Havanna zu gedenken (s. RGOW 3/2016, S. 4–7), hatten Metropolit Ilarion (Alfejev) und Kardinal Kurt Koch die Universität Fribourg ausgewählt. Dort fand zum ersten Jahrestag der Begegnung der beiden Kirchenoberhäupter ein Festakt statt, an dem der Leiter des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats und der im Vatikan für die Ökumene zuständige Kardinal auf die in Havanna verabschiedete „Gemeinsame Erklärung“ zurückblickten und Perspektiven des orthodox-katholischen Dialogs ausloteten. Metropolit Ilarion und Kardinal Koch hatten das Treffen auf Kuba maßgeblich mit vorbereitet und waren neben den beiden Dolmetschern die einzigen Anwesenden bei der privaten Unterredung zwischen Papst Franziskus und Patriarch Kirill gewesen. Wer allerdings gehofft hatte, Näheres über deren Gespräch zu erfahren, wurde enttäuscht – Kardinal Koch stellte klar, dass sie nicht befugt seien, über die Inhalte der Unterredung zu sprechen. Im Mittelpunkt der Vorträge von Metropolit Ilarion und Kardinal Koch standen vielmehr der Weg nach Havanna, der Ablauf des Treffens von vor einem Jahr, die wesentlichen Aussagen der Gemeinsamen Erklärung sowie weitere Schritte im zwischenkirchlichen Dialog. Pastoraler Text den einzelnen orthodoxen Landeskirchen besprochen, sondern „multilateral mit der Orthodoxen Kirche in ihrer Gesamtheit“, wobei selbstverständlich beide Dialogebenen zusammenhängen und sich ergänzen müssen. Streitfall Ukraine Unterschiede zwischen Metropolit Ilarion und Kardinal Koch zeigten sich vor allem in der Interpretation der beiden Paragraphen der Gemeinsamen Erklärung zur politischen und kirchlichen Situation in der Ukraine (§§ 26–27). Metropolit Ilarion begrüßte zwar, dass die Erklärung den Uniatismus als Methode der Vergangenheit zur Kircheneinheit zurückweist, gleichzeitig übte er jedoch scharfe Kritik an der Ukrainischen GriechischKatholischen Kirche: „Wir wissen jedoch, wie gereizt die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche auf die Begegnung zwischen Papst Franziskus und Patriarch Kirill reagiert hat, insbesondere auf die Aussagen der Erklärung, die unmittelbar die Ukraine und die Frage der ‚Union‘ betreffen. […] Wieder und wieder, trotz der unter großen Anstrengungen erreichten Vereinbarungen auf hoher Ebene zwischen der Orthodoxen und der Katholischen Kirche bringt die ‚Union‘ sich in Erinnerung als Kraft, die Feindschaft und Hass sät und systematisch und konsequent die Aussöhnung zwischen Ost und West behindert. Daher sind wir der Überzeugung, dass die Diskussion über die Frage der ‚Union‘, die im Rahmen des theologischen Dialogs zwischen der römischkatholischen Kirche und der Orthodoxen Kirche begonnen hat, weitergeführt und zu ihrem konsequenten Abschluss gebracht werden sollte.“ Dagegen war Kardinal Koch eher bemüht, beim Thema Ukraine zu deeskalieren: „Eigentlich sprechen nur zwei sehr kurze Abschnitte über die Ukraine […]. Diese Abschnitte sind vor allem ein Appell an Frieden und Versöhnung, deren Förderung die gemeinsame Sendung unserer Kirchen darstellt. Es war nicht das Anliegen einer gemeinsamen Erklärung, noch dazu pastoraler Art, und konnte auch nicht ihr Anliegen sein, die eventuelle Verantwortung den einen oder anderen zuzuschieben. Aber ich gebe zu, dass diese Abschnitte sehr knapp gehalten sind, und dass diese Knappheit nicht zu ihrem Verständnis beigetragen hat, insbesondere in einer so schmerzlichen Situation, wie sie zur Zeit unsere ukrainischen Brüder und Schwestern durchleben und erleiden.“ Mit Blick auf die Äußerungen von Metropolit Ilarion ging Kardinal Koch dann noch – ergänzend zum vorher ausgeteilten Redemanuskript – näher auf die Situation in der Ukraine ein und mahnte einen historischen Dialog zwischen den Kirchen zur „Reinigung des Gedächtnisses“ und einen Dialog über die aktuellen Schwierigkeiten an. Einigkeit herrschte bei den ökumenischen Perspektiven nach Havanna; sowohl Metropolit Ilarion als auch Kardinal Koch maßen einer „Ökumene der Heiligen“ große Bedeutung zu. Es sei unerlässlich, dass sich die Gläubigen „mit der geistlichen Erfahrung und den Heiligtümern der anderen Kirche“ auseinandersetzten, um alte Vorurteile abzubauen, so Metropolit Ilarion. Zudem hoben beide Würdenträger die gegenseitigen Studienbesuche junger orthodoxer und katholischer Priester in Rom und Moskau hervor, die ebenfalls zum besseren Verständnis der jeweils anderen Tradition beitrügen. Beide würdigten das Zusammentreffen von Papst und Patriarch als „historisch“, wobei Metropolit Ilarion hervorhob, dass dieses erst nach einem langen Vorbereitungsweg möglich geworden sei und das heutige „Maß an Vertrauen und gegenseitigem Verständnis“ zwischen den beiden Kirchen widerspiegele. Zum Zustandekommen der Begegnung trug auch bei, dass diese – wie es in der Gemeinsamen Erklärung heißt – „weit weg von den alten Auseinandersetzungen der ‚Alten Welt‘“ stattfand. Kardinal Koch ließ anklingen, dass die Wahl eines gleichsam „neutralen“ Ortes außerhalb von Europa vor allem für die russische Seite von entscheidender Bedeutung gewesen war. Bei ihrer Kommentierung der Gemeinsamen Erklärung setzten Metropolit Ilarion und Kardinal Koch unterschiedliche Akzente: Ersterer unterstrich, dass der „wichtigste Beweggrund“ für das Treffen die „tragische Situation“ der Christen im Nahen Osten und in Nordafrika gewesen sei, um die politisch Verantwortlichen wachzurütteln. Als zweiten zentralen Punkt der Erklärung hob der Außenamtschef die Paragrafen zum Thema Ehe, Familie und Kinder hervor (§§ 19–23), die „die Grundlage jeder gesunden Gesellschaftsordnung“ skizzierten: „Als Antwort auf die beunruhigenden Tendenzen in einer Zahl von westlichen Ländern, ‚alternative Formen des Zusammenlebens‘ auf dieselbe Stufe zu stellen wie die traditionelle Familie, haben die Oberhäupter der beiden Kirchen in Übereinstimmung mit der zweitausendjährigen christlichen Tradition unterstrichen, dass gerade die Familie als Bund zwischen Mann und Frau, in dem Kinder geboren werden, einen ‚Weg zur Heiligkeit‘ darstellt.“ Kardinal Koch betonte, dass die Zielsetzung der Gemeinsamen Erklärung nicht theologischer Natur sei, sondern diese vielmehr als pastorale Erklärung gelesen werden müsse. Daher treffe sie auch keine Aussagen zu den Sakramenten, sondern Eine Dokumentation des Treffens vom 12. Februar 2017 in Frikonzentriere sich vor allem auf Themen vorwiegend sozialer bourg ist unter http://www.unifr.ch/iso/home/aktuelles#Havanna Natur. Die theologischen Fragen würden „nicht bilateral“ mit abrufbar. 3 4 R U N DS C H AU Nr. 3 2017 RGOW ÄGYPTEN Erste Weihe von Diakoninnen Patriarch Theodoros II. von Alexand- die Wiedereinführung des Diakoninnenria und ganz Afrika hat Ende Februar amts beschlossen und eine Kommission erstmals drei Katechetinnen und drei „zur Vertiefung der Frage“ eingesetzt (s. Nonnen zu Diakoninnen geweiht. Die RGOW 12/2016, S. 4). Zeremonie fand in der Kirche St. NicoDer emeritierte Athener Theologe las in der Bergbaustadt Kolwezi in der Evangelos Theodorou, der sich viele kongolesischen Provinz Katanga anläss- Jahre wissenschaftlich mit der Geschichlich Feierlichkeiten zum Namenstag des te der Diakoninnenweihe befasste, Patriarchen statt. Die neuen Diakonin- bezeichnete das Vorgehen des Patnen sollen vor allem in den Bereichen riarchen als „frischen und wichtigen Erwachsenentaufe, Ehevorbereitung Schritt“. Mit seiner Entscheidung habe und Katechese tätig sein. Die alexan- die Heilige Synode von Alexandria auf drinische Bischofskonferenz hatte an die drängenden pastoralen Notwenihrer Tagung vom 17. bis 19. November digkeiten der Gegenwart reagiert. Die Diakoninnen könnten unter der Leitung des Bischofs einen wichtigen Beitrag für die stark wachsende orthodoxe Kirche in Afrika leisten, vor allem in den Bereichen Seelsorge, Mission, Erziehung und Caritas. www.patriarchateofalexandria.com, 18. Februar; www.theorthodoxchurch.info, 25. Februar; Kathpress, 27. Februar; KNA-ÖKI 6. März 2017 – N. Z. BOSNIEN-HERZEGOWINA Päpstlicher Sondergesandter für Međugorje ernannt Papst Franziskus hat den polnischen Erzbischof von Warschau-Praga, Henryk Hoser, zum Sondergesandten für Međugorje ernannt, um mehr über das dortige Pilgerwesen zu erfahren. Hoser soll die pastorale Situation und die Bedürfnisse der Pilger untersuchen und daraus Empfehlungen für die Zukunft erarbeiten. Die Mission wird laut Vatikan „ausschließlich pastoralen Charakter“ haben. Das Phänomen der Privatoffenbarungen und die Rolle der inzwischen erwachsenen Seherinnen und Seher, die angeblich mit großer Häuigkeit weitere Marienbotschaften erhalten, gehören nicht zu Hosers Auftrag. Diese zu analysieren, ist Aufgabe der Glaubenskongregation, die 2010 von Papst Benedikt XVI. mit einer Untersuchung beauftragt worden war. Die Ergebnisse dieser Kommission, die von Kardinal Camillo Ruini geleitet wurde und sich vier Jahre mit dem Phänomen Međugorje beschäftigte, wurden jedoch bislang noch nicht veröffentlicht. Seit am 24. Juni 1981 sechs Kinder von Marienerscheinungen und übernatürlichen Botschaften berichteten, wurde der Ort in der westlichen Herzegowina zum Anziehungspunkt wachsender Pilgerscharen. Die Ortskirche verhielt sich nach ersten Überprüfungen zurückhaltend und lehnt ofizielle kirchliche Wallfahrten ab. Der zuständige Bischof Ratko Perić von Mostar-Duvno betonte Ende Februar in einem Hirtenbrief, die Marienerscheinungen seien nicht authentisch. Auch der Vatikan mahnt zu Vorsicht: Eine Anerkennung übernatürlicher Phänomene bleibe ausgeschlossen, solange diese noch im Gange seien. Dennoch wächst die Zahl der Međugorje-Pilger ständig – es sollen mehrere Millionen jährlich sein. Zudem indet in Međugorje inzwischen ein reges Frömmigkeitsleben statt, mit Gebeten und persönlichen Bekehrungen. Angesicht der Pilgerströme riet bereits 1991 die Bischofskonferenz Jugoslawiens zu einer angemessenen pastoralen Betreuung der Menschen, die Međugorje besuchten. Das Mandat für Hoser, das die bisherigen Untersuchungen komplettieren soll, sei bis zum kommenden Sommer begrenzt, heißt es in einer Erklärung des Vatikans. Der Erzbischof, der sich als neutraler Vermittler versteht, will Ende März erstmals nach Međugorje reisen, um seine Mission zu beginnen. Geplant sind Gespräche mit dem Apostolischen Nuntius in Bosnien-Herzegowina, dem Erzbischof von Sarajewo sowie dem Bischof von Mostar-Duvno, in dessen Zuständigkeitsbereich Međugorje liegt. In Međugorje selbst will Hoser sich mit den lokalen Franziskanern treffen, nicht aber mit den angeblichen Seherinnen und Sehern. www.radiovaticana.va, 11. Februar; Kathpress 12. Februar, 3., 6. März; www.md-tm.ba, 28. Februar 2017 – N. Z. GEORGIEN Georgische Muslime klagen gegen Diskriminierung Vier georgische Muslime haben Ende 2016 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Klage eingereicht, da sie sich aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit von den Strafverfolgungsbehörden in Georgien diskriminiert fühlen. Die vier Kläger waren 2014 verhaftet worden, nachdem sie einen Abriss der Moschee im Dorf Mokhe verhindert hatten. Zusammen mit anderen Protestierenden hinderten sie die Bauirma am Abriss des Gebäudes, worauf sie mit der Polizei in Konlikt gerieten. Von rund einem Dutzend damals verhafte- ter Demonstranten geben mehrere an, in der Haft misshandelt worden zu sein. Die betreffende Moschee wurde 2007 als Eigentum der Gemeinde registriert, nachdem sie während der sowjetischen Zeit für verschiedene andere Zwecke verwendet worden war, zuletzt als Dorfclub. RGOW R U N DS C H AU Angelegenheiten Ende 2014 eine Kommission ein. Neben dem Vorsitzenden der Behörde sind drei Vertreter der Georgischen Orthodoxen Kirche und vier Muslime der staatlich geförderten Administration der Muslime von ganz Georgien, der viele georgische Muslime misstrauen, Teil der Kommission. Dazu kommen der Gouverneur der Region Samtskhe-Javakheti, zwei Beamte der Nationalen Behörde zur Erhaltung des Kulturerbes und der Vorsteher der Gemeinde Endeladze, zu der Mokhe gehört. Die Vertreter, die die lokalen Muslime für die Kommission vorgeschlagen hatten, wurden nicht berücksichtigt. Die muslimische Bevölkerung von Mokhe glaubt, dass die Kommission gebildet wurde, um die Rückgabe der Moschee zu verhindern. Vertreter der lokalen orthodoxen Kirchgemeinde verlangen, dass die Moschee der Georgischen Orthodoxen Kirche übergeben wird. Sie begründen dies damit, dass die Steine, aus denen die Moschee erbaut wurde, von einem älteren Klosterbau stammen sollen. Nr. 3 2017 Seither bemühen sich die muslimischen Bewohner Mokhes, denen das Betreten des zerfallenden Gebäudes nicht erlaubt ist, verstärkt um die Restitution der Moschee. Von den ca. 75 Haushalten in Mokhe, in der südgeorgischen Region Samtskhe-Javakheti gelegen, ist rund die Hälfte muslimisch. Derzeit beten die Muslime in einem Raum in einem gemieteten Haus. Die steinerne Moschee wurde vermutlich in den 1930er Jahren als Nachfolgebau eines hölzernen Sakralgebäudes aus dem 19. Jahrhundert errichtet. Nach dem verhinderten Abriss setzte die staatliche Agentur für religiöse http://hudoc.echr.coe.int/eng? i=001-168451; Forum 18 News, 28. Februar 2017 – N. Z. Hl. Synod setzt „Medienbischof“ ab Nach einem mutmaßlichen Giftanschlag Den Verant wor tlichen für die auf das Oberhaupt der Georgischen Berichterstattung über die ganze AffäOrthodoxen Kirche, Katholikos-Patriarch re, „Medienbischof“ Petre (Tsava) von Ilia II., während eines Spitalaufenthal- Tschonkdidi, hat die Synode allerdings tes in Berlin ist eine Sondersitzung des seines Amtes als Leiter des kirchlichen Hl. Synods einberufen worden. Dieser Rundfunks enthoben. Er habe in seinem beschäftigte sich während drei Tagen Sender bei der Berichterstattung über in erster Linie mit den Hintergründen den versuchten Giftmord Patriarch Ilia II. des angeblichen Giftanschlags auf den beleidigend kritisiert und schwer ange84-jährigen Patriarchen. In der Frage griffen. Metropolit Petre gilt als einer des hauptverdächtigen Diakons Geor- der Führer des prorussischen Bischofsgi Mamaladze, des Chefs der kirchli- lügels in der Georgischen Orthodoxen chen Vermögensverwaltung, wurde Kirche. beschlossen, noch keine Kirchenstrafen An der Synode kam es auch zu hefzu verhängen, sondern das Ergebnis tigen Auseinandersetzungen zwischen der polizeilichen Ermittlungen bzw. ein ultrakonservativen und aufgeschlosseGerichtsurteil abzuwarten. Mamaladze neren Bischöfen. Letztere konnten den befindet sich seit dem 12. Februar in „Eiferern“ die Zustimmung zur ElektriUntersuchungshaft. izierung der georgischen Klöster mit Sonnenenergie abringen. Diese vordergründig technisch-praktische Entscheidung hat eine tiefere Tragweite: Die Klöster als eine Hauptstütze der kirchlichen Traditionalisten widersetzten sich der Einführung elektrischer Beleuchtung mit dem Hinweis, dass auch am beispielgebenden Heiligen Berg Athos noch weitgehend nur Kerzen und Petroleumlampen, also „natürliche, von Gott und nicht sündigen Menschen geschaffene Lichtquellen“ Verwendung fänden. Die Traditionalisten ließen sich aber davon überzeugen, dass auch die Nutzung von Sonnenenergie der gottgeschaffenen natürlichen Ordnung entspricht. KNA-ÖKI, 13. März 2017. GRIECHENLAND Griechenlands Kirche kommt Konzilsgegnern entgegen Angesichts der Agitation von Laientheologen und Mönchen, aber auch einzelnen Bischöfen gegen das Panorthodoxe Konzil von Kreta im Juni 2016 (s. RGOW 11/2016) und seine Beschlüsse hat sich die Heilige Synode der Orthodoxen Kirche von Griechenland in einem Hirtenbrief an alle Gläubigen gewandt. In ihm werden die Gültigkeit dieser „Heiligen und Großen Synode der Orthodoxie“ sowie die Richtigkeit ihrer Dekrete verteidigt. Einerseits verurteilt das Rundschreiben die Konzilsgegner aus Griechenlands antiökumenischem Lager als Kirchenspalter (Schismatiker), kommt ihnen aber auch mit manchen Umin- terpretationen der Konzilsergebnisse entgegen. So wird in dem Hirtenbrief erklärt, auf Kreta seien die gegen Katholiken und Protestanten gerichteten orthodoxen Kirchenversammlungen des 15. und 17. Jahrhunderts bestätigt und jene als „andersgläubige Häretiker“ eingestuft worden. Wenn das Konzil sich zur Fortführung des Dialogs mit den nichtorthodoxen Christen bekannt habe, so dürfe dieser einzig und allein einer Darlegung der unveräußerlichen orthodoxen Positionen dienen. Dagegen hat einer der wenigen Konzilsbefürworter in Griechenland, Metropolit Chrysostomos (Savvatos) von Kalamata, der auch an der Universität Athen Dogmatik lehrt, auf den komplexen Rezeptionsprozess eines jeden Konzils hingewiesen. So habe es schon beim ersten Ökumenischen Konzil von Nicäa (325) gut ein halbes Jahrhundert gedauert, bis es allgemein anerkannt worden sei. Kein Konzil sei bis zu seiner Verarbeitung und Verwirklichung in der Kirchengemeinschaft abgeschlossen, habe ein offenes Ende, das es noch auszufüllen gelte. Dasselbe müsse jetzt auch dem Konzil von Kreta zugestanden werden, so Metropolit Chrysostomos. KNA-ÖKI, 30. Januar, 13. März 2017. 5 6 R U N DS C H AU Nr. 3 2017 RGOW KOSOVO Imam wegen Anstiftung zu Terrorismus angeklagt Shefqet Krasniqi, der Imam der größten und ältesten Moschee in Prishtina, ist wegen Anstiftung zu Terrorismus angeklagt worden. Er habe in seinen Predigten und in sozialen Netzwerken „kontinuierlich und bewusst“ Gläubige dazu ermutigt, nach Syrien und in den Irak in den Jihad zu ziehen und dort terroristische Akte zu verüben, erklärte die Staatsanwaltschaft am 27. Februar. Zudem wirft sie Krasniqi die Anstiftung zu Hass und nationaler, rassistischer und religiöser Intoleranz sowie Steuerhinterziehung vor. In den letzten Jahren sind rund 300 Kosovaren nach Syrien und in den Irak gereist, um sich dort extremistischen Gruppen anzuschließen. Zudem sind offenbar vor allem in den Gefängnissen in Kosovo radikale religiöse Ansichten verbreitet. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in letzter Zeit entsprechend einem neuen Gesetz, das die Verwicklung in terroristische Aktivitäten unter Strafe stellt, Dutzende aus dem Nahen Osten zurückgekehrte Kosovaren und Männer, die in Kosovo für extremistische Gruppierungen rekrutiert haben, zu Haftstrafen verurteilt worden sind. Diese tragen jedoch auch zur Radikalisierung anderer Gefängnisinsassen bei. Neben Krasniqi wurden in letzter Zeit mehrere andere Imame radikaler Aussagen oder extremistischer Haltungen bezichtigt – 2016 wurde Zeqirja Qazimi, ein Imam aus Ferizaj, deshalb zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die Behörden Kosovos versuchen mit verschiedenen Mitteln, der Radikalisierung in den Gefängnissen entgegenzuwirken. Dabei arbeiten sie mit der Islamischen Gemeinschaft Kosovos (s. RGOW 2/2017, S. 22–23) zusammen. So untersuchte eine Gruppe von Muftis die Bibliotheken von neun Gefängnissen und entfernte vorhandene extremistische Literatur und ersetzte sie mit Büchern über den traditionellen Islam der Region. Zudem wollen die Muftis gemeinsam mit dem Justizministerium Imame für die Betreuung der Gefangenen aussuchen, um eine Einflussnahme von radikalen Imamen zu verhindern. Als Ursachen für die Radikalisierung gelten Arbeitslosigkeit, Armut, die Verbreitung extremistischer Literatur und der einfache Zugang zu Online-Medien. Gerade in ländlichen Regionen, die noch stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind, operieren ausländische islamische Hilfswerke, deren eigentlicher Zweck die Verbreitung eines radikalen Islam ist. Allein 2014 schlossen die kosovarischen Behörden 14 solcher Hilfswerke, die von Iran, Saudi Arabien und anderen Staaten am Persischen Golf gegründet worden waren. Die größte Herausforderung liegt jedoch darin, die sozialen Ursachen wie Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie die schwierige ökonomische Lage zu bekämpfen. www.rferl.org, 28. Februar, 7. März 2017 – N. Z. POLEN Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Theater aufgrund Verletzung religiöser Gefühle Nach öffentlichen Beschwerden hat die Warschauer Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen das Allgemeine Theater (Teatr Powszechny) in Warschau eingeleitet. Ermittelt wird wegen des Vorwurfs der Verletzung religiöser Gefühle und eines angeblichen Mordaufrufs im Theaterstück „Der Fluch“, das der kroatische Regisseur Oliver Frlijć in Anlehnung an das gleichnamige Stück von 1899 des polnischen Regisseurs Stanisław Wyspiański zurzeit in Warschau aufführt. Ein Abgeordneter der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Dominik Tarczyński, hatte am 21. Februar eine entsprechende Strafanzeige eingereicht. Auslöser für die Strafanzeige waren Amateuraufnahmen aus der Premiere des Theaterstücks „Der Fluch“ (poln. Kl̨twa) am 18. Februar, die das Internetportal des Polnischen Fernsehens veröffentlichte. In der Eröffnungsszene des Stücks simuliert eine Schauspielerin Oralsex mit einem an einer Statue von Papst Johannes Paul II. angebrachten Dildo, in einer anderen Szene wird die Papststatue mit einem Schild „Verteidiger von Pädophilen“ an einem Strick aufgehängt. Zudem wird laut darüber das Stück enthalte Merkmale der Gotnachgedacht, was ein Auftragsmord am teslästerung, u. a. sei die Beleidigung des Vorsitzenden der nationalkonservativen Hl. Johannes Paul II. für Polen besonders Regierungspartei Recht und Gerechtig- schmerzhaft. Er kritisierte, dass die Thekeit (PiS), Jarosław Kaczyński, kosten aterinszenierung zum Hass gegen Menwürde. Bei der zweiten Aufführung am schen anstachele und rief zum Gebet Abend des 21. Februar protestierten laut für die „Überwindung des Bösen durch Warschauer Medienberichten Dutzende das Gute“ auf. Am 23. Februar verurteilRechtsradikale vor dem Theater. Die te auch Kardinal Stanisław Dziwisz, der Bühne verweist in einer Stellungnahme ehemalige Sekretär von Johannes Paul II., auf die Kunstfreiheit, die von der Verfas- die „grobe Ungerechtigkeit“ gegenüber sung garantiert werde. Das Stück rich- dem heiliggesprochenen Papst. Der Leitet sich provokativ gegen die Dominanz ter des kirchlichen Johannes-Paul-II.-Zender katholischen Kirche, den Kindsmiss- trums in Krakau, Jan Kabziński, startete brauch durch Geistliche und Nationalis- eine Unterschriftensammlung gegen das Stück und hielt dazu an, in den Gottesmus in Polen. Zwischen 2010 bis 2013 wurden in diensten für ein Ende der GotteslästePolen mindestens 19 Priester wegen rung zu beten. Polens Laienbewegung sexueller Verbrechen an Kindern verur- „Katholische Aktion“ verlangt ebenfalls teilt (s. RGOW 10/2014, S. 5). Am 3. März die Absetzung des Stücks. Katholische 2017 hat die katholische Kirche erstmals Vereinigungen halten vor dem Theater zum Buß- und Bettag für die Sünden des Mahnwachen ab. Der staatliche polnische Rundfunk Missbrauchs von Minderjährigen durch Geistliche aufgerufen. Sie folgte damit beendete aus Protest gegen die Inszeeinem Appell von Papst Franziskus vom nierung seine Medienpartnerschaft 30. Juni 2015 an die Polnische Bischofs- mit dem Theater. In der Öffentlichkeit konferenz. Diese hat keine Strafanzeige wird zudem die staatliche Subvention gegen das Theater gestellt. Ihr Sprecher des Theaters in Frage gestellt. Die Stadt Paweł Rytel-Andrianik betonte jedoch, Warschau denkt bislang jedoch nicht an RGOW R U N DS C H AU Medienkampagne eine Gruppenhysterie ausgelöst, die die Sicherheit der Schauspieler und Produzenten des Theaterstücks gefährde. Die im Fernsehen gezeigten Filmaufnahmen seien illegal aufgenommen worden und würden aus dem Kontext gerissen gezeigt. Er bittet die EU darum, die Attacken auf die Meinungsfreiheit und die Menschenrechte in Polen nicht zu tolerieren. Bereits das ursprüngliche Stück von Stefan Wyspiański hatte einen Skandal verursacht: Darin suchen die Bewohner eines abgelegenen polnischen Dorfs nach einem Sündenbock für die lange Trockenzeit und inden ihn in der Konkubine des katholischen Priesters, die daraufhin gesteinigt wird. Das 1899 publizierte Stück wurde 1909 erstmals in Warschau aufgeführt – mit der Auflage, dass die Handlung ins Mittelalter versetzt wird. Nr. 3 2017 eine Abberufung des Theaterchefs oder eine Intervention. Ob die Theatermacher religiöse Gefühle verletzt hätten, entscheide allein die Justiz, erklärte ein Sprecher der Stadt. Die Verletzung religiöser Gefühle kann in Polen mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden, die öffentliche Anstiftung zu einem Verbrechen mit bis zu drei Jahren. Der Regisseur Oliver Frlijć hat sich mit einem Brief an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gewandt: Das Polnische Fernsehen habe mit einer Kathpress, 23., 24. Februar; episkopat.pl, 21. Februar; wyborcza.pl, 21., 28. Februar 2017 – R. Z. RUMÄNIEN Rumänische Orthodoxe Kirche mahnt gesellschaftliche Verständigung an Mit Blick auf die Massenproteste im Land gebärerin, unterstützt. Der Marsch steht hat die Heilige Synode der Rumänischen unter dem Motto „Unterstütze Mutter Orthodoxen Kirche in Bukarest eindring- und Kind. Sie hängen von Dir ab“. Die lich zu „Dialog, sozialer Mitverantwor- Heilige Synode erwarte, dass durch dietung und Gebet“ aufgerufen, um die se Manifestation in allen rumänischen gesellschaftlichen Konlikte zu überwin- Eparchien ein Zeugnis für die Werte der den. In Rumänien gibt es seit mehreren „christlichen und traditionellen Familie“ Wochen Demonstrationen gegen Pläne abgelegt werde, hieß es. Ausführlich der Regierung von Ministerpräsident befasste sich das Gremium zudem mit der Sorin Grindeanu, den Kampf gegen die Frage der Emigration. In diesem Zusamverbreitete Korruption zu erschweren. menhang appellierten die Bischöfe an die Bei der Tagung unter Vorsitz von Patri- vielen im Ausland arbeitenden Rumänen, arch Daniel wurde zugleich beschlossen, entweder ihre Kinder zu sich an den neudass die orthodoxe Kirche den nationalen en Wohnort zu nehmen oder in die Hei„Marsch für das Leben“ am 25. März, dem mat zu den Kindern zurückzukehren. Die Festtag der Verkündigung an die Gottes- physische und emotionale Abwesenheit der Eltern bereite den Kindern große Leiden. Zuvor hatte auch die Nationale Kirchenversammlung der Rumänischen Orthodoxen Kirche getagt. Sie ist das zentrale Entscheidungsgremium für administrative, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Fragen. Die Versammlung besteht aus den Mitgliedern der Heiligen Synode und jeweils drei Repräsentanten aus jeder Eparchie, einem Priester und zwei Laien. Bei dem Treffen würdigte Patriarch Daniel das Wachstum des karitativen Engagements der Kirche im vergangenen Jahr. KNA-ÖKI, 20. Februar 2017. RUSSLAND Russische Orthodoxe Kirche nimmt westliche Heilige in Heiligenkalender auf Der Hl. Synod der Russischen Orthodoxen Kirche hat an seiner Sitzung am 9. März den Beschluss gefasst, mehrere große Heilige aus der Zeit der „ungeteilten Kirche“, also vor dem Schisma von 1054, in ihren liturgischen Kalender aufzunehmen. Das Moskauer Patriarchat hofft, dass das ofizielle Gedenken der westlichen Heiligen den orthodoxen Christen die Einheit der christlichen Tradition während des ersten Jahrtausends bewusst machen wird. Unter den westlichen Heiligen, die in Zukunft im „Menologion“, dem Verzeichnis der Biographien der Heiligen, genannt werden, sind u. a. die Märtyrer von Lyon, der Heilige Victor von Marseille, der Heilige Germain von Auxerre, der Heilige Vincent von Lerins, die Heilige Genoveva von Paris, der Heilige Alban von Britannien, der Heilige Patrick von Irland und der Heilige Prokop von Böhmen. Der Vorsitzende der Synodalabteilung für die Beziehungen zu Gesellschaft und Medien, Vladimir Legojda, sagte, die Liste der westlichen Heiligen sei auf Grund von Informationen aus den westeuropäischen Eparchien des Patriarchats zusammengestellt worden. Kriterien seien u. a. ihr untadeliges Bekenntnis zum orthodoxen Glauben der ungeteilten Kirche gewesen, aber auch die Umstände der Heiligsprechung und das Faktum, dass ihre Gestalt nicht für kontroverstheologische Polemiken gegen die östliche Kirche und den östlichen Ritus missbraucht wurde. Der im Kirchlichen Außenamt für die zwischenkirchlichen Beziehungen zuständige Mönch Stefan Igumnov sagte im Gespräch mit „Interfax-Religion“, die Einbeziehung der Namen westlicher Heiliger in den russisch-orthodoxen Heiligenkalender erinnere daran, dass in der Zeit der ungeteilten Christenheit das kirchliche Leben überall auf einer gemeinsamen spirituellen Basis vor sich gegangen sei. Viele Jahrhunderte hindurch seien die Kirchen im Westen treu zum gemeinsamen Glauben gestanden. Zudem wies er darauf hin, dass einige der westlichen Heiligen bereits früher in der Russischen Orthodoxen Kirche, vor allem in deren westeuropäischen Eparchien, verehrt worden sein. In diesem Sinn stehe die Entscheidung des Hl. Synods in der Tradition mehrerer östlicher Kirchen, die in ihren Kalendern die Namen von Heiligen wie Ambrosius von Mailand, Irenäus von Lyon, Klemens von Rom, Johannes Cassian und „viele, viele andere“ nennen, die „allesamt wahre Säulen des orthodoxen Glaubens waren“. www.patriarchia.ru, 9. März; Kathpress, 14. März 2017. 7 8 R U N DS C H AU Nr. 3 2017 RGOW Debatte um Film „Matilda“ Obwohl bisher nur ein Trailer veröffentlicht worden ist, sorgt der Film „Matilda“ des russischen Regisseurs Aleksej Utschitel´ für Aufregung und Proteste in orthodoxen Kreisen in Russland. Im Film geht es um den russischen Thronfolger Nikolaj und dessen Affäre mit der Primaballerina Matilda Kschesinskaja. Der spätere Zar Nikolaj II. wurde mit seiner Familie 1918 von den Bolschewiken erschossen und im Jahr 2000 von der Russischen Orthodoxen Kirche als Leidendulder heiliggesprochen. Bereits im Sommer waren 10 000 Unterschriften für eine Online-Petition zu einer Abänderung des Films zusammengekommen. Mittlerweile hat sich auch die Duma-Abgeordnete Natal´ ja Poklonskaja an den Generalstaatsanwalt gewandt, weil sie eine Verletzung religiöser Gefühle durch den Film befürchtet. „Mathilda“ stelle Russland als „Land des Galgens, der Trunkenheit und Unzucht“ dar. Laut Poklonskaja dürfe eine bewusst antihistorische Verfälschung mit dem Ziel, den Zaren-Märtyrer zu diskreditieren und zu verspotten, nicht in den Verleih kommen. Zudem forderte sie eine Bestrafung der Filmemacher. Eine angebliche Organisation orthodoxer Aktivisten mit dem Namen „Christlicher Staat – Heiliges Russland“ droht nach Angaben des Regisseurs Kinobetreibern sogar mit Brandstiftung und Gewalt, wenn sie den Film zeigen sollten. Er habe den Kinostart daher bereits vom Frühjahr auf Oktober 2017 verschoben. Das Komitee für Kultur der russischen Duma hat sich klar für die Freiheit der Kunst ausgesprochen. Das Recht der Bürger auf freies Kulturschaffen und der Schutz von Kunstwerken vor Vandalismus müsse gewährleistet werden. Das Komitee wies darauf hin, dass sich in letzter Zeit die Fälle von Diskussionen und sogar gewalttätigen Handlungen aufgrund kultureller Ereignisse gehäuft hätten. Auch in Kirchenkreisen gibt es Stimmen zur Unterstützung des Films, so von Diakon Andrej Kurajev. Der liberale Priester und Publizist Jakov Krotov wies darauf hin, dass Nikolaj II. für seinen Märtyrertod heiliggesprochen wurde, nicht für einen vorbildlichen Lebenswandel. Daher sei nichts gegen einen Film einzuwenden, der Schwächen des Zaren darstelle. Mehrere russische Regisseure warnten zudem vor Zensur und ergriffen Partei für ihren Kollegen. Die russische Regierung betonte, sie werde streng gegen Drohungen von Extremisten gegen den Regisseur vorgehen. Das Ministerium für Kultur will hingegen die Veröffentlichung des Films abwarten. www.portal-credo.ru, 3. November 2016, 11., 13., 24. Februar 2017; KNA-ÖKI, 13. Februar 2017 – N. Z. Religionsgemeinschaften beteiligen sich an russischer Entwicklungsstrategie Vertreter der „traditionellen Religionen Russlands“ haben zusammen mit dem Zentrum für Strategische Entwicklung (CSR) Herangehensweisen an die „Entwicklungsstrategie der Russischen Föderation 2018–2024“ besprochen. Bei der Tagung ging es um die „Werte des zukünftigen Russland“. Das CSR ist eine regierungsnahe Vereinigung, in der Experten Vorschläge zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, technologischen und außenpolitischen Entwicklung Russland erarbeiten. „Wir haben Zugänge zur Entwicklungsstrategie für Russland und zu den wunden Punkten, die gesellschaftliche und religiöse Organisationen interessieren, besprochen. Dazu gehören der Schutz der Familie, die Regenerierung der Bevölkerung, Unterstützung der Mütter und Sorge für die Kinder, besonders für diejenigen, die ohne elterliche Obhut sind. Wir haben über Werte gesprochen, die heute fehlen. Vor allem über das Vertrauen in die Institutionen der Regierung, die gegenüber den Bedürfnissen der Bevölkerung aufmerksamer sein müssen“, so Aleksej Kudrin, der Vorsitzende des CSR. Der Leiter der Abteilung für interreligiöse Kontakte des Kirchlichen Außenamtes der Russischen Orthodoxen Kirche, Priester Dimitrij Safonov, betonte, dass die Führungspersönlichkeiten der traditionellen Religionen sich einstimmig für eine „moralische Erziehung der Jugend“ ausgesprochen hätten. Zudem sei der Schutz des ungeborenen Lebens ein zentrales Anliegen aller Religionsgemeinschaften: „Da wir die selbe moralische Basis und das selbe allgemeine Verhältnis zum Schutz ungeborenen Lebens teilen, haben wir uns gemeinsam, ohne für ein gesetzliches Verbot der Abtreibung einzustehen, für den Schutz ungeborener Kinder ausgesprochen mit dem Aufruf zur Unterstützung der moralischen Erziehung, der Enthaltsamkeit, Opferbereitschaft und Werte der Familie. Es ist unerlässlich, dass die heranwachsende Generation bereits in der Schule diese moralische Basis erhält und sich Frauen in der Folge nicht zu Abtreibungen entschließen“, so Safonov. Der Vorsitzende der Zentralen Geistlichen Verwaltung der Muslime Russlands, Obermufti Talgat Tadschuddin, ergänzte, dass sich die Teilnehmer einhellig für eine Unterstützung und Stärkung von internationalem und interreligiösem Frieden und Akzeptanz ausgesprochen hätten. 80 Obzor, 4. Februar 2017 – N. Z. TSCHECHIEN Prager Kardinal warnt vor Migration Der Erzbischof von Prag, Dominik Kardinal Duka, hat örtlichen Medienberichten zufolge eine „unvorbereitete und perspektivlose Migration“ kritisiert. Diese kön- ne den „Zerfall der ganzen Gesellschaft“ zur Folge haben. „Die Erfahrung und die aktuelle Situation der Einwanderung in die Länder Westeuropas sind eine War- nung“, sagte Duka, der auch Vorsitzender der Tschechischen Bischofskonferenz ist. Kritisch zur Migration aus islamischen Ländern äußerte sich auch der Vorsitzen- RGOW R U N DS C H AU zur Schlussfolgerung führen, dass solche Gewalttaten wahrscheinlicher sind, je größer die muslimische Gemeinschaft ist.“ Christen seien jedoch verplichtet, Armen und Kriegsopfern zu helfen, so der Erzbischof weiter. Diese Hilfe solle hauptDer Jahresbericht 2016 sächlich in den Ländern geleistet werden, des Instituts G2W ist erschienen. „in denen diese Probleme entstehen“. Bei der Suche nach einer geeigneten Form des Zusammenlebens mit Muslimen dürDer Jahresbericht ist abrufbar fe nicht vergessen werden, „dass sich das unter www.g2w.eu oder Christentum mit dem Islam trotz aller kostenlos beim Institut per Mail Bemühungen um Dialog im permanenten an [email protected] Konlikt beindet“. Sowohl die Slowakei zu bestellen. als auch Tschechien haben bislang keine muslimischen Kriegslüchtlinge aus Syrien und dem Irak aufgenommen. Die Slowakei nahm lediglich christliche Flüchtlinge de der Slowakischen Bischofskonferenz, aus der Region auf. Erzbischof Stanislav Zvolenský von BraDer Warschauer Kardinal Kazimierz tislava. Europa habe in den vergangenen Nycz hingegen hat Polens Regierung Jahren eine Reihe brutaler Terroran- zur Aufnahme syrischer Kriegsflüchtschläge von islamistischen Attentätern linge aufgerufen. In einem Hirtenbrief erlebt, und „diese Tatsache kann logisch zur Fastenzeit fordert er einen „huma- nitären Korridor“ für „einige Hundert Flüchtlinge, die dringend Hilfe brauchen“. „Selbstverständlich ist dafür die Offenheit der Regierung notwendig, und auf diese warten wir“, so der Erzbischof. Bislang lehnt die nationalkonservative Regierung in Warschau die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten ab, obwohl etwa die Caritas ein entsprechendes Hilfsprogramm aufgelegt hat. Die Regierung begründet dies damit, dass sie nicht garantieren könne, dass von den Flüchtlingen keine Gefahr für das Land ausgehe. Auch der Aufnahme syrischer Waisenkinder stimmte sie bislang nicht zu. Polens Caritas hatte im Oktober in Syrien und im Libanon ein Hilfsprogramm für Flüchtlinge begonnen. Dank einer Spendenaktion erhielten bislang etwa 1 700 Flüchtlingsfamilien in beiden Ländern Nahrungsmittel, ärztliche Versorgung und Bildungsangebote. Nr. 3 2017 Jahresbericht 2016 Kathpress, 22., 28. Februar 2017. USA Russische Auslandskirche fordert Entfernung Lenins vom Roten Platz Als „demagogisch“ bezeichnete der Die Russische Orthodoxe Kirche im Aus- Sitz des Metropoliten und der obersten land fordert, dass die sterblichen Über- Kirchenverwaltung ist seit 1957 New York. Metropolit das von den Gegnern der reste Lenins, des „größten Verfolgers Zwischen 1953 und 1961 war im Lenin- Umbenennung of t herangezogene und Henkers im 20. Jahrhundert“ vom Mausoleum auch der Leichnam Stalins Argument, neue Straßentafeln würden Roten Platz verschwinden. In ihrem Hir- aufgebahrt, bis er im Zuge der Entstali- die Steuerzahler viel Geld kosten. Freilich tenbrief anlässlich des 100. Jahrestags nisierung auf den Ehrenfriedhof dahin- müsse man auch die Macht der Gewohnder Oktoberrevolution von 1917 beto- ter umgebettet wurde. Die Entfernung heit in Rechnung stellen. Er selbst habe nen die Bischöfe der Auslandskirche, des Leichnams Lenins aus dem Mausole- sich auch erst an die neuen Bezeichnundass dies „ein Zeichen der Versöhnung um am Roten Platz wird bereits seit der gen der wichtigen Metro-Stationen in des russischen Volkes mit Christus“ wäre. Endphase der UdSSR immer wieder dis- Moskau gewöhnen müssen. Das sei eine Zudem forderten sie, dass alle Lenin- kutiert. Bisher einzige Konsequenz war geringfügige Belastung, wenn dafür Denkmäler zerstört werden sollten: 1993 der Abzug der Ehrenwache unter „die Namen der Mörder und Kriminellen von unseren Straßen, Plätzen und Met„Sie alle sind Symbole der Katastrophe, Präsident Boris Jelzin. Tragödie und der Zerstörung unserer In der Sendereihe „Kirche und Welt“ ro-Stationen verschwinden“. gottgegebenen Herrschaft.“ Städte, des TV-Senders „Rossija-24“ trat der Metropolit Ilarion hatte vor einem Provinzen und Straßen sollten ihre vor- Leiter des Kirchlichen Außenamts des Monat in der Moskauer Christ-Erlöserrevolutionären Namen zurückerhalten. Moskauer Patriarchats, Metropolit Ila- Kathedrale eine Ausstellung zum GedenDie Russische Orthodoxe Kirche im Aus- rion (Alfejev), ebenfalls dafür ein, dass ken an die Märtyrer aus der Zeit des Bolland wurde nach der Oktoberrevolution Straßennamen, die an sowjetische Funk- schewismus und Stalinismus eröffnet. 1917 von russisch-orthodoxen Gläubigen tionäre erinnern, geändert werden sol- Bestimmte Namen dürften nicht aus dem gegründet, die vor religiöser Verfolgung len. Aber man dürfe nichts übereilen, Gedächtnis verschwinden, betonte er: „Es durch die Bolschewiken aus der Sowjet- denn die Umbenennungen müssten von gab Repressionen, Millionen schuldloser union geflohen waren. 1927 erklärte der Bevölkerung akzeptiert werden. Er Menschen wurden ermordet. Die Kirche sie sich für unabhängig vom Moskauer hoffe aber, dass „früher oder später hat ihre Meinung über das 20. JahrhunPatriarchat, nachdem Patriarch Sergij alle einsehen werden“, dass viele jener dert zum Ausdruck gebracht, als sie im eine Loyalitätserklärung gegenüber der Namen Terroristen, Mörder und Henker Jahr 2000 mehr als 1 700 neue Märtyrer Sowjetunion abgegeben hatte. Seit 2007 bezeichneten, die „mit negativem Vor- und Bekenner, deren Namen bekannt bestehen wieder kanonische Verbin- zeichen in die Geschichte eingegangen“ waren, und viele tausende, deren Namen dungen mit dem Moskauer Patriarchat, seien. Derzeit gebe es aber zur Frage niemand mehr kennt, heilig sprach.“ dem die Auslandskirche mittlerweile als der Umbenennungen noch unterschiedautonome Kirche verbunden ist. Heute liche Auffassungen in der Bevölkerung, www.synod.com/synod/indexeng.htm, umfasst die Auslandskirche etwa 450 ebenso im Hinblick auf die Entfernung 10. März; Gemeinden in Amerika und Europa. Der des Leichnams Lenins vom Roten Platz. Kathpress, 16. März 2017. 9 10 U S B E K I S TA N Nr. 3 2017 RGOW Ataman Burnash Perestrojka à la Usbekistan? Im September 2016 verstarb der autoritär herrschende usbekische Präsident Islam Karimov an einem Schlaganfall. Wider Erwarten findet unter seinem Nachfolger Shavkat Mirsijojev ein merklicher Wandel statt. Grundlegende strukturelle Probleme wie die Machtfülle des Nationalen Sicherheitsdienstes und eine fehlende lokale Autonomie bleiben jedoch bisher unangetastet. – R. Z. Am 2. September 2016 wurde im usbekischen Staatsfernsehen die Meldung vom Tod des ersten Präsidenten Usbekistans, Islam Karimov, verbreitet. Er war der einzige politische Führer, den das usbekische Volk seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 gekannt hatte. Karimovs Regierungsmethoden und sein Erbe sind äußerst umstritten: Für viele westliche Wissenschaftler, Analysten und Journalisten war Karimovs ein Vierteljahrhundert dauernde Herrschaft politisch, ökonomisch und moralisch repressiv: die brutale Unterdrückung jeder Art von „unkorrektem“ Islam (s. RGOW 2/2017, S. 6–8), der gnadenlose Kampf gegen die politische Opposition, das gewaltsame Durchgreifen gegen die Demonstranten in Andijon im Jahr 2005, zügellose Korruption, die extrem hohe Arbeitslosenrate und die massive Arbeitsmigration nach Russland und Kasachstan. Gleichzeitig wurde Karimov von vielen Bürgern Usbekistans und auch der Nachbarländer Kirgistan und Tadschikistan für die Garantie politischer Stabilität und interethnischen Friedens sehr geschätzt. Mit seinem Tod und der Wahl von Shavkat Mirsijojev zum neuen Präsidenten Usbekistans stellt sich die Frage, ob und wie sich Regierung und Alltag im Land verändern werden. Dieser Beitrag basiert auf meinen ethnographischen Feldstudien in Usbekistan in den letzten zehn Jahren, Reisen in das post-Karimov Usbekistan und täglichen Beobachtungen der Medienberichterstattung. Das Ende des Karimovismus Sowohl innerhalb wie außerhalb Usbekistans war die Meinung weit verbreitet, dass das Land Karimovs Weg weiterverfolgen würde. Die Bestätigung von Premierminister Shavkat Mirsijojev als Interimspräsident schien dies zu untermauern, war er doch von früheren Posten für die Anwendung von Regierungsmethoden mit „eiserner Faust“ bekannt. Seine Ernennung wurde von ausländischen Medien und Regimekritikern als „verfassungswidrig“ bezeichnet, weil verfassungsgemäß bis zur Neuwahl der Senatssprecher als Interimspräsident vorgesehen ist. Hoffnungen auf positive Veränderungen verlüchtigten sich zudem während der Parlamentssitzung vom 9. September 2016, als Mirsijojev seine Absicht bekannt gab, den politischen Kurs des verstorbenen Präsidenten weiterzuverfolgen. Karimovs Erbe beschrieb er dabei als eines der „demokratischen Reformen und Transformationen in den politischen, ökonomischen und sozialen Bereichen“. Nun ist Mirsijojev seit mehr als sechs Monaten an der Macht. Doch im Gegensatz zu den bisherigen Annahmen präsentiert er sich als reformorientierter, ehrgeiziger und pragmatischer Führer, der Misserfolge der öffentlichen Politik offen anerkannt. Er zeigte sich bereit, echte Veränderungen einzuleiten und weckte bei vielen Bürgern Hoffnungen, dass das Land Reformen umsetzen und mehr auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen wird. Während sich die staatlichen Medien zuvor einzig und allein auf Karimov konzentriert hatten, scheint Mirsijojev nicht von der Idee besessen zu sein, die einzige Stimme der Regierung zu sein, so dass nun auch andere hochrangige Staatsbeamte im Fernsehen zu Wort kommen. Die staatlichen Medien haben sogar begonnen, kritisch über die weit verbreitete Korruption im öffentlichen Gesundheitswesen und Sozialdienst zu berichten – das wäre vorher undenkbar gewesen. Mirsijojev nahm sich auch der Belange von Unternehmen an, indem er gesetzeswidrige Eingriffe der Strafverfolgungsbehörden ins Geschäftsumfeld stark kritisierte. Eine der bemerkenswertesten Veränderungen unter dem neuen Präsidenten war die Einführung von virtuellen Empfangsportalen des Präsidenten und der zentralen Ministerien im Internet, die es auch Bürgern aus abgelegenen Dörfern erlauben, Beschwerden einzureichen und in verschiedenen Angelegenheiten um Unterstützung zu bitten – sei es wegen Bestechung, Nicht-Auszahlung von Löhnen und Pensionen, bei Problemen, ein Bankdarlehen zu erhalten, beim Ausfall der Heizung, wenn eine Straße asphaltiert werden sollte oder bei Problemen mit der Arbeitslosigkeit. Der neue Präsident erklärte das Jahr 2017 zum „Jahr des Dialogs mit dem Volk und der menschlichen Interessen“ und fügte hinzu, dass die Menschen nicht den staatlichen Institutionen, sondern die staatlichen Institutionen den Menschen dienen sollten. Die Staatsbeamten wurden angehalten, nicht isoliert von der alltäglichen Realität in ihren Büros zu sitzen, sondern Ortschaften zu besuchen, mit den Bürgern zu kommunizieren und sie auf ihre Sorgen und Forderungen anzusprechen. Einige Fortschritte sind bereits erzielt worden, was die Befreiung von politischen Gefangenen anbelangt: Einige Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Regimekritiker und Oppositionsmitglieder wie Muhammad Bekjon, der am längsten inhaftierte Journalist der Welt, der Menschenrechtsaktivist Bobomurod Razzaqov, der regierungskritische Ex-Parlamentarier Samandar Kukonov und Rustam Usmonov, politischer Aktivist und Gründer der ersten usbekischen Privatbank, wurden freigelassen. Als Mirsijojev Anfang Dezember 2016 zum Präsidenten gewählt worden war, versprach er, dass er die Visaanforderungen für Bürger von 27 Ländern aufheben oder erleichtern würde; allerdings verschob er das Vorhaben vor kurzem auf 2021 aufgrund fehlender Infrastruktur und Erfahrung. Die Regierung sprach auch von der Absicht, die strenge Kontrolle über den Kurs der Landeswährung zu lockern und Währungskonvertierbarkeit zu ermöglichen. Anfang März signalisierte die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung nach einem Jahrzehnt der Absenz ihre mögliche Rückkehr nach Usbekistan. Mirsijojev zeigte sich auch bereit, die Beziehungen Usbekistans zu seinen zentralasiatischen Nachbarn Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan zu verbessern. Wegen Karimovs komplizierten persönlichen Beziehungen zu den Staatsoberhäuptern dieser Länder waren alle Versuche einer regionalen zentralasiatischen Kooperation bisher vergeblich (s. RGOW 10/2012, S. 14–16). Unter dem neuen Präsidenten machte das Land innerhalb von sechs Monaten Fortschritte bei den Grenzabkommen mit Kasachstan und Kirgistan – Streitfragen, die in den letzten 25 Jahren unlösbar schienen. Auch die usbekisch-tadschikischen Beziehungen haben sich merklich verbessert – Delegationen beider Länder haben sich gegenseitig besucht, zwischen den Hauptstädten soll der Flugverkehr wieder aufgenommen werden. Zweifellos verändert sich Usbekistan unter Nr. 3 2017 RGOW U S B E K I S TA N ohne jedoch entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Der neue Präsident drängt die Lokalregierungen ständig, auf die Bedürfnisse der Bürger einzugehen, doch diese sind dazu schlicht nicht im Stande. Daraus schließen die Bürger, dass der „virtuelle Empfang“ des neuen Präsidenten bloß die Illusion von Gerechtigkeit vorgaukelt. Fünftens bleiben die grundlegenden sozioökonomischen Probleme unangetastet. Die Arbeitslosenrate ist extrem hoch, und die Haushalte werden immer abhängiger von Rücküberweisungen. Gemäß der neuesten Statistik des Russländischen Föderalen Migrationsdienstes beinden sich fast zwei Millionen Usbeken auf dem Gebiet der Russischen Föderation. Das Alltagsleben usbekischer Migranten ist von einem ständigen Gefühl der Unsicherheit geprägt, da sie Gefahren wie der Ausbeutung durch ihre Arbeitgeber, Deportation, Polizeikorruption, Rassismus, physische Gewalt Kurz nach Islam Karimovs Tod traf sich der russische Präsident Vladimir Putin mit Interimspräsident Shavkhat Mirsijojev am 6. September 2016 in und sogar dem Tod ausgesetzt sind. Im Gegensatz zu den RegieSamarkand. Foto: kremlin.ru rungen Kirgistans und Tadschikistans, die versucht haben, Rechtsmechanismen zum Schutz ihrer Bürger in Russland zu etablieren, Mirsijojevs Führung, und die Erwartungen der Bevölkerung steigen, ignoriert die ofizielle Politik Usbekistans das Ausmaß des Migrationsprozesses und seine ökonomische Wichtigkeit komplett. Eine dass ihre Grundbedürfnisse ernst genommen werden. Medienanalyse zeigt, dass die usbekische Botschaft in Moskau die Beschwerden usbekischer Migranten nur widerwillig zur Kenntnis Grundlegende Herausforderungen Trotz dieser positiven Veränderungen werden jedoch tiefer greifen- nimmt. Usbekische Migranten hoffen aber, dass sich dies unter dem de systemische und strukturelle Probleme vom neuen Präsidenten neuen Präsidenten ändern wird. nicht angegangen. Dabei geht es um mindestens fünf drängende Themen: *** Erstens sitzt noch immer eine Mehrheit der Beamten aus der Ära Karimov in Schlüsselpositionen im Präsidentschaftsapparat, in Trotz anfänglicher Einschätzungen, dass Shavkat Mirsijojev eine den Ministerien, im Parlament, im Justizsystem, in den Strafver- „Kopie“ des ehemaligen Präsidenten sein würde, sieht Usbekistan folgungsbehörden (Polizei, Nationaler Sicherheitsdienst), in den unter dem neuen Präsidenten sehr viel anders aus als in der Ära Lokalregierungen und Industrien. Es ist höchst wahrscheinlich, Karimov. Bei meinen letzten Reisen nach Usbekistan habe ich dass die Praktiken aus der Ära Karimov fortbestehen und Refor- beobachtet, dass es Mirsijojev mit seiner Initiative des „virtuellen minitiativen auf dem Papier bleiben, bis junge und liberal gesinnte Empfangs“ und seiner kritischen Bewertung der Situation des Landes wirklich schafft, sich unter der Bevölkerung einen guten Ruf Menschen in diese Schlüsselpositionen gelangen. Zweitens übt der Nationale Sicherheitsdienst (SNB) fast unbe- aufzubauen. Sogar die Medienkanäle Eurasianet, die usbekische grenzte Macht und Kontrolle über alle zentralen Aspekte des poli- Abteilung von Radio Free Europe (Ozodlik) und Fergananews.com tischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebens aus: In anerkennen die positiven Veränderungen unter dem neuen Präsiallen staatlichen Organisationen indet sich ein SNB-Sonderver- denten. Trotzdem ist es noch zu früh daraus zu schließen, dass treter (kurator), der de facto unbegrenzte Kontrolle über die ganze Usbekistan mit dem Erbe von Islam Karimov abgeschlossen hat Organisation ausübt. Eine Medienanalyse zeigt, dass es vor allem und zu einer weicheren Form von Autoritarismus übergeht, etwa hochrangige SNB-Beamte sind, die von den Restriktionen in den zu einem hybriden politischen Regime, wie wir es in Kasachstan meisten Wirtschaftsaktivitäten proitieren und die daher sogar die oder Russland vorinden. Wie bereits erwähnt, ist der Nationale Sicherheitsapparat noch zaghaftesten Ansätze einer wirtschaftlichen Liberalisierung blockieren. Die Währungskontrollen und der immer weiter wachsende immer allmächtig, und der neue Präsident unternimmt fast nichts Schwarzmarkt für den Tausch ausländischer Währungen zählen zu zur Reform dieser Strukturen. Die „Apparatschiks“ der Ära Kariden Schlüsselsektoren im Interessensbereich des SNB. Ohne die mov haben noch immer ihre Stellungen in der Regierung inne, und Macht des SNB zu schwächen und sein Personal zu kürzen, sind es ist unwahrscheinlich, dass sie ihre Privilegien „um der Demoalle Versuche einer ökonomischen und politischen Liberalisierung kratie und der Wohlfahrt willen“ aufgeben werden. Die sozioökozum Scheitern verurteilt. nomischen Probleme der Gesellschaft werden nicht angegangen, Drittens übt die Zentralregierung die volle Kontrolle über die und Migration ist die einzige mögliche Überlebensstrategie für Schlüsselbranchen der Wirtschaft aus, was zu makroökonomischen die Bevölkerung, besonders in ländlichen Gebieten. Wenn diese Verzerrungen und einer Rentenökonomie führt. Besonders stark Herausforderungen, und insbesondere eine Reform des SNB, nicht betroffen ist der Landwirtschaftssektor, da die Zentralregierung angegangen werden, werden die autoritären Praktiken der Ära aktiv in den Baumwollsektor eingreift, indem sie Einkommen aus Karimov fortbestehen und alle Versuche, das bereits dysfunktioder Landwirtschaft zur Industrieentwicklung umverteilt. Das nale System zu reformieren, werden oberlächlich bleiben. Wenn beeinlusst den Lebensstandard der ländlichen Bevölkerung negativ. wir die Entwicklungsmöglichkeiten des post-Karimov Usbekistan Viertens gibt es keine lokale Autonomie, die Lokalregierungen besser verstehen wollen, reicht der Fokus auf die Persönlichkeit sind hinsichtlich sämtlicher Themen der öffentlichen Politik – Erzie- einzelner Führer nicht aus, sondern wir müssen die tiefer liegenhung, Steuern, Gesundheit oder Landwirtschaft – der Zentralre- den systemischen und strukturellen Faktoren betrachten, die den gierung untergeordnet. Da die Lokalregierungen über keine solide Regierungsmethoden in Usbekistan zugrunde liegen. inanzielle Basis verfügen, und alle wichtigen Entscheidungen im Zentrum fallen, gibt es für die Bürger auch nur wenige oder gar Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen. keine Möglichkeiten, ihre Anliegen auf lokaler Ebene vorzubringen. Gleichzeitig delegiert die Zentralregierung bezüglich öffentlicher Ataman Burnash, PhD, Wissenschaftler in DeutschDienstleistungen enorme Verantwortung an die Lokalregierungen, land. 11 12 POLEN Nr. 3 2017 RGOW Justyna Zając Justizreform in Polen Seit ihrem Regierungsantritt verfolgt die Partei Recht und Gerechtigkeit eine umfassende Justizreform. Als erstes hat sie die Funktionsweise des Verfassungsgerichts verändert, was national wie international auf scharfe Kritik gestoßen ist. Mit der Justizreform drohen eine Politisierung der Justiz und eine Aushebelung der Gewaltenteilung. Die Mehrheit der polnischen Gesellschaft nimmt daran jedoch keinen Anstoß, zwei Drittel der Bevölkerung stehen der PiS-Regierung positiv oder gleichgültig gegenüber. – R. Z. Seit ihrem Machtantritt im November 2015 gehört eine Justizreform zu den Prioritäten der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Ihr Aktionsplan basiert dabei auf einer etappenweisen Veränderung des Gerichtwesens, beginnend mit der Ausbildung der Richter über die Prinzipien ihrer Beförderung, die Prinzipien des Disziplinarverfahrens bis zur Organisationsform des Gerichtwesens. Laut Justizminister Zbigniew Ziobro soll diese umfassende Reform der Gesundung der polnischen Gerichte dienen. Zweifellos ist die polnische Rechtsprechung reformbedürftig. Doch die von der PiS eingeführten Veränderungen führen zu einer Politisierung des Gerichtwesens, und damit ist auch die Gewaltenteilung gefährdet, wonach die Gerichte eine separate, von der Exekutive und Legislative unabhängige Gewalt darstellen. Das Verfassungsgericht: „Lösung des Hauptproblems“ Die umfassende Justizreform hat die PiS mit Veränderungen beim Verfassungsgericht begonnen. Aus Sicht der Partei war das ein logisches Vorgehen, da das Verfassungsgericht eine wesentliche Rolle im Prozess der Rechtssetzung in Polen spielt. Justizminister Ziobro bestätigte im September 2016, dass eine Justizreform ohne das Verfassungsgericht nicht möglich sei. Kurz, zuerst musste das „Problem mit dem Verfassungsgericht“ gelöst werden, weil dieses sonst vermutlich alle anderen Reformen blockiert hätte.1 Seit Herbst 2015 hat der politische Kampf um das Verfassungsgericht eine große Dynamik entwickelt: Die PiS warf der Bürgerplattform (PO), die in den Jahren 2007 bis 2015 an der Macht war, vor, sie habe das Verfassungsgericht in ihre Gewalt gebracht. Dank des im April 2015 angenommenen Verfassungsgerichtsgesetzes habe die PO an der letzten Sitzung des Sejm vor den Parlamentswahlen im Oktober 2015 fünf neue Richter gewählt. 2 Daher weigerte sich der seit Mai 2015 amtierende polnische Präsident aus den Reihen der PiS, Andrzej Duda, die fünf Richter zu vereidigen. Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Sejms, der von der PiS dominiert wird, war die Neuwahl von fünf anderen Richtern in das Verfassungsgericht (s. RGOW 3/2016, S. 9–10). Einige Stunden nach dieser Abstimmung, in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 2015, nahm der Präsident von vieren den Amtseid ab. Die fünfte Richterin, Julia Przyłębska, leistete ihren Amtseid am 9. Dezember. Der Konflikt um das Verfassungsgericht zwischen dem Regierungslager und der Opposition eskalierte und wurde während mehrerer Monate zu einem der Hauptthemen der öffentlichen Diskussion. Zwischen November 2015 und Dezember 2016 verabschiedete das Parlament sechs sog. Reformgesetze, die von der PiS eingebracht worden waren und das Verfassungsgericht betreffen: zwei Gesetzesnovellen zum Verfassungsgericht (19. 11., 22. 12. 2015), das Gesetz über das Verfassungsgericht (22. Juli 2016), das Gesetz über die Organisation und Vorgehensweise vor dem Verfassungsgericht und das Gesetz über den Status der Verfassungsrichter (beide am 30. November 2016) sowie Anweisungen zur Einführung der beiden letzten Gesetze (13. Dezember 2016). Zur Unterstützung der neuen Rechtsregelungen ernannte Andrzej Duda am 20. Dezember 2016 Julia Przyłębska zur neuen Präsidentin des Verfassungsgerichts. Am Tag zuvor war die Amtszeit des bisherigen Präsidenten, Andrzej Rzepliński, abgelaufen. Doch die Wahl Przyłębskas durch die Generalversammlung der Verfassungsrichter, die an demselben Tag stattfand, warf Zweifel formeller Natur auf. An der Wahl nahmen nämlich nur sechs von 15 Richtern teil. Acht Richter verweigerten die Stimmabgabe für die Präsidentschaftskandidaten des Verfassungsgerichts, weil die sehr schnelle Einberufung der Generalversammlung es einem Richter, der sich gerade im Urlaub befand, verunmöglichte, daran teilzunehmen. Dieser Richter, Stanisław Rymar, gab an, an einer solchen Sitzung am 21. Dezember teilnehmen zu wollen, doch die stv. Präsidentin des Verfassungsgerichts, Julia Przyłębska, verweigerte die Verschiebung der Generalversammlung um einen Tag. Obwohl weniger als die Hälfte der Stimmberechtigten an der Wahl teilgenommen hatte, ernannte Präsident Duda Przyłębska zur Präsidentin des Verfassungsgerichts. Allerdings verstummen die Stimmen nicht, die diese Wahl für unrechtmäßig halten. Andrzej Zoll, Präsident des Verfassungsgerichts von 1993 bis 1997, meinte dazu im Januar 2017: „Wir haben kein Verfassungsgericht mehr. Es gibt kein Organ, das unabhängig von der politischen Macht die Tätigkeit des Parlaments kontrolliert.“ 3 Der gleichen Meinung sind auch die ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Jerzy Stępień und Andrzej Rzepliński sowie viele andere bekannte Juristen. 4 Beunruhigt zeigten sich aufgrund des Konlikts um das Verfassungsgericht auch zahlreiche polnische Rechtsvereine, Nichtregierungsorganisationen, territoriale Selbstverwaltungen, Hochschulen und wissenschaftliche Organisationen. Befürchtungen hinsichtlich einer Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien in Polen äußerte auch die internationale Gemeinschaft. Anfang Juni 2016 verwarnte die EUKommission Polen wegen der umstrittenen Justizreform, was den Beginn eines dreistuigen Verfahrens zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in einem EU-Mitgliedstaat markierte. Im Juli richtete die Kommission ultimativ „Empfehlungen zur Rechtsstaatlichkeit“ an die polnische Regierung. Das Europäische Parlament veröffentlichte zwei Resolutionen (am 13. April und am 14. September 2016) mit der Einschätzung, dass die Handlungen der polnischen Regierung und des Präsidenten bezüglich des Verfassungsgerichts eine Bedrohung für die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in Polen darstellten. Die Venedig-Kommission, ein beratendes Organ des Europarats, veröffentlichte zwei Gutachten (11. März und 14. Oktober 2016). Im zweiten bestätigte sie, dass das von der PiS am 22. Juli 2016 angenommene Verfassungsgerichtsgesetz zwei grundlegende Standards des Machtgleichgewichts nicht erfülle: die Unabhängigkeit des Gerichtwesens und die Position des Verfassungsgerichts als letzter Schiedsrichter in Verfassungsfragen. Nr. 3 2017 RGOW POLEN Obwohl zahlreiche nationale wie internationale Stimmen die Handlungen der polnischen Regierung in Bezug auf das Verfassungsgericht als verfassungswidrig kritisieren, fährt die PiS mit dem Prozess der Veränderungen im Gerichtwesen fort. Als nächster Schritt der PiS-Regierung steht eine Reform des Landesjustizrats an. Der Landesjustizrat Der Landesjustizrat (poln. Krajowa Rada Sądownictwa) hat gemäß der polnischen Verfassung die Aufgabe, die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu gewährleisten. Eine der wichtigsten Aufgaben des Landesjustizrats ist die Bewertung von Richterkandidaten, um diese dem Präsidenten zu Berufungen vorzuschlagen. Der Landesjustizrat setzt sich aus 25 Mitgliedern zusammen: dem ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, dem Justizminister, dem Vorsitzenden des Obersten Verwaltungsgerichts und einer vom Präsidenten berufenen Person, 15 gewählten Richter aus den Reihen des Obersten Gerichtshofs, der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und der Militärgerichte, vier vom Sejm gewählte Parlamentarier und zwei vom Senat gewählte Senatoren. Der von Justizminister Ziobro am 23. Januar 2017 vorgestellte neue Gesetzesentwurf zum Landesjustizrat führt drei grundlegende Änderungen ein, die dieses Verhältnis zu Ungunsten der Judikative erschüttern. Eine grundlegende Änderung betrifft die Wahl der 15 Richter als Mitglieder des Landjustizrats. Bisher wurden sie bei internen Wahlen gewählt. Die vom Justizminister vorgeschlagene Lösung schlägt nur vor, dass diese 15 Richter vom Parlament gewählt werden. Die zweite Veränderung ist – anstelle des bisherigen 25-Personen-Gremiums – die Einführung einer ersten politischen und einer zweiten juristischen Versammlung. Bevor der Landesjustizrat einen Beschluss fällen kann, müssen beide Versammlungen damit einverstanden sein. In der Praxis kann dies bedeuten, dass die Erste Versammlung, die von Politikern dominiert wird, die juristischen Beschlüsse der Zweiten Versammlung blockieren kann. Zurzeit ernennt der Landesjustizrat je einen Kandidaten für jeden leerstehenden Sitz in den ordentlichen, Verwaltungs- und Militärgerichten, während das Projekt des Justizministers vorsieht, dass im Falle, dass sich mehr als ein Kandidat für einen freien Platz meldet, dem Präsident zwei Kandidaten vorgeschlagen werden. Gleichzeitig arbeitet die Regierung an weiteren Projekten, u. a. an Neuerungen am Obersten Gerichtshof und bei Disziplinarverfahren. Es wird befürchtet, dass wenn die vom Justizminister beabsichtigten Veränderungen der Organisation des Gerichtwesens eintreten, und aus drei Stufen in der Gerichtsstruktur (Bezirks-, Land- und Berufungsgericht) zwei werden, die Richter erneut zur Richternomination vor dem Landesjustizrat antreten müssten, die ihnen Präsident Duda auch verweigern kann. Was sagt die Gesellschaft? Meinungsumfragen zeigen, dass die Regierung sich unveränderter Unterstützung eines bedeutenden Teils der polnischen Gesellschaft erfreut, insbesondere unter wenig gebildeten Menschen, die abseits der großen Städte leben und über geringe Einkommen verfügen. Die Unterstützung der Regierung im Jahr 2016 schwankte zwischen 32 und 38 Prozent, eine gleichgültige Haltung gegenüber Regierung deklarierten 24 bis 29 Prozent, und als Regierungsgegner bezeichneten sich 30 bis 35 Prozent der Befragten. 5 Im November 2016 gaben 38 Prozent der Befragten an, dass sie ihre Stimme der Regierungskoalition – der PiS zusammen mit Solidarisches Polen und Polen Zusammen – geben würden, wenn zurzeit Wahlen stattinden würden. Auf dem zweiten Platz des Rankings befand sich mit 17 Prozent die Partei Nowoczesna von Ryszard Petr. Präsident Andrzej Duda küsst der neuen Präsidentin des polnischen Verfassungsgerichts, Richterin Julia Przyłębska, die Hand. Foto: Keystone Präsident Andrzej Duda erfreut sich noch größerer Beliebtheit in der Gesellschaft, nämlich über 50 Prozent. Im Dezember 2016 gaben 59 Prozent der Befragten an, dass sie dem Präsidenten vertrauen würden; diese Zahl geht nicht hinter frühere Befragungen zurück. Gleichzeitig wächst die negative Bewertung des Verfassungsgerichts in der Gesellschaft. Während im September 2015 nur 12 Prozent der Befragten die Tätigkeit des Verfassungsgerichts schlecht bewerteten, provoziert der Konlikt um diese Institution ein drastisches Wachstum negativer Bewertungen. Im Dezember 2016 bewerteten 42 Prozent das Funktionieren dieser Institution negativ. 6 Es gibt demnach keinen Grund zu glauben, dass eine weitere Reform des Gerichtwesens durch das PiS-Lager auf den Widerstand eines großen Teils der Gesellschaft stoßen wird. Die Reform des Gerichtwesens ist eine Priorität von Justizminister Zbigniew Ziobro im Jahr 2017, und der Parteivorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, bestätigte in einem Interview: „Das polnische Gerichtswesen ist ein einziger gigantischer Skandal und diesem Skandal muss ein Ende bereitet werden.“ 7 Das lässt vermuten, dass das Gerichtwesen nicht die letzte Umgestaltung im polnischen Staat ist, die auf der Liste der PiS steht. Auf die Frage, ob er neben der Rechtsprechung noch andere Räume des öffentlichen Lebens sehe, die man „durchlüften“ müsse, antwortete Kaczyński: „Wissen Sie, ich sehe wenige, die man nicht durchlüften müsste. Aber alles der Reihe nach.“ Anmerkungen 1) https://vod.tvp.pl/26892796/10092016. 2) In der Tat haben sowohl die jetzige als auch die vorangegangene Regierung in Bezug auf das Verfassungsgericht verfassungswidrige Handlungen unternommen. Wie die VenedigKommission im März 2016 bestätigt hat, liegt die Ursache des Konlikts um das Verfassungsgericht in den Handlungen des Sejms von 2011 bis 2015. 3) http://www.tvn24.pl, 13. Januar 2017. 4) http://wiadomosci.onet.pl, 18. Januar 2018; http://www. tvn24.pl, 13. Januar 2017. 5) Komunikat z Badań CBOS 173 (2016), S. 2. 6) http://www.cbos.pl/PL/publikacje/raporty.php. 7) http://www.polskieradio.pl, 10. Februar 2017. Übersetzung aus dem Polnischen: Regula Zwahlen. Justyna Zaj̨c, Dr. hab., Associate Professor am Institut für internationale Beziehungen der Universität Warschau, Polen. 13 L I TAU E N Nr. 3 2017 RGOW Jürgen Buch Das multireligiöse Erbe von Kėdainiai Die litauische Stadt Kėdainiai blickt auf eine multireligiöse Vergangenheit zurück. Sie war ein wichtiger Ort in der Geschichte des litauischen Protestantismus sowie ein Zentrum des jüdischen Lebens im Großfürstentum Litauen. Heute bemüht sich die Stadt, dieses multireligiöse Erbe sichtbar zu machen. – S. K. Die zentrallitauische Stadt Kėdainiai indet zum ersten Mal in einer Chronik des Livländischen Ordens 1372 Erwähnung. Der Ort am Fluss Nevežis musste allerdings noch rund 250 Jahre warten, bevor er für eine Weile zu einer der wichtigsten Städte Litauens wurde. Damals, zu Beginn des 17. Jahrhunderts ging die Stadt in den Besitz der Familie Radvila (polnisch Radziwiłł) über. Kristupas Radvila (Krzysztof Radziwiłł) war Wojewode von Vilnius, Großhetmann von Litauen – und Calvinist. Als einer der wichtigsten Adligen im Großfürstentum Litauen baute er Kėdainiai zu einer Musterstadt für Toleranz und erfolgreiches Wirtschaften aus. 1600 ließ er ein protestantisches Gymnasium bauen. Von hier gingen wichtige Impulse für die protestantische Lehre in Litauen aus. In einer eigenen Druckerei entstanden zahlreiche kirchliche Bücher auf Litauisch. Damit war die Bildungseinrichtung auch wichtig für die Entwicklung der Sprache, die erst mit der Reformation als Schriftsprache in Erscheinung trat. Kėdainiai wurde in Niederlitauen der Gegenpol zum katholischen Rasainiai, wo die Jesuiten im Zuge der Gegenreformation ein Kollegium gegründet hatten. Multiethnische Stadt Wichtig für die Entwicklung der Stadt war, dass Radvila Einwanderer nach Kėdainiai lockte: Protestantische Schotten ließen sich nieder; 250 schottische Namen sind im 17. Jahrhundert nachweisbar. Erst als Kėdainiai seine Bedeutung für den Handel verlor, verließen sie die Stadt. Die meisten zogen im späten 18. Jahrhundert in die Hafenstadt Klaipėda (Memel). Geblieben sind die Gebäude – eines der größten ehemals schottischen Häuser in der Altstadt steht seit Jahren leer. Der Künstler Feliksas Paulauskas hat daraus ein Kunstprojekt gemacht: Fotos von Bewohnern in Bekleidung des 17. Jahrhunderts sind in den Fenstern zu sehen: „Traum vom goldenen Zeitalter“, so nennt der Künstler sein Projekt. „Gerade damals, zwischen 1600 und 1653, hat sich Kėdainiai am besten entwickelt“, sagt Paulauskas. „Davor war es schlechter und danach war es ebenfalls schlechter. Alles, worauf wir heute stolz sind, entstand in dieser kurzen Zeitspanne.“ In diese goldene Zeit fällt auch die Ankunft der Russen, Deutschen und Juden in der Stadt. Die Radvilas riefen sie zur Entwicklung des Handwerks und des Handels. Für Schotten, Juden und Deutsche gab es jeweils eigene Handelsplätze, um die herum sie sich niederließen. Die Bürgerschaft der Stadt übertrug den Juden die Erhebung der Zollgebühren. Die jüdische Gemeinde wuchs schnell: 1764 war etwa ein Viertel der gut 2 000 Einwohner jüdisch. Mitte des 17. Jahrhunderts bauten die Juden ihre erste Synagoge. Sie war aus Holz und stand am Rande des Alten Markts, daneben ein Badehaus und ein Krankenhaus. Hundert Jahre später waren bereits zwei Synagogen in Kėdainiai nachweisbar. Kėdainiai wurde als jüdisches Regionalzentrum so wichtig, dass im 18. Jahrhundert selbst der Gaon von Vilnius für ein halbes Jahr zu Studienzwecken dorthin kam – und seine Frau kennenlernte. Nachdem die hölzerne Synagoge bei einem Stadtbrand zerstört worden war, wurde um 1784 mit dem Bau einer neuen, steinernen Foto: Wikimedia Commons / Alma Pater 14 Das Denkmal vor dem Gebäude der Synagoge erinnert an die 2076 ermordeten jüdischen Einwohner von Kėdainiai. Synagoge am Alten Markt begonnen. Sie wurde 1807 eröffnet. In der Nachbarschaft entstand das Zentrum der Gemeinde, der „shulhoyf“. Die Ziegel zum Bau hatte der damalige Besitzer der Stadt, Marijanas Čapskis (Marian Czapski), gestiftet. Am Ende des 19. Jahrhunderts stellten die gut 3 700 Juden rund 60 Prozent der Einwohner der Stadt. Es gab eine jüdische Druckerei, eine jüdische Feuerwehr, ein jüdisches Kino und ein Hotel. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als Litauen eine unabhängige Republik war, zogen viele Litauer vom Land in die Städte. Das veränderte auch die Bevölkerungszusammensetzung in Kėdainiai, so dass die Juden in den 1920er Jahren noch etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachten. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Sommer 1941 stand die jüdische Gemeinde vor dem Aus. Bereits Ende Juni 1941 wurden über 300 Juden in den Wäldern außerhalb der Stadt erschossen. Am 28. August 1941 wurden 2 076 jüdische Einwohner auf dem Gelände des Militärlugplatzes bei Kėdainiai erschossen. Daran erinnert seit 2011 ein Denkmal in der Stadt, direkt vor dem Gebäude der Synagoge: ein Dreieck aus Metall symbolisiert das Auge Gottes, die Konstruktion hat genau 2 076 Lücken, in denen Steine liegen. Das Denkmal stammt von Feliksas Paulauskas. Am Erschießungsort selbst sind in der „Tränen-Mauer von Kėdainiai“, einem Zaun aus Metall, die Namen der Ermordeten zu lesen. Allerdings nur die gut 1 000 Namen derer, die eindeutig identiiziert worden sind. Die ehemalige Synagoge ist heute ein Begegnungszentrum. Im Obergeschoss erinnert eine kleine Ausstellung an die Geschichte der jüdischen Gemeinde. Der Zweite Weltkrieg brachte auch das Aus für den Großteil der lutherischen deutschen Gemeinde. Die Deutschen wurden im 17. Jahrhundert vor allem als Handwerker und Apotheker nach Kėdainiai gerufen. Ihre Kirche bauten sie auf einem Hügel außerhalb des Ortskerns. Der heutige Pfarrer, Arvydas Malinauskas, besitzt noch ein Foto aus dem Jahr 1940, auf dem die Nr. 3 2017 RGOW L I TAU E N Foto: Laima Gūtmane (simka … Gemeindemitglieder in Sonntagskleidung auf dem Hang vor der Kirche abgebildet sind. Es entstand vor der Ausreise ins Deutsche Reich. Hitler und Stalin hatten 1939 die Umsiedlung der Deutschen aus dem Baltikum beschlossen, nachdem sie die Aufteilung Mittelosteuropas mit dem Hitler-Stalin-Pakt besiegelt hatten. Heute hat die Gemeinde etwa 40 Mitglieder, man spricht Litauisch. Die Kirche war in der sowjetischen Zeit ein Getreidelager und ist heute eine Baustelle, wird aber für Gottesdienste genutzt. Seit 1999 gehört sie wieder der Gemeinde. Die Fassade ist bereits renoviert, doch die Inneneinrichtung ist immer noch ein Provisorium: Zusammengewürfelte Bänke, keine Kanzel, Kabel ziehen sich über den Boden. Man kämpft vor allem gegen die Feuchtigkeit in den Wänden und überlegt, wie die Fresken aus dem 17. Jahrhundert zu retten sein könnten. Sie stellen Peter In der reformierten Kirche von Kėdainiai stehen die Sarkophage der Radvilas. und Paul sowie die vier Evangelisten dar. Der Pfarrer will sie unbedingt erhalten, weil solche Fresken für luthe- sehen. Es ist nicht einmal klar, wo genau das Herrenhaus der Radvilas gestanden hat. Möglicherweise gegenüber der Altstadt, rische Kirchen außergewöhnlich sind. Abgesehen von der lutherischen gibt es eine reformierte am anderen Ufer des Flusses Nevežis, gleich neben der katholiGemeinde. Heute hat sie nur wenige Dutzend Mitglieder. Got- schen Georgskirche aus dem 15. Jahrhundert. Abgesehen von der Georgskirche gibt es in Kėdainiai noch tesdienste gibt es nur einmal im Monat, dann kommt ein Pfarrer aus Vilnius. In der sowjetischen Zeit war die Kirche zunächst eine zweite katholische Kirche: die hölzerne Josefs-Kirche. Sie Getreidelager, später Turnhalle. Die reformierte Kirche ist ein stammt aus dem 18. Jahrhundert und wurde von KarmeliterRenaissance-Bau, der für die kleine Stadt fast zu groß wirkt. Mönchen gebaut: Volksbarock. In der sowjetischen Zeit wurde Auch sie entstand für deutsche Einwanderer. Die Kirche ist die sie bis 1963 noch als Gotteshaus genutzt. Dann zog eine Elektroprominenteste in der Stadt, denn in der Krypta stehen die Sarko- Fabrik ins Karmeliter-Kloster ein und die Kirche wurde zum phage mit den sterblichen Überresten von Kristupas und Jonušas Lager. 1991 wurde sie wieder als Gotteshaus geweiht. Etwas außerhalb der Altstadt steht die russisch-orthodoxe Radvila (Janusz Radziwiłł). Daneben noch vier Kindersärge mit Kirche. Die Gemeinde hat heute etwa 100 Mitglieder. Sie entstand den Leichnamen der jung verstorbenen Geschwister Jonušas. Mitte des 17. Jahrhunderts, als Jonušas Radvila zum zweiten Mal heiratete. Da seine Frau orthodox war, wurde eine Kirche gebaut, Politischer Aufstieg und Niedergang Die Radvilas bescherten der Stadt nicht nur eine Vielzahl an zunächst aus Holz, im 19. Jahrhundert aus Stein. Zur Gemeinde Glaubensgemeinschaften und sie machten Kėdainiai nicht nur gehörte auch Pjotr Stolypin, der von 1906 bis 1911 russischer Prezu einem wirtschaftlichen Zentrum Niederlitauens, sondern mierminister war. Seine Familie besaß das Landgut Kalnaberžė auch zu einem politischen. In die Regierungszeit Jonušas iel nördlich von Kėdainiai. Gleich in der Nachbarschaft, in Šetenai, der Zweite Nordische Krieg. Litauen war fast völlig von russi- kam 1911 der Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz zur Welt schen Truppen besetzt, von Westen her drangen die Schweden (s. RGOW 9/2011, S. 16–18). Abseits der Altstadt steht in einem Park eine Kuriosität aus ein. Jonušas Radvila entschied sich dazu, mit den Schweden in Kėdainiai einen Vertrag zu schließen: Er wollte Litauen aus der dem 19. Jahrhundert: ein 25 Meter hohes Minarett. Es gehörte nie Union mit Polen herauslösen und stattdessen eine Verbindung zu einer Moschee. Der Gutsbesitzer und General der russischen mit Schweden eingehen. Zum Großfürstentum Litauen gehör- Armee Eduard Franz Todleben ließ es bauen, um sein Anweten damals die Gebiete, die heute den litauischen und weißrus- sen zu dekorieren: eine Erinnerung auch an seine Teilnahme sischen Staat bilden, ebenso Teile der heutigen Ukraine. Eine am russisch-türkischen Krieg von 1854/55. Im Park verteilte er schwedisch-litauische Union hätte die Machtverhältnisse in antike Skulpturen. Außer dem Minarett ist nichts davon erhalten, Europa auf den Kopf gestellt. Doch Radvilas politische Gegner auch nicht die beiden Häuschen, die er bauen ließ. Darin hatte er setzten ihn in Tykocin fest, im heutigen Nordost-Polen – Rad- ein Museum mit persönlichen Gegenständen eingerichtet. Dazu vila starb dort am Silvestertag 1655. Der Kriegsverlauf machte gehörten ein Trinkbecher, den er bei einer Begegnung mit Zar danach den Vertrag hinfällig. 1660 blieb im Frieden von Oliva Alexander II. benutzte und ein Teleskop, das er von der Krim alles beim Alten. Zwischen Polen und Litauen entspann sich um mitgebracht hatte. Kėdainiai hat sein kulturelles Erbe in den vergangenen JahJonušas Radvila aber ein jahrhundertelanger Streit. Viele Litauer sahen in ihm einen Staatsmann, der die Polonisierung Litauens ren sichtbar gemacht. Wer herkommt, kann vom goldenen Zeitaufhalten wollte, viele Polen betrachteten ihn als Verräter. Der alter träumen. Kėdainiai, oder Kedahnen auf Deutsch, Keidan Vertrag von Kėdainiai wurde zu einem wichtigen Motiv in der auf Jiddisch und Kiejdany auf Polnisch – ein Schnittpunkt der polnischen Literatur. Der Literaturnobelpreisträger Henryk multireligiösen und multikulturellen litauischen Vergangenheit. Sienkiewicz schrieb im späten 19. Jahrhundert in „Die Sintlut“: „Fragt ihn [Jonušas], wodurch die Schweden ihn bestochen haben! Jürgen Buch, M. A. in Publizistik, Slawistik und Fragt ihn, wie viel sie ihm ausbezahlt haben! Panowie, seht ihn, Soziologie, Berlin. Autor für Rundfunk und FernJudas Ischariot! Möge er in Verzweiflung enden! Verräter und sehen, neben Publizistik zu Osteuropa allgemein abermals Verräter!“ Schwerpunkt zur Aufarbeitung der Geschichte Nach Radvilas Tod 1655 schwand die politische Bedeutung in Osteuropa und zur Geschichte des Judentums; von Kėdainiai. Vom Sitz der Familie ist heute nichts mehr zu www.juergenbuch.de. 15 16 UKRAINE Nr. 3 2017 RGOW Gerhard Simon Die Ukraine und die vatikanische Ostpolitik In der Gemeinsamen Erklärung von Papst Franziskus und Patriarch Kirill waren auch die politischen und kirchenpolitischen Verhältnisse der Ukraine ein Thema. Der Autor kritisiert, dass die vatikanische Ostpolitik dabei weitgehend der Moskauer Lesart der kirchlichen Situation und des Konflikts in der Ostukraine folgt. Eine klare Benennung des russischen Aggressors steht bis heute aus. Zeichen der Entspannung soll die Aktion „Der Papst für die Ukraine“ setzen, die Menschen hilft, die unter den Kriegsfolgen im Donbass leiden. – S. K. Am 12. Februar 2016 trafen sich Papst Franziskus und Patriarch Kirill von Moskau im Flughafen von Havanna auf Kuba, unterzeichneten eine lange Gemeinsame Erklärung, nannten einander Brüder, „nicht Konkurrenten, sondern Geschwister“ (s. RGOW 3/2014, S. 4–7).1 Nach zwei Stunden Gespräch setzte jeder seine Reise durch Lateinamerika fort. In gewisser Hinsicht war diese Begegnung ein Ersatz für die bislang nicht zu Stande gekommene Reise eines Papstes nach Russland, die schon seit spätsowjetischer Zeit immer wieder im Gespräch war, aber nie realisiert wurde. Der wichtigste Stein des Anstoßes im Verhältnis zwischen Rom und Moskau war und ist die kirchliche Situation in der Ukraine. Vier der 30 Punkte umfassenden Gemeinsamen Erklärung befassen sich denn auch mit den politischen und kirchenpolitischen Verhältnissen in der Ukraine. Kirchenpolitische Verhältnisse Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK) ist die mit Abstand größte mit Rom unierte Ostkirche und verbindet Herkunft und Tradition aus der byzantinischen Ostkirche mit der kirchenrechtlichen Unterstellung unter den römischen Papst. Die UGKK wurde nach der Annexion der westlichen Ukraine durch die Sowjetunion 1946 mit dem Moskauer Patriarchat zwangsvereinigt, überlebte die Verfolgung im Untergrund, kehrte 1989 in die Legalität zurück und ist seit dem Ende der Sowjetunion eine der größten und lebendigsten Kirchen in der Ukraine. Das Moskauer Patriarchat aber hat den „Verlust“ der zwangsvereinigten Ukrainer bis heute nicht verwunden. Der Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metropolit Ilarion (Alfejev), sagte aus Anlass des 70. Jahrestages des Pseudokonzils von Lemberg im März 2016: „Die Union ist nach wie vor der Stein des Anstoßes im orthodox-katholischen Dialog“. Das Ende der sowjetischen Verfolgung und die Rückkehr der UGKK aus dem Untergrund heißen bei Ilarion: „Die Zerschlagung von drei orthodoxen Eparchien im Westen der Ukraine“ und „die gewaltsame Wegnahme von einigen hundert Kirchen“. 2 Ilarion ist seit Jahren im Vatikan bestens vernetzt. In der Gemeinsamen Erklärung von Havanna wird der UGKK zwar „das Recht zu existieren“ zugesichert, zugleich aber der „Uniatismus“ als nicht zukunftsfähig eingestuft. In sowjetischer Zeit gehörten alle orthodoxen Kirchen in der Ukraine zum Moskauer Patriarchat. Nach der Ausrufung der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine trennten sich viele Gemeinden, Priester und Bischöfe vom Moskauer Patriarchat und bildeten die Ukrainische Orthodoxe Kirche–Kiewer Patriarchat (UOK–KP). Inzwischen ist diese nach der Zahl der Gläubigen (allerdings nicht der Anzahl der Gemeinden und Geistlichen) die größte orthodoxe Kirche in der Ukraine. Weil die Loslösung gegen den Willen des Moskauer Patriarchen erfolgte, wird das Kiewer Patriarchat von keiner anderen orthodoxen Kirche als kanonisch anerkannt. Die zurückbleibende Ukrainische Orthodoxe Kirche–Moskauer Patriarchat (UOK–MP) wird angesichts des Krieges zwischen der Ukraine und Russland im Donbass zwischen der Loyalität zu Moskau und zur Ukraine zerrieben (s. RGOW 2/2015, S. 9–11). Die vatikanische Ostpolitik stellt sich in diesem Konlikt uneingeschränkt auf die Seite Moskaus. Rom lehnt jeden Kontakt zur UOK–KP ab und verplichtet alle seine kirchlichen Institutionen, diesem Boykott zu folgen. So kann etwa das OsteuropaHilfswerk der Katholischen Kirche in Deutschland, Renovabis, keine gemeinsamen Projekte mit der UOK–KP betreiben. Während Papst Franziskus nicht müde wird, den ökumenischen Dialog mit jedermann zu fordern, bleibt die größte orthodoxe Kirche in der Ukraine, zu der Tausende von Gemeinden und Millionen Gläubige gehören, davon ausgeschlossen. Vatikanische Ostpolitik Die vatikanische Politik gegenüber Russland und der Ukraine folgt seit Papst Franziskus im Wesentlichen der Linie von Patriarch Kirill und damit indirekt von Putin. Das gilt insbesondere für das Verschweigen bzw. Nichtbenennen der Konlikte und der Konliktursachen. Weder nannte der Vatikan die Annexion der Krim im März 2014 beim Namen noch die russische Aggression gegen den ukrainischen Donbass seit April 2014, von einer Verurteilung dieser völkerrechtswidrigen Akte ganz zu schweigen. Damit steht der Vatikan auch im internationalen Vergleich ziemlich allein da. Die vatikanische Ostpolitik beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die Konliktparteien und die Kirchen in der Ukraine zu Frieden und Eintracht aufzurufen; sie sollen sich laut der Erklärung von Havanna „einer Beteiligung an der Auseinandersetzung enthalten“. Dahinter steht offenbar die Vorstellung, dass ein Aufruf an alle Konliktparteien zum Frieden eine neutrale und friedensfördernde Position sei. Tatsächlich stellt sich jedoch derjenige, der den Angreifer mit dem Angegriffenen gleichsetzt, auf die Seite des Aggressors und gegen das Opfer. Es gibt keine Konliktlösung ohne die Benennung des Konlikts; und der Aufruf zum Gebet klingt wenig überzeugend und offenbart im besten Fall Hilflosigkeit. Das aber ist mit Sicherheit nicht das Ziel der vatikanischen Ostpolitik. Die Gemeinsame Erklärung von Havanna hat in der Ukraine scharfe Kritik ausgelöst. Kritik kam nicht nur, wie zu erwarten Nr. 3 2017 war, von der UOK–KP, sondern auch von der UGKK. Dagegen war der Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metropolit Ilarion (Alfejev), voll des Lobes. Die UGKK hatte schon lange vor Havanna den Vatikan wegen seines Schweigens, seiner falschen Wortwahl und der einseitigen Parteinahme für Moskau kritisiert. So hatte Franziskus wiederholt die russische Aggression im Donbass als „Bürgerkrieg unter Christen“ bezeichnet, mit anderen Worten als Krieg, an dem alle Seiten gleich schuldig sind. Der Vizerektor der katholischen Universität Lemberg, Myroslav Marynovytsch, hatte schon im Februar 2015 das Schweigen des Vatikans angesichts der russischen Aggression beklagt. „Aufrufe zur Versöhnung hängen in der Luft, wenn die Hauptvoraussetzung aller Versöhnung, die Wahrheit, nicht gesichert wird.“ „Ein ökumenischer Dialog kann nicht auf Kosten der Leugnung der Wahrheit aufrechterhalten werden; dies ist im Gegenteil der gerade Weg zu seiner Zerstörung.“ 3 Die Kritik aus der eigenen Kirche hat im Vatikan zunächst wenig bewegt. Der Apostolische Nuntius in Kiew, Claudio Gugerotti, stellte in einem Interview im August 2016 die Sichtweise des Vatikans dar. Demnach gehörte die Ukraine zur „Zone der Russländischen Föderation“; sie habe sich aber „ohne Zweifel auf Druck der westlichen Gesellschaften“ den USA und Europa zugewandt. Dann gab es „das Phänomen Majdan“ und die faktische Abtrennung von Russland. Auf diese Weise habe die Ukraine „die Schwierigkeiten, die zwischen den USA und Europa auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite bestanden, vergrößert“. Dies ist offenbar das Verständnis von Selbstbestimmung und Freiheitswillen, wie es im Vatikan kultiviert wird. 4 Diese Interpretation deckt sich übrigens weitgehend mit der geopolitischen Sicht der italienischen Politik auf die Konlikte in der Ukraine und ist der Putinschen Sichtweise nahe. Demnach haben die Ukrainer mit ihrem Aufbegehren gegen die Diktatur im Inneren und gegen den Neoimperialismus von außen das Gleichgewicht in der Welt gestört und sind dafür mit dem heutigen wirtschaftlichen Niedergang bestraft worden. Diese Wahrnehmung erinnert fatal an die in den 1980er Jahren im Westen weitverbreitete Vorstellung, wonach die Dissidenten in den damals kommunistischen Ländern des östlichen Europas und auch die polnische Solidarność nur Störenfriede der Entspannung waren. RGOW UKRAINE 500 000 Euro nach Rom. Franziskus selbst stellte für die Aktion fünf Millionen Euro zur Verfügung. Im Donbass wurde ein sog. Technisches Komitee zur Verwaltung und Verteilung der Hilfsgelder eingerichtet, geleitet von dem Weihbischof der römisch-katholischen Diözese Charkiv-Zaporižžja, Jan Sobilo. Ziel dieser Aktion, die den Namen „Der Papst für die Ukraine“ trägt, ist die humanitäre Unterstützung von Menschen, die unter den Kriegsfolgen leiden, und zwar auf beiden Seiten der Frontlinie, d. h. auch auf dem Territorium der sog. Volksrepubliken Donezk und Luhansk (http://popeforukraine.com.ua). Die humanitäre Hilfe soll ohne Ansehen der politischen und religiösen Überzeugungen oder der ethnischen Zugehörigkeit gewährt werden. Ob es dem Hilfswerk gelingt, tatsächlich auf beiden Seiten der Front zu arbeiten, wird die Zukunft zeigen. Bisherige Erfahrungen mit ähnlichen internationalen Hilfsaktionen sind nicht gut. Bis zum Jahresende 2016 sind mehr als 10 Millionen Euro an Spenden eingegangen. Das Technische Komitee hat Hunderte von Anträgen erhalten und bearbeitet. Die Entscheidung über die Auszahlung trifft der Päpstliche Rat Cor Unum, bzw. die Nachfolgebehörde Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Unterstützt werden sollen in erster Linie Menschen, die in der Nähe der sog. Kontaktlinie leben (d. h. faktisch im Kriegsgebiet) und innerukrainische Flüchtlinge aus dem Donbass. Finanziert werden vor allem Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und Wohnraum. Der politische Ehrgeiz der Aktion „Der Papst für die Ukraine“ besteht darin, die Frontlinie durchlässiger zu machen. Daher besucht Nuntius Gugerotti regelmäßig katholische Gemeinden in den besetzten Gebieten. Von ukrainischer Seite wird ihm deshalb vorgehalten, als Diplomat zur de facto Legalisierung der Separatisten und der russischen Intervention beizutragen. Wie weit entfernt die Spannungen im Osten Europas von Rom sind, und wie wenig Wissen darüber offenbar im Vatikan vorhanden ist, zeigte eine Episode am Rande einer Generalaudienz das Papstes am 5. Mai 2016. Ein kommunistischer Duma-Abgeordneter aus Moskau heftete dem Papst vor laufenden Kameras ein Georgsband an die Soutane. Offenbar wusste niemand in der Umgebung des Heiligen Vaters, dass das Georgsband seit zwei Jahren das wichtigste Emblem der Kämpfer gegen die Ukraine ist und quasi statt Hoheitsabzeichen getragen wird.7 Die Empörung in der Ukraine ließ nicht auf sich warten. Weil aber Franziskus auf beiden Seiten der Front steht, oder vielmehr auf keiner Seite, Die Aktion „Der Papst für die Ukraine“ Mittlerweile hat sich die vatikanische Ukraine-Politik nach segnete er am 25. Mai bei gleicher Gelegenheit ukrainische SolHavanna doch bewegt. Auslöser dafür war wohl der Besuch der daten, die mit einer ukrainischen Flagge auf den Petersplatz zur griechisch-katholischen Bischöfe bei Franziskus Anfang März Generalaudienz gekommen waren. 8 2016, der im Zeichen des Gedenkens an den 70. Jahrestag des Pseudokonzils von Lemberg 1946 und der Verfolgung der unier- Anmerkungen ten Kirche in der Sowjetunion stand. Die ukrainischen Bischöfe 1) http://de.radiovaticana.va/news/2016/02/12/im_wortlaut_ haben dem Papst in sehr klaren Worten die gegenwärtige Lage gemeinsame_erkl%C3%A4rung_von_franziskus_und_ des Landes vor Augen geführt und all das beim Namen genannt, kyrill/1208118. das zu beschweigen Richtschnur der vatikanischen Politik war 2) http://www.pravoslavie.ru/91390.html. und mit Einschränkungen bis heute ist. 5 3) ht t p: //r i s u .or g.u a /e n / i nde x /e x p e r t _ t hou g ht /op e n _ theme/59079/. Am 27. März 2016, zu Ostern, sprach Franziskus erstmals von einem „Krieg“ in der Ukraine. Dies ist seither vatikanische 4) http://risu.org.ua/ua/index/all_news/ukraine_and_world/ international_relations/64209/. Sprachregelung, allerdings ohne zu sagen, wer dort gegen wen Krieg führt. Im Juni 2016 rief Kardinalstaatssekretär Pietro 5) http://risu.org.ua/ua/index/all_news/catholics/ugcc/62721/. Parolin bei einem Besuch in der Ukraine dazu auf, die Normen 6) ht t p://r isu.org.ua /ua /i ndex /a l l _ news/cat hol ics/vat ikan/63711. des Völkerrechts hinsichtlich des Territoriums und der Grenzen der Ukraine zu achten. Das ging über Positionen des Vatikans in 7) http://www.pravda.com.ua/columns/2016/05/7/7107739/. 8) http://uapress.info/uk/news/show/132218. den vorangegangenen Jahren hinaus. 6 Um die große Not der Menschen im Kriegsgebiet des Donbass zu lindern, rief der Papst alle katholischen Gemeinden in Gerhard Simon, Prof. em. Dr. phil., lehrte OsteuEuropa zu einer Sonderkollekte für die Ukraine am 24. April 2016 ropäische Geschichte an den Universitäten Köln und Bonn. auf. In Deutschland überwies die Deutsche Bischofskonferenz 17 18 UKRAINE Nr. 3 2017 RGOW Tatjana Hofmann Dem Kulturleben der Krim auf der Spur Gemeinsam mit dem Kameramann Cyril Venzin hat die Zürcher Slavistin Tatjana Hofmann dem Kulturleben auf der Krim nachgespürt. Sie ist erneut mit den auskunftsfreudigen Teilnehmern des Bosporusforums, an dem sie vor zwei Jahren erstmals teilnahm, zusammengetroffen (s. RGOW 3/2016, S. 28 –29). Dabei hat sie verschiedene Autoren und Kulturschaffende interviewt, die jeweils ihre eigene Sicht auf das Kulturleben der Krim von düster bis freundlich-distanziert haben. – N. Z. Überleben. Auch wenn die Besucher nicht ausbleiben – neben den Stränden ziehen historische Stadtführungen sichtbare Menschentrauben an –, bleiben die Preise, die in den letzten beiden Jahren bis zu 20 % gestiegen sind, ein Problem. Zudem gefährdet die mangelnde Nachhaltigkeit die Lebensqualität: Außer in Jalta ist der Zugang zum Meer an der Südküste von Alupka bis Aluschta durch Zäune verbarrikadiert. Der russisch-ukrainische Essayist Igor’ Klech kritisiert diesen Zustand, es sei Neofeudalismus mit sowjetischen Wurzeln. 2 Er hebt als Vorbild den frei zugänglichen botanischen Garten hervor, den Tschechow in seinem Haus-Museum in Jalta anlegte. Lokale Kulturgeschichte als Lehrstunde für die Gegenwart. Wir möchten mit unserer Dokumentation niemanden belehren, wir möchten die „Krimtschanen“ selbst zu Wort kommen lassen. Die Aufnahmen setzen bei jedem guten Gespräch ein, oft spontan. Wir sind mit einem Koffer und einem Rucksack unterwegs, mit gemieteten Objektiven und einer einfachen Videokamera, ohne Zusatzlicht. Bisher setzen sich unsere Interviewpartner aus den Teilnehmern des Bosporusforums (s. RGOW 3/2016, S. 28–29) zusammen, sie sind gesprächsbereit. Das Forum indet seit 1993 alle zwei Jahre auf der Halbinsel statt. Der Organisator, Igor’ Sid, bezeichnet es als eine experimentelle Aktivität an der Grenze zwischen Kunstfestival und Konferenz. Von Anfang an schloss es kollektive konzeptualistische Aktionen wie Landart und Happenings ein. In den letzten Jahren ist die anthropologische Krise in den Vordergrund gerückt. 2015 und in diesem Jahr wurde die Übersetzung – im weiteren Sinne – zum Motto erkoren. Sid selbst stammt aus Kertsch. Seine dortige Wohnung staubt ein. Da es in Kertsch kaum Arbeit gibt, hat der Dichter und Organisator, Kommunikator und Herausgeber (u. a. des Bandes Einführung in die Geopoetik, Moskau 2013, sowie der geopoetischen Anthologie Mehr als nur ein Ferienparadies Cyril und ich drehen einen Dokumentarilm über die Krim. Bisher Unsere Krim, Moskau und New York 2016) seinen Lebensmittelwar unser Projekt Produktionsirmen suspekt, die Rede von Kultur punkt nach Moskau verlagert. Per Telefon, Mail und über soziale wurde überhört, die Politik verstellt die Sicht. Natürlich geht die Netzwerke steht er mit den Kollegen von der Krim gleichermaßen Frage nach dem Kulturleben der Krim viel zu weit, denn sie setzt in Verbindung wie mit ukrainischen Autoren. Durch sie wurde die voraus, dass jemand den Überblick hat. Mehr als um diesen geht es Geopoetik im deutschsprachigen Raum zum Label essayistischuns um den Stellenwert von geerbter und gelebter Kultur für die hybrider Literatur, die den osteuropäischen Raum erkundet. InnerMenschen vor Ort. Sie könnte Ferndiagnosen widersprechen, die halb der Slawistik kam Forschungsinteresse auf. eine Einöde, gar den Tod der Halbinsel hinaufbeschwören, wie es Wäre ihr Augenmerk auch auf das Übersetzen gerichtet gewesen, Karl Schlögel tut, wenn er bezweifelt, dass „aus dem Allunions- wäre der Übersetzer und Theaterautor Jan Shapiro nicht unbemerkt Sanatorium und Erholungskombinat eine Urlaubswelt [wird], die geblieben. Er ist mindestens ein doppelter Übersetzer: aus dem die Konkurrenz mit anderen europäischen Urlaubsgegenden auf- Englischen ins Russische und aus dem Atheismus ins Judentum. nimmt, ohne den ihr eigenen Zauber, die einzigartige Dichte ihres Den schmalen, freundlichen Mann mit Kippa kann ich mir nicht kulturellen und historischen Erbes zu ruinieren“ und davon ausgeht, als Elektriker im sowjetischen Sewastopol vorstellen. Shapiro sagt dass „Putins Russland der Krim und allen Krimtschanen die Chance selbst, seine Familie sei weltlich, russiiziert, seine Mutter veröfgenommen [hat], diesen paradiesischen Ort zu einer neuen Blüte zu fentlicht gerade ihr Buch Puschkins Sewastopol. Zum Judentum bringen.“ 1 gelangte er über Umwege, die auch das Interview mit ihm einDie Krim ist für viele, die dort gewesen sind, vor allem ein schlägt, und über den russischen Dichter Andrej Poljakov scherzt Ferienort, und für viele, die dort leben, sichert der Tourismus das er: „Vor einem Vierteljahrhundert flehte er mich an, ich solle mich „Die Krim ist ein Loch. Tiefste Provinz, aber mit Ansprüchen. Nach dem Motto: Wir sind nicht irgendein Rjazan’ oder Vologda, obwohl es dort ein Kulturleben gibt, ein ehrlicheres. Hey, hier ist das Parlament! Schwieriges Thema“, urteilt Alexander Barbuch, Fotograf und Drehbuchschreiber. Kurz darauf sagt er, das Symphonie-Orchester sollten wir uns anhören, und dass in Simferopol im Kunst- und im Tauris-Museum viel passiere. Ein wichtiger Veranstaltungsort ist auch die Ivan-Franko-Bibliothek, in friedlicheren Zeiten nach einem westukrainischen Schriftsteller benannt. Uns werden Besucherausweise ausgestellt. Mein Begleiter, der Schweizer Kameramann und Kulturwissenschaftler Cyril Venzin, schreibt zum ersten Mal seinen Namen in kyrillischen Buchstaben. Auf der Krim heißt er Kirill. In der Bibliothek besuchen wir die Ausstellung von Ismet Scheich-Zade. Der Urgroßvater des Performancekünstlers war ein Scheich im Krim-Khanat; die Familie wurde im Zweiten Weltkrieg nach Usbekistan deportiert. An die Präsenz verschiedenster kultureller Codes müssen wir uns gewöhnen. Einen ganzen Tag lang erklärt Ismet Scheich-Zade vor der Kamera seine Malerei, Installationen und Entdeckungen: Verbindungen zwischen Michelangelo und krimtatarischer Symbolik. Mit solchen Vorträgen nimmt er dieses Jahr an zwei Konferenzen teil, die zum Projekt der Galerie Krim-Khanat gehören. Zuerst in Moskau und jetzt in Melbourne. Da, wie er sich ausdrückt, eine russische Krim auf dem australischen Radar nicht existiert, bedient er sich für seine Teilnahme und für das Visum seiner alten Dokumente. Down under repräsentiert er nun die Gesellschaft akademischer Kunst der Ukraine. Nr. 3 2017 Der Dichter Andrej Poljakov bei sich zu Hause in Simferopol. Foto: Cyril Venzin taufen lassen. Ich habe in der Tat zu Gott gefunden, allerdings in der Synagoge, als der Rabbiner Benjamin Wolf nach Sewastopol gekommen ist. Seitdem wurden eine geräumige, schöne Synagoge, ein jüdischer Kindergarten und eine jüdische Schule eröffnet. Ich bin ,Meturgeman’ in der Synagoge geworden und unterrichte Erwachsene in Judaismus.“ An Rudyard Kiplings Werken beeindruckt ihn, dass sie zur Vorsicht gegenüber schnellen Rückschlüssen mahnen, Geselligkeit und Einsamkeit vereinen, elaboriert sind und sich dabei auf das Wichtigste konzentrieren. An Stücken hat Shapiro schon früher gearbeitet. Seit vor zehn Jahren der Dramaturg Anatolij Djatschenko aus Moskau nach Sewastopol zurückgekehrt ist und ein Seminar gegeben hat, schreibt Shapiro wieder, seine Theaterstücke widmen sich jüdischen Themen. Ein weiterer fester Forumsteilnehmer und Mitorganisator neben Sid und Shapiro ist Andrej Malgin, Direktor des Tauris-Museums. Was ihn gerade bewegt, ist die verweigerte Rückgabe des sog. Skythengolds. Die Sammlung aus ca. 2 000 Artefakten wurde Anfang 2014 von den lokalen Museen für die Ausstellung Krim: Gold und Geheimnisse des Schwarzen Meeres in Amsterdam ausgeliehen. Seit dem Anschluss der Krim an die Russische Föderation sind die Artefakte Gegenstand eines Rechtstreits. Malgin äußert sich enttäuscht über das Urteil des Den Haager Gerichts, die Schätze an Kiew zu übergeben. Genauso hat die Kulturministerin der Krim, Arina Novoselskaja, auf ein ausgewogeneres Urteil gehofft: Diese Entscheidung widerspreche dem rationalen Denken, moralischen Normen und der Museumsethik. Die charismatische Ministerin hat keine Zeit für ein Interview, gibt mir aber ihre Handynummer, für den Fall der Fälle. Der tritt ein, als wir vor dem verschlossenen Tor zum Khan-Palast in Bachtschissaraj stehen, obwohl wir dort einen Drehtermin für eine Performance von Ismet vereinbart haben – ein Anruf und das Tor öffnet sich. Das Schild „Sanitätstag“ hat so viel wie „Saisonende mit Feier inklusive Kater danach“ bedeutet. Lyrik abseits der institutionalisierten Kultur RGOW UKRAINE Schwarz-Weiß-Landschaften, ebenso einige Künstlerporträts wie das fröhliche Gesicht von Poljakov. Der ist zum Lyrikstar geworden, ohne sich physisch aus Simferopol hinauszubewegen. Barbuch raucht und fragt mich zurück: „Ist Pol Teil unseres Kulturlebens? Kaum. Er hält Distanz.“ Auch wenn man „Pol“ selten ein Lächeln abgewinnt, malt er das Kulturleben nicht schwarz. Der frühere Literaturdozent sieht immerhin eines. Er beobachtet es von außen, es sei wie eine Eisenbahnstation unter seinem Zimmerfenster. Er blicke auf die Züge, die an ihm vorbeifahren, aber wir müssen verstehen, er arbeite nicht bei der Eisenbahn. Diese Eisenbahn ist nur die eine Seite, aber eine beachtliche. Über 700 sozial, ökologisch und präventiv engagierte sowie im engeren Sinn hochkulturelle Veranstaltungen listet der Plan des Kulturministeriums für dieses Jahr auf, darunter krimtatarische und jüdische Feiertage, den Tag der krimtatarischen Sprache, die Ausstellung Tragödie eines Volkes zum Gedenken an die Opfer der Deportation, die Gedenkaktion Geschichte meiner Familie in der Geschichte des Krieges, die Konferenz Tschechow in Jalta und das Gumilev-Festival in Koktebel. Letzteres ist für das schiffs- bzw. kirchenähnliche Haus des Dichters Maximilian Woloschin berühmt, das wie eine Arche viele Gäste beherbergt hat – die Krim in Miniatur, eine Ferien- und Arbeitsresidenz, ein Impuls- und Durchgangsort der Kreativen verschiedener Herkunft. Diese Tradition greift das dortige alljährliche Poesie-Festival auf. Während die Direktorin des Museums wie eine Operndiva über Festivals und Bucherrungenschaften berichtet, die trotz fehlender Räumlichkeiten und geringer Finanzierung erfolgen, fällt der Strom aus. Unsere Aufnahme bricht ab. Die energische Dame erzählt weiter im Dunkeln, hoch erhoben über ihren Bücherstapeln. Auch in Poljakovs Zimmer wachsen stalagmitenartige Bücherstapel auf dem Boden. Sein Kopf ragt gerade so über sie hinaus, wenn er seinen künstlerischen Kosmos umreißt: „Mein ganzes Schaffen kreist um die Krim, und das literarische Leben der Krim, das bin ich.“ Das Leben sei ein Intertext, sein schreibendes Ich ein semiotischer Körper. Der Sinn sei für ihn symbolisch und daher dynamisch, die Dynamik impliziere ein Flimmern. Poesie müsse glimmen, sie brauche Raum und Leere statt dichter Logosbrocken, sie müsse sich im Kreis drehen dürfen. Die Semiotik besiege das Schicksal. Der studentenhafte, schnell und druckreif sprechende Philologe in Jeansjacke und Brille verkörpert die Geopoetik. Ursprünglich hat Sid den Begriff als Reaktion und als Appell im Zwist um die Krim, der Anfang der 1990er Jahre unter Krimtataren, Russen und Ukrainern entbrannte, lanciert. Sid bemühte sich um einen internationalen, ästhetischen Gegenpol. Gerade jetzt, wo Maßnahmen zur Friedenssicherung vonnöten wären, herrscht weitgehend Stille. Auch das Kulturministerium schweigt zur Frage, ob es das nächste Bosporusforum unterstützt. Im „Eisenbahnfahrplan“ taucht es nicht auf. „Kirill“, empfiehlt Poljakov, „lies Berdjaew, Bachtin und Schestow, dann können wir ohne Übersetzerin sprechen.“ Öfter als wir begleiten sie ihn in Simferopol, gemeinsam mit Husserl, Nietzsche, Bataille und Barthes … Wir nehmen Poljakovs Poetikvorlesungen auf und mit. Postsymbolistische Sinnbewegungen benötigen weder Reisepass noch Visum. Wieder in Simferopol, setzen wir unser Gespräch mit Alexander Barbuch und seinem langjährigen Freund, Andrej Poljakov, fort. Poljakov ist geblieben, Barbuch ist nun nach 15 Jahren zurückgekehrt. Nach dem Studium hat er in Kiew bei einem Fernsehsender gearbeitet, später in Moskau, wo er am Literaturinstitut studiert hat. Seine Frau stammt aus Frankreich. Abseits von Hektik, Kälte Anmerkungen und schlechter Luft verschwindet seine Depression. „Hier kann 1) Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. man noch spazieren gehen, Kinder spielen im Märchenpark, er München 2015, S. 144. sieht genauso aus wie in der Jugend meiner Eltern.“ Barbuch selbst 2) Igor Klech: Navejannye otdyhom v Krymu nesvoevremennye widerlegt sein Urteil über die Krim als Loch: Hier bereitet er seine mysli: http://svpressa.ru/blogs/article/155320/. nächste Ausstellung und das dazugehörige Fotobuch vor. Er zeigt uns urbane Schnappschüsse, von den Reklame-SpiegeTatjana Hofmann, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Slavischen Seminar der Universität lungen blicken düstere Selbstporträts des Fotografen. Oft relekZürich. tieren sie die Fotosituation, Farbarrangements kontrastieren mit 19 20 RUMÄNIEN Nr. 3 2017 RGOW Jürgen Henkel Wen(n) zu viel Ökumene stört In der Rumänischen Orthodoxen Kirche übt eine kleine, aber lautstarke Gruppe Kritik an der Kirchenleitung. Die Fundamentalisten verlangen eine Distanzierung der rumänischen Bischöfe vom Panorthodoxen Konzil von Kreta. Das Patriarchat hat die Kritik scharf zurückgewiesen und sich zu den Beschlüssen von Kreta bekannt. – S. K. In der Rumänischen Orthodoxen Kirche tobt seit dem Panortho- protestantischen Gotteshäusern, ohne ihren orthodoxen Glauben doxen Konzil von Kreta vom Juni 2016 (s. RGOW 11/2016) eine zu verlieren. Jeder „orthodoxe Christ kann der Orthodoxie treu heftige Auseinandersetzung zwischen fundamentalistischen Krei- bleiben, wenn er mit anderen Christen Dialog oder Zusammensen und der Kirchenleitung. Mit Protesten im Netz und Unter- arbeit plegt, ohne fanatisch, arrogant oder aggressiv zu sein“, so schriftensammlungen kritisieren wenige, aber lautstarke Gruppen das Patriarchat. und Stimmen die Beschlüsse der Synode von Kreta, an der auch das Im Oktober starteten vier selbsternannte „Bekenner-Mönche“ Oberhaupt der Rumänischen Orthodoxen Kirche, Patriarch Daniel vom Berg Athos (Evrem, Nikodim, Sava und Flavian) eine Tour (Ciobotea), sowie 25 weitere Bischöfe, Erzbischöfe und Metropo- mit Propagandaveranstaltungen durch Rumänien. Sie gaben vor, als liten seiner Kirche teilgenommen hatten. Die Kritiker werfen den ofizielle Delegation im Auftrag ihrer Athos-Klöster zu handeln. Bischöfen vor, mit ihrer Unterschrift unter die Konzilsdokumente Nur wissen die nichts davon. Die Äbte der Skite Prodromou sowie nicht-orthodoxe Kirchen anerkannt und damit die Orthodoxie der Klöster Megisti Lavra und Xeropotamou bestritten, dass die Mönche irgendein Mandat oder die Erlaubnis ihrer Klöster hätten, verraten zu haben. sich zu dem Konzil von Kreta öffentlich zu äußern, geschweige denn für den Berg Athos zu sprechen. Die Mönche seien keine Kritik am Ökumene-Dokument Vor allem das Bekenntnis zum Dialog mit den anderen Kirchen „Bekenner“, sondern „Gehorsamsverweigerer und Spalter“. Renomund deren explizite Bezeichnung als „Kirchen“ in dem Ökume- mierte Tageszeitungen in Rumänien sinnieren indes bereits, ob eine ne-Dokument des Konzils stoßen orthodoxen Traditionalisten in Kirchenspaltung droht. Allerdings sehen viele angesichts der wahRumänien sauer auf. Die Kritik kommt aus Kreisen, für die bereits ren Größenordnung der Protestbewegung den Aufstand zu recht der Begriff „Ökumene“ ein Schimpfwort darstellt. Die Kritiker nur als Sturm im Wasserglas. Immerhin gibt es auch von der Basis stören sich auch an der Verwendung des Begriffs „Kirche“ für Widerspruch. Der Priester und Blogger Eugen Tănăsescu aus dem nicht-orthodoxe Kirchen. Besonders einzelne Priester und Klös- Erzbistum Tomis (Constanţa) am Schwarzen Meer bezeichnet die ter aus der traditionell sehr konservativen Metropolie der Moldau Kritik als „religiösen Talibanismus“. und Bukowina drohten etwa dem Metropoliten Teofan (Savu) der Moldau und Bukowina und anderen Bischöfen damit, den in jeder Verteidigung der Konzilsbeschlüsse gottesdienstlichen Fürbitte (Ektenie) vorgeschriebenen Gebetsruf Das Patriarchat hat mehrfach überdeutlich auf die Anfeindungen für den Bischof, der symbolisch die kirchliche Gemeinschaft zum reagiert, auch einzelne Bischöfe beziehen in Predigten, Ansprachen Ausdruck bringt, zu verweigern, wenn die Bischöfe ihre Unter- und Interviews klar Stellung. Sie verteidigen die Konzilsbeschlüsse und weisen die Kritik daran als theologisch unbegründete und im schriften nicht zurückziehen. Im August starteten einige Mönchspriester eine Petition, die Stil unerträgliche Meinung radikaler Wirrköpfe und Splittergrupmittlerweile einige tausend Unterschriften gesammelt haben will. pen zurück. Der ökumenisch höchst versierte Patriarch Daniel Darin wird gefordert, dass die Bischöfe ihre Unterschriften von hält sich dabei zurück, wird er doch von den radikalen ÖkumeneKreta zurückziehen sowie der Ökumene insgesamt und dem Gegnern bisher aus Respekt vor seinem Amt noch nicht persönlich Ökumenischen Rat der Kirchen insbesondere abschwören. Am angegriffen. Er gilt als Spitzentheologe unter den derzeitigen ortho30. August 2016 kam es vor dem Patriarchat von Bukarest zu einer doxen Patriarchen, will aber weder konservative Kreise noch die Protestkundgebung und einem verbalen Schlagabtausch mit Weih- ökumenisch aufgeschlossene Fraktion gegen sich aufbringen, um bischof Varlaam (Merticariu), der sich unter freiem Himmel der nicht zwischen die Fronten zu geraten oder das Amt zu beschädigen. Die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche hat Diskussion stellte. Die Reaktionen aus dem Patriarchat auf die Vorfälle ließen an sich nicht ofiziell mit den Kritikern beschäftigt oder sich dazu Klarheit nichts zu wünschen übrig. In einer Stellungnahme im Sep- geäußert. Die Bischöfe haben jedoch auf ihrer Vollversammlung tember sprach die Kirchenleitung von Personen, die „in weltlichem im Oktober 2016 die Beschlüsse von Kreta ausdrücklich bestätigt und aggressivem Geist“ die bei dem Konzil anwesenden Bischöfe und sich für eine Fortsetzung des konziliaren Prozesses ausge„angeklagt und beleidigt haben“. Es handle sich dabei um „einige sprochen. Der renommierte Bukarester Kirchenhistoriker Daniel aufrührerische Kleriker und unkanonische, ungehorsame Wan- Benga wies zudem in einem Beitrag in der unter strenggläubigen dermönche sowie Laiengläubige, die von diesen beeinlusst wer- Orthodoxen sehr beliebten Tageszeitung Ziarul Lumina anhand den“. Die Kritiker seien „nicht dialogfähig, sondern aggressiv“ und eines Vergleichs der Beschlüsse des Zweiten Ökumenischen Konzils „stören von innen heraus den Frieden und die Einheit der Kirche, von Konstantinopel 381 mit denen des ersten Konzils von 325 von weil sie nicht vom Geiste Christi geleitet sind“. Die Kirche fördere Nicäa nach, dass die Konzilsväter von 381 Änderungen und Ergänweder „konfessionellen Hass noch religiösen Krieg“, sie bekenne zungen zur Verbesserung des Textes von 325 vorgenommen haben. die Orthodoxie „mit Demut und Frieden in der Seele“. Das Patri- Benga unterstreicht damit die dynamische Lehrtradition gegenüber archat verwies auch auf die Diaspora. Immerhin 670 der über 700 Splittergruppen, die verbissen um jedes theologische Jota kämpfen. rumänischen Gemeinden in Westeuropa feiern ihre Gottesdiens- Wobei diese selbsternannten „Superorthodoxen“ ohnehin eine zwar te nicht in eigenen, sondern in katholischen, anglikanischen oder laute, aber zahlenmäßig verschwindende Minderheit abbilden. Nr. 3 2017 RUMÄNIEN RGOW „Kritiker haben die Texte nicht gelesen“ – Interview mit Erzbischof Laurenţiu (Streza) von Sibiu Jürgen Henkel: Eminenz, es gibt heftige Kritik in der Rumänischen Orthodoxen Kirche an den Beschlüssen des Panorthodoxen Konzils. Droht eine Kirchenspaltung? Um ein Schisma auszulösen, muss man jemand sein, der überhaupt in der Lage ist, ein Schisma zu veranlassen. Das ist hier nicht gegeben. Die meisten der Kritiker äußern sich lautstark, ohne überhaupt die Dokumente gelesen zu haben, die sie so scharf kritisieren. Vor allem das Dokument zum Verhältnis zu den anderen Kirchen ruft Kritik der fundamentalistischen Kreise hervor. Wie bewerten Sie das? Wir haben keinerlei Kompromisse gemacht, was die Anerkennung anderer Kirchen betrifft. Das Konzil hatte nicht das Ziel, Foto: Jürgen Henkel neue Dogmen oder kirchenrechtliche Normen (Kanones) zu erlassen. Ziel war es, den orthodoxen Glauben für die Pastoral und missionarisch zu stärken. Seit den 1960er Jahren wurde dieses Konzil vorbereitet. Ich selbst habe schon 1982 an einem Vorbereitungstreffen teilgenommen. Ein Panorthodoxes Konzil ist kein tagesaktuelles Treffen, es legt Grundsätze fest. In diesem Dokument wird die Orthodoxe Kirche wie bisher als wahre Kirche bezeugt. GleichzeiWie lief das Konzil ab? tig wird festgehalten, dass es auch Dieses Konzil wurde von 14 autokeandere gibt, die den Anspruch erheben, Kirche zu sein. Diese unterphalen orthodoxen Kirchen vorbe- Metropolit Laurenţiu (Streza), Erzbischof von Sibiu, beim scheiden sich von uns, aber wir reitet. Alle Dokumente des Konzils Durchblättern der Konzilstexte von Kreta. erklären sie in diesem Dokument lagen viersprachig vor: Griechisch, Englisch, Französisch und Russisch. Die zehn beschlossenen nicht für häretisch. Das Konzil erlässt kein neues Dogma zur Dokumente sind von allen zehn Kirchenoberhäuptern der Deinition von Kirche. Wir sind im Dialog mit anderen Kirchen, anwesenden Kirchen unterzeichnet worden. Vier Kirchen gerade weil wir unterschiedlich sind. Und es braucht diesen waren aus bekannten Gründen nicht vertreten, aber das waren Dialog, um zur Einheit zu kommen. Deshalb enthält das Konkeine theologischen Motive. Aber auch die zehn anwesenden zilsdokument auch keine Werturteile über andere Kirchen. repräsentieren die weltweite Orthodoxie. Unser Patriarch Es geht darum, das Eigene zu betonen. Selbst vom heiligen Daniel hatte die meisten Wortmeldungen mit konkreten Berg Athos waren Vertreter bei dem Konzil. Alle Stimmen Änderungswünschen. Es gab eine ernsthafte theologische wurden gehört, auch russische Änderungswünsche wurden Diskussion. Unser Ziel war es, einerseits die orthodoxe Ord- eingearbeitet. Es wurde mit Akribie darauf geachtet, dass die nung zu bewahren, gleichzeitig aber auch das Zeugnis und die Änderungswünsche aufgenommen wurden. Botschaft der Kirche für die Gegenwart zu bekräftigen. Die Synode hat die Orthodoxie verteidigt und gestärkt. Einzelne Priester und Klöster fordern die Rücknahme der Unterschriften der Bischöfe aus Rumänien. Andernfalls wollen sie die Fürbitte für die Bischöfe im Gottesdienst Können Sie ein Beispiel nennen? Die Diskussion um das Fasten. Wenn wir das strenge orthodoxe verweigern. Fasten um die Hälfte reduziert hätten, hätten wir tatsächlich Solche Kommentare sind aufgekommen, bevor überhaupt die Ordnung des Fastens zerstört. Das wäre das falsche Signal die Texte veröffentlicht wurden. Es handelt sich um Fundagewesen. Wir haben beschlossen, die strenge Fastenordnung mentalkritik kleiner Gruppen, weniger Priester und einzelner grundsätzlich beizubehalten, ermutigen aber jeden Gläubigen, Klöster. Wenn Priester oder Klöster die Bischöfe nicht mehr diese Ordnung nach seinen persönlichen Möglichkeiten umzu- in der Fürbitte erwähnen, übertreten sie das geltende Kirsetzen, so gut er kann. Jeder Ortsbischof und jede Bischofssy- chenrecht. Wenn diese Kritiker nun fordern, dass die Bischöfe node hat die Möglichkeit, nach dem Prinzip von Akribie und ihre Unterschrift zurückziehen sollen, geht das völlig an der Heilsökonomie Ausnahmen zu genehmigen. Die Ausnahme Wirklichkeit vorbei. Wir unterzeichnen solche Dokumente bestätigt die Regel und schwächt diese nicht. Hätten wir die nicht im eigenen Namen, sondern im Namen und Auftrag Ausnahme zur Regel erklärt, dann hätten wir die Regel wirk- unserer Kirchen, Metropolien und Bistümer. Auch wenn nur der Patriarch unterzeichnet hätte, dann hätte er dies nicht lich geschwächt. in seinem eigenen Namen getan, sondern für die ganze KirWas wird dem Konzil von den fundamentalistischen Gegnern che. Es liegt jetzt an uns, diese Konzilsbeschlüsse in unseren Kirchen zu analysieren und zu erklären, um sie zu rezipieren. konkret vorgeworfen? Der Vorwurf lautet, dass die Orthodoxie mit diesen Beschlüssen Die Rezeption in den Kirchen ist entscheidend für die Gültiggeschwächt wurde. Aber das Gegenteil ist der Fall, die Orthodo- keit der Beschlüsse. Auch die Russen, die nicht teilgenommen xie wurde gestärkt. Wobei wir freilich für die orthodoxe Welt haben, werden die Konzilstexte analysieren und viele ihrer wie für die orthodoxen Christen und Gemeinden in der welt- Änderungswünsche in den Texten wiederinden. weiten Diaspora unsere Verkündigung auch unter den neuen Bedingungen der Gegenwart verständlich machen müssen. Wir Jürgen Henkel, Dr. theol., ist Pfarrer der Evang.können nicht einfach dasselbe wiederholen wie vor 1 000 Jahren. Luth. Kirche in Bayern und Publizist; Grün- dungsherausgeber der „Deutsch-Rumänischen Theologischen Bibliothek/DRThB“; Buchveröffentlichungen: Einführung in Geschichte und kirchliches Leben der Rumänischen Orthodoxen Kirche (2007), Halbmond über der Dobrudscha. Der Islam in Rumänien (2016). 21 22 K AU K A S U S Nr. 3 2017 RGOW Ansgar Jödicke, Andrea Friedli, Ketevan Khutsishvili Das Lomisoba-Fest: Volksreligiosität und Kirche in Georgien Das Lomisoba-Fest ist eines von vielen volksreligiösen Ritualen in georgischen Gebirgsregionen, das nicht nur Pilger, sondern auch vermehrt Touristen anzieht. Nach anfänglicher Ablehnung integriert die Georgische Orthodoxe Kirche heute solche weder eindeutig paganen noch eindeutig christlichen Praktiken, da sie als Marker georgisch-nationaler Identität auf vielseitiges Interesse stoßen. – R. Z. Die bedeutende Rolle von Religion in der georgischen Gesellschaft ist sogar für Touristen augenscheinlich. Spätestens wenn der Taxifahrer sich bei jeder Kirche, an der er vorbeifährt, bekreuzigt, werden Gäste sich auch der Ikonen bewusst, die auf dem Armaturenbrett vieler Taxis befestigt sind. Auch die Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich in den letzten Jahren vermehrt dem Thema Religion, Gläubigkeit, Kirche, Demokratie und nationaler Identität in Georgien gewidmet, wobei häuig auf die einlussreiche Stellung der Georgischen Orthodoxen Kirche in Politik und Gesellschaft hingewiesen wird. Nur wenige Forschungen beschäftigen sich allerdings mit verbreiteten religiösen Praktiken und deren Verhältnis zur ofiziellen Kirche. Auch der Tatsache, dass die Georgische Orthodoxe Kirche keineswegs eine homogene und unumstrittene Institution ist, wird in vielen Studien nicht Rechnung getragen. Wir beschäftigen uns in diesem Artikel an einem Fallbeispiel mit der Frage, wie religiöse Praktiken, die nicht Teil der georgisch-orthodoxen Normen sind (und ihr sogar widersprechen), die aber in der georgischen Gesellschaft eine gewisse Popularität genießen, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und gedeutet werden können. Dabei beziehen wir uns auf das LomisobaFest, das wir im Juni 2015 im Rahmen einer gemeinsamen Feldforschungsreise in Georgien besucht und studiert haben. Ursprung und Ablauf des Lomisoba-Festes Das Fest indet in einer kleinen Kommune in der Region Mtiuleti ca. 100 km nordwestlich von Tbilisi statt. Das Dorf Mleta liegt direkt an der Georgischen Heerstrasse, die von Tbilisi nach Wladiwostok führt und ist somit mit dem Auto von Tbilisi aus in etwa eineinhalb Stunden erreichbar. Am Festtag säumen zahlreiche parkende Autos die Durchgangsstraße. Auf den Wiesen um das Dorf herum haben sich viele Familien und Menschengruppen zum Picknick niedergelassen. Der im engeren Sinn religiöse Teil des Brauchtums indet einerseits in der Kirche im Tal und andererseits während einer Pilgerwanderung zu einer kleinen Kirche, die auf dem Berg Lomisi auf der Passhöhe zwischen dem Aragvi- und dem Ksani-Tal steht, statt. Die Passhöhe ist zu Fuß von beiden Tälern aus in ca. zwei bis drei Stunden erreichbar, allerdings liegt das Ksani-Tal auf der Seite des russisch kontrollierten Südossetien, was den Aufstieg von dieser Seite zurzeit unmöglich macht. Gemäß Erzählungen wurde die Kirche in der Zeit der Invasion der Choresmier im 13. Jahrhundert erbaut. Einige Einheimische bringen die Kirche allerdings bereits mit der Zeit von König Wachtang Gorgasali, also dem 5. Jahrhundert, in Verbindung. Die verbreitete Legende besagt, dass bei einem Angriff der Choresmier ein Ochse namens Loma 7 000 gefangene Georgier befreit und auf den Lomisi-Berg geführt habe. Loma habe die Ikone des Hl. Georg auf den Hörnern getragen, und als der Ochse auf dem Berg verstorben sei, habe man an der Stelle eine Kirche gebaut und diese Ikone als erste in die Kirche gebracht. Das Fest, das jährlich am 53. Tag nach Ostern begangen wird, trägt den Namen Lomisoba. Das Sufix -oba wird dabei an einen Eigennamen angehängt, um den Namen eines Festes zu Ehren einer Person oder eines Ortes zu bilden: so zum Beispiel Va schaoba zu Ehren des Schriftstellers Vascha-Pschavela oder eben Lomisoba zu Ehren des Hl. Georg von Lomisi. Die Ursprünge des Fests sind heute schwierig nachzuvollziehen, es ist aber anzunehmen, dass historisch Bezüge zu georgischorthodoxen Traditionen und Feiertagen bestehen. Lomisoba ist heute das Fest einer kleinen Kommune, die den Hl. Georg von Lomisi als Lokalheiligen verehrt. In der Kommune versteht sich die Burduli-Familie als rechtmäßige geistliche Führung der Gemeinschaft, und es sind nur Mitglieder dieser Familie, die die Funktion von sog. dekanosi einnehmen können. Das Wort bedeutet eigentlich Hohepriester, wird aber als Begriff im georgischen Hochland für all diejenigen gebraucht, die die Rolle eines Ritualleiters und religiösen Respektperson innehaben. Gemäß lokalen Narrativen waren es immer die Burduli, aus denen in der Gemeinde die dekanosi rekrutiert wurden, da sie es waren, die die Region Mtiuleti von der Hegemonie der Dvalen befreit hatten. Die Lomisoba-Feier beginnt jeweils am Nachmittag vor dem Fest, wenn der lokale dekanosi die Ikone des Hl. Georg aus der Kirche im Dorf zusammen mit einer kirchlichen Flagge unter rituellen Gesängen hinauf in die Bergkirche bringt. Die Ikone und die Flagge werden am zweiten Tag vor Sonnenaufgang wieder zurück in die Kirche in Mleta gebracht. Viele Pilger steigen im Verlauf des Fests zur Kirche auf der Passhöhe. Im Innern der Kirche gibt es eine schwere Eisenkette, die von einigen Pilgern um die Schulter gelegt wird, bevor sie dreimal den Kirchenraum umschreiten. Der Legende nach wurde diese Kette von einer Frau aus der Dadiani-Königsfamilie der Samegrelo-Region zur Kirche gebracht. Sie soll die Kette allein und barfuß den Berg hochgetragen haben, als Gabe für den Hl. Georg. Eine andere Legende besagt, dass die Kette von einem georgischen Mann gebracht wurde, der vom Hl. Georg auf wundersame Weise aus der Gefangenschaft befreit wurde. Es gibt in Georgien auch an anderen Orten solche Bräuche, in denen Ketten oder Joche getragen werden, um die Hilfe Gottes oder eines Heiligen anzurufen. Was die Lomisoba-Feier jedoch für georgisch-orthodoxe Verhältnisse außergewöhnlich macht, ist das Opferritual, das von den lokalen geistlichen Führern durchgeführt wird. Manche Pilger bringen ein Opfertier (in der Regel einen Schafsbock, weibliche Tiere dürfen nicht geopfert werden) mit, das vom dekanosi gesegnet wird, bevor ihm der Hals durchtrennt wird. Einige Opfertiere werden auch auf den Berg geführt, wo sie drei Mal Nr. 3 2017 Lomisoba-Fest bei der Kirche des Hl. Georg auf dem Berg Lomisi in Georgien (2011). Foto: Aleksey Muhranoff (Wikimedia Commons) die Lomisi-Kirche umrunden, bevor sie oben auf dem Berg oder auch unten im Tal geopfert werden. In der Regel werden der Kopf und die rechte Schulter des Tiers am Opferplatz gelassen. Ein Teil des Fleischs geht an die Burduli-Familie, ein weiterer Teil an Bedürftige und einen Teil behält die Person für sich und seine Familie. Häuig wird das Fleisch gerade vor Ort in einem Topf auf dem Feuer gekocht (es darf nicht gebraten werden) und verspeist. Einige Pilger entscheiden sich, ihr Opfertier nicht zu schlachten, sondern freizulassen. Das Gesamt-Arrangement der Pilgerfahrt kann auch verkürzt durchgeführt werden. So gibt es die Möglichkeit, das Ritual im Tal zu begehen, ohne den beschwerlichen Aufstieg zur LomisiKirche auf sich zu nehmen. Auch indet man an der Kirche unten im Tal eine Kette, die an der Außenmauer befestigt ist, so dass auch dieser Teil des Rituals ohne Aufstieg auf die Passhöhe vorgenommen werden kann. Kontext und Besucherkreis des Lomisoba-Festes Ohne auf die religiös-historischen Hintergründe vertieft einzugehen, soll hier erwähnt werden, dass derartige Feste in gebirgigen Regionen Georgiens eine lange Geschichte haben und die Praktiken auch während des 20. Jahrhunderts trotz Kampagnen gegen den „schädlichen Volksglauben“ von sog. Schreinpriestern durchgeführt wurden. Diese Rituale waren jeweils stark in den jeweiligen lokalreligiösen Kontext eingebunden und wurden nur im engen Kreis der betreffenden Kommunen begangen. Verschiedene ethnologische Forschungen zeigen, dass die Feste in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion einen Wandel erfahren haben und von lokalen politischen und kulturellen Akteuren angeeignet und umgedeutet wurden. Ein ausführlich dokumentiertes Beispiel ist das Fest Lascharoba in Pschavi-Chevsureti, das vom kanadischen Ethnologen Kevin Tuite in den Jahren 1997, 2000 und 2001 besucht und studiert wurde. Lascharoba ist das zentrale Fest des Disktrikts Pschavi und hat einen kommunenübergreifenden Charakter. Mit der Sowjetisierung verlor das Fest an Bedeutung, umso mehr, als auch der angesehene und charismatische Schreinpriester verstarb. Erst 1990 fand sich ein Nachfolger, ein Zugeheirateter aus dem Unterland, der allerdings nicht mehr dasselbe Ansehen wie sein Vorgänger genoss. Tuite beobachtete eine zunehmende Heterogenität der Teilnehmenden am Lascharoba Fest: neben den Bewohnern der lokalen Kommunen kamen vermehrt auch Leute aus dem Unterland, einige auch in der traditionellen georgischen männlichen Tracht „Tschocha“, darunter Mitglieder georgischer traditioneller Kampfkunstgruppen auf der Suche nach authentischen georgischen Kampfformen in abgelegenen Bergregionen. RGOW K AU K A S U S Einige der von Tuite beschriebenen Merkmale des LascharobaFestes dürften auch für das Lomisoba-Fest gelten. Ein besonderes Merkmal des Lomisoba-Festes ist die enorme Popularität, die es in den letzten Jahren gewonnen hat. Ursprünglich wurde das Fest von der lokalen Bevölkerung gefeiert. Es wurde in erster Linie von Personen besucht, die zum Hl. Georg von Lomisi beten und ihn um etwas bitten möchten, sei es um die Heilung von Krankheiten, die Erlösung von Kinderlosigkeit oder um die Lösung von Problemen in der Familie, bei der Arbeit usw. Das Fest hat anscheinend besonders an Popularität gewonnen, nachdem sich in den 1990er Jahren der Bericht einer Pilgerin verbreitete, die nach dem Besuch des Lomisoba-Festes endlich schwanger wurde. Für viele der Besucherinnen und Besucher ist das Lomisoba Fest aber auch ein Familienanlass. Sie kommen gemeinsam zum Fest, schlagen auf einer Wiese ihr Lager auf, wandern allenfalls auf den Berg, opfern den Schafsbock und sitzen dann bei einem geselligen Mahl mit Wein und Gesang beisammen. In den vergangenen Jahren hat das Fest den Charakter einer Massenveranstaltung angenommen. So gibt es einen für die Opferung vorgesehenen Platz unweit der Dorfkirche, der mit Gestellen zur Häutung und Ausweidung der Tiere sowie mit einem großen Lastwagen zum Abtransport der Tierköpfe ausgestattet ist. Die Regierung stellt Sanitäter und Aufsichtspersonen zur Verfügung, um Unfälle zu vermeiden und Ordnung zu garantieren. Um die Kirche herum gibt es zudem viele Marktstände, an denen neben Ikonen und Kerzen auch Lebensmittel und weitere Waren wie Spielsachen angeboten werden. Den Kennzeichen der parkenden Autos lässt sich entnehmen, dass zahlreiche Besucherinnen und Besucher auch aus der Hauptstadt Tbilisi und nicht nur aus der näheren Umgebung stammen. Diese Entwicklung spaltet die Bevölkerung, die am Lomisoba-Fest teilnimmt: viele Einheimische stoßen sich an den „Touristen“, die das Fest als Anlass zum Campingauslug mit Picknick nutzen. Außerdem inden sich Vertreter der Georgischen Orthodoxen Kirche unter den Besuchern sowohl unten im Tal wie auch oben auf dem Berg. Die Kirche in Mleta nahm 2006 ihren Dienst wieder auf, nachdem sich die Dorfbewohner mit der Bitte an den Patriarchen gewandt hatten, die Kirche zu eröffnen. Immer häuiger wird das Fest aber auch von Gruppen von Jugendlichen frequentiert, die sich im Freundeskreis treffen und zum Beispiel gemeinsam georgische Volkslieder singen und tanzen. Die Verbindung des Lomisoba-Besuchs mit georgischen Folklore-Elementen wurde auch von Tuite beim Lascharoba-Fest festgestellt: vermehrt gibt es Pilger in traditioneller georgischer Kleidung oder solche, die während der Pilgerfahrt Volkslieder singen und traditionelle Tänze tanzen. Lomisoba und die Georgische Orthodoxe Kirche Das Lomisoba-Fest und seine Popularität müssen im Kontext des religiösen Umfelds Georgiens verstanden werden. Das religiöse Feld Georgiens ist maßgeblich geprägt durch die Georgische Orthodoxe Kirche, der die Mehrheit der georgischen Bevölkerung angehört, und die eine lange Geschichte aufweist. Vertreter der Kirche selbst verweisen immer wieder auf diese historische Tradition, um die wichtige gesellschaftliche Rolle der Kirche in Georgien und ihren Beitrag zur nationalen Identität zu legitimieren (s. RGOW 6–7/2015, S. 16–19). Gerne wird dabei auch auf quantitative Umfragen verwiesen, wonach in jährlich wiederkehrenden repräsentativen Befragungen das hohe Vertrauen dokumentiert wurde, das die Kirche in der Bevölkerung genießt. Zwar ist dieses Vertrauen in den letzten Jahren etwas zurückgegangen, aber 2015 antworteten auf die Frage, wie sehr sie ihrer eigenen religiösen Institution vertrauen, immerhin noch 46 Prozent mit „volles Vertrauen“ und 34 Prozent mit „teilweises 23 24 K AU K A S U S Nr. 3 2017 RGOW Kirche im Dorf Mleta an der Georgischen Heerstraße, wo ein Teil des Lomisoba-Rituals stattfindet (2015). Pilger mit Opfertier beim Aufstieg auf die Passhöhe und im Hintergrund die Kirche des Hl. Georg von Lomisi (2015). Fotos: Ansgar Jödicke Vertrauen“. Damit genießt die Kirche immer noch das höchste Vertrauen im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen und politischen Institutionen. Das hohe Vertrauen der Bevölkerung in die Kirche wird jedoch auch immer wieder kritisch gesehen. Kritiker sehen im großen Einluss der Kirche auf die Bevölkerung eine Gefahr für die Demokratisierung, Modernisierung und Westorientierung Georgiens. Diese Kritik verrät insbesondere auch etwas über die Religiosität in Georgien. Das hohe Vertrauen, das Georgierinnen und Georgier in die Georgische Orthodoxe Kirche setzen, ist nicht unbedingt mit einer hohen individuellen und kollektiven Religiosität gleichzusetzen. Vielmehr weist die Bevölkerung Georgiens dieselben Brüche innerhalb des religiösen Feldes auf, wie sie auch in anderen Staaten zu inden sind. Die in der Öffentlichkeit ausgetragene Kontroverse zwischen konservativen Kirchenfürsten und säkularen Intellektuellen stellt nur die Oberläche der fragmentierten religiösen Landschaft dar. Die Vorstellung einer homogenen Kirche, die sich geschlossen einer politischen Richtung verschrieben hat und die georgische Bevölkerung vereint, ist insofern lediglich eine Konstruktion – sei es aus afirmativer, kirchlicher Perspektive oder aus säkular-politischer. Eine differenziertere Betrachtung der Konstellationen georgisch-orthodoxer Religiosität ist wissenschaftlich erst in den Anfängen. Die Beschäftigung mit dem Lomisoba-Fest kann in diesem Zusammenhang hilfreich sein. Die liturgischen und dogmatischen Eigenheiten der Georgischen Orthodoxen Kirche entwickelten sich in enger Verbindung mit der byzantinischen Kirche. Sowohl in ihrem Kirchenverständnis als auch in ihrer Liturgie und lebenspraktischen Alltagsreligiosität fügt sie sich damit in die byzantinisch-orthodoxe Kirchenfamilie ein. Die Autokephalie entwickelte sich bereits im 5. Jahrhundert (mit einer Bestätigung aus Konstantinopel im 10. Jahrhundert) und ist nach einer längeren Unterbrechung währen der russischen Dominanz im 19. und 20. Jahrhundert heute wieder intakt. Die Selbstpositionierung als Nationalkirche ist wesentlich von dieser weit zurückreichenden Autonomie geprägt. Für das Verständnis des Lomisoba-Festes sind vor allem die Heiligenverehrung sowie das Prozessions- und Pilgerwesen bedeutsam. Heilige genießen in der Orthodoxen Kirche eine traditionell hohe Verehrung, die sich in zahlreichen Bräuchen der Alltagsreligiosität bis hin zu Riten der ofiziellen Religiosität manifestiert. Die Verehrung von lokalen Heiligen und insbesondere der Figur des Hl. Georg wie hier beim Lomisoba-Fest wird von der Georgischen Orthodoxen Kirche akzeptiert und entspricht der Praxis in ganz Georgien. Prozessionen und Pilgerfahrten sind ebenfalls üblich. So kann die Wanderung auf den Berg als eine klassische Pilgerwanderung angesehen werden. Die vielfältigen Bezüge zu einem typisch georgisch-orthodoxen Brauchtum können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Lomisoba-Fest auch einige Merkmale aufweist, die für die orthodoxe Frömmigkeit ungewöhnlich oder fremd sind. Zum einen ist dies das Schlachten eines Opfertieres. Es ist deshalb gut nachvollziehbar, dass das Lomisoba-Fest und insbesondere sein starker Popularitätszuwachs in den letzten Jahren eine heftige Diskussion innerhalb der Kirche und sogar in der breiteren Öffentlichkeit ausgelöst hat. Während säkularisierte Teile der städtischen Gesellschaft und politische Eliten das Fest als Aberglaube disqualiizieren und dabei vor allem auf das Argument des Tierschutzes zurückgreifen, hat die Popularität des Festes jedoch gerade auch in der städtischen Bevölkerung zugenommen. Innerhalb der Kirche ist das Fest zunächst auf starke Ablehnung gestoßen. Erstmals im Jahr 2004 nahm auch KatholikosPatriarch Ilia II. in einer Predigt ablehnend Stellung. Es folgten mehrere Erwähnungen in Predigten und eine Epistel. Die Argumente in diesen Stellungnahmen waren verschiedenartig, sie stellten jedoch vor allem die Legitimität des Lomisoba-Festes in Frage und charakterisierten die Feier als etwas, das außerhalb der Kirche stattinde. Erst das Jahr 2015 brachte eine Wende. Der Patriarch und in der Folge auch andere ofizielle Kirchenvertreter agierten vorsichtiger und zurückhaltender. Das Fest hätte etwas Positives an sich, und es gebe durchaus Elemente, die es zu erhalten gälte. Nichtsdestotrotz gibt es weiterhin Vertreter der Georgischen Orthodoxen Kirche, die die Positionierung des Patriarchen nicht als Richtlinie sehen. So zum Beispiel ein junger und populärer Priester in Mzcheta, dem wichtigsten religiösen Zentrum Georgiens, der gerade auch über soziale Medien wie Facebook versucht, die normierende Instanz der Kirche zu stärken und Abweichungen zu sanktionieren. In diesem Sinn kann der Streit innerhalb der Kirche um dieses Fest auch als ein Streit um Autorität im religiösen Feld gedeutet werden. Nr. 3 2017 Wissenschaftliche Interpretationen des Festes Das Lomisoba-Fest selbst kann bislang keine wissenschaftliche Interpretationsgeschichte vorweisen. Allerdings haben andere Fallbeispiele aus dem Brauchtum im georgischen Grenzland zu Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien und Ossetien die Ethnographie schon seit längerem beschäftigt. Diese Ergebnisse lassen sich zwar nicht einfach auf Lomisoba übertragen, aber es können doch grundlegende Zugänge erkannt werden. Mit etwas Bereitschaft zur Vereinfachung lassen sich drei Interpretationsansätze unterscheiden. Die Ethnographie der Sowjetzeit betonte vor allen Dingen das pagane Element im Rahmen einer Evolutionstheorie der Religion. Die teilweise archaisch anmutenden Elemente des Brauchtums wurden als eine vorchristliche Realität gedeutet, die in den abgeschiedenen Tälern des Kaukasus überlebt habe. In den 1980er Jahren änderte sich die Religionspolitik der Sowjetunion und damit auch die Möglichkeit, Religion zu erforschen. In dieser Zeit begann die Entwicklung einer Ethnographie, die auch noch in der Frühzeit des unabhängigen Georgien dominierte. Ein Beispiel für diesen Zugang zum Brauchtum in Nordost-Georgien ist beispielsweise die 1996 auf Georgisch erschienene Monographie von Surab Kiknadse über georgische Mythologie. Kiknadse vertrat gegenüber der früheren sowjetischen Ethnographie eine entgegengesetzte Position, indem er von einer Paganisierung des Christentums ausging. In dieser Sichtweise spiegelt der Synkretismus im Brauchtum der Bergtäler einen Kontrollverlust des kirchlichen Zentrums in Mzcheta wider. In der heutigen wissenschaftlichen Diskussion, wie sie zum Beispiel von dem bereits erwähnten, kanadischen Anthropologen Kevin Tuite geführt wird, steht die Einsicht im Mittelpunkt, dass keine der beiden linearen Erklärungsmodelle allein die Vielfalt der Erscheinungen erklären können. Sowohl die Persistenz alter Traditionen als auch die Kreation neuer unorthodoxer Bräuche sind denkbar. Da es kaum empirische Daten gibt, sind die Möglichkeiten begrenzt, die eine oder die andere Theorie zu erhärten. So vertritt die Mehrzahl der Forschenden im Kaukasus derzeit eine pluralistische Theorie, die davon ausgeht, dass sich die Entstehungsgeschichte der Rituale im Einzelnen nicht mehr klären lässt und partiell beide oben geschilderten Erklärungsmodelle wirksam gewesen sind. Neben der Ursprungsfrage lassen sich jedoch auch modernere sozialwissenschaftliche Fragen stellen, die mit der Identitätspolitik und der gegenwärtigen Bedeutung des Festes zu tun haben. Der Rückgriff auf pagane Traditionen ist kein neues und auch kein speziisch postsozialistisches Phänomen. Häuig erleben solche Phänomene im Zusammenhang mit nationalistischen Bestrebungen einen Aufschwung, wie das auch die neopaganistische Symbolik in nationalsozialistischen Narrativen illustriert. In postsozialistischen Gesellschaften kamen besonders in den 1990er Jahren in den Reihen ethnonationaler Eliten neopaganistische Tendenzen vermehrt vor: Versuche einer Wiederbelebung von (ethnischer) Volksreligion kann man in christlichen (z. B. die neopaganistische Bewegung Dievturība in Lettland) wie auch muslimischen (z. B. den Tengrianismus in Tatarstan) postsozialistischen Gesellschaften beobachten (s. RGOW 2/2016). Dabei handelt es sich in der Regel um den Versuch einer urbanisierten und säkularisierten nationalen Elite, paganistische Traditionen zwecks Stiftung einer „authentischen“ Volksreligion zu mobilisieren, weil die großen Weltreligionen mit ihren universalistischen Ausrichtungen sich nicht zur Förderung einer ethnokulturellen Identitätspolitik anbieten. In diesem Sinne tragen die Rückgriffe auf ein paganes Erbe unter der nicht-russischen Bevölkerung in Russland in der Regel ein anti-koloniales Statement gegen die russische Orthodoxie als „Religion der Ausbeuter“ mit sich. Ein Zusammenhang mit solchen paganistischen Bewegungen konnte jedoch bisher am Lomisoba-Fest nicht beobachtet werden. RGOW K AU K A S U S Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind weder dezidiert antikirchlich noch erkennbar an eine speziische Ideologie gebunden. Die Tatsache aber, dass vermehrt Leute aus dem Unterland und auch aus größeren Städten solche Feste besuchen, und dass dabei auf verschiedene Weise das Georgisch-Sein inszeniert wird (z. B. das Abhalten von traditionellen Festmählern (Supra), das Tragen von ethnischer Kleidung, das Singen von georgischen Volksliedern) deutet darauf hin, dass Feste wie Lomisoba von urbanen und Unterland-Georgiern in einen nationalen Kontext gestellt werden, was jedoch auch die Kirche einschließt. Mit ihrer Kritik an den Bräuchen versuchte die Kirche zunächst ihre Autorität im Feld zwiespältigen Brauchtums auszubauen. Als dies misslang und die Popularität des Festes stetig anstieg, schwenkte die Kirche um und inkludierte den ohnehin kirchennahen Brauch. Die Ambivalenz des „Traditionellen“, das sich weder eindeutig als vorchristlich noch eindeutig als christlich einstufen lässt, verschmolz in der georgisch-nationalen Tradition zu einem Marker gegenwärtiger Identität. In diesem Sinne kann der Bestand solcher Feste in Georgien einerseits als Kontinuität von Volksreligiosität und andererseits aber auch als Teil einer Identitätspolitik mittels „Erindung von Tradition“ durch politische und kulturelle Akteure verstanden werden. Zudem dürfte sich das Fest in den Kontext einer modernen Erlebniskultur einordnen, die auch vor religiösen Bezügen nicht zurückscheut, ohne dass damit eine besonders intensive oder traditionelle Religiosität impliziert sein muss. Literatur: Jödicke, Ansgar: General Trends in the Interaction of Religion and Politics as Applied to the South Caucasus: In: Agadjanian, Alexander; Jödicke, Ansgar; van der Zweerde, Evert (eds.): Religion, Democracy and Nation in the South Caucasus. New York 2015, S. 7–21; Khutsishvili, Ketevan: Popular Religiosity or Hybridic Christianity: the Case of Lomisoba Fest. In: Proceedings of the Seventh International Symposium on Kartvelian Studies. Tbilisi 2016; Qenqadze, Vitali: Lomisis mtavarmotsame tsmida Giorgi (Lomisi St. George the Martyr). Tbilisi 2008; Shnirelman, Victor: „Christians! Go home“: A Revival of Neo-Paganism between the Baltic Sea and Transcaucasia (An Overview). In: Journal of Contemporary Religion 17, 2 (2002), S. 197–210; Tuite, Kevin: The Political Symbolism of the Mid-Summer Festival in Pshavi (Northeast Georgian Highlands), Then and Now. In: Reineck, Natia; Rieger, Ute (Hg.): Kaukasiologie heute – Eine Festschrift zum 70. Geburtstag von Heinz Fähnrich. Greiz 2016. Dieser Artikel ist das Resultat eines gemeinsamen Feldforschungsprojekts zwischen der Universität Fribourg und der Ivane Javakhishvili Staatlichen Universität Tbilisi. Das Projekt wurde unterstützt durch ein Marie Curie International Research Staff Exchange Scheme Fellowship innerhalb des 7th European Community Framework Programme (grant no: PIRSESGA-2012-318961). Das Material, das diesem Artikel zu Grunde liegt, stammt aus Beobachtungen und Interviews, die vom Autorenteam zusammen mit Studierenden der Ivane Javakhishili Staatlichen Universität Tbilisi und der Universität Fribourg während des Lomisoba Fests am 3. Juni 2015 durchgeführt wurden. Wir bedanken uns bei den Studierenden für ihre Mitarbeit. Ansgar Jödicke, Dr., Lehr- und Forschungsrat, und Andrea Friedli, Dr. des., Doktorassistentin am Departement für Sozialwissenschaften der Universität Fribourg. Ketevan Khutsishvili, Dr. Professorin am Lehrstuhl für Ethnologie der Ivane Javakhishvili Staatlichen Universität Tbilisi, Georgien. 25 26 K AU K A S U S Nr. 3 2017 RGOW Irene Suchy Spiritualität und Patriotismus – der Klang des Glaubens Musik ist ein tragendes Element der nationalen Identität der Armenier und Armenierinnen. Geistliche der Armenischen Apostolischen Kirche spielten eine wichtige Rolle bei der Formierung einer „Nationalmusik“. Manche von ihnen sind Überlebende des Genozids und bieten zusätzliches Identifikationspotenzial, indem sie das prägendste Ereignis der armenischen Geschichte miterlebt haben. – N. Z. Als im Sommer 2015 die Menschen in Jerewan auf die Straße gingen, um gegen eine Strompreis-Erhöhung zu kämpfen, las man auf den handgemalten Plakaten mit aufgemalten Pilzen: „Wenn ihr uns gießt, wachsen wir!“ Vor den Barrikaden aus Abfalleimern sangen die Demonstrierenden ein Lied vom Verlust der Heimat, die einst weit über die Grenzen der heutigen Republik Armenien hinaus das einstige Großarmenien zwischen Byzanz und Persien umfasste. Sie sangen, wo es doch um die Rücknahme der Strompreiserhöhung ging, vom verlorenen Land, von der einstigen Größe und Bedeutung Armeniens, von der Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit. Präsente Vergangenheit Die Armenier waren selten die Herren in ihrem Land, im 20. Jahrhundert gerade einmal drei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und dann erst seit 1991 wieder. Sehnsuchtsort der Menschen in Armenien ist der Ararat, jenseits der Grenze, quasi unerreichbar, schon in der Türkei gelegen. Wenn die Sonne aufgeht, erstrahlt der Schneebedeckte Berg jenseits der Grenze. All jene, die in Armenien bleiben – das Land verliert alljährlich 80 000 Einwohner – schauen auf den Berg, der, wie sie immer betonen, bloß von der armenischen Seite so schön ist. Der Blick auf den Ararat ist ein Schauen in die Unerreichbarkeit. Der Blick in die Ferne ist auch einer der Aussichtslosigkeit, es ist ein Blick aus der Enge des klein gewordenen Landes in die Größe und Internationalität der Vergangenheit. In den Augen der Armenier und Armenierinnen ist die Hoffnungslosigkeit eingeschrieben: die Arbeitslosigkeit ist hoch, fast 20 Prozent bei den Jungen, fast 40 Prozent in der älteren Bevölkerung. Ein Gast ist willkommen, wenn er in die mythische Geschichte eintaucht, wenn er um sie weiß und von ihr erzählen kann, wie es Franz Werfel in seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ tat. Wir Gäste aus Österreich werden ungeladen eingelassen und bedient. Wir sind keine Fremden, da wir aus dem Lande Franz Werfels kommen, jener Werfel, der dem verletzten Volk eine Stimmegegeben hat. In „Die 40 Tage des Musa Dagh“ hat Werfel jenes tiefe und bis heute ungesühnte Leid des armenischen Volkes in die Literatur eingeschrieben, lange bevor es ein Thema politischer und historischer Beschäftigung war – den Genozid am armenischen Volk. 1933 veröffentlicht, hat Werfel in Lesungen die Geschichte schon vorher bekannt gemacht, und der damalige armenischapostolische Patriarch von Jerusalem Tourian hat ihm 1929 zum Dank ein wunderbar verziertes Kreuz mit einer Reliquie vom Kreuz Christi geschenkt. Anlässlich des 100-Jahr-Gedenken zum Genozid (s. RGOW 6–7/2015, S. 8–11), in dem viele Länder der Welt parlamentarische Erklärungen zur Anerkennung des Genozids abgaben, lag im Wiener Stephansdom auch das Manuskript von Werfels Werk anbetungswürdig auf dem Altar. Am Vorabend der Gedenkfeiern wurden in Jerewan in einer feierlichen Zeremonie die 1,5 Millionen Opfer des Genozids heiliggesprochen. Es war die erste Heiligsprechung in der Armenischen Apostolischen Kirche Ein tausendjähriger Wandvorhang aus Indien, den Pilger der armenischen Diaspora nach Jerusalem gebracht haben. Foto: Irene Suchy seit dem 18. Jahrhundert, eine besondere, vorbildlose Antwort auf ein Vorbild-loses Verbrechen, der Beginn einer neuen Zeit. Der Völkermord war Weg-weisend, Vorbild-haft für die NS-Herrschaft, kein Wunder, dass Werfels Buch schon 1934 von den Nazis verboten wurde. Und es war – so visionär wie poetisch – Rettungsanker für die damals verfolgte jüdische Bevölkerung. Werfels Roman und die Musik Der erwähnte Patriarch Tourian war sowohl Dichter als auch Kleriker und engagierte sich in Bildungsreformen und Schulgründungen – insbesondere nach 1915, als er unter den Überlebenden des Völkermords Lehrer anwarb und Schulen begründete. 20 000 Menschen lebten damals im armenischen Viertel, seither sind es kontinuierlich weniger geworden. 2017 feierten am 18. Januar in Bethlehem nur mehr ein paar Hundert Armenier und Armenierinnen Weihnachten in Israel: sie sangen die mit Neumen notierten Hymnen, notiert in jenen alten Prachtbänden, die in der Bibliothek des armenischen Viertels von einem Mönch gehütet, katalogisiert und digitalisiert werden. Ein 1 000 Jahre alter Vorhang aus Indien vor einer der Wände ist ein Geschenk der pilgernden Diaspora, die sich mit ihren Gaben in die armenische Gemeinde in Jerusalem einschreibt. Weil sich die Geschichte der Armenier und Armenierinnen nicht ohne Musik erzählen lässt, handelt auch Werfels Roman oft von Musik: Bevor jene tausend armenischen Familien auf die Höhe des Musa Dagh an ihren Rettungsort gelangen, begraben sie die Musik. Sie senken die Glocken der Kirche ab und beerdigen sie. Es ist eine stumme Prozession mit einem „gespenstischen Vortänzer“, ein Gleichnis für den Auszug der Kinder Israels in die Wüste. Werfel komponiert die Melodien in seinem Armenier-Roman, er referiert nicht, er schafft: Da ist die Melodie des Gebetrufers, so klagendlockend, und so verwurzelt im christlichen Glauben, dass sie „jeden Moslem erzittern lässt“. Da sind die Gesänge der Klageweiber, von Nr. 3 2017 K AU K A S U S RGOW Foto: Wikimedia Commons Werfel erfunden als „älteste Lieder der Menschheit“, als „langes gleichlautendes Stöhnen“, als „Kette heulender Koloraturen“, als „ödes Nicken derselben zwei Töne, endlos schrill und doch gesetzmäßig“. Der Gesang der Klageweiber und der anderen Unterlegenen ist Werfel eine Waffe zur Selbstverteidigung gegenüber den Anderen. Dem Wort bleibt nur mehr das Zwischenspiel in den Gesängen. Musik als Element nationaler Identität Die Musik Armeniens prägt die Nation: sie vereint Gläubigkeit mit Patriotismus, Komposition mit Rekonstruktion. Sayat Nova (1712– 1795) und Komitas Vardapet (1869–1935) begründeten in ihren Funktionen als Kirchenmänner und Musikethnologen eine armenische Musiktradition, die für die wenigen Menschen in der kleinen Republik und die vielen in der Diaspora bis heute den Beginn des musikalischen Denkens bedeutet. Mit Komitas, dem GenozidÜberlebenden, gewinnt die Musik den Wert des Überlebensmittels, mit dem Komponisten Aram Chatschaturjan (1903–1978) die Zuschreibung des nationalen Aushängeschildes. Für sein Ballett Gayane, das er während des Zweiten Weltkriegs schrieb, wählte Chatschaturjan eine Kolchosearbeiterin als Hauptperson, die ihre patriotischen über ihre persönlichen Gefühle stellt. Ihr Name ist dem jener armenischen Nonne entliehen, die als Märtyrerin im 7. Jahrhundert starb. Das nationale Erbe Armeniens lässt sich ohne das Leid nicht singen. Es ist die Sehnsucht, die die Menschen in Armenien nährt. Die Sehnsucht wiegt sie in Gewissheit, dass es die schönere Seite des Ararat ist, die ihnen zugewandt ist. Die Sehnsucht überschreitet in ihrer Liebe zum Vermissten die verschlossenen Grenzen des Landes. Sie greift weit, weiter als das kleine Land reicht, in die Vielstimmigkeit und Internationalität, die in der Musik anklingt. Sie ist dem Glauben verwandt und führt geradewegs zur Musik. Glaube und Reinheit und das einigende Schicksal des Völkermords – das sind die Parameter der religiösen und nationalen Verehrung des Komitas. Komitas steht für Armenien, sagt Tiran Petrosyan, Archimandrit und Patriarchaldelegat der Armenischen Apostolischen Kirche für Mitteleuropa und Skandinavien: Wer über die armenische Musik spreche, ja, wer über Armenien spreche, meine Komitas. Komitas, 1869 im Osmanischen Reich geboren und 1935 in Paris gestorben, eiferte den europäischen Vorbildern der Nationalmusiken nach und kreierte eine nationale Musik, ähnlich Béla Bartók, indem er die Melodien des Volkes und der Liturgie sammelte. Mit seinem Leidensweg als Opfer des Völkermords identiizieren sich die Menschen in Armenien. Und auch wenn Komitas, der tief verwirrt als Überlebender des Völkermords in Frankreich starb, von Claude Debussy hochgeschätzt wurde, ist er in Europa kaum bekannt. Der selige Komitas, der seinen Namen dem eines Mönchs aus dem 7. Jahrhundert nachempfand und auf die mittelalterliche Notenschrift der Neumen zurückgriff, schuf die Melodien einer „göttlichen Liturgie“. Die armenische Musikwissenschaft vermutet auch in den türkischen Melodien, die Komitas’ Zeitgenosse Bartók sammelte, armenisches Liedgut und beansprucht es für ihren nationalen Schatz. Komitas ist der Nationalkomponist, auf den sich alle armenischen Komponisten von Chatschaturjan – der seine letzte Ruhestätte im Komitas-Pantheon fand – bis zu unseren Zeitgenossen wie Tigran Mansurian berufen. „Überall ist der Tod gleich, jeder Mensch stirbt einmal, aber glücklich ist, wer geweiht ist der Unabhängigkeit seines Volkes“, heißt es in der Hymne der armenischen Nation. Komitas, der Studien im georgischen Tiblisi und in Berlin absolvierte, war international gut vernetzt. Seine Lieder und Gedichte besingen die Schönheiten seines Landes. Posthum wurde er auch zu einer in der Kirche verehrten Gestalt, zu Lebzeiten kam er in Konlikt mit den kirchlichen Autoritäten. Das staatliche Konservatorium gab sich seinen Namen. Komitas steht für die Sehnsucht nach großer Vergangenheit, nach Glaube und 27 Bronzestatue von Komitas Vardapet in einem Park in Jerewan. Reinheit, er ist eine legendäre Gestalt, die das Verschollene und Verschwundene gefunden, bewahrt und zur Tradition erhoben hat – und die Sehnsucht kann wachsen auch an all dem, das im Genozid 1915 aus Komitas’ Melodienschatz vernichtet wurde, die Sehnsucht ist genährt vom Abwesenden. Anerkennung und einen besonderen Platz in der Kirchengeschichte erhielt auch der Hymnen-Dichter Grigor Naregatsi, der im 10. Jahrhundert lebte; er wurde von Papst Franziskus zum Doktor der Universalkirchen ernannt. Naregatsis Hymnen werden heute in der Liturgie gesungen, er starb 1003 nach jener strahlenden 100-jährigen Periode des Reiches der Bagratiden. Einer der größten Boulevards in Jerewan ist nach dem Musiker, Dichter und MozartZeitgenossen Sayat Nova benannt. Sayat Nova, geboren 1712 in Tiblisi und gestorben 1795 im nordarmenischen Dorf Haghpat, hat mehrere tausend Lieder geschrieben oder überliefert, lediglich etwa 200 sind erhalten. Die Lieder sind in armenischer, georgischer und aserbeidschanischer Sprache, Sayat Nova sprach auch Arabisch und Persisch. 1968 war es der in Armenien hochverehrte Filmemacher Sergei Paradschanow, dessen Haus in Jerewan heute eine Wunderkammer eines Museums ist, der mit „Die Farbe des Granatapfels“ eine ilmische Biographie über Sayat Nova drehte. *** Paradschanow, vielfach wegen seiner Homosexualität verfolgt und zu Haftsprachen verurteilt, wird heute als Ikone des armenischen Filmes verehrt. Die Kunst überholt manchmal die Politik: Der in die Vergangenheit gerichtete Blick verstellt die Aussicht auf die brennenden Probleme der Gegenwart: die strenge Haltung der Armenischen Apostolischen Kirche gegenüber Frauen und Abtreibung, oder die Tatsache des Femizids, der geschlechtsbezogenen Abtreibung von Mädchen, wofür Armenien bereits vom Europarat gerügt wurde. Es sind – einmal mehr – Künstlerinnen und Künstler, die das Recht auf Wahr-Nehmung solcher Probleme umsetzen. Sie vereinigen sich über die Grenzen der verfeindeten Länder Armenien, Türkei und Aserbaidschan hinweg. Die Lieder vom alten Leid werden zaghaft neu gesungen: Armenien, die Menschen, die sich diesem Volke zuge-hörig fühlen, können Wegweisende sein. „Menschheitslehrer“ wurde Franz Werfel für seine Literatur vom befreunden Dirigenten Bruno Walter genannt – ob das Wort zu pompös ist? Irene Suchy, Dr. phil., M. A., Musikredakteurin bei Radio Ö1, Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, Ausstellungsmacherin, Moderatorin, Dramaturgin, Librettistin und Literatin. Sie hat in mehreren Reisen Armenien und das armenische Jerusalem besucht; www.irenesuchy.org. 28 R U SS L A N D Nr. 3 2017 RGOW Roman Lunkin Orthodoxe Charismatiker: Mit Mozart gegen Stalin Die Orthodoxe Kirche der Regierenden Gottesmutter mit dem charismatischen Gründer Ioann Bereslavskij gehört zu den zahlreichen neuen religiösen Bewegungen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden. Sie sieht sich in der antisowjetischen Tradition der Katakombenkirche und verbindet orthodoxe Spiritualität mit Elementen der europäischen Kultur. – R. Z. Der postsowjetische religiöse Boom hat in Russland eine ganze Reihe völlig neuer und einzigartiger Bewegungen hervorgebracht, die sich auf dem ganzen Gebiet der ehemaligen Sowjetunion verteilen. Zu Beginn der 1990er Jahre verteilten die Mitglieder dieser Bewegungen ihre Literatur auf den Straßen und versammelten sich in Kinosälen zu Predigten und Vorträgen. Bis zu den 2010er Jahren haben diese Bewegungen, auch aufgrund staatlicher Repressionen, einige Krisen erlebt, doch ausgestorben sind sie nicht – jede von ihnen zählt noch heute einige tausende Mitglieder und verfügt über zig Gruppen im Land. Dazu zählen u. a. die Roerich-Bewegung der Verehrer einer Lebendigen Ethik von Elena und Nikolaj Roerich, die aber nicht mehr so populär ist wie Mitte der 1990er Jahre. Die Kirche des Letzten Testaments von Vissarion-Christus, der sich selbst als lebendigen Gott verkündete, ist im Krasnojarsker Gebiet aktiv und hat einige Ableger in anderen Regionen. Die Bewegung Radasteja von Evdokij Martschenko „schickt“ noch immer Leute auf virtuellen Schiffen in den Kosmos, und die Bewegung Anastasija (nach den Büchern von Vladimir Megre) ist bei der ökologischen Bevölkerung beliebt und rettet Zedern. Die neuen religiösen Bewegungen verkörperten das reißende Interesse der Russländer am Glauben in jeder beliebigen Form und an der Suche nach einer neuen illusorischen Welt, die die Flucht aus der insteren Wirklichkeit erlaubt (s. RGOW 2/2016, S. 9–11). Tägliche Offenbarungen der Gottesgebärerin Eine der originellsten neuen religiösen Bewegungen in Russland ist die Orthodoxe Kirche der Regierenden Gottesmutter (oder „Gottesgebärerin-Zentrum“, Orthodoxie des GottesgebärerinZweigs) mit Ioann Bereslavskij als Oberhaupt. Auf orthodoxer Grundlage wurde eine im Wesentlichen charismatische orthodoxe Kirche gegründet, die emotionale Gottesdienste mit Geistesgaben und Tanz feiert, bei denen Prophezeiungen der Gottesmutter kommuniziert werden. Die Mitglieder glauben an die Reinkarnation Christi und gewisser Heiliger in Kulturschaffenden der Vergangenheit und Gegenwart sowie an die Existenz anderer Welten, mit denen Vater Ioann in Verbindung steht. Die Kirche wurde nicht nur aufgrund ihrer Kombination orthodoxer Theologie mit Elementen der New Age-Bewegung und der Theosophie bekannt, sondern auch aufgrund ihrer Vergötterung der weltlichen europäischen Hochkultur, was dem Antiwestlertum und der Xenophobie der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) widerspricht. Kultur wurde zum Hauptinstrument bei der Überwindung der sowjetischen Vergangenheit, von Stalinismus und Kommunismus. Erzbischof Ioann (Veniamin Bereslavskij, Vater Ioann) ist die Schlüsseligur der Kirche, ihr Prophet. Er wurde 1946 geboren und ist Linguist. Mitte der 1970er Jahre ließ er sich orthodox taufen und unternahm viele Pilgerreisen. Von großer Bedeutung war seine Pilgerreise zum Potschajever Kloster in der Ukraine, wo Bereslavskij unter dem geistigen Einluss der „Starzin“ Evfrosinija stand. Von dieser wird berichtet, ihr sei die Gottesmutter erschienen und habe von ihrer neuen exklusiven Rolle in der Geschichte Russlands und der Welt gesprochen. Der prophetische Dienst Bereslavskijs begann im Jahr 1984 in Smolensk vor der Gottesmutter-Ikone, wo er eine „Vision“ hatte: Er interpretierte sie als Offenbarung der Gottesgebärerin, die von nun an durch ihn Prophezeiungen äußern wollte. Sein Gefolgsmann Petr Bolschakov beschreibt dieses Ereignis so: „Er neigte sich zur Ikone und iel für sehr lange Zeit vor ihr nieder. Und als er die Treppenabsätze herunterkam, und wir die Kathedrale bereits verließen, sagte er plötzlich: ‚Stellen Sie Fragen. Jetzt wird die Gottesmutter sprechen. Sie, die Gottesmutter, ist erschienen und bereit, Fragen zu beantworten‘. […] und die Gottesmutter antwortete auf Fragen und wies selbst darauf hin, was man fragen solle in Bezug auf die Schicksale der Menschheit“.1 Seither hört Bereslavskij, so stellen es die Publikationen der Kirche dar, täglich die Stimme der Gottesmutter sowie „Offenbarungen“ von Heiligen. Von großer Bedeutung für die Weltanschauung dieser Kirche ist die Verfolgung der Orthodoxie in der sowjetischen Periode – die Verbindung mit der Katakomben- oder der sog. „wahrhaft orthodoxen Kirche“. 2 Ihre Haupthelden sind die Märtyrer der Solowezki-Inseln, die orthodoxen Priester und Bischöfe, die in den 1920er und 1930er Jahren im Solowezki-Lager erschossen und gefoltert wurden. In den 1990er und 2000er Jahren organisierten die Anhänger der Gottesmutter-Kirche in dutzenden russischen Städten Ausstellungen darüber. Neben einer geistigen Verbindung leiten die Gläubigen auch eine hierarchische Kontinuität aus der Katakombenkirche ab und halten sich für einen Zweig dieser Kirche. Laut Bereslavskijs Anhängern haben die Bischöfe der wahrhaft orthodoxen Katakombenkirche Vater Ioann gesegnet und zur Registrierung von Gemeinden und zur Predigt berufen. Eine antisowjetische und antistalinistische Haltung ist für die Bewegung charakteristisch. Als Helden gelten alle, die gegen die Sowjetmacht gekämpft haben, unter ihnen Patriarch Tichon, General Vrangel’ und Metropolit Antonij Chrapovizkij. Laut Vater Ioann hat sich die Regierende Gottesmutter auch im August 1991 „über dem Weißen Haus offenbart“, und die Sowjetmacht wurde mit Hilfe von Erzengel Michael gestürzt. Entwicklung der Gottesgebärerin-Kirche Die Gottesgebärerin-Kirche ging ihren Weg von einer geschlossenen Gemeinde mit strengen asketischen Regeln zu einer gesamtrussischen Bewegung, die sogar Teil der internationalen marianischen Bewegung wurde. 3 In der ersten Periode von 1982 bis 1991 sammelte Vater Ioann eine Gruppe von Gleichgesinnten um sich, die sich der Katakomben-Kirche zugehörig fühlte, während Vater Ioann selbst den Priesterrang innerhalb der ROK anstrebte. In der zweiten Periode von 1991 bis 1999 institutionalisierte sich die Bewegung: 1991 wurde in Moskau die Informationsstiftung Nr. 3 2017 „Gottesgebärerin-Zentrum“ gegründet, die 1993 zur Stiftung „Neue Heilige Rus’“ umbenannt wurde und bis 1999 existierte. In dieser Zeit sollten alle Aktivisten zu Missionsmönchen werden, sich beim Essen zurückhalten und nur wenige Stunden schlafen. In der dritten Periode, die von 1999 bis heute andauert, wurden alle asketischen Normen aufgehoben, und die Mission wurde auf kulturelle Aktionen verlagert: Ausstellungen, Mysterienspiele, Buchpublikationen. Vater Ioann hob 2001 zwei neue Charakterzüge der Kirche hervor: den Übergang von der Askese zum Aufbau einer offenen und freien Kirche sowie „neue erleuchtete Personen“ in den Gemeinden. Auf die aus ihrer Sicht Reichtum anstrebende und den Bund mit der sowjetischen und der gegenwärtigen Macht suchende Stellung des Moskauer Patriarchats reagierten die Kirchenanhänger mit scharfen Appellen und außergewöhnlicher Disziplin, die „geistige Kämpfer“ anzog. Nach einer ganzen Reihe von Verhaftungen und Ausstellungsschließungen in den Jahren 2006 bis 2008 wurde klar, dass die öffentliche Tätigkeit der Kirchenanhänger seitens der Vertreter der ROK und der Justizbehörden auf heftige Ablehnung stößt. Deshalb zogen sie sich in den Halbuntergrund zurück, während Bereslavskij nun seine Prophezeiungen und Predigten per Internet verbreitete. 4 In den 2010er Jahren stellte die Kirche ihre breite Missions- und Ausstellungstätigkeit ein. Laut Kirchenvertretern wurde seit Mitte der 2000er Jahre eine negative Atmosphäre um die Kirche aufgebaut, man beschuldigte sie der Anstiftung zum Selbstmord etc., was jedoch weder bewiesen werden konnte noch je gerichtliche Folgen hatte. Geistige Mysterientheater fanden nur noch vor Mitgliedern der Kirche und auf Kinderfesten statt. Diese Mysterien waren ebenfalls charakteristisch für die GottesmutterKirche: Dabei wurden Personen wie der Hl. Seraim von Sarov und Vater Ioann von Kronstadt, die Solowezki-Märtyrer, Zar Nikolaj II. mit seiner Familie mittels der Poesie von Vater Ioann und von Dichtern des sog. „Silbernen Zeitalters“ in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (Anna Achmatova, Osip Mandelstam, Aleksandr Blok) neues Leben eingehaucht. Vater Ioann, der heute um sein Leben fürchtet, ist emigriert und lebt in Frankreich und Spanien. R U SS L A N D RGOW 10. Jahrhunderts sprach, wie zum Beispiel mit Juan de San Grial. Spanien erleuchtet mich mit der Sonne seines Archetyps.“ So wird die Heilige Rus’ zu einem weiteren universalen Begriff: „Die Heilige Rus’ ist für mich ein Sonnensiegel, und sie scheint unabhängig vom irdischen Lebensraum, sei das Europa, die USA, Kanada usw.“ Seit Ende der 2000er Jahre kommt der geistige Dienst von Vater Ioann musikalisch zum Ausdruck. Ihm zufolge trägt Musik in sich „die höchsten Vibrationen der Liebe und der Weisheit, durch sie offenbaren sich die Wahrheiten der Gottheit selbst“. Laut Vertretern seiner Kirche verfügt Vater Ioann über eine professionelle musikalische Ausbildung. Er spiele oft Mozart, Beethoven und glaube, dass Gott durch Komponisten zu den Menschen spricht. Mozart bezeichnet er als musikalischen Christus, der „eine Musik der erhabensten Liebe“ geschaffen habe, und John Lennon, der gesagt hatte, er sei populärer als Christus, sei „im Auftrag Roms ermordet“ worden. Laut Bereslavskij gibt es vier „musikalische Christusse“: Mozart, Beethoven, Tschajkovskij und Ludwig II., der König Bayerns. In seinem neusten Buch „Vier musikalische Christusse“ (2012) verkündete er, dass „der allerhöchste Vater heute das Evangelium mittels symphonischer und Klaviermusik offenbart“. Vater Ioann bringt Mozart auch mit den SolowezkiMärtyrern in Verbindung: „Wolfgang Amadeus brachte seine Flöte persönlich zu Seraim [von Solowezk], und dieser weinte heiße Tränen.“ Für einen der geistigen Siege Mozarts hält Vater Ioann, dass er den Gulag und einen „Kandidaten für den Antichrist“, nämlich Stalin, besiegte: „Als [Stalin] Mozarts Adagio hörte, schloss er den Gulag. Es gibt eine genaue Version, die von Schostakovitsch in den Gesprächen mit dem Musikwissenschaftler Volkov und noch durch viele andere Quellen belegt ist: Stalin starb unter den Klängen eines Mozartkonzerts.“ *** Die geistige Weltanschauung der Gottesgebärerin-Kirche entwickelt sich schon seit 30 Jahren. Mystische Kunstwahrnehmung wurde ebenso Teil des für viele russische Intellektuelle typischen Bewusstseins von Prophet Ioann, der vom Silbernen Zeitalter und den Neumärtyrern der sowjetischen Zeit zur europäischen klassiUniversale Spiritualität schen Musik überging. In Russland sind etwa 30 GottesgebärerinMit der Zeit begann Vater Ioann neben der Sonderrolle Russlands Gemeinden und etwa ebenso viele religiöse Gruppen registriert. auch eine universale Spiritualität, die „Verehrung der sophiani- In Tver’ gibt es ein Frauenkloster (dort dient Priester Vater Michail schen Spiritualität“ zu predigen. Dabei verband er die Kritik an Tverskoj). Teilweise im Untergrund wirkende Gemeinden gibt der ROK mit Antikatholizismus und einer generellen Ablehnung es in Weißrussland und in der Ukraine, auch in Frankreich und historischer Kirchen. Die Ereignisse in der Ukraine von 2014 hal- Spanien gibt es Gruppen. Was die Gottesgebärerin-Orthodoxie ten die Kirchenanhänger für eine Folge der Nichtbefolgung der besonders auszeichnet ist die Leidenschaft des Kirchengründers für künstlerisches Schaffen. Bei jeder neuen Wendung der PropheAufrufe der Gottesmutter. In den verschiedenen Perioden der Kirchenentwicklung setzte zeiungen in den Büchern von Vater Ioann tauchen neue unerwarVater Ioann die Akzente auf unterschiedliche Ideen und Helden, tete Helden auf, und das wird auch in Zukunft so bleiben. die zu Christusgestalten oder zu Verkörperungen berühmter orthodoxer Heiliger auf Erden wurden. 2003 wurde ihm offenbart, Anmerkungen dass Großfürst Michail Romanov nicht, wovon man üblicherweise 1) Aus dem Gespräch mit der Rechtsverteidigerin Zoja ausgeht, bei Perm’ von den Bolschewisten ermordet wurde, sonKrachmal’nikova: „Božija Mater’ Otkryvaet nebo“. XX Sobor. Moskau 2000. dern auf wunderbare Weise dem Tod entkam – er wurde zu „Patriarch Seraim“ im Solowezki-Lager, auf einem „zweiten Golgatha“. 2) Vgl. Beglov, Aleksej: V poiskach „bezgrešnych katakomb“. Cerkovnoe podpol’e v SSSR. Moskau 2008; http://de.bogoslov. Während der Reisen durch europäische Länder nahm Vater ru/text/350943.html. Ioann westeuropäische Sujets in die mystische Weltanschauung seiner Kirche auf. Als reine, geistige Tradition wählte Vater Ioann 3) http://www.wrldrels.org/proiles/OCMSG.htm; http://www. avemaria.ru/pcbmd_sobor_9.htm. die Bewegung der Katharer. In einem Interview von 2008 unterstrich Vater Ioann, dass auch die westeuropäische Kultur „in 4) Vgl. http://svitsoii.com.ua/. sich den Schatz des Sonnenarchetyps bewahrt. Zum Beispiel der Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen. Heilige Gral, der […] von Hand zu Hand weitergereicht wird.“ Zudem stehe er auch mit geistigen Figuren der europäischen VerRoman Lunkin, PhD, wissenschaftlicher Leiter des gangenheit im Austausch: „Indem ich mich heute im Zentrum Europa-Instituts der Russischen Akademie der Europas beinde, habe ich für mich zum ersten Mal den ArcheWissenschaften. typ Spaniens entdeckt, indem ich mit seinen großen Aposteln des 29 30 B U C H B ES P R EC H U N G E N Nr. 3 2017 RGOW Armenian Christianity Today Alexander Agadjanian (ed.) Armenian Christianity Today Identity Politcs and Popular Practice Surrey: Ashgate 2014, 286 S. ISBN 978-1-4724-1271-3. £ 73.99; CHF 148.90. Die Armenische Apostolische Kirche ist noch immer die dominante Religion der Armenier und wird häuig als ein Hauptelement der armenischen Identität wahrgenommen. Bis heute ist sie ein „wichtiger Referenzpunkt und mächtiger institutioneller Akteur“ im Leben vieler Armenier (S. 1); dies gilt sowohl für die heutige Republik Armenien als auch für die weltweite Diaspora. Dennoch gestaltet sich die armenische religiöse Landschaft nicht so homogen, wie man meinen könnte. Der von Alexander Daneben spielen aber auch religiöAgadjanian herausgegebene Sammel- se Initiativen „von unten“ eine Rolle, band verschafft einen anschaulichen wie der Herausgeber in seinem Beitrag und sozialwissenschaftlich fundierten darlegt. Dabei konzentriert er sich auf Überblick über das aktuelle religiöse eine religiöse Gruppe, die während der Leben sowie die soziale, politische und schwierigen 1990er Jahre zu einer breikulturelle Funktion von Religion in ten Bewegung anwuchs. Die „BruderArmenien und in der Diaspora. schaft“ entwickelte sich zwar innerhalb Die Verbindung von Ethnie und Religi- der armenisch-apostolischen Tradition, on propagierte gerade auch die Arme- aber trotzdem außerhalb ihrer Struktunische Apostolische Kirche und tut das ren. Darin spielten die persönliche Spiriauch weiterhin erfolgreich – häuig aus- tualität und soziales Engagement eine gedrückt im Leitsatz „eine Nation, ein wichtige Rolle, die Kirche und GesellGlaube, eine Kirche“ (S. 21). Aber auch schaft nachhaltig beeinlussten. Noch weiter vom dominanten armeder armenische Staat bedient sich der Kirche, um die ethno-nationale Identität nischen Christentum entfernt sich der zu zementieren. In der Diaspora erfüllt Aufsatz, der auf protestantische Grupdie Kirche eine ähnliche Funktion. Die pen in Armenien eingeht. Anders als Teilnahme an religiösen Feierlichkeiten in Armenien interagieren im Libanon wird als Möglichkeit wahrgenommen, protestantische Armenier mit orthododie armenische Identität zu erleben und xen und katholischen Armeniern, wie in auszudrücken. Die Kirche und ihr mate- einem weiteren Beitrag erläutert wird. rielles und immaterielles Erbe werden als Das Verbindende der verschiedenen reli„einende Kraft und zentraler Bestandteil giösen Gruppen ist dort die ethnische der nationalen Geschichte und Identität“ Zugehörigkeit, die sich in erster Linie verstanden (S. 205). In einer sich wan- aus der gemeinsamen Erinnerung an den delnden Welt dient die Kirche als „Anker“ Genozid speist. und als „Vehikel zur Erhaltung der armeNatalija Zenger nischen Identität und Kultur“ (S. 256). Weisheitsfreunde Ilja Karenovics Weisheitsfreunde Der Kreis der „Ljubomudry“ 1820–1830 und die Entstehung der russischen Philosophie Berlin: Ripperger & Kremers 2015, 368 S. ISBN 978-3-943999-07-5. € 34.90; CHF 45.40. In Übersichten zur Geschichte der russischen Philosophie ist oft nur beiläuig von den „Weisheitsfreunden“ (russ. Ljubomudry) die Rede, die als eine Keimzelle der russischen Philosophie gelten. Dieser kurzlebigen, aber wirkmächtigen Geheimgesellschaft von 1823–1825 hat sich Ilja Karenovics in seiner Dissertation gewidmet und geht damit Fragen nach, die schon so manchen umgetrieben haben, der sich mit russischer Ideengeschichte beschäftigt. Dies liegt nahe, denn „die Ljubomudry stehen […] am Anfang Karenovics’ Studie beschreibt die nicht nur der neueren russischen Philo- Situation der akademischen Philososophie überhaupt, sondern – vor dem phie in Russland seit ihren Anfängen Hintergrund der West-Ost-Problematik – im 17. Jahrhundert, die russische Saloninsbesondere auch von deren beiden kultur, die 1822 verbotenen Freimaurerprominentesten Erscheinungsformen: der logen, die Dekabristenbewegung und die literarischen Zirkel, in denen sich literarischen und der religiösen“ (S. 327). Nach der Französischen Revolution und die Weisheitsfreunde bewegten. Deren insbesondere nach Russlands Sieg über Mitglieder, Lehrer und überhaupt die Napoleon 1812 erwartete nicht nur die russischen Schellingianer an den Univeraus Frankreich zurückkehrende „Armee- sitäten und Geistlichen Seminaren werintelligenz“ Reformen. Nach Karenovics den vorgestellt wie auch die Zeitschrifstehen die Weisheitsfreunde exempla- ten und Werke, in denen sie ihre Ideen risch für ein „Selbstbewusst-Werden der publizierten. Das Interesse für Schellings russischen Kultur durch deren Relexion Natur-, Identitäts- und Kunstphilosophie im Medium der (deutschen) Philosophie“ zeigt sich auch in ihrer philosophischen (S. 281). Paradoxerweise stützten sie sich Dichtung. Zum Schluss geht Karenovics bei der Suche nach einer philosophischen auf die Wandlungen der russischen PhiSystematik auf die deutschen Romanti- losophie (von Schelling zu Hegel, vom ker, die sich gerade gegen ebendiese Ljubomudrie zum Slavophilentum) im gewandt hatten. Im Zentrum steht die 19. Jahrhundert ein. Eingerahmt sind Schelling-Rezeption, in dessen Werk diese ideengeschichtlichen Kapitel von die Weisheitsfreunde eine Möglichkeit Relexionen zur Speziik der russischen sahen, „Natur und Geist, Glauben und Philosophie mit ihrer „mangelnden Wissen nicht als unversöhnliche Gegen- Trennschärfe“ zwischen den Bereisätze aufzufassen“ (S. 189). Diese „wahre“ chen Literatur, Kritik, Philosophie und Philosophie stellten sie der „veräußer- Religion. lichten“ französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts gegenüber. Regula Zwahlen Nr. 3 2017 B U C H B ES P R EC H U N G E N RGOW The Public Role of the Church in Contemporary Ukrainian Society Myroslava Rap The Public Role of the Church in Contemporary Ukrainian Society The Contribution of the Ukrainian GreekCatholic Church to Peace and Reconciliation Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2015, 500 S. ISBN 978-3-8487-2210-5. € 89.–; CHF 108.90. Mitten in der Ukraine-Krise sind die Kanonen lauter als die versöhnlichen Stimmen. Umso mehr sind friedliche Initiativen zu schätzen, vor allem wenn sie aus kirchlichen Kreisen kommen. Tatsächlich haben die christlichen Kirchen eine aktive Rolle als Identitätsstifter in den jüngsten sozialen und politischen Krisen gespielt. Darüber hinaus standen manche Priester auch physisch zwischen den Fronten des Euromajdan. Allerdings stehen der Versöhnung gegenwärtig geopolitische und ökonomische Interessenkonflikte genauso im Weg wie komplizierte interkonfessionelle Beziehungen. Umso wichtiger ist es, die Versöhnungsinitiativen der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) im theologischen und sozial-praktischen Kontext zu rekonstruieren. Das ist das Hauptthema der Monograie von Myroslava Rap, die aus einer Promotionsschrift an der Katholischen Universität Leuven hervorgegangen ist. Die UGKK entstand am Ende des 16. Jahrhunderts in den östlichen Gebieten Polen-Litauens aus einer Union der römisch-katholischen und orthodoxen Kirche. Dogmatisch wird u. a. der Primat des Papstes anerkannt, die liturgischen Traditionen der Orthodoxen Kirche blieben jedoch erhalten. Die UGKK wird oft als eine symbolische Brücke zwischen östlichen und westlichen christlichen Traditionen dargestellt. Tatsächlich, im Laufe der Geschichte gab es beides: Geistliche der UGKK waren Agenten der Kommunikation zwischen den beiden Zweigen des Christentums, doch genauso oft argumentierten sie im Sinne von Abgrenzung und Entfremdung. Mit der Frage, was heutzutage aus diesem historischen Erbe brauchbar ist, beschäftigen sich Politiker genauso wie Historiker, Theologen und Religionssoziologen. Raps Monograie schildet ausführlich verschiede Aspekte und Friedenspotentiale für die heutige Ukraine. Sie versucht, auf der Basis ofizieller Texte der UGKK zwischen November 1989 und März 2014 deren Positionen in Sachen Versöhnung und Friedensstiftung zu rekonstruieren. Rap ist auch Mitherausgeberin der ukrainischen Publikation „Sozial-orientierte Dokumente der Ukrainischen GriechischKatholischen Kirche (1989–2008)“. Sie konfrontiert die Versöhnungsaussagen in diesen und anderen Dokumenten mit den Texten von drei wichtigen zeitgenössischen Theologen: von dem Katholiken Robert Schreiter und den Protestanten Miroslav Volf und John Paul Lederach. Das Buch besteht aus drei Hauptkapiteln. Der erste Teil beschäftigt sich mit Identitätsdebatten in der Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion. Rap stellt die Frage, welche Hindernisse einerseits und Potenziale andererseits in diesem Kontext verfügbar sind. Sie beobachtet zwei große Lager bei den Identitätsdebatten um die Ukraine: ein europazentriertes und russisch-orthodox-zentriertes. Dahinter stehen sich als geopolitische Konzepte die sakralen Konzepte der „Kiewer Kirche“ und der „Russischen Welt“ gegenüber. Für die UGKK ist Versöhnung in der Gesellschaft aber nur im Rahmen der Kiewer Kirche möglich. Das beinhaltet die Autokephalie sowie den Zusammenschluss der drei orthodoxen Kirchen in der Ukraine (Ukrainische Orthodoxe Kirche–Moskauer Patriarchat, Ukrainische Orthodoxe Kirche–Kiewer Patriarchat und Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche) mit der UGKK. Die Debatten um Versöhnung und Ökumene in den Kirchenkreisen spielen sich laut Rap zwischen ukrainischen und nicht-ukrainischen Identitäten, im Rahmen von Nationalismus und Religion ab. Die Frage nach „Nationalisierung der Religion“ und „Sakralisierung der Nation“ in den Dokumenten der UGKK kommt aber letztlich zu kurz. Ebenso ist die Problematik der Beziehung der UGKK zu Rom nur sehr knapp geschildert. Ferner erfährt man leider praktisch nichts über die Geschichte der Beziehung der UGKK zu den zahlreichen protestantischen Gemeinden in der Ukraine. Das zweite Kapitel ist Konzepten der Versöhnung gewidmet. Rap beobachtet für die UGKK drei Problemfelder: die polnisch-ukrainischen Beziehungen im langen 20. Jahrhundert, die russisch-ukrainischen Konlikte, schließlich inner-ukrainische Spaltungen. Sehr präzise analysiert Rap die Hintergründe der modernen katholischen und protestantischen Versöhnungstheologie, die Konzepte wie Reue, Vergebung und Gerechtigkeit hervorhebt. Diese könnten in der Tat sehr hilfreich für zukünftige Friedensprozesse in der Ukraine sein. Das Thema des dritten Kapitels ist Gedächtnis und christliche Union. Hier sind erneut mehrere Konfliktfelder zu beobachten (der Zweite Weltkrieg und Kollaboration beim Holocaust, interkonfessionelle Konlikte in der Westukraine in den 1990er Jahren und das Konzept des Kiewer Patriarchats). Besonders interessant sind praktische Maßnahmen der Geistlichen zur Bewältigung der Traumata des Zweiten Weltkrieges im Rahmen von Versöhnungsprozessen mit Polen und Israel. Für Rap spielen diese Maßnahmen der UGKK (oft als die „Reinigung des Gedächtnisses“ bezeichnet) eine besondere Rolle für eine Heilung und Restauration der innergesellschaftlichen Strukturen. Obwohl Rap über die „Pluralität der Gedächtnisse“ schreibt, ist allerdings die Frage nach Memoria-Konlikten um den Krieg auf die Dichotomie zwischen „westlichen“ und „sowjetischen“ Narrativen beschränkt. Tatsächlich kämpfen in der Ukraine zwei politische Lager um die Deutungshoheit über den Zweiten Weltkrieg. In der Historiograie werden diese meistens als „post-kommunistisch“ und „national-liberal“ bezeichnet. Bei den beiden geht es oft um eine Konkurrenz der Opfer. Ob es sich beim „national-liberalen“ Lager (ähnlich wie bei den meisten anti-kommunistischen Narrativen in Osteuropa) tatsächlich um eine „westliche“ Interpretation der Geschichte des Zweiten Weltkriegs handelt, ist allerdings zu bezweifeln. Jedenfalls verorten Historiker die Ukraine zusammen mit z. B. Ungarn oder der Slowakei in der Kategorie der osteuropäischen Erinnerungskultur, die von heiklen politischen Debatten zum Thema des Zweiten Weltkrieges gezeichnet ist. Insgesamt leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zur modernen Geschichte und Theologie christlicher Versöhnungskonzepte am Beispiel der UGKK. Allerdings (und das kommt in Raps Buch manchmal zu kurz) stehen den Versöhnungskonzepten der UGKK nicht nur dogmatische Unterschiede zwischen katholischen und orthodoxen Traditionen in Wege, sondern auch die Politisierung der Kirchen. Solange diese Probleme bestehen, bleiben Versöhnungsprozesse in der Ukraine schwierig. Liliya Berezhnaya, Münster 31 Nr. 3 2017 RGOW Einladung zur G2W-Jahrestagung 2017 Donnerstag, 23. Mai 2017 Hauptgebäude der Universität Zürich, Hörsaal KOL-G-209 Rämistrasse 71, 8006 Zürich 16:00 Uhr Öffentliche Mitgliederversammlung 17:30 Uhr Apéro 18:15 Uhr Abendveranstaltung: Alles Propaganda? Russland in den Medien – Medien in Russland? Podiumsdiskussion mit Martin Krohs, Herausgeber des Informationskanals dekoder.org, Andreas Rüesch, Auslandsredaktor NZZ und für die Dossiers USA und Russland zuständig, und Nada Boškovska, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich Detailliertes Programm auf www.g2w.eu Veranstaltung in Kooperation mit der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Zürich I M P R ESSU M Herausgeber Institut G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Verein G2W – Ökumenisches Forum für Glauben, Religion Religion und Gesellschaft in Ost und West und Gesellschaft in Ost und West Birmensdorferstrasse 52, Postfach 9329, CH-8036 Zürich Präsident Prof. Dr. Georg Rich, Aarau Aktuarin Eva Gysel, Wilchingen Tel.: 0041 (0)44 342 18 19, Fax 0041 (0)44 240 06 10 Redaktionsverantwortliche Dr. phil. Rahel Černá-Willi [email protected] | www.g2w.eu Jahresbeiträge, Mitgliedschaften: Kollektiv-A CHF 400.–, einschließlich 3 Abo, Redaktion Stefan Kube, dipl. theol. (Chefredakteur), Kollektiv-B CHF 200.–, einschließlich 1 Abo; Einzelmitglieder (ohne Abo) Dr. phil. Regula Zwahlen Guth, Natalija Zenger, lic. phil. CHF 50.– In den meisten Kantonen können freie Zuwendungen an G2W bis [email protected] zu 70 % in Abzug gebracht werden (bei zweckgebundenen Spenden für die Projektverantwortliche Regula Spalinger, lic. phil. Projektarbeit zu 100 %) Die Meinung der namentlich zeichnenden Verfasser braucht nicht mit der Meinung der Redaktion übereinzustimmen. Erscheinungsweise monatlich ISSN 2235-2465 G2W – Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Bezugspreis Jahresabonnement CHF 85.– / € 69.–; Ost und West – Deutsche Sektion e. V. Abonnement für Studierende CHF 43.– / € 35.–; Einzelheft CHF 10.– / € 8.– Präsident Stefan Kube (ad interim) Bezugsbedingungen Bestellungen sind an das Institut G2W zu richten. Geschäftsführer Heiner Hesse, Max-Josef-Metzger-Strasse 1, Das Abo gilt für ein Kalenderjahr und verlängert sich, wenn es nicht bis zum DE – 39104 Magdeburg 15. November schriftlich beim Institut G2W gekündigt wird. Jahresbeiträge Korporativmitglieder € 130.–, einschließlich 2 Abo Konten Postcheck-Konto Zürich 80-15178-0, Einzelmitglieder € 70.–, einschließlich 1 Abo IBAN CH22 0900 0000 8001 51780, BIC POFICHBEXXX Konto Postbank Hamburg, IBAN DE96 2001 0020 0003 3282 09, BIC PBNKDEFF Postbank Karlsruhe, IBAN DE58 6601 0075 0070 3467 57, BIC PBNKDEFF G2W – Deutsche Sektion e. V. ist laut Bescheid des Finanzamtes Magdeburg Produktion Thomas Stark, Neuberg (A) vom 10. 9. 2013 von der Körperschaftssteuer befreit, weil Druck Druckerei Konstanz GmbH sie ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen Zwecken dient.