RGOW 3 / 2017
45. Jahrgang
Religion &
Gesellschaft
IN
OST
Zwischenbilanzen
Usbekistan, Polen, Ukraine
Perestrojka à la Usbekistan?
10
Justizreform in Polen
12
Die Ukraine und die
vatikanische Ostpolitik
16
UND
WEST
2
EDITORIAL
Nr. 3 2017
RGOW
I N H A LT
3
I M F O K US
Stefan Kube
Rückblick auf Havanna
und Perspektiven des Dialogs
4
10
RU N DS C H AU
US B E K I S TA N
Vor gut einem Jahr fand die historische Begegnung zwischen Papst Fran-
Ataman Burnash
Perestrojka à la Usbekistan?
erste Zwischenbilanz zu ziehen, wie sich seitdem der Dialog zwischen
POLEN
12
14
Liebe Leserin
Lieber Leser
ziskus und Patriarch Kirill auf Kuba statt. Es ist also an der Zeit, eine
der katholischen Kirche und der Russischen Orthodoxen Kirche entwickelt hat. Dies war auch der Beweggrund für ein Treffen zwischen dem
Justyna Zając
Justizreform in Polen
Leiter des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metro-
L I TAU E N
Ökumene im Vatikan, am ersten Jahrestag der historischen Begegnung
Jürgen Buch
Das multireligiöse Erbe von Kėdainiai
polit Ilarion (Alfejev), und Kardinal Kurt Koch, verantwortlich für die
in Fribourg (s. in diesem Heft, S. 3). Der Kardinal sprach dabei von einem
„Hoffnungszeichen“, das die zwischenkirchlichen Beziehungen intensi-
UKRAINE
viert habe. Metropolit Ilarion würdigte die Gemeinsame Erklärung der
Gerhard Simon
Die Ukraine und die vatikanische Ostpolitik
beiden Kirchenoberhäupter als Charta und Richtschnur für den weiteren
16
Tatjana Hofmann
Dem Kulturleben der Krim auf der Spur
hard Simon die Gemeinsame Erklärung: Deren Abschnitte zur Ukraine
18
RU M Ä N I E N
20
Jürgen Henkel
Wen(n) zu viel Ökumene stört
K AU K A SUS
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Ansgar Jödicke, Andrea Friedli,
Ketevan Khutsishvili
Das Lomisoba-Fest: Volksreligiosität
und Kirche in Georgien
Irene Suchy
Spiritualität und Patriotismus –
der Klang des Glaubens
ökumenischen Dialog. Kritisch kommentiert dagegen der Historiker Gerspiegelten weitgehend die Moskauer Lesart der politischen und kirchenpolitischen Verhältnisse in der Ukraine wider und vermieden es, klar
Stellung zu beziehen, wer Opfer und wer Aggressor im Krieg im Donbass
sei (s. in diesem Heft, S. 16–17).
Um Zwischenbilanzen ganz anderer Art geht es auch in weiteren Beiträgen der vorliegenden Ausgabe: Nach dem Tod des usbekischen Langzeitherrschers Islam Karimov, der das Land seit der Unabhängigkeit ein
Vierteljahrhundert mit eiserner Hand regiert hatte, stellt sich die Frage,
in welche Richtung sich Usbekistan zukünftig entwickelt. Die ersten
Maßnahmen des neuen Präsidenten Shavkat Mirsijojev sind widersprüchlich, worauf Ataman Burnash hinweist: Auf der einen Seite hat er langjährige politische Gefangene frei gelassen und Bereitschaft zu Reformen
RUSS L A N D
signalisiert, auf der anderen Seite stehen grundlegende strukturelle
Roman Lunkin
Orthodoxe Charismatiker:
Mit Mozart gegen Stalin
Veränderungen immer noch aus. So übt der Nationale Sicherheitsdienst
weiterhin fast unbegrenzte Macht und Kontrolle über alle Aspekte des
politischen und ökonomischen Lebens aus. – Eine grundlegende struk-
B U C H B ES P R EC H U N G E N
turelle Veränderung strebt dagegen die Regierungspartei Recht und
Alexander Agadjanian (ed.)
Armenian Christianity Today
Gerechtigkeit (PiS) mit ihrer Justizreform in Polen an. Ihr erstes Regie-
Ilja Karenovics
Weisheitsfreunde. Der Kreis
der „Ljubomudry“ 1820–1830
das die PiS unter ihre Kontrolle zu bringen versucht. Mit der Justizreform
Myroslava Rap
The Public Role of the Church
in Contemporary Ukrainian Society
rungsjahr war vor allem vom Konlikt um das Verfassungsgericht geprägt,
drohen so eine Politisierung der Justiz und eine Aushebelung der Gewaltenteilung, wie Justyna Zaj̨c berichtet.
Last but not least haben wir auch unsere eigene Zwischenbilanz in Form
unseres Jahresberichts 2016 erstellt. Dieser ist online unter www.g2w.eu
abrufbar oder kann bei uns im Institut bestellt werden.
Die Zeitschrift RGOW wird vom Institut G2W,
Ökumenisches Forum für Glauben, Religion
und Gesellschaft herausgegeben, das vom
gleichnamigen Verein getragen wird.
© Nachdruck von Texten und Übernahme von
Bildern nur mit Genehmigung der Redaktion.
Stefan Kube, Chefredakteur
Nr. 3 2017
RGOW
IM FOKUS
Stefan Kube
RÜCKBLICK AUF HAVANNA UND PERSPEKTIVEN DES DIALOGS
Der Ort des Treffens war dieses Mal nicht ganz so exotisch wie
vor einem Jahr. Um der Begegnung zwischen Papst Franziskus
und Patriarch Kirill am 12. Februar 2016 am Flughafen von
Havanna zu gedenken (s. RGOW 3/2016, S. 4–7), hatten Metropolit Ilarion (Alfejev) und Kardinal Kurt Koch die Universität
Fribourg ausgewählt. Dort fand zum ersten Jahrestag der Begegnung der beiden Kirchenoberhäupter ein Festakt statt, an dem
der Leiter des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats und der im Vatikan für die Ökumene zuständige Kardinal
auf die in Havanna verabschiedete „Gemeinsame Erklärung“
zurückblickten und Perspektiven des orthodox-katholischen
Dialogs ausloteten. Metropolit Ilarion und Kardinal Koch hatten das Treffen auf Kuba maßgeblich mit vorbereitet und waren
neben den beiden Dolmetschern die einzigen Anwesenden bei
der privaten Unterredung zwischen Papst Franziskus und Patriarch Kirill gewesen. Wer allerdings gehofft hatte, Näheres über
deren Gespräch zu erfahren, wurde enttäuscht – Kardinal Koch
stellte klar, dass sie nicht befugt seien, über die Inhalte der Unterredung zu sprechen.
Im Mittelpunkt der Vorträge von Metropolit Ilarion und Kardinal Koch standen vielmehr der Weg nach Havanna, der Ablauf
des Treffens von vor einem Jahr, die wesentlichen Aussagen der
Gemeinsamen Erklärung sowie weitere Schritte im zwischenkirchlichen Dialog.
Pastoraler Text
den einzelnen orthodoxen Landeskirchen besprochen, sondern
„multilateral mit der Orthodoxen Kirche in ihrer Gesamtheit“,
wobei selbstverständlich beide Dialogebenen zusammenhängen
und sich ergänzen müssen.
Streitfall Ukraine
Unterschiede zwischen Metropolit Ilarion und Kardinal Koch
zeigten sich vor allem in der Interpretation der beiden Paragraphen der Gemeinsamen Erklärung zur politischen und kirchlichen Situation in der Ukraine (§§ 26–27). Metropolit Ilarion
begrüßte zwar, dass die Erklärung den Uniatismus als Methode
der Vergangenheit zur Kircheneinheit zurückweist, gleichzeitig
übte er jedoch scharfe Kritik an der Ukrainischen GriechischKatholischen Kirche: „Wir wissen jedoch, wie gereizt die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche auf die Begegnung zwischen
Papst Franziskus und Patriarch Kirill reagiert hat, insbesondere
auf die Aussagen der Erklärung, die unmittelbar die Ukraine und
die Frage der ‚Union‘ betreffen. […] Wieder und wieder, trotz
der unter großen Anstrengungen erreichten Vereinbarungen auf
hoher Ebene zwischen der Orthodoxen und der Katholischen
Kirche bringt die ‚Union‘ sich in Erinnerung als Kraft, die Feindschaft und Hass sät und systematisch und konsequent die Aussöhnung zwischen Ost und West behindert. Daher sind wir der
Überzeugung, dass die Diskussion über die Frage der ‚Union‘,
die im Rahmen des theologischen Dialogs zwischen der römischkatholischen Kirche und der Orthodoxen Kirche begonnen hat,
weitergeführt und zu ihrem konsequenten Abschluss gebracht
werden sollte.“
Dagegen war Kardinal Koch eher bemüht, beim Thema
Ukraine zu deeskalieren: „Eigentlich sprechen nur zwei sehr
kurze Abschnitte über die Ukraine […]. Diese Abschnitte sind
vor allem ein Appell an Frieden und Versöhnung, deren Förderung die gemeinsame Sendung unserer Kirchen darstellt. Es
war nicht das Anliegen einer gemeinsamen Erklärung, noch
dazu pastoraler Art, und konnte auch nicht ihr Anliegen sein, die
eventuelle Verantwortung den einen oder anderen zuzuschieben.
Aber ich gebe zu, dass diese Abschnitte sehr knapp gehalten sind,
und dass diese Knappheit nicht zu ihrem Verständnis beigetragen
hat, insbesondere in einer so schmerzlichen Situation, wie sie zur
Zeit unsere ukrainischen Brüder und Schwestern durchleben und
erleiden.“ Mit Blick auf die Äußerungen von Metropolit Ilarion
ging Kardinal Koch dann noch – ergänzend zum vorher ausgeteilten Redemanuskript – näher auf die Situation in der Ukraine
ein und mahnte einen historischen Dialog zwischen den Kirchen
zur „Reinigung des Gedächtnisses“ und einen Dialog über die
aktuellen Schwierigkeiten an.
Einigkeit herrschte bei den ökumenischen Perspektiven nach
Havanna; sowohl Metropolit Ilarion als auch Kardinal Koch
maßen einer „Ökumene der Heiligen“ große Bedeutung zu. Es
sei unerlässlich, dass sich die Gläubigen „mit der geistlichen
Erfahrung und den Heiligtümern der anderen Kirche“ auseinandersetzten, um alte Vorurteile abzubauen, so Metropolit
Ilarion. Zudem hoben beide Würdenträger die gegenseitigen
Studienbesuche junger orthodoxer und katholischer Priester in
Rom und Moskau hervor, die ebenfalls zum besseren Verständnis
der jeweils anderen Tradition beitrügen.
Beide würdigten das Zusammentreffen von Papst und Patriarch
als „historisch“, wobei Metropolit Ilarion hervorhob, dass dieses
erst nach einem langen Vorbereitungsweg möglich geworden sei
und das heutige „Maß an Vertrauen und gegenseitigem Verständnis“ zwischen den beiden Kirchen widerspiegele. Zum Zustandekommen der Begegnung trug auch bei, dass diese – wie es in
der Gemeinsamen Erklärung heißt – „weit weg von den alten
Auseinandersetzungen der ‚Alten Welt‘“ stattfand. Kardinal
Koch ließ anklingen, dass die Wahl eines gleichsam „neutralen“
Ortes außerhalb von Europa vor allem für die russische Seite von
entscheidender Bedeutung gewesen war.
Bei ihrer Kommentierung der Gemeinsamen Erklärung
setzten Metropolit Ilarion und Kardinal Koch unterschiedliche Akzente: Ersterer unterstrich, dass der „wichtigste Beweggrund“ für das Treffen die „tragische Situation“ der Christen
im Nahen Osten und in Nordafrika gewesen sei, um die politisch Verantwortlichen wachzurütteln. Als zweiten zentralen
Punkt der Erklärung hob der Außenamtschef die Paragrafen
zum Thema Ehe, Familie und Kinder hervor (§§ 19–23), die
„die Grundlage jeder gesunden Gesellschaftsordnung“ skizzierten: „Als Antwort auf die beunruhigenden Tendenzen in
einer Zahl von westlichen Ländern, ‚alternative Formen des
Zusammenlebens‘ auf dieselbe Stufe zu stellen wie die traditionelle Familie, haben die Oberhäupter der beiden Kirchen
in Übereinstimmung mit der zweitausendjährigen christlichen
Tradition unterstrichen, dass gerade die Familie als Bund zwischen Mann und Frau, in dem Kinder geboren werden, einen
‚Weg zur Heiligkeit‘ darstellt.“
Kardinal Koch betonte, dass die Zielsetzung der Gemeinsamen Erklärung nicht theologischer Natur sei, sondern diese
vielmehr als pastorale Erklärung gelesen werden müsse. Daher
treffe sie auch keine Aussagen zu den Sakramenten, sondern Eine Dokumentation des Treffens vom 12. Februar 2017 in Frikonzentriere sich vor allem auf Themen vorwiegend sozialer bourg ist unter http://www.unifr.ch/iso/home/aktuelles#Havanna
Natur. Die theologischen Fragen würden „nicht bilateral“ mit abrufbar.
3
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R U N DS C H AU
Nr. 3 2017
RGOW
ÄGYPTEN
Erste Weihe von Diakoninnen
Patriarch Theodoros II. von Alexand- die Wiedereinführung des Diakoninnenria und ganz Afrika hat Ende Februar amts beschlossen und eine Kommission
erstmals drei Katechetinnen und drei „zur Vertiefung der Frage“ eingesetzt (s.
Nonnen zu Diakoninnen geweiht. Die RGOW 12/2016, S. 4).
Zeremonie fand in der Kirche St. NicoDer emeritierte Athener Theologe
las in der Bergbaustadt Kolwezi in der Evangelos Theodorou, der sich viele
kongolesischen Provinz Katanga anläss- Jahre wissenschaftlich mit der Geschichlich Feierlichkeiten zum Namenstag des te der Diakoninnenweihe befasste,
Patriarchen statt. Die neuen Diakonin- bezeichnete das Vorgehen des Patnen sollen vor allem in den Bereichen riarchen als „frischen und wichtigen
Erwachsenentaufe, Ehevorbereitung Schritt“. Mit seiner Entscheidung habe
und Katechese tätig sein. Die alexan- die Heilige Synode von Alexandria auf
drinische Bischofskonferenz hatte an die drängenden pastoralen Notwenihrer Tagung vom 17. bis 19. November digkeiten der Gegenwart reagiert. Die
Diakoninnen könnten unter der Leitung
des Bischofs einen wichtigen Beitrag für
die stark wachsende orthodoxe Kirche
in Afrika leisten, vor allem in den Bereichen Seelsorge, Mission, Erziehung und
Caritas.
www.patriarchateofalexandria.com,
18. Februar;
www.theorthodoxchurch.info,
25. Februar;
Kathpress, 27. Februar;
KNA-ÖKI 6. März 2017
– N. Z.
BOSNIEN-HERZEGOWINA
Päpstlicher Sondergesandter für Međugorje ernannt
Papst Franziskus hat den polnischen Erzbischof von Warschau-Praga, Henryk Hoser,
zum Sondergesandten für Međugorje
ernannt, um mehr über das dortige Pilgerwesen zu erfahren. Hoser soll die
pastorale Situation und die Bedürfnisse
der Pilger untersuchen und daraus Empfehlungen für die Zukunft erarbeiten. Die
Mission wird laut Vatikan „ausschließlich
pastoralen Charakter“ haben. Das Phänomen der Privatoffenbarungen und
die Rolle der inzwischen erwachsenen
Seherinnen und Seher, die angeblich
mit großer Häuigkeit weitere Marienbotschaften erhalten, gehören nicht zu
Hosers Auftrag. Diese zu analysieren, ist
Aufgabe der Glaubenskongregation, die
2010 von Papst Benedikt XVI. mit einer
Untersuchung beauftragt worden war.
Die Ergebnisse dieser Kommission, die
von Kardinal Camillo Ruini geleitet wurde und sich vier Jahre mit dem Phänomen
Međugorje beschäftigte, wurden jedoch
bislang noch nicht veröffentlicht.
Seit am 24. Juni 1981 sechs Kinder von
Marienerscheinungen und übernatürlichen Botschaften berichteten, wurde
der Ort in der westlichen Herzegowina
zum Anziehungspunkt wachsender Pilgerscharen. Die Ortskirche verhielt sich
nach ersten Überprüfungen zurückhaltend und lehnt ofizielle kirchliche Wallfahrten ab. Der zuständige Bischof Ratko
Perić von Mostar-Duvno betonte Ende
Februar in einem Hirtenbrief, die Marienerscheinungen seien nicht authentisch.
Auch der Vatikan mahnt zu Vorsicht: Eine
Anerkennung übernatürlicher Phänomene bleibe ausgeschlossen, solange diese
noch im Gange seien. Dennoch wächst
die Zahl der Međugorje-Pilger ständig –
es sollen mehrere Millionen jährlich sein.
Zudem indet in Međugorje inzwischen
ein reges Frömmigkeitsleben statt, mit
Gebeten und persönlichen Bekehrungen. Angesicht der Pilgerströme riet
bereits 1991 die Bischofskonferenz
Jugoslawiens zu einer angemessenen
pastoralen Betreuung der Menschen, die
Međugorje besuchten.
Das Mandat für Hoser, das die bisherigen Untersuchungen komplettieren
soll, sei bis zum kommenden Sommer
begrenzt, heißt es in einer Erklärung
des Vatikans. Der Erzbischof, der sich als
neutraler Vermittler versteht, will Ende
März erstmals nach Međugorje reisen,
um seine Mission zu beginnen. Geplant
sind Gespräche mit dem Apostolischen
Nuntius in Bosnien-Herzegowina, dem
Erzbischof von Sarajewo sowie dem
Bischof von Mostar-Duvno, in dessen
Zuständigkeitsbereich Međugorje liegt.
In Međugorje selbst will Hoser sich mit
den lokalen Franziskanern treffen, nicht
aber mit den angeblichen Seherinnen
und Sehern.
www.radiovaticana.va, 11. Februar;
Kathpress 12. Februar, 3., 6. März;
www.md-tm.ba, 28. Februar 2017
– N. Z.
GEORGIEN
Georgische Muslime klagen gegen Diskriminierung
Vier georgische Muslime haben Ende
2016 vor dem Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte in Straßburg Klage
eingereicht, da sie sich aufgrund ihrer
Religionszugehörigkeit von den Strafverfolgungsbehörden in Georgien diskriminiert fühlen. Die vier Kläger waren 2014
verhaftet worden, nachdem sie einen
Abriss der Moschee im Dorf Mokhe verhindert hatten. Zusammen mit anderen
Protestierenden hinderten sie die Bauirma am Abriss des Gebäudes, worauf sie
mit der Polizei in Konlikt gerieten. Von
rund einem Dutzend damals verhafte-
ter Demonstranten geben mehrere an,
in der Haft misshandelt worden zu sein.
Die betreffende Moschee wurde 2007
als Eigentum der Gemeinde registriert,
nachdem sie während der sowjetischen
Zeit für verschiedene andere Zwecke verwendet worden war, zuletzt als Dorfclub.
RGOW
R U N DS C H AU
Angelegenheiten Ende 2014 eine Kommission ein. Neben dem Vorsitzenden
der Behörde sind drei Vertreter der
Georgischen Orthodoxen Kirche und
vier Muslime der staatlich geförderten
Administration der Muslime von ganz
Georgien, der viele georgische Muslime
misstrauen, Teil der Kommission. Dazu
kommen der Gouverneur der Region Samtskhe-Javakheti, zwei Beamte
der Nationalen Behörde zur Erhaltung
des Kulturerbes und der Vorsteher der
Gemeinde Endeladze, zu der Mokhe
gehört. Die Vertreter, die die lokalen
Muslime für die Kommission vorgeschlagen hatten, wurden nicht berücksichtigt.
Die muslimische Bevölkerung von Mokhe glaubt, dass die Kommission gebildet
wurde, um die Rückgabe der Moschee
zu verhindern.
Vertreter der lokalen orthodoxen
Kirchgemeinde verlangen, dass die
Moschee der Georgischen Orthodoxen
Kirche übergeben wird. Sie begründen
dies damit, dass die Steine, aus denen
die Moschee erbaut wurde, von einem
älteren Klosterbau stammen sollen.
Nr. 3 2017
Seither bemühen sich die muslimischen
Bewohner Mokhes, denen das Betreten des zerfallenden Gebäudes nicht
erlaubt ist, verstärkt um die Restitution
der Moschee. Von den ca. 75 Haushalten
in Mokhe, in der südgeorgischen Region Samtskhe-Javakheti gelegen, ist rund
die Hälfte muslimisch. Derzeit beten
die Muslime in einem Raum in einem
gemieteten Haus. Die steinerne Moschee
wurde vermutlich in den 1930er Jahren
als Nachfolgebau eines hölzernen Sakralgebäudes aus dem 19. Jahrhundert
errichtet.
Nach dem verhinderten Abriss setzte die staatliche Agentur für religiöse
http://hudoc.echr.coe.int/eng?
i=001-168451;
Forum 18 News, 28. Februar 2017
– N. Z.
Hl. Synod setzt „Medienbischof“ ab
Nach einem mutmaßlichen Giftanschlag
Den Verant wor tlichen für die
auf das Oberhaupt der Georgischen Berichterstattung über die ganze AffäOrthodoxen Kirche, Katholikos-Patriarch re, „Medienbischof“ Petre (Tsava) von
Ilia II., während eines Spitalaufenthal- Tschonkdidi, hat die Synode allerdings
tes in Berlin ist eine Sondersitzung des seines Amtes als Leiter des kirchlichen
Hl. Synods einberufen worden. Dieser Rundfunks enthoben. Er habe in seinem
beschäftigte sich während drei Tagen Sender bei der Berichterstattung über
in erster Linie mit den Hintergründen den versuchten Giftmord Patriarch Ilia II.
des angeblichen Giftanschlags auf den beleidigend kritisiert und schwer ange84-jährigen Patriarchen. In der Frage griffen. Metropolit Petre gilt als einer
des hauptverdächtigen Diakons Geor- der Führer des prorussischen Bischofsgi Mamaladze, des Chefs der kirchli- lügels in der Georgischen Orthodoxen
chen Vermögensverwaltung, wurde Kirche.
beschlossen, noch keine Kirchenstrafen
An der Synode kam es auch zu hefzu verhängen, sondern das Ergebnis tigen Auseinandersetzungen zwischen
der polizeilichen Ermittlungen bzw. ein ultrakonservativen und aufgeschlosseGerichtsurteil abzuwarten. Mamaladze neren Bischöfen. Letztere konnten den
befindet sich seit dem 12. Februar in „Eiferern“ die Zustimmung zur ElektriUntersuchungshaft.
izierung der georgischen Klöster mit
Sonnenenergie abringen. Diese vordergründig technisch-praktische Entscheidung hat eine tiefere Tragweite: Die
Klöster als eine Hauptstütze der kirchlichen Traditionalisten widersetzten sich
der Einführung elektrischer Beleuchtung mit dem Hinweis, dass auch am
beispielgebenden Heiligen Berg Athos
noch weitgehend nur Kerzen und Petroleumlampen, also „natürliche, von
Gott und nicht sündigen Menschen
geschaffene Lichtquellen“ Verwendung
fänden. Die Traditionalisten ließen sich
aber davon überzeugen, dass auch die
Nutzung von Sonnenenergie der gottgeschaffenen natürlichen Ordnung
entspricht.
KNA-ÖKI, 13. März 2017.
GRIECHENLAND
Griechenlands Kirche kommt Konzilsgegnern entgegen
Angesichts der Agitation von Laientheologen und Mönchen, aber auch
einzelnen Bischöfen gegen das Panorthodoxe Konzil von Kreta im Juni 2016
(s. RGOW 11/2016) und seine Beschlüsse
hat sich die Heilige Synode der Orthodoxen Kirche von Griechenland in
einem Hirtenbrief an alle Gläubigen
gewandt. In ihm werden die Gültigkeit
dieser „Heiligen und Großen Synode
der Orthodoxie“ sowie die Richtigkeit
ihrer Dekrete verteidigt.
Einerseits verurteilt das Rundschreiben die Konzilsgegner aus Griechenlands antiökumenischem Lager als
Kirchenspalter (Schismatiker), kommt
ihnen aber auch mit manchen Umin-
terpretationen der Konzilsergebnisse
entgegen. So wird in dem Hirtenbrief
erklärt, auf Kreta seien die gegen
Katholiken und Protestanten gerichteten orthodoxen Kirchenversammlungen des 15. und 17. Jahrhunderts
bestätigt und jene als „andersgläubige Häretiker“ eingestuft worden.
Wenn das Konzil sich zur Fortführung
des Dialogs mit den nichtorthodoxen
Christen bekannt habe, so dürfe dieser
einzig und allein einer Darlegung der
unveräußerlichen orthodoxen Positionen dienen.
Dagegen hat einer der wenigen Konzilsbefürworter in Griechenland, Metropolit Chrysostomos (Savvatos) von
Kalamata, der auch an der Universität
Athen Dogmatik lehrt, auf den komplexen Rezeptionsprozess eines jeden
Konzils hingewiesen. So habe es schon
beim ersten Ökumenischen Konzil von
Nicäa (325) gut ein halbes Jahrhundert
gedauert, bis es allgemein anerkannt
worden sei. Kein Konzil sei bis zu seiner Verarbeitung und Verwirklichung
in der Kirchengemeinschaft abgeschlossen, habe ein offenes Ende, das
es noch auszufüllen gelte. Dasselbe
müsse jetzt auch dem Konzil von Kreta zugestanden werden, so Metropolit
Chrysostomos.
KNA-ÖKI, 30. Januar, 13. März 2017.
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R U N DS C H AU
Nr. 3 2017
RGOW
KOSOVO
Imam wegen Anstiftung zu Terrorismus angeklagt
Shefqet Krasniqi, der Imam der größten
und ältesten Moschee in Prishtina, ist
wegen Anstiftung zu Terrorismus angeklagt worden. Er habe in seinen Predigten
und in sozialen Netzwerken „kontinuierlich und bewusst“ Gläubige dazu ermutigt, nach Syrien und in den Irak in den
Jihad zu ziehen und dort terroristische
Akte zu verüben, erklärte die Staatsanwaltschaft am 27. Februar. Zudem wirft
sie Krasniqi die Anstiftung zu Hass und
nationaler, rassistischer und religiöser
Intoleranz sowie Steuerhinterziehung vor.
In den letzten Jahren sind rund 300
Kosovaren nach Syrien und in den Irak
gereist, um sich dort extremistischen
Gruppen anzuschließen. Zudem sind
offenbar vor allem in den Gefängnissen
in Kosovo radikale religiöse Ansichten
verbreitet. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in letzter Zeit entsprechend
einem neuen Gesetz, das die Verwicklung
in terroristische Aktivitäten unter Strafe
stellt, Dutzende aus dem Nahen Osten
zurückgekehrte Kosovaren und Männer,
die in Kosovo für extremistische Gruppierungen rekrutiert haben, zu Haftstrafen verurteilt worden sind. Diese tragen
jedoch auch zur Radikalisierung anderer
Gefängnisinsassen bei. Neben Krasniqi
wurden in letzter Zeit mehrere andere
Imame radikaler Aussagen oder extremistischer Haltungen bezichtigt – 2016 wurde Zeqirja Qazimi, ein Imam aus Ferizaj,
deshalb zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Die Behörden Kosovos versuchen mit
verschiedenen Mitteln, der Radikalisierung in den Gefängnissen entgegenzuwirken. Dabei arbeiten sie mit der Islamischen Gemeinschaft Kosovos (s. RGOW
2/2017, S. 22–23) zusammen. So untersuchte eine Gruppe von Muftis die Bibliotheken von neun Gefängnissen und
entfernte vorhandene extremistische
Literatur und ersetzte sie mit Büchern
über den traditionellen Islam der Region. Zudem wollen die Muftis gemeinsam
mit dem Justizministerium Imame für die
Betreuung der Gefangenen aussuchen,
um eine Einflussnahme von radikalen
Imamen zu verhindern.
Als Ursachen für die Radikalisierung
gelten Arbeitslosigkeit, Armut, die Verbreitung extremistischer Literatur und
der einfache Zugang zu Online-Medien.
Gerade in ländlichen Regionen, die noch
stärker von Arbeitslosigkeit betroffen
sind, operieren ausländische islamische
Hilfswerke, deren eigentlicher Zweck
die Verbreitung eines radikalen Islam ist.
Allein 2014 schlossen die kosovarischen
Behörden 14 solcher Hilfswerke, die von
Iran, Saudi Arabien und anderen Staaten
am Persischen Golf gegründet worden
waren. Die größte Herausforderung liegt
jedoch darin, die sozialen Ursachen wie
Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie
die schwierige ökonomische Lage zu
bekämpfen.
www.rferl.org, 28. Februar,
7. März 2017 – N. Z.
POLEN
Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Theater aufgrund Verletzung religiöser Gefühle
Nach öffentlichen Beschwerden hat
die Warschauer Staatsanwaltschaft ein
Ermittlungsverfahren gegen das Allgemeine Theater (Teatr Powszechny) in
Warschau eingeleitet. Ermittelt wird
wegen des Vorwurfs der Verletzung
religiöser Gefühle und eines angeblichen Mordaufrufs im Theaterstück „Der
Fluch“, das der kroatische Regisseur
Oliver Frlijć in Anlehnung an das gleichnamige Stück von 1899 des polnischen
Regisseurs Stanisław Wyspiański zurzeit
in Warschau aufführt. Ein Abgeordneter
der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS),
Dominik Tarczyński, hatte am 21. Februar eine entsprechende Strafanzeige
eingereicht.
Auslöser für die Strafanzeige waren
Amateuraufnahmen aus der Premiere
des Theaterstücks „Der Fluch“ (poln.
Kl̨twa) am 18. Februar, die das Internetportal des Polnischen Fernsehens
veröffentlichte. In der Eröffnungsszene
des Stücks simuliert eine Schauspielerin
Oralsex mit einem an einer Statue von
Papst Johannes Paul II. angebrachten
Dildo, in einer anderen Szene wird die
Papststatue mit einem Schild „Verteidiger von Pädophilen“ an einem Strick
aufgehängt. Zudem wird laut darüber das Stück enthalte Merkmale der Gotnachgedacht, was ein Auftragsmord am teslästerung, u. a. sei die Beleidigung des
Vorsitzenden der nationalkonservativen Hl. Johannes Paul II. für Polen besonders
Regierungspartei Recht und Gerechtig- schmerzhaft. Er kritisierte, dass die Thekeit (PiS), Jarosław Kaczyński, kosten aterinszenierung zum Hass gegen Menwürde. Bei der zweiten Aufführung am schen anstachele und rief zum Gebet
Abend des 21. Februar protestierten laut für die „Überwindung des Bösen durch
Warschauer Medienberichten Dutzende das Gute“ auf. Am 23. Februar verurteilRechtsradikale vor dem Theater. Die te auch Kardinal Stanisław Dziwisz, der
Bühne verweist in einer Stellungnahme ehemalige Sekretär von Johannes Paul II.,
auf die Kunstfreiheit, die von der Verfas- die „grobe Ungerechtigkeit“ gegenüber
sung garantiert werde. Das Stück rich- dem heiliggesprochenen Papst. Der Leitet sich provokativ gegen die Dominanz ter des kirchlichen Johannes-Paul-II.-Zender katholischen Kirche, den Kindsmiss- trums in Krakau, Jan Kabziński, startete
brauch durch Geistliche und Nationalis- eine Unterschriftensammlung gegen das
Stück und hielt dazu an, in den Gottesmus in Polen.
Zwischen 2010 bis 2013 wurden in diensten für ein Ende der GotteslästePolen mindestens 19 Priester wegen rung zu beten. Polens Laienbewegung
sexueller Verbrechen an Kindern verur- „Katholische Aktion“ verlangt ebenfalls
teilt (s. RGOW 10/2014, S. 5). Am 3. März die Absetzung des Stücks. Katholische
2017 hat die katholische Kirche erstmals Vereinigungen halten vor dem Theater
zum Buß- und Bettag für die Sünden des Mahnwachen ab.
Der staatliche polnische Rundfunk
Missbrauchs von Minderjährigen durch
Geistliche aufgerufen. Sie folgte damit beendete aus Protest gegen die Inszeeinem Appell von Papst Franziskus vom nierung seine Medienpartnerschaft
30. Juni 2015 an die Polnische Bischofs- mit dem Theater. In der Öffentlichkeit
konferenz. Diese hat keine Strafanzeige wird zudem die staatliche Subvention
gegen das Theater gestellt. Ihr Sprecher des Theaters in Frage gestellt. Die Stadt
Paweł Rytel-Andrianik betonte jedoch, Warschau denkt bislang jedoch nicht an
RGOW
R U N DS C H AU
Medienkampagne eine Gruppenhysterie ausgelöst, die die Sicherheit der
Schauspieler und Produzenten des Theaterstücks gefährde. Die im Fernsehen
gezeigten Filmaufnahmen seien illegal
aufgenommen worden und würden aus
dem Kontext gerissen gezeigt. Er bittet
die EU darum, die Attacken auf die Meinungsfreiheit und die Menschenrechte
in Polen nicht zu tolerieren.
Bereits das ursprüngliche Stück von
Stefan Wyspiański hatte einen Skandal
verursacht: Darin suchen die Bewohner
eines abgelegenen polnischen Dorfs
nach einem Sündenbock für die lange
Trockenzeit und inden ihn in der Konkubine des katholischen Priesters, die
daraufhin gesteinigt wird. Das 1899
publizierte Stück wurde 1909 erstmals
in Warschau aufgeführt – mit der Auflage, dass die Handlung ins Mittelalter
versetzt wird.
Nr. 3 2017
eine Abberufung des Theaterchefs oder
eine Intervention. Ob die Theatermacher religiöse Gefühle verletzt hätten,
entscheide allein die Justiz, erklärte ein
Sprecher der Stadt. Die Verletzung religiöser Gefühle kann in Polen mit bis zu
zwei Jahren Gefängnis bestraft werden,
die öffentliche Anstiftung zu einem Verbrechen mit bis zu drei Jahren.
Der Regisseur Oliver Frlijć hat sich mit
einem Brief an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gewandt:
Das Polnische Fernsehen habe mit einer
Kathpress, 23., 24. Februar;
episkopat.pl, 21. Februar;
wyborcza.pl, 21., 28. Februar 2017 – R. Z.
RUMÄNIEN
Rumänische Orthodoxe Kirche mahnt gesellschaftliche Verständigung an
Mit Blick auf die Massenproteste im Land gebärerin, unterstützt. Der Marsch steht
hat die Heilige Synode der Rumänischen unter dem Motto „Unterstütze Mutter
Orthodoxen Kirche in Bukarest eindring- und Kind. Sie hängen von Dir ab“. Die
lich zu „Dialog, sozialer Mitverantwor- Heilige Synode erwarte, dass durch dietung und Gebet“ aufgerufen, um die se Manifestation in allen rumänischen
gesellschaftlichen Konlikte zu überwin- Eparchien ein Zeugnis für die Werte der
den. In Rumänien gibt es seit mehreren „christlichen und traditionellen Familie“
Wochen Demonstrationen gegen Pläne abgelegt werde, hieß es. Ausführlich
der Regierung von Ministerpräsident befasste sich das Gremium zudem mit der
Sorin Grindeanu, den Kampf gegen die Frage der Emigration. In diesem Zusamverbreitete Korruption zu erschweren.
menhang appellierten die Bischöfe an die
Bei der Tagung unter Vorsitz von Patri- vielen im Ausland arbeitenden Rumänen,
arch Daniel wurde zugleich beschlossen, entweder ihre Kinder zu sich an den neudass die orthodoxe Kirche den nationalen en Wohnort zu nehmen oder in die Hei„Marsch für das Leben“ am 25. März, dem mat zu den Kindern zurückzukehren. Die
Festtag der Verkündigung an die Gottes- physische und emotionale Abwesenheit
der Eltern bereite den Kindern große
Leiden.
Zuvor hatte auch die Nationale Kirchenversammlung der Rumänischen Orthodoxen Kirche getagt. Sie ist das zentrale
Entscheidungsgremium für administrative, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Fragen. Die Versammlung besteht
aus den Mitgliedern der Heiligen Synode
und jeweils drei Repräsentanten aus jeder
Eparchie, einem Priester und zwei Laien.
Bei dem Treffen würdigte Patriarch Daniel das Wachstum des karitativen Engagements der Kirche im vergangenen Jahr.
KNA-ÖKI, 20. Februar 2017.
RUSSLAND
Russische Orthodoxe Kirche nimmt westliche Heilige in Heiligenkalender auf
Der Hl. Synod der Russischen Orthodoxen Kirche hat an seiner Sitzung am
9. März den Beschluss gefasst, mehrere
große Heilige aus der Zeit der „ungeteilten Kirche“, also vor dem Schisma
von 1054, in ihren liturgischen Kalender
aufzunehmen. Das Moskauer Patriarchat
hofft, dass das ofizielle Gedenken der
westlichen Heiligen den orthodoxen
Christen die Einheit der christlichen Tradition während des ersten Jahrtausends
bewusst machen wird.
Unter den westlichen Heiligen, die in
Zukunft im „Menologion“, dem Verzeichnis der Biographien der Heiligen, genannt
werden, sind u. a. die Märtyrer von Lyon,
der Heilige Victor von Marseille, der Heilige Germain von Auxerre, der Heilige
Vincent von Lerins, die Heilige Genoveva
von Paris, der Heilige Alban von Britannien, der Heilige Patrick von Irland und der
Heilige Prokop von Böhmen.
Der Vorsitzende der Synodalabteilung
für die Beziehungen zu Gesellschaft und
Medien, Vladimir Legojda, sagte, die Liste der westlichen Heiligen sei auf Grund
von Informationen aus den westeuropäischen Eparchien des Patriarchats zusammengestellt worden. Kriterien seien u. a.
ihr untadeliges Bekenntnis zum orthodoxen Glauben der ungeteilten Kirche
gewesen, aber auch die Umstände der
Heiligsprechung und das Faktum, dass
ihre Gestalt nicht für kontroverstheologische Polemiken gegen die östliche Kirche und den östlichen Ritus missbraucht
wurde.
Der im Kirchlichen Außenamt für
die zwischenkirchlichen Beziehungen
zuständige Mönch Stefan Igumnov sagte im Gespräch mit „Interfax-Religion“,
die Einbeziehung der Namen westlicher
Heiliger in den russisch-orthodoxen
Heiligenkalender erinnere daran, dass
in der Zeit der ungeteilten Christenheit
das kirchliche Leben überall auf einer
gemeinsamen spirituellen Basis vor sich
gegangen sei. Viele Jahrhunderte hindurch seien die Kirchen im Westen treu
zum gemeinsamen Glauben gestanden.
Zudem wies er darauf hin, dass einige der
westlichen Heiligen bereits früher in der
Russischen Orthodoxen Kirche, vor allem
in deren westeuropäischen Eparchien,
verehrt worden sein. In diesem Sinn stehe die Entscheidung des Hl. Synods in der
Tradition mehrerer östlicher Kirchen, die
in ihren Kalendern die Namen von Heiligen wie Ambrosius von Mailand, Irenäus
von Lyon, Klemens von Rom, Johannes
Cassian und „viele, viele andere“ nennen,
die „allesamt wahre Säulen des orthodoxen Glaubens waren“.
www.patriarchia.ru, 9. März;
Kathpress, 14. März 2017.
7
8
R U N DS C H AU
Nr. 3 2017
RGOW
Debatte um Film „Matilda“
Obwohl bisher nur ein Trailer veröffentlicht worden ist, sorgt der Film „Matilda“
des russischen Regisseurs Aleksej Utschitel´ für Aufregung und Proteste in orthodoxen Kreisen in Russland. Im Film geht
es um den russischen Thronfolger Nikolaj
und dessen Affäre mit der Primaballerina Matilda Kschesinskaja. Der spätere
Zar Nikolaj II. wurde mit seiner Familie
1918 von den Bolschewiken erschossen
und im Jahr 2000 von der Russischen
Orthodoxen Kirche als Leidendulder
heiliggesprochen.
Bereits im Sommer waren 10 000
Unterschriften für eine Online-Petition
zu einer Abänderung des Films zusammengekommen. Mittlerweile hat sich
auch die Duma-Abgeordnete Natal´ ja
Poklonskaja an den Generalstaatsanwalt
gewandt, weil sie eine Verletzung religiöser Gefühle durch den Film befürchtet.
„Mathilda“ stelle Russland als „Land des
Galgens, der Trunkenheit und Unzucht“
dar. Laut Poklonskaja dürfe eine bewusst
antihistorische Verfälschung mit dem
Ziel, den Zaren-Märtyrer zu diskreditieren und zu verspotten, nicht in den Verleih kommen. Zudem forderte sie eine
Bestrafung der Filmemacher.
Eine angebliche Organisation orthodoxer Aktivisten mit dem Namen „Christlicher Staat – Heiliges Russland“ droht
nach Angaben des Regisseurs Kinobetreibern sogar mit Brandstiftung und
Gewalt, wenn sie den Film zeigen sollten.
Er habe den Kinostart daher bereits vom
Frühjahr auf Oktober 2017 verschoben.
Das Komitee für Kultur der russischen
Duma hat sich klar für die Freiheit der
Kunst ausgesprochen. Das Recht der
Bürger auf freies Kulturschaffen und
der Schutz von Kunstwerken vor Vandalismus müsse gewährleistet werden.
Das Komitee wies darauf hin, dass sich
in letzter Zeit die Fälle von Diskussionen
und sogar gewalttätigen Handlungen
aufgrund kultureller Ereignisse gehäuft
hätten. Auch in Kirchenkreisen gibt es
Stimmen zur Unterstützung des Films,
so von Diakon Andrej Kurajev. Der liberale Priester und Publizist Jakov Krotov
wies darauf hin, dass Nikolaj II. für seinen Märtyrertod heiliggesprochen wurde, nicht für einen vorbildlichen Lebenswandel. Daher sei nichts gegen einen
Film einzuwenden, der Schwächen
des Zaren darstelle. Mehrere russische
Regisseure warnten zudem vor Zensur
und ergriffen Partei für ihren Kollegen. Die russische Regierung betonte,
sie werde streng gegen Drohungen
von Extremisten gegen den Regisseur
vorgehen. Das Ministerium für Kultur
will hingegen die Veröffentlichung des
Films abwarten.
www.portal-credo.ru, 3. November
2016, 11., 13., 24. Februar 2017;
KNA-ÖKI, 13. Februar 2017 – N. Z.
Religionsgemeinschaften beteiligen sich an russischer Entwicklungsstrategie
Vertreter der „traditionellen Religionen Russlands“ haben zusammen mit
dem Zentrum für Strategische Entwicklung (CSR) Herangehensweisen an die
„Entwicklungsstrategie der Russischen
Föderation 2018–2024“ besprochen.
Bei der Tagung ging es um die „Werte des zukünftigen Russland“. Das CSR
ist eine regierungsnahe Vereinigung,
in der Experten Vorschläge zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, technologischen und außenpolitischen Entwicklung Russland erarbeiten.
„Wir haben Zugänge zur Entwicklungsstrategie für Russland und zu den
wunden Punkten, die gesellschaftliche
und religiöse Organisationen interessieren, besprochen. Dazu gehören
der Schutz der Familie, die Regenerierung der Bevölkerung, Unterstützung
der Mütter und Sorge für die Kinder,
besonders für diejenigen, die ohne
elterliche Obhut sind. Wir haben über
Werte gesprochen, die heute fehlen.
Vor allem über das Vertrauen in die Institutionen der Regierung, die gegenüber den Bedürfnissen der Bevölkerung aufmerksamer sein müssen“, so
Aleksej Kudrin, der Vorsitzende des
CSR.
Der Leiter der Abteilung für interreligiöse Kontakte des Kirchlichen Außenamtes der Russischen Orthodoxen Kirche, Priester Dimitrij Safonov, betonte,
dass die Führungspersönlichkeiten der
traditionellen Religionen sich einstimmig für eine „moralische Erziehung der
Jugend“ ausgesprochen hätten. Zudem
sei der Schutz des ungeborenen Lebens
ein zentrales Anliegen aller Religionsgemeinschaften: „Da wir die selbe
moralische Basis und das selbe allgemeine Verhältnis zum Schutz ungeborenen Lebens teilen, haben wir uns
gemeinsam, ohne für ein gesetzliches
Verbot der Abtreibung einzustehen,
für den Schutz ungeborener Kinder
ausgesprochen mit dem Aufruf zur
Unterstützung der moralischen Erziehung, der Enthaltsamkeit, Opferbereitschaft und Werte der Familie. Es ist
unerlässlich, dass die heranwachsende
Generation bereits in der Schule diese
moralische Basis erhält und sich Frauen
in der Folge nicht zu Abtreibungen entschließen“, so Safonov.
Der Vorsitzende der Zentralen Geistlichen Verwaltung der Muslime Russlands, Obermufti Talgat Tadschuddin,
ergänzte, dass sich die Teilnehmer
einhellig für eine Unterstützung und
Stärkung von internationalem und
interreligiösem Frieden und Akzeptanz
ausgesprochen hätten.
80 Obzor, 4. Februar 2017 – N. Z.
TSCHECHIEN
Prager Kardinal warnt vor Migration
Der Erzbischof von Prag, Dominik Kardinal Duka, hat örtlichen Medienberichten
zufolge eine „unvorbereitete und perspektivlose Migration“ kritisiert. Diese kön-
ne den „Zerfall der ganzen Gesellschaft“
zur Folge haben. „Die Erfahrung und die
aktuelle Situation der Einwanderung in
die Länder Westeuropas sind eine War-
nung“, sagte Duka, der auch Vorsitzender
der Tschechischen Bischofskonferenz ist.
Kritisch zur Migration aus islamischen
Ländern äußerte sich auch der Vorsitzen-
RGOW
R U N DS C H AU
zur Schlussfolgerung führen, dass solche
Gewalttaten wahrscheinlicher sind, je
größer die muslimische Gemeinschaft
ist.“ Christen seien jedoch verplichtet,
Armen und Kriegsopfern zu helfen, so der
Erzbischof weiter. Diese Hilfe solle hauptDer Jahresbericht 2016
sächlich in den Ländern geleistet werden,
des Instituts G2W ist erschienen. „in denen diese Probleme entstehen“. Bei
der Suche nach einer geeigneten Form
des Zusammenlebens mit Muslimen dürDer Jahresbericht ist abrufbar
fe nicht vergessen werden, „dass sich das
unter www.g2w.eu oder
Christentum mit dem Islam trotz aller
kostenlos beim Institut per Mail
Bemühungen um Dialog im permanenten
an
[email protected]
Konlikt beindet“. Sowohl die Slowakei
zu bestellen.
als auch Tschechien haben bislang keine
muslimischen Kriegslüchtlinge aus Syrien
und dem Irak aufgenommen. Die Slowakei nahm lediglich christliche Flüchtlinge
de der Slowakischen Bischofskonferenz, aus der Region auf.
Erzbischof Stanislav Zvolenský von BraDer Warschauer Kardinal Kazimierz
tislava. Europa habe in den vergangenen Nycz hingegen hat Polens Regierung
Jahren eine Reihe brutaler Terroran- zur Aufnahme syrischer Kriegsflüchtschläge von islamistischen Attentätern linge aufgerufen. In einem Hirtenbrief
erlebt, und „diese Tatsache kann logisch zur Fastenzeit fordert er einen „huma-
nitären Korridor“ für „einige Hundert
Flüchtlinge, die dringend Hilfe brauchen“. „Selbstverständlich ist dafür die
Offenheit der Regierung notwendig,
und auf diese warten wir“, so der Erzbischof. Bislang lehnt die nationalkonservative Regierung in Warschau die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Nahen
Osten ab, obwohl etwa die Caritas ein
entsprechendes Hilfsprogramm aufgelegt hat. Die Regierung begründet dies
damit, dass sie nicht garantieren könne,
dass von den Flüchtlingen keine Gefahr
für das Land ausgehe. Auch der Aufnahme syrischer Waisenkinder stimmte sie
bislang nicht zu. Polens Caritas hatte im
Oktober in Syrien und im Libanon ein
Hilfsprogramm für Flüchtlinge begonnen. Dank einer Spendenaktion erhielten
bislang etwa 1 700 Flüchtlingsfamilien in
beiden Ländern Nahrungsmittel, ärztliche Versorgung und Bildungsangebote.
Nr. 3 2017
Jahresbericht 2016
Kathpress, 22., 28. Februar 2017.
USA
Russische Auslandskirche fordert Entfernung Lenins vom Roten Platz
Als „demagogisch“ bezeichnete der
Die Russische Orthodoxe Kirche im Aus- Sitz des Metropoliten und der obersten
land fordert, dass die sterblichen Über- Kirchenverwaltung ist seit 1957 New York. Metropolit das von den Gegnern der
reste Lenins, des „größten Verfolgers
Zwischen 1953 und 1961 war im Lenin- Umbenennung of t herangezogene
und Henkers im 20. Jahrhundert“ vom Mausoleum auch der Leichnam Stalins Argument, neue Straßentafeln würden
Roten Platz verschwinden. In ihrem Hir- aufgebahrt, bis er im Zuge der Entstali- die Steuerzahler viel Geld kosten. Freilich
tenbrief anlässlich des 100. Jahrestags nisierung auf den Ehrenfriedhof dahin- müsse man auch die Macht der Gewohnder Oktoberrevolution von 1917 beto- ter umgebettet wurde. Die Entfernung heit in Rechnung stellen. Er selbst habe
nen die Bischöfe der Auslandskirche, des Leichnams Lenins aus dem Mausole- sich auch erst an die neuen Bezeichnundass dies „ein Zeichen der Versöhnung um am Roten Platz wird bereits seit der gen der wichtigen Metro-Stationen in
des russischen Volkes mit Christus“ wäre. Endphase der UdSSR immer wieder dis- Moskau gewöhnen müssen. Das sei eine
Zudem forderten sie, dass alle Lenin- kutiert. Bisher einzige Konsequenz war geringfügige Belastung, wenn dafür
Denkmäler zerstört werden sollten: 1993 der Abzug der Ehrenwache unter „die Namen der Mörder und Kriminellen
von unseren Straßen, Plätzen und Met„Sie alle sind Symbole der Katastrophe, Präsident Boris Jelzin.
Tragödie und der Zerstörung unserer
In der Sendereihe „Kirche und Welt“ ro-Stationen verschwinden“.
gottgegebenen Herrschaft.“ Städte, des TV-Senders „Rossija-24“ trat der
Metropolit Ilarion hatte vor einem
Provinzen und Straßen sollten ihre vor- Leiter des Kirchlichen Außenamts des Monat in der Moskauer Christ-Erlöserrevolutionären Namen zurückerhalten.
Moskauer Patriarchats, Metropolit Ila- Kathedrale eine Ausstellung zum GedenDie Russische Orthodoxe Kirche im Aus- rion (Alfejev), ebenfalls dafür ein, dass ken an die Märtyrer aus der Zeit des Bolland wurde nach der Oktoberrevolution Straßennamen, die an sowjetische Funk- schewismus und Stalinismus eröffnet.
1917 von russisch-orthodoxen Gläubigen tionäre erinnern, geändert werden sol- Bestimmte Namen dürften nicht aus dem
gegründet, die vor religiöser Verfolgung len. Aber man dürfe nichts übereilen, Gedächtnis verschwinden, betonte er: „Es
durch die Bolschewiken aus der Sowjet- denn die Umbenennungen müssten von gab Repressionen, Millionen schuldloser
union geflohen waren. 1927 erklärte der Bevölkerung akzeptiert werden. Er Menschen wurden ermordet. Die Kirche
sie sich für unabhängig vom Moskauer hoffe aber, dass „früher oder später hat ihre Meinung über das 20. JahrhunPatriarchat, nachdem Patriarch Sergij alle einsehen werden“, dass viele jener dert zum Ausdruck gebracht, als sie im
eine Loyalitätserklärung gegenüber der Namen Terroristen, Mörder und Henker Jahr 2000 mehr als 1 700 neue Märtyrer
Sowjetunion abgegeben hatte. Seit 2007 bezeichneten, die „mit negativem Vor- und Bekenner, deren Namen bekannt
bestehen wieder kanonische Verbin- zeichen in die Geschichte eingegangen“ waren, und viele tausende, deren Namen
dungen mit dem Moskauer Patriarchat, seien. Derzeit gebe es aber zur Frage niemand mehr kennt, heilig sprach.“
dem die Auslandskirche mittlerweile als der Umbenennungen noch unterschiedautonome Kirche verbunden ist. Heute liche Auffassungen in der Bevölkerung,
www.synod.com/synod/indexeng.htm,
umfasst die Auslandskirche etwa 450 ebenso im Hinblick auf die Entfernung
10. März;
Gemeinden in Amerika und Europa. Der des Leichnams Lenins vom Roten Platz.
Kathpress, 16. März 2017.
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U S B E K I S TA N
Nr. 3 2017
RGOW
Ataman Burnash
Perestrojka à la Usbekistan?
Im September 2016 verstarb der autoritär herrschende usbekische Präsident Islam Karimov an
einem Schlaganfall. Wider Erwarten findet unter seinem Nachfolger Shavkat Mirsijojev ein
merklicher Wandel statt. Grundlegende strukturelle Probleme wie die Machtfülle des Nationalen
Sicherheitsdienstes und eine fehlende lokale Autonomie bleiben jedoch bisher unangetastet. – R. Z.
Am 2. September 2016 wurde im usbekischen Staatsfernsehen
die Meldung vom Tod des ersten Präsidenten Usbekistans, Islam
Karimov, verbreitet. Er war der einzige politische Führer, den das
usbekische Volk seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 gekannt
hatte. Karimovs Regierungsmethoden und sein Erbe sind äußerst
umstritten: Für viele westliche Wissenschaftler, Analysten und
Journalisten war Karimovs ein Vierteljahrhundert dauernde Herrschaft politisch, ökonomisch und moralisch repressiv: die brutale
Unterdrückung jeder Art von „unkorrektem“ Islam (s. RGOW
2/2017, S. 6–8), der gnadenlose Kampf gegen die politische Opposition, das gewaltsame Durchgreifen gegen die Demonstranten
in Andijon im Jahr 2005, zügellose Korruption, die extrem hohe
Arbeitslosenrate und die massive Arbeitsmigration nach Russland
und Kasachstan. Gleichzeitig wurde Karimov von vielen Bürgern
Usbekistans und auch der Nachbarländer Kirgistan und Tadschikistan für die Garantie politischer Stabilität und interethnischen
Friedens sehr geschätzt. Mit seinem Tod und der Wahl von Shavkat Mirsijojev zum neuen Präsidenten Usbekistans stellt sich die
Frage, ob und wie sich Regierung und Alltag im Land verändern
werden. Dieser Beitrag basiert auf meinen ethnographischen
Feldstudien in Usbekistan in den letzten zehn Jahren, Reisen in
das post-Karimov Usbekistan und täglichen Beobachtungen der
Medienberichterstattung.
Das Ende des Karimovismus
Sowohl innerhalb wie außerhalb Usbekistans war die Meinung weit
verbreitet, dass das Land Karimovs Weg weiterverfolgen würde.
Die Bestätigung von Premierminister Shavkat Mirsijojev als Interimspräsident schien dies zu untermauern, war er doch von früheren
Posten für die Anwendung von Regierungsmethoden mit „eiserner
Faust“ bekannt. Seine Ernennung wurde von ausländischen Medien und Regimekritikern als „verfassungswidrig“ bezeichnet, weil
verfassungsgemäß bis zur Neuwahl der Senatssprecher als Interimspräsident vorgesehen ist. Hoffnungen auf positive Veränderungen verlüchtigten sich zudem während der Parlamentssitzung vom
9. September 2016, als Mirsijojev seine Absicht bekannt gab, den
politischen Kurs des verstorbenen Präsidenten weiterzuverfolgen.
Karimovs Erbe beschrieb er dabei als eines der „demokratischen
Reformen und Transformationen in den politischen, ökonomischen
und sozialen Bereichen“.
Nun ist Mirsijojev seit mehr als sechs Monaten an der Macht.
Doch im Gegensatz zu den bisherigen Annahmen präsentiert er
sich als reformorientierter, ehrgeiziger und pragmatischer Führer,
der Misserfolge der öffentlichen Politik offen anerkannt. Er zeigte
sich bereit, echte Veränderungen einzuleiten und weckte bei vielen
Bürgern Hoffnungen, dass das Land Reformen umsetzen und mehr
auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen wird. Während sich
die staatlichen Medien zuvor einzig und allein auf Karimov konzentriert hatten, scheint Mirsijojev nicht von der Idee besessen zu
sein, die einzige Stimme der Regierung zu sein, so dass nun auch
andere hochrangige Staatsbeamte im Fernsehen zu Wort kommen.
Die staatlichen Medien haben sogar begonnen, kritisch über die
weit verbreitete Korruption im öffentlichen Gesundheitswesen
und Sozialdienst zu berichten – das wäre vorher undenkbar gewesen. Mirsijojev nahm sich auch der Belange von Unternehmen an,
indem er gesetzeswidrige Eingriffe der Strafverfolgungsbehörden
ins Geschäftsumfeld stark kritisierte. Eine der bemerkenswertesten
Veränderungen unter dem neuen Präsidenten war die Einführung
von virtuellen Empfangsportalen des Präsidenten und der zentralen Ministerien im Internet, die es auch Bürgern aus abgelegenen
Dörfern erlauben, Beschwerden einzureichen und in verschiedenen
Angelegenheiten um Unterstützung zu bitten – sei es wegen Bestechung, Nicht-Auszahlung von Löhnen und Pensionen, bei Problemen, ein Bankdarlehen zu erhalten, beim Ausfall der Heizung,
wenn eine Straße asphaltiert werden sollte oder bei Problemen mit
der Arbeitslosigkeit. Der neue Präsident erklärte das Jahr 2017 zum
„Jahr des Dialogs mit dem Volk und der menschlichen Interessen“
und fügte hinzu, dass die Menschen nicht den staatlichen Institutionen, sondern die staatlichen Institutionen den Menschen dienen
sollten. Die Staatsbeamten wurden angehalten, nicht isoliert von der
alltäglichen Realität in ihren Büros zu sitzen, sondern Ortschaften
zu besuchen, mit den Bürgern zu kommunizieren und sie auf ihre
Sorgen und Forderungen anzusprechen.
Einige Fortschritte sind bereits erzielt worden, was die Befreiung von politischen Gefangenen anbelangt: Einige Journalisten,
Menschenrechtsaktivisten, Regimekritiker und Oppositionsmitglieder wie Muhammad Bekjon, der am längsten inhaftierte Journalist der Welt, der Menschenrechtsaktivist Bobomurod Razzaqov,
der regierungskritische Ex-Parlamentarier Samandar Kukonov und
Rustam Usmonov, politischer Aktivist und Gründer der ersten
usbekischen Privatbank, wurden freigelassen.
Als Mirsijojev Anfang Dezember 2016 zum Präsidenten gewählt
worden war, versprach er, dass er die Visaanforderungen für Bürger von 27 Ländern aufheben oder erleichtern würde; allerdings
verschob er das Vorhaben vor kurzem auf 2021 aufgrund fehlender Infrastruktur und Erfahrung. Die Regierung sprach auch von
der Absicht, die strenge Kontrolle über den Kurs der Landeswährung zu lockern und Währungskonvertierbarkeit zu ermöglichen.
Anfang März signalisierte die Europäische Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung nach einem Jahrzehnt der Absenz ihre mögliche
Rückkehr nach Usbekistan.
Mirsijojev zeigte sich auch bereit, die Beziehungen Usbekistans
zu seinen zentralasiatischen Nachbarn Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan zu verbessern. Wegen Karimovs komplizierten persönlichen Beziehungen zu den Staatsoberhäuptern dieser Länder waren alle Versuche einer regionalen zentralasiatischen
Kooperation bisher vergeblich (s. RGOW 10/2012, S. 14–16). Unter
dem neuen Präsidenten machte das Land innerhalb von sechs Monaten Fortschritte bei den Grenzabkommen mit Kasachstan und Kirgistan – Streitfragen, die in den letzten 25 Jahren unlösbar schienen.
Auch die usbekisch-tadschikischen Beziehungen haben sich merklich verbessert – Delegationen beider Länder haben sich gegenseitig
besucht, zwischen den Hauptstädten soll der Flugverkehr wieder
aufgenommen werden. Zweifellos verändert sich Usbekistan unter
Nr. 3 2017
RGOW
U S B E K I S TA N
ohne jedoch entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Der neue Präsident drängt die Lokalregierungen ständig, auf die
Bedürfnisse der Bürger einzugehen, doch diese sind dazu schlicht
nicht im Stande. Daraus schließen die Bürger, dass der „virtuelle
Empfang“ des neuen Präsidenten bloß die Illusion von Gerechtigkeit vorgaukelt.
Fünftens bleiben die grundlegenden sozioökonomischen Probleme unangetastet. Die Arbeitslosenrate ist extrem hoch, und
die Haushalte werden immer abhängiger von Rücküberweisungen. Gemäß der neuesten Statistik des Russländischen Föderalen
Migrationsdienstes beinden sich fast zwei Millionen Usbeken auf
dem Gebiet der Russischen Föderation. Das Alltagsleben usbekischer Migranten ist von einem ständigen Gefühl der Unsicherheit
geprägt, da sie Gefahren wie der Ausbeutung durch ihre Arbeitgeber, Deportation, Polizeikorruption, Rassismus, physische Gewalt
Kurz nach Islam Karimovs Tod traf sich der russische Präsident Vladimir
Putin mit Interimspräsident Shavkhat Mirsijojev am 6. September 2016 in
und sogar dem Tod ausgesetzt sind. Im Gegensatz zu den RegieSamarkand.
Foto: kremlin.ru
rungen Kirgistans und Tadschikistans, die versucht haben, Rechtsmechanismen zum Schutz ihrer Bürger in Russland zu etablieren,
Mirsijojevs Führung, und die Erwartungen der Bevölkerung steigen, ignoriert die ofizielle Politik Usbekistans das Ausmaß des Migrationsprozesses und seine ökonomische Wichtigkeit komplett. Eine
dass ihre Grundbedürfnisse ernst genommen werden.
Medienanalyse zeigt, dass die usbekische Botschaft in Moskau die
Beschwerden usbekischer Migranten nur widerwillig zur Kenntnis
Grundlegende Herausforderungen
Trotz dieser positiven Veränderungen werden jedoch tiefer greifen- nimmt. Usbekische Migranten hoffen aber, dass sich dies unter dem
de systemische und strukturelle Probleme vom neuen Präsidenten neuen Präsidenten ändern wird.
nicht angegangen. Dabei geht es um mindestens fünf drängende
Themen:
***
Erstens sitzt noch immer eine Mehrheit der Beamten aus der
Ära Karimov in Schlüsselpositionen im Präsidentschaftsapparat, in Trotz anfänglicher Einschätzungen, dass Shavkat Mirsijojev eine
den Ministerien, im Parlament, im Justizsystem, in den Strafver- „Kopie“ des ehemaligen Präsidenten sein würde, sieht Usbekistan
folgungsbehörden (Polizei, Nationaler Sicherheitsdienst), in den unter dem neuen Präsidenten sehr viel anders aus als in der Ära
Lokalregierungen und Industrien. Es ist höchst wahrscheinlich, Karimov. Bei meinen letzten Reisen nach Usbekistan habe ich
dass die Praktiken aus der Ära Karimov fortbestehen und Refor- beobachtet, dass es Mirsijojev mit seiner Initiative des „virtuellen
minitiativen auf dem Papier bleiben, bis junge und liberal gesinnte Empfangs“ und seiner kritischen Bewertung der Situation des Landes wirklich schafft, sich unter der Bevölkerung einen guten Ruf
Menschen in diese Schlüsselpositionen gelangen.
Zweitens übt der Nationale Sicherheitsdienst (SNB) fast unbe- aufzubauen. Sogar die Medienkanäle Eurasianet, die usbekische
grenzte Macht und Kontrolle über alle zentralen Aspekte des poli- Abteilung von Radio Free Europe (Ozodlik) und Fergananews.com
tischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebens aus: In anerkennen die positiven Veränderungen unter dem neuen Präsiallen staatlichen Organisationen indet sich ein SNB-Sonderver- denten. Trotzdem ist es noch zu früh daraus zu schließen, dass
treter (kurator), der de facto unbegrenzte Kontrolle über die ganze Usbekistan mit dem Erbe von Islam Karimov abgeschlossen hat
Organisation ausübt. Eine Medienanalyse zeigt, dass es vor allem und zu einer weicheren Form von Autoritarismus übergeht, etwa
hochrangige SNB-Beamte sind, die von den Restriktionen in den zu einem hybriden politischen Regime, wie wir es in Kasachstan
meisten Wirtschaftsaktivitäten proitieren und die daher sogar die oder Russland vorinden.
Wie bereits erwähnt, ist der Nationale Sicherheitsapparat noch
zaghaftesten Ansätze einer wirtschaftlichen Liberalisierung blockieren. Die Währungskontrollen und der immer weiter wachsende immer allmächtig, und der neue Präsident unternimmt fast nichts
Schwarzmarkt für den Tausch ausländischer Währungen zählen zu zur Reform dieser Strukturen. Die „Apparatschiks“ der Ära Kariden Schlüsselsektoren im Interessensbereich des SNB. Ohne die mov haben noch immer ihre Stellungen in der Regierung inne, und
Macht des SNB zu schwächen und sein Personal zu kürzen, sind es ist unwahrscheinlich, dass sie ihre Privilegien „um der Demoalle Versuche einer ökonomischen und politischen Liberalisierung kratie und der Wohlfahrt willen“ aufgeben werden. Die sozioökozum Scheitern verurteilt.
nomischen Probleme der Gesellschaft werden nicht angegangen,
Drittens übt die Zentralregierung die volle Kontrolle über die und Migration ist die einzige mögliche Überlebensstrategie für
Schlüsselbranchen der Wirtschaft aus, was zu makroökonomischen die Bevölkerung, besonders in ländlichen Gebieten. Wenn diese
Verzerrungen und einer Rentenökonomie führt. Besonders stark Herausforderungen, und insbesondere eine Reform des SNB, nicht
betroffen ist der Landwirtschaftssektor, da die Zentralregierung angegangen werden, werden die autoritären Praktiken der Ära
aktiv in den Baumwollsektor eingreift, indem sie Einkommen aus Karimov fortbestehen und alle Versuche, das bereits dysfunktioder Landwirtschaft zur Industrieentwicklung umverteilt. Das nale System zu reformieren, werden oberlächlich bleiben. Wenn
beeinlusst den Lebensstandard der ländlichen Bevölkerung negativ. wir die Entwicklungsmöglichkeiten des post-Karimov Usbekistan
Viertens gibt es keine lokale Autonomie, die Lokalregierungen besser verstehen wollen, reicht der Fokus auf die Persönlichkeit
sind hinsichtlich sämtlicher Themen der öffentlichen Politik – Erzie- einzelner Führer nicht aus, sondern wir müssen die tiefer liegenhung, Steuern, Gesundheit oder Landwirtschaft – der Zentralre- den systemischen und strukturellen Faktoren betrachten, die den
gierung untergeordnet. Da die Lokalregierungen über keine solide Regierungsmethoden in Usbekistan zugrunde liegen.
inanzielle Basis verfügen, und alle wichtigen Entscheidungen im
Zentrum fallen, gibt es für die Bürger auch nur wenige oder gar
Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen.
keine Möglichkeiten, ihre Anliegen auf lokaler Ebene vorzubringen.
Gleichzeitig delegiert die Zentralregierung bezüglich öffentlicher
Ataman Burnash, PhD, Wissenschaftler in DeutschDienstleistungen enorme Verantwortung an die Lokalregierungen,
land.
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POLEN
Nr. 3 2017
RGOW
Justyna Zając
Justizreform in Polen
Seit ihrem Regierungsantritt verfolgt die Partei Recht und Gerechtigkeit eine umfassende Justizreform.
Als erstes hat sie die Funktionsweise des Verfassungsgerichts verändert, was national wie international
auf scharfe Kritik gestoßen ist. Mit der Justizreform drohen eine Politisierung der Justiz und eine
Aushebelung der Gewaltenteilung. Die Mehrheit der polnischen Gesellschaft nimmt daran jedoch keinen
Anstoß, zwei Drittel der Bevölkerung stehen der PiS-Regierung positiv oder gleichgültig gegenüber. – R. Z.
Seit ihrem Machtantritt im November 2015 gehört eine Justizreform zu den Prioritäten der Regierungspartei Recht und
Gerechtigkeit (PiS). Ihr Aktionsplan basiert dabei auf einer etappenweisen Veränderung des Gerichtwesens, beginnend mit der
Ausbildung der Richter über die Prinzipien ihrer Beförderung,
die Prinzipien des Disziplinarverfahrens bis zur Organisationsform des Gerichtwesens. Laut Justizminister Zbigniew Ziobro
soll diese umfassende Reform der Gesundung der polnischen
Gerichte dienen. Zweifellos ist die polnische Rechtsprechung
reformbedürftig. Doch die von der PiS eingeführten Veränderungen führen zu einer Politisierung des Gerichtwesens, und
damit ist auch die Gewaltenteilung gefährdet, wonach die
Gerichte eine separate, von der Exekutive und Legislative unabhängige Gewalt darstellen.
Das Verfassungsgericht: „Lösung des Hauptproblems“
Die umfassende Justizreform hat die PiS mit Veränderungen beim
Verfassungsgericht begonnen. Aus Sicht der Partei war das ein
logisches Vorgehen, da das Verfassungsgericht eine wesentliche
Rolle im Prozess der Rechtssetzung in Polen spielt. Justizminister
Ziobro bestätigte im September 2016, dass eine Justizreform ohne
das Verfassungsgericht nicht möglich sei. Kurz, zuerst musste
das „Problem mit dem Verfassungsgericht“ gelöst werden, weil
dieses sonst vermutlich alle anderen Reformen blockiert hätte.1
Seit Herbst 2015 hat der politische Kampf um das Verfassungsgericht eine große Dynamik entwickelt: Die PiS warf der
Bürgerplattform (PO), die in den Jahren 2007 bis 2015 an der
Macht war, vor, sie habe das Verfassungsgericht in ihre Gewalt
gebracht. Dank des im April 2015 angenommenen Verfassungsgerichtsgesetzes habe die PO an der letzten Sitzung des Sejm
vor den Parlamentswahlen im Oktober 2015 fünf neue Richter gewählt. 2 Daher weigerte sich der seit Mai 2015 amtierende
polnische Präsident aus den Reihen der PiS, Andrzej Duda, die
fünf Richter zu vereidigen. Eine der ersten Amtshandlungen des
neuen Sejms, der von der PiS dominiert wird, war die Neuwahl
von fünf anderen Richtern in das Verfassungsgericht (s. RGOW
3/2016, S. 9–10). Einige Stunden nach dieser Abstimmung, in der
Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 2015, nahm der Präsident von
vieren den Amtseid ab. Die fünfte Richterin, Julia Przyłębska,
leistete ihren Amtseid am 9. Dezember.
Der Konflikt um das Verfassungsgericht zwischen dem
Regierungslager und der Opposition eskalierte und wurde während mehrerer Monate zu einem der Hauptthemen der öffentlichen Diskussion. Zwischen November 2015 und Dezember
2016 verabschiedete das Parlament sechs sog. Reformgesetze, die
von der PiS eingebracht worden waren und das Verfassungsgericht betreffen: zwei Gesetzesnovellen zum Verfassungsgericht
(19. 11., 22. 12. 2015), das Gesetz über das Verfassungsgericht
(22. Juli 2016), das Gesetz über die Organisation und Vorgehensweise vor dem Verfassungsgericht und das Gesetz über den
Status der Verfassungsrichter (beide am 30. November 2016)
sowie Anweisungen zur Einführung der beiden letzten Gesetze
(13. Dezember 2016). Zur Unterstützung der neuen Rechtsregelungen ernannte Andrzej Duda am 20. Dezember 2016 Julia
Przyłębska zur neuen Präsidentin des Verfassungsgerichts. Am
Tag zuvor war die Amtszeit des bisherigen Präsidenten, Andrzej
Rzepliński, abgelaufen. Doch die Wahl Przyłębskas durch die
Generalversammlung der Verfassungsrichter, die an demselben
Tag stattfand, warf Zweifel formeller Natur auf. An der Wahl
nahmen nämlich nur sechs von 15 Richtern teil. Acht Richter
verweigerten die Stimmabgabe für die Präsidentschaftskandidaten des Verfassungsgerichts, weil die sehr schnelle Einberufung
der Generalversammlung es einem Richter, der sich gerade im
Urlaub befand, verunmöglichte, daran teilzunehmen. Dieser
Richter, Stanisław Rymar, gab an, an einer solchen Sitzung am
21. Dezember teilnehmen zu wollen, doch die stv. Präsidentin des
Verfassungsgerichts, Julia Przyłębska, verweigerte die Verschiebung der Generalversammlung um einen Tag. Obwohl weniger
als die Hälfte der Stimmberechtigten an der Wahl teilgenommen
hatte, ernannte Präsident Duda Przyłębska zur Präsidentin des
Verfassungsgerichts. Allerdings verstummen die Stimmen nicht,
die diese Wahl für unrechtmäßig halten.
Andrzej Zoll, Präsident des Verfassungsgerichts von 1993
bis 1997, meinte dazu im Januar 2017: „Wir haben kein Verfassungsgericht mehr. Es gibt kein Organ, das unabhängig von der
politischen Macht die Tätigkeit des Parlaments kontrolliert.“ 3
Der gleichen Meinung sind auch die ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Jerzy Stępień und Andrzej Rzepliński sowie
viele andere bekannte Juristen. 4 Beunruhigt zeigten sich aufgrund des Konlikts um das Verfassungsgericht auch zahlreiche
polnische Rechtsvereine, Nichtregierungsorganisationen, territoriale Selbstverwaltungen, Hochschulen und wissenschaftliche
Organisationen. Befürchtungen hinsichtlich einer Verletzung
rechtsstaatlicher Prinzipien in Polen äußerte auch die internationale Gemeinschaft. Anfang Juni 2016 verwarnte die EUKommission Polen wegen der umstrittenen Justizreform, was
den Beginn eines dreistuigen Verfahrens zur Überprüfung der
Rechtsstaatlichkeit in einem EU-Mitgliedstaat markierte. Im Juli
richtete die Kommission ultimativ „Empfehlungen zur Rechtsstaatlichkeit“ an die polnische Regierung. Das Europäische
Parlament veröffentlichte zwei Resolutionen (am 13. April und
am 14. September 2016) mit der Einschätzung, dass die Handlungen der polnischen Regierung und des Präsidenten bezüglich
des Verfassungsgerichts eine Bedrohung für die Demokratie und
die Rechtsstaatlichkeit in Polen darstellten. Die Venedig-Kommission, ein beratendes Organ des Europarats, veröffentlichte
zwei Gutachten (11. März und 14. Oktober 2016). Im zweiten
bestätigte sie, dass das von der PiS am 22. Juli 2016 angenommene Verfassungsgerichtsgesetz zwei grundlegende Standards
des Machtgleichgewichts nicht erfülle: die Unabhängigkeit des
Gerichtwesens und die Position des Verfassungsgerichts als letzter Schiedsrichter in Verfassungsfragen.
Nr. 3 2017
RGOW
POLEN
Obwohl zahlreiche nationale wie internationale Stimmen
die Handlungen der polnischen Regierung in Bezug auf das
Verfassungsgericht als verfassungswidrig kritisieren, fährt die
PiS mit dem Prozess der Veränderungen im Gerichtwesen fort.
Als nächster Schritt der PiS-Regierung steht eine Reform des
Landesjustizrats an.
Der Landesjustizrat
Der Landesjustizrat (poln. Krajowa Rada Sądownictwa) hat
gemäß der polnischen Verfassung die Aufgabe, die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu gewährleisten. Eine der
wichtigsten Aufgaben des Landesjustizrats ist die Bewertung
von Richterkandidaten, um diese dem Präsidenten zu Berufungen vorzuschlagen. Der Landesjustizrat setzt sich aus 25
Mitgliedern zusammen: dem ersten Vorsitzenden des Obersten
Gerichtshofs, dem Justizminister, dem Vorsitzenden des Obersten Verwaltungsgerichts und einer vom Präsidenten berufenen
Person, 15 gewählten Richter aus den Reihen des Obersten
Gerichtshofs, der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und der Militärgerichte, vier vom Sejm gewählte Parlamentarier und zwei vom Senat gewählte Senatoren.
Der von Justizminister Ziobro am 23. Januar 2017 vorgestellte neue Gesetzesentwurf zum Landesjustizrat führt drei grundlegende Änderungen ein, die dieses Verhältnis zu Ungunsten der
Judikative erschüttern. Eine grundlegende Änderung betrifft
die Wahl der 15 Richter als Mitglieder des Landjustizrats. Bisher
wurden sie bei internen Wahlen gewählt. Die vom Justizminister
vorgeschlagene Lösung schlägt nur vor, dass diese 15 Richter
vom Parlament gewählt werden. Die zweite Veränderung ist –
anstelle des bisherigen 25-Personen-Gremiums – die Einführung einer ersten politischen und einer zweiten juristischen
Versammlung. Bevor der Landesjustizrat einen Beschluss fällen
kann, müssen beide Versammlungen damit einverstanden sein.
In der Praxis kann dies bedeuten, dass die Erste Versammlung,
die von Politikern dominiert wird, die juristischen Beschlüsse
der Zweiten Versammlung blockieren kann. Zurzeit ernennt der
Landesjustizrat je einen Kandidaten für jeden leerstehenden Sitz
in den ordentlichen, Verwaltungs- und Militärgerichten, während das Projekt des Justizministers vorsieht, dass im Falle, dass
sich mehr als ein Kandidat für einen freien Platz meldet, dem
Präsident zwei Kandidaten vorgeschlagen werden.
Gleichzeitig arbeitet die Regierung an weiteren Projekten, u. a.
an Neuerungen am Obersten Gerichtshof und bei Disziplinarverfahren. Es wird befürchtet, dass wenn die vom Justizminister
beabsichtigten Veränderungen der Organisation des Gerichtwesens eintreten, und aus drei Stufen in der Gerichtsstruktur
(Bezirks-, Land- und Berufungsgericht) zwei werden, die Richter
erneut zur Richternomination vor dem Landesjustizrat antreten
müssten, die ihnen Präsident Duda auch verweigern kann.
Was sagt die Gesellschaft?
Meinungsumfragen zeigen, dass die Regierung sich unveränderter Unterstützung eines bedeutenden Teils der polnischen
Gesellschaft erfreut, insbesondere unter wenig gebildeten Menschen, die abseits der großen Städte leben und über geringe Einkommen verfügen. Die Unterstützung der Regierung im Jahr
2016 schwankte zwischen 32 und 38 Prozent, eine gleichgültige
Haltung gegenüber Regierung deklarierten 24 bis 29 Prozent,
und als Regierungsgegner bezeichneten sich 30 bis 35 Prozent der Befragten. 5 Im November 2016 gaben 38 Prozent der
Befragten an, dass sie ihre Stimme der Regierungskoalition – der
PiS zusammen mit Solidarisches Polen und Polen Zusammen –
geben würden, wenn zurzeit Wahlen stattinden würden. Auf
dem zweiten Platz des Rankings befand sich mit 17 Prozent die
Partei Nowoczesna von Ryszard Petr.
Präsident Andrzej Duda küsst der neuen Präsidentin des polnischen Verfassungsgerichts, Richterin Julia Przyłębska, die Hand.
Foto: Keystone
Präsident Andrzej Duda erfreut sich noch größerer Beliebtheit in der Gesellschaft, nämlich über 50 Prozent. Im Dezember
2016 gaben 59 Prozent der Befragten an, dass sie dem Präsidenten
vertrauen würden; diese Zahl geht nicht hinter frühere Befragungen zurück. Gleichzeitig wächst die negative Bewertung des
Verfassungsgerichts in der Gesellschaft. Während im September
2015 nur 12 Prozent der Befragten die Tätigkeit des Verfassungsgerichts schlecht bewerteten, provoziert der Konlikt um diese
Institution ein drastisches Wachstum negativer Bewertungen.
Im Dezember 2016 bewerteten 42 Prozent das Funktionieren
dieser Institution negativ. 6 Es gibt demnach keinen Grund zu
glauben, dass eine weitere Reform des Gerichtwesens durch das
PiS-Lager auf den Widerstand eines großen Teils der Gesellschaft
stoßen wird.
Die Reform des Gerichtwesens ist eine Priorität von Justizminister Zbigniew Ziobro im Jahr 2017, und der Parteivorsitzende
der PiS, Jarosław Kaczyński, bestätigte in einem Interview: „Das
polnische Gerichtswesen ist ein einziger gigantischer Skandal und
diesem Skandal muss ein Ende bereitet werden.“ 7 Das lässt vermuten, dass das Gerichtwesen nicht die letzte Umgestaltung im
polnischen Staat ist, die auf der Liste der PiS steht. Auf die Frage,
ob er neben der Rechtsprechung noch andere Räume des öffentlichen Lebens sehe, die man „durchlüften“ müsse, antwortete
Kaczyński: „Wissen Sie, ich sehe wenige, die man nicht durchlüften müsste. Aber alles der Reihe nach.“
Anmerkungen
1) https://vod.tvp.pl/26892796/10092016.
2) In der Tat haben sowohl die jetzige als auch die vorangegangene Regierung in Bezug auf das Verfassungsgericht verfassungswidrige Handlungen unternommen. Wie die VenedigKommission im März 2016 bestätigt hat, liegt die Ursache des
Konlikts um das Verfassungsgericht in den Handlungen des
Sejms von 2011 bis 2015.
3) http://www.tvn24.pl, 13. Januar 2017.
4) http://wiadomosci.onet.pl, 18. Januar 2018; http://www.
tvn24.pl, 13. Januar 2017.
5) Komunikat z Badań CBOS 173 (2016), S. 2.
6) http://www.cbos.pl/PL/publikacje/raporty.php.
7) http://www.polskieradio.pl, 10. Februar 2017.
Übersetzung aus dem Polnischen: Regula Zwahlen.
Justyna Zaj̨c, Dr. hab., Associate Professor am
Institut für internationale Beziehungen der
Universität Warschau, Polen.
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L I TAU E N
Nr. 3 2017
RGOW
Jürgen Buch
Das multireligiöse Erbe von Kėdainiai
Die litauische Stadt Kėdainiai blickt auf eine multireligiöse Vergangenheit zurück. Sie war ein wichtiger
Ort in der Geschichte des litauischen Protestantismus sowie ein Zentrum des jüdischen Lebens im
Großfürstentum Litauen. Heute bemüht sich die Stadt, dieses multireligiöse Erbe sichtbar zu machen. – S. K.
Die zentrallitauische Stadt Kėdainiai indet zum ersten Mal in
einer Chronik des Livländischen Ordens 1372 Erwähnung. Der
Ort am Fluss Nevežis musste allerdings noch rund 250 Jahre
warten, bevor er für eine Weile zu einer der wichtigsten Städte
Litauens wurde. Damals, zu Beginn des 17. Jahrhunderts ging
die Stadt in den Besitz der Familie Radvila (polnisch Radziwiłł)
über. Kristupas Radvila (Krzysztof Radziwiłł) war Wojewode
von Vilnius, Großhetmann von Litauen – und Calvinist. Als
einer der wichtigsten Adligen im Großfürstentum Litauen baute
er Kėdainiai zu einer Musterstadt für Toleranz und erfolgreiches
Wirtschaften aus. 1600 ließ er ein protestantisches Gymnasium
bauen. Von hier gingen wichtige Impulse für die protestantische Lehre in Litauen aus. In einer eigenen Druckerei entstanden
zahlreiche kirchliche Bücher auf Litauisch. Damit war die Bildungseinrichtung auch wichtig für die Entwicklung der Sprache,
die erst mit der Reformation als Schriftsprache in Erscheinung
trat. Kėdainiai wurde in Niederlitauen der Gegenpol zum katholischen Rasainiai, wo die Jesuiten im Zuge der Gegenreformation
ein Kollegium gegründet hatten.
Multiethnische Stadt
Wichtig für die Entwicklung der Stadt war, dass Radvila Einwanderer nach Kėdainiai lockte: Protestantische Schotten ließen sich
nieder; 250 schottische Namen sind im 17. Jahrhundert nachweisbar. Erst als Kėdainiai seine Bedeutung für den Handel verlor,
verließen sie die Stadt. Die meisten zogen im späten 18. Jahrhundert in die Hafenstadt Klaipėda (Memel). Geblieben sind die
Gebäude – eines der größten ehemals schottischen Häuser in der
Altstadt steht seit Jahren leer. Der Künstler Feliksas Paulauskas
hat daraus ein Kunstprojekt gemacht: Fotos von Bewohnern in
Bekleidung des 17. Jahrhunderts sind in den Fenstern zu sehen:
„Traum vom goldenen Zeitalter“, so nennt der Künstler sein Projekt. „Gerade damals, zwischen 1600 und 1653, hat sich Kėdainiai
am besten entwickelt“, sagt Paulauskas. „Davor war es schlechter
und danach war es ebenfalls schlechter. Alles, worauf wir heute
stolz sind, entstand in dieser kurzen Zeitspanne.“
In diese goldene Zeit fällt auch die Ankunft der Russen, Deutschen und Juden in der Stadt. Die Radvilas riefen sie zur Entwicklung des Handwerks und des Handels. Für Schotten, Juden
und Deutsche gab es jeweils eigene Handelsplätze, um die herum
sie sich niederließen. Die Bürgerschaft der Stadt übertrug den
Juden die Erhebung der Zollgebühren. Die jüdische Gemeinde
wuchs schnell: 1764 war etwa ein Viertel der gut 2 000 Einwohner
jüdisch.
Mitte des 17. Jahrhunderts bauten die Juden ihre erste Synagoge. Sie war aus Holz und stand am Rande des Alten Markts,
daneben ein Badehaus und ein Krankenhaus. Hundert Jahre
später waren bereits zwei Synagogen in Kėdainiai nachweisbar.
Kėdainiai wurde als jüdisches Regionalzentrum so wichtig, dass
im 18. Jahrhundert selbst der Gaon von Vilnius für ein halbes Jahr
zu Studienzwecken dorthin kam – und seine Frau kennenlernte.
Nachdem die hölzerne Synagoge bei einem Stadtbrand zerstört
worden war, wurde um 1784 mit dem Bau einer neuen, steinernen
Foto: Wikimedia Commons / Alma Pater
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Das Denkmal vor dem Gebäude der Synagoge erinnert an die 2076
ermordeten jüdischen Einwohner von Kėdainiai.
Synagoge am Alten Markt begonnen. Sie wurde 1807 eröffnet.
In der Nachbarschaft entstand das Zentrum der Gemeinde, der
„shulhoyf“. Die Ziegel zum Bau hatte der damalige Besitzer der
Stadt, Marijanas Čapskis (Marian Czapski), gestiftet. Am Ende
des 19. Jahrhunderts stellten die gut 3 700 Juden rund 60 Prozent
der Einwohner der Stadt. Es gab eine jüdische Druckerei, eine
jüdische Feuerwehr, ein jüdisches Kino und ein Hotel.
In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als Litauen eine unabhängige Republik war, zogen viele Litauer vom Land in die Städte. Das veränderte auch die Bevölkerungszusammensetzung in
Kėdainiai, so dass die Juden in den 1920er Jahren noch etwa ein
Drittel der Bevölkerung ausmachten. Nach dem Einmarsch der
Deutschen im Sommer 1941 stand die jüdische Gemeinde vor
dem Aus. Bereits Ende Juni 1941 wurden über 300 Juden in den
Wäldern außerhalb der Stadt erschossen. Am 28. August 1941
wurden 2 076 jüdische Einwohner auf dem Gelände des Militärlugplatzes bei Kėdainiai erschossen. Daran erinnert seit 2011 ein
Denkmal in der Stadt, direkt vor dem Gebäude der Synagoge:
ein Dreieck aus Metall symbolisiert das Auge Gottes, die Konstruktion hat genau 2 076 Lücken, in denen Steine liegen. Das
Denkmal stammt von Feliksas Paulauskas. Am Erschießungsort
selbst sind in der „Tränen-Mauer von Kėdainiai“, einem Zaun aus
Metall, die Namen der Ermordeten zu lesen. Allerdings nur die
gut 1 000 Namen derer, die eindeutig identiiziert worden sind.
Die ehemalige Synagoge ist heute ein Begegnungszentrum. Im
Obergeschoss erinnert eine kleine Ausstellung an die Geschichte
der jüdischen Gemeinde.
Der Zweite Weltkrieg brachte auch das Aus für den Großteil
der lutherischen deutschen Gemeinde. Die Deutschen wurden
im 17. Jahrhundert vor allem als Handwerker und Apotheker
nach Kėdainiai gerufen. Ihre Kirche bauten sie auf einem Hügel
außerhalb des Ortskerns. Der heutige Pfarrer, Arvydas Malinauskas, besitzt noch ein Foto aus dem Jahr 1940, auf dem die
Nr. 3 2017
RGOW
L I TAU E N
Foto: Laima Gūtmane (simka …
Gemeindemitglieder in Sonntagskleidung auf
dem Hang vor der Kirche abgebildet sind. Es
entstand vor der Ausreise ins Deutsche Reich.
Hitler und Stalin hatten 1939 die Umsiedlung
der Deutschen aus dem Baltikum beschlossen,
nachdem sie die Aufteilung Mittelosteuropas
mit dem Hitler-Stalin-Pakt besiegelt hatten.
Heute hat die Gemeinde etwa 40 Mitglieder, man
spricht Litauisch. Die Kirche war in der sowjetischen Zeit ein Getreidelager und ist heute eine
Baustelle, wird aber für Gottesdienste genutzt.
Seit 1999 gehört sie wieder der Gemeinde. Die
Fassade ist bereits renoviert, doch die Inneneinrichtung ist immer noch ein Provisorium:
Zusammengewürfelte Bänke, keine Kanzel,
Kabel ziehen sich über den Boden. Man kämpft
vor allem gegen die Feuchtigkeit in den Wänden
und überlegt, wie die Fresken aus dem 17. Jahrhundert zu retten sein könnten. Sie stellen Peter In der reformierten Kirche von Kėdainiai stehen die Sarkophage der Radvilas.
und Paul sowie die vier Evangelisten dar. Der
Pfarrer will sie unbedingt erhalten, weil solche Fresken für luthe- sehen. Es ist nicht einmal klar, wo genau das Herrenhaus der
Radvilas gestanden hat. Möglicherweise gegenüber der Altstadt,
rische Kirchen außergewöhnlich sind.
Abgesehen von der lutherischen gibt es eine reformierte am anderen Ufer des Flusses Nevežis, gleich neben der katholiGemeinde. Heute hat sie nur wenige Dutzend Mitglieder. Got- schen Georgskirche aus dem 15. Jahrhundert.
Abgesehen von der Georgskirche gibt es in Kėdainiai noch
tesdienste gibt es nur einmal im Monat, dann kommt ein Pfarrer
aus Vilnius. In der sowjetischen Zeit war die Kirche zunächst eine zweite katholische Kirche: die hölzerne Josefs-Kirche. Sie
Getreidelager, später Turnhalle. Die reformierte Kirche ist ein stammt aus dem 18. Jahrhundert und wurde von KarmeliterRenaissance-Bau, der für die kleine Stadt fast zu groß wirkt. Mönchen gebaut: Volksbarock. In der sowjetischen Zeit wurde
Auch sie entstand für deutsche Einwanderer. Die Kirche ist die sie bis 1963 noch als Gotteshaus genutzt. Dann zog eine Elektroprominenteste in der Stadt, denn in der Krypta stehen die Sarko- Fabrik ins Karmeliter-Kloster ein und die Kirche wurde zum
phage mit den sterblichen Überresten von Kristupas und Jonušas Lager. 1991 wurde sie wieder als Gotteshaus geweiht.
Etwas außerhalb der Altstadt steht die russisch-orthodoxe
Radvila (Janusz Radziwiłł). Daneben noch vier Kindersärge mit
Kirche. Die Gemeinde hat heute etwa 100 Mitglieder. Sie entstand
den Leichnamen der jung verstorbenen Geschwister Jonušas.
Mitte des 17. Jahrhunderts, als Jonušas Radvila zum zweiten Mal
heiratete. Da seine Frau orthodox war, wurde eine Kirche gebaut,
Politischer Aufstieg und Niedergang
Die Radvilas bescherten der Stadt nicht nur eine Vielzahl an zunächst aus Holz, im 19. Jahrhundert aus Stein. Zur Gemeinde
Glaubensgemeinschaften und sie machten Kėdainiai nicht nur gehörte auch Pjotr Stolypin, der von 1906 bis 1911 russischer Prezu einem wirtschaftlichen Zentrum Niederlitauens, sondern mierminister war. Seine Familie besaß das Landgut Kalnaberžė
auch zu einem politischen. In die Regierungszeit Jonušas iel nördlich von Kėdainiai. Gleich in der Nachbarschaft, in Šetenai,
der Zweite Nordische Krieg. Litauen war fast völlig von russi- kam 1911 der Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz zur Welt
schen Truppen besetzt, von Westen her drangen die Schweden (s. RGOW 9/2011, S. 16–18).
Abseits der Altstadt steht in einem Park eine Kuriosität aus
ein. Jonušas Radvila entschied sich dazu, mit den Schweden in
Kėdainiai einen Vertrag zu schließen: Er wollte Litauen aus der dem 19. Jahrhundert: ein 25 Meter hohes Minarett. Es gehörte nie
Union mit Polen herauslösen und stattdessen eine Verbindung zu einer Moschee. Der Gutsbesitzer und General der russischen
mit Schweden eingehen. Zum Großfürstentum Litauen gehör- Armee Eduard Franz Todleben ließ es bauen, um sein Anweten damals die Gebiete, die heute den litauischen und weißrus- sen zu dekorieren: eine Erinnerung auch an seine Teilnahme
sischen Staat bilden, ebenso Teile der heutigen Ukraine. Eine am russisch-türkischen Krieg von 1854/55. Im Park verteilte er
schwedisch-litauische Union hätte die Machtverhältnisse in antike Skulpturen. Außer dem Minarett ist nichts davon erhalten,
Europa auf den Kopf gestellt. Doch Radvilas politische Gegner auch nicht die beiden Häuschen, die er bauen ließ. Darin hatte er
setzten ihn in Tykocin fest, im heutigen Nordost-Polen – Rad- ein Museum mit persönlichen Gegenständen eingerichtet. Dazu
vila starb dort am Silvestertag 1655. Der Kriegsverlauf machte gehörten ein Trinkbecher, den er bei einer Begegnung mit Zar
danach den Vertrag hinfällig. 1660 blieb im Frieden von Oliva Alexander II. benutzte und ein Teleskop, das er von der Krim
alles beim Alten. Zwischen Polen und Litauen entspann sich um mitgebracht hatte.
Kėdainiai hat sein kulturelles Erbe in den vergangenen JahJonušas Radvila aber ein jahrhundertelanger Streit. Viele Litauer
sahen in ihm einen Staatsmann, der die Polonisierung Litauens ren sichtbar gemacht. Wer herkommt, kann vom goldenen Zeitaufhalten wollte, viele Polen betrachteten ihn als Verräter. Der alter träumen. Kėdainiai, oder Kedahnen auf Deutsch, Keidan
Vertrag von Kėdainiai wurde zu einem wichtigen Motiv in der auf Jiddisch und Kiejdany auf Polnisch – ein Schnittpunkt der
polnischen Literatur. Der Literaturnobelpreisträger Henryk multireligiösen und multikulturellen litauischen Vergangenheit.
Sienkiewicz schrieb im späten 19. Jahrhundert in „Die Sintlut“:
„Fragt ihn [Jonušas], wodurch die Schweden ihn bestochen haben!
Jürgen Buch, M. A. in Publizistik, Slawistik und
Fragt ihn, wie viel sie ihm ausbezahlt haben! Panowie, seht ihn,
Soziologie, Berlin. Autor für Rundfunk und FernJudas Ischariot! Möge er in Verzweiflung enden! Verräter und
sehen, neben Publizistik zu Osteuropa allgemein
abermals Verräter!“
Schwerpunkt zur Aufarbeitung der Geschichte
Nach Radvilas Tod 1655 schwand die politische Bedeutung
in Osteuropa und zur Geschichte des Judentums;
von Kėdainiai. Vom Sitz der Familie ist heute nichts mehr zu
www.juergenbuch.de.
15
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UKRAINE
Nr. 3 2017
RGOW
Gerhard Simon
Die Ukraine und die
vatikanische Ostpolitik
In der Gemeinsamen Erklärung von Papst Franziskus und Patriarch Kirill waren auch die politischen
und kirchenpolitischen Verhältnisse der Ukraine ein Thema. Der Autor kritisiert, dass die vatikanische
Ostpolitik dabei weitgehend der Moskauer Lesart der kirchlichen Situation und des Konflikts in der
Ostukraine folgt. Eine klare Benennung des russischen Aggressors steht bis heute aus. Zeichen der
Entspannung soll die Aktion „Der Papst für die Ukraine“ setzen, die Menschen hilft, die unter den
Kriegsfolgen im Donbass leiden. – S. K.
Am 12. Februar 2016 trafen sich Papst Franziskus und Patriarch
Kirill von Moskau im Flughafen von Havanna auf Kuba, unterzeichneten eine lange Gemeinsame Erklärung, nannten einander
Brüder, „nicht Konkurrenten, sondern Geschwister“ (s. RGOW
3/2014, S. 4–7).1 Nach zwei Stunden Gespräch setzte jeder seine
Reise durch Lateinamerika fort.
In gewisser Hinsicht war diese Begegnung ein Ersatz für die
bislang nicht zu Stande gekommene Reise eines Papstes nach
Russland, die schon seit spätsowjetischer Zeit immer wieder im
Gespräch war, aber nie realisiert wurde. Der wichtigste Stein
des Anstoßes im Verhältnis zwischen Rom und Moskau war und
ist die kirchliche Situation in der Ukraine. Vier der 30 Punkte
umfassenden Gemeinsamen Erklärung befassen sich denn auch
mit den politischen und kirchenpolitischen Verhältnissen in der
Ukraine.
Kirchenpolitische Verhältnisse
Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK) ist die
mit Abstand größte mit Rom unierte Ostkirche und verbindet
Herkunft und Tradition aus der byzantinischen Ostkirche mit
der kirchenrechtlichen Unterstellung unter den römischen Papst.
Die UGKK wurde nach der Annexion der westlichen Ukraine durch die Sowjetunion 1946 mit dem Moskauer Patriarchat
zwangsvereinigt, überlebte die Verfolgung im Untergrund,
kehrte 1989 in die Legalität zurück und ist seit dem Ende der
Sowjetunion eine der größten und lebendigsten Kirchen in der
Ukraine. Das Moskauer Patriarchat aber hat den „Verlust“ der
zwangsvereinigten Ukrainer bis heute nicht verwunden. Der
Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metropolit
Ilarion (Alfejev), sagte aus Anlass des 70. Jahrestages des Pseudokonzils von Lemberg im März 2016: „Die Union ist nach wie vor
der Stein des Anstoßes im orthodox-katholischen Dialog“. Das
Ende der sowjetischen Verfolgung und die Rückkehr der UGKK
aus dem Untergrund heißen bei Ilarion: „Die Zerschlagung von
drei orthodoxen Eparchien im Westen der Ukraine“ und „die
gewaltsame Wegnahme von einigen hundert Kirchen“. 2 Ilarion
ist seit Jahren im Vatikan bestens vernetzt. In der Gemeinsamen
Erklärung von Havanna wird der UGKK zwar „das Recht zu
existieren“ zugesichert, zugleich aber der „Uniatismus“ als nicht
zukunftsfähig eingestuft.
In sowjetischer Zeit gehörten alle orthodoxen Kirchen in
der Ukraine zum Moskauer Patriarchat. Nach der Ausrufung
der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine trennten sich viele
Gemeinden, Priester und Bischöfe vom Moskauer Patriarchat und
bildeten die Ukrainische Orthodoxe Kirche–Kiewer Patriarchat
(UOK–KP). Inzwischen ist diese nach der Zahl der Gläubigen
(allerdings nicht der Anzahl der Gemeinden und Geistlichen)
die größte orthodoxe Kirche in der Ukraine. Weil die Loslösung
gegen den Willen des Moskauer Patriarchen erfolgte, wird das
Kiewer Patriarchat von keiner anderen orthodoxen Kirche als
kanonisch anerkannt. Die zurückbleibende Ukrainische Orthodoxe Kirche–Moskauer Patriarchat (UOK–MP) wird angesichts
des Krieges zwischen der Ukraine und Russland im Donbass
zwischen der Loyalität zu Moskau und zur Ukraine zerrieben
(s. RGOW 2/2015, S. 9–11).
Die vatikanische Ostpolitik stellt sich in diesem Konlikt
uneingeschränkt auf die Seite Moskaus. Rom lehnt jeden Kontakt
zur UOK–KP ab und verplichtet alle seine kirchlichen Institutionen, diesem Boykott zu folgen. So kann etwa das OsteuropaHilfswerk der Katholischen Kirche in Deutschland, Renovabis,
keine gemeinsamen Projekte mit der UOK–KP betreiben. Während Papst Franziskus nicht müde wird, den ökumenischen Dialog mit jedermann zu fordern, bleibt die größte orthodoxe Kirche
in der Ukraine, zu der Tausende von Gemeinden und Millionen
Gläubige gehören, davon ausgeschlossen.
Vatikanische Ostpolitik
Die vatikanische Politik gegenüber Russland und der Ukraine
folgt seit Papst Franziskus im Wesentlichen der Linie von Patriarch Kirill und damit indirekt von Putin. Das gilt insbesondere
für das Verschweigen bzw. Nichtbenennen der Konlikte und
der Konliktursachen. Weder nannte der Vatikan die Annexion der Krim im März 2014 beim Namen noch die russische
Aggression gegen den ukrainischen Donbass seit April 2014,
von einer Verurteilung dieser völkerrechtswidrigen Akte ganz
zu schweigen. Damit steht der Vatikan auch im internationalen Vergleich ziemlich allein da. Die vatikanische Ostpolitik
beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die Konliktparteien
und die Kirchen in der Ukraine zu Frieden und Eintracht aufzurufen; sie sollen sich laut der Erklärung von Havanna „einer
Beteiligung an der Auseinandersetzung enthalten“. Dahinter
steht offenbar die Vorstellung, dass ein Aufruf an alle Konliktparteien zum Frieden eine neutrale und friedensfördernde
Position sei. Tatsächlich stellt sich jedoch derjenige, der den
Angreifer mit dem Angegriffenen gleichsetzt, auf die Seite des
Aggressors und gegen das Opfer. Es gibt keine Konliktlösung
ohne die Benennung des Konlikts; und der Aufruf zum Gebet
klingt wenig überzeugend und offenbart im besten Fall Hilflosigkeit. Das aber ist mit Sicherheit nicht das Ziel der vatikanischen Ostpolitik.
Die Gemeinsame Erklärung von Havanna hat in der Ukraine
scharfe Kritik ausgelöst. Kritik kam nicht nur, wie zu erwarten
Nr. 3 2017
war, von der UOK–KP, sondern auch von der UGKK. Dagegen
war der Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Metropolit Ilarion (Alfejev), voll des Lobes. Die UGKK hatte schon
lange vor Havanna den Vatikan wegen seines Schweigens, seiner
falschen Wortwahl und der einseitigen Parteinahme für Moskau
kritisiert. So hatte Franziskus wiederholt die russische Aggression im Donbass als „Bürgerkrieg unter Christen“ bezeichnet,
mit anderen Worten als Krieg, an dem alle Seiten gleich schuldig sind. Der Vizerektor der katholischen Universität Lemberg,
Myroslav Marynovytsch, hatte schon im Februar 2015 das
Schweigen des Vatikans angesichts der russischen Aggression
beklagt. „Aufrufe zur Versöhnung hängen in der Luft, wenn die
Hauptvoraussetzung aller Versöhnung, die Wahrheit, nicht gesichert wird.“ „Ein ökumenischer Dialog kann nicht auf Kosten
der Leugnung der Wahrheit aufrechterhalten werden; dies ist im
Gegenteil der gerade Weg zu seiner Zerstörung.“ 3
Die Kritik aus der eigenen Kirche hat im Vatikan zunächst
wenig bewegt. Der Apostolische Nuntius in Kiew, Claudio
Gugerotti, stellte in einem Interview im August 2016 die Sichtweise des Vatikans dar. Demnach gehörte die Ukraine zur
„Zone der Russländischen Föderation“; sie habe sich aber „ohne
Zweifel auf Druck der westlichen Gesellschaften“ den USA und
Europa zugewandt. Dann gab es „das Phänomen Majdan“ und
die faktische Abtrennung von Russland. Auf diese Weise habe
die Ukraine „die Schwierigkeiten, die zwischen den USA und
Europa auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite
bestanden, vergrößert“. Dies ist offenbar das Verständnis von
Selbstbestimmung und Freiheitswillen, wie es im Vatikan kultiviert wird. 4
Diese Interpretation deckt sich übrigens weitgehend mit der
geopolitischen Sicht der italienischen Politik auf die Konlikte in
der Ukraine und ist der Putinschen Sichtweise nahe. Demnach
haben die Ukrainer mit ihrem Aufbegehren gegen die Diktatur im Inneren und gegen den Neoimperialismus von außen
das Gleichgewicht in der Welt gestört und sind dafür mit dem
heutigen wirtschaftlichen Niedergang bestraft worden. Diese
Wahrnehmung erinnert fatal an die in den 1980er Jahren im Westen weitverbreitete Vorstellung, wonach die Dissidenten in den
damals kommunistischen Ländern des östlichen Europas und
auch die polnische Solidarność nur Störenfriede der Entspannung waren.
RGOW
UKRAINE
500 000 Euro nach Rom. Franziskus selbst stellte für die Aktion fünf Millionen Euro zur Verfügung. Im Donbass wurde
ein sog. Technisches Komitee zur Verwaltung und Verteilung
der Hilfsgelder eingerichtet, geleitet von dem Weihbischof der
römisch-katholischen Diözese Charkiv-Zaporižžja, Jan Sobilo.
Ziel dieser Aktion, die den Namen „Der Papst für die Ukraine“ trägt, ist die humanitäre Unterstützung von Menschen, die
unter den Kriegsfolgen leiden, und zwar auf beiden Seiten der
Frontlinie, d. h. auch auf dem Territorium der sog. Volksrepubliken Donezk und Luhansk (http://popeforukraine.com.ua).
Die humanitäre Hilfe soll ohne Ansehen der politischen und
religiösen Überzeugungen oder der ethnischen Zugehörigkeit
gewährt werden. Ob es dem Hilfswerk gelingt, tatsächlich auf
beiden Seiten der Front zu arbeiten, wird die Zukunft zeigen.
Bisherige Erfahrungen mit ähnlichen internationalen Hilfsaktionen sind nicht gut.
Bis zum Jahresende 2016 sind mehr als 10 Millionen Euro an
Spenden eingegangen. Das Technische Komitee hat Hunderte
von Anträgen erhalten und bearbeitet. Die Entscheidung über die
Auszahlung trifft der Päpstliche Rat Cor Unum, bzw. die Nachfolgebehörde Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des
Menschen. Unterstützt werden sollen in erster Linie Menschen,
die in der Nähe der sog. Kontaktlinie leben (d. h. faktisch im
Kriegsgebiet) und innerukrainische Flüchtlinge aus dem Donbass. Finanziert werden vor allem Nahrungsmittel, medizinische
Versorgung und Wohnraum. Der politische Ehrgeiz der Aktion
„Der Papst für die Ukraine“ besteht darin, die Frontlinie durchlässiger zu machen. Daher besucht Nuntius Gugerotti regelmäßig katholische Gemeinden in den besetzten Gebieten. Von
ukrainischer Seite wird ihm deshalb vorgehalten, als Diplomat
zur de facto Legalisierung der Separatisten und der russischen
Intervention beizutragen.
Wie weit entfernt die Spannungen im Osten Europas von Rom
sind, und wie wenig Wissen darüber offenbar im Vatikan vorhanden ist, zeigte eine Episode am Rande einer Generalaudienz
das Papstes am 5. Mai 2016. Ein kommunistischer Duma-Abgeordneter aus Moskau heftete dem Papst vor laufenden Kameras
ein Georgsband an die Soutane. Offenbar wusste niemand in der
Umgebung des Heiligen Vaters, dass das Georgsband seit zwei
Jahren das wichtigste Emblem der Kämpfer gegen die Ukraine ist
und quasi statt Hoheitsabzeichen getragen wird.7 Die Empörung
in der Ukraine ließ nicht auf sich warten. Weil aber Franziskus
auf beiden Seiten der Front steht, oder vielmehr auf keiner Seite,
Die Aktion „Der Papst für die Ukraine“
Mittlerweile hat sich die vatikanische Ukraine-Politik nach segnete er am 25. Mai bei gleicher Gelegenheit ukrainische SolHavanna doch bewegt. Auslöser dafür war wohl der Besuch der daten, die mit einer ukrainischen Flagge auf den Petersplatz zur
griechisch-katholischen Bischöfe bei Franziskus Anfang März Generalaudienz gekommen waren. 8
2016, der im Zeichen des Gedenkens an den 70. Jahrestag des
Pseudokonzils von Lemberg 1946 und der Verfolgung der unier- Anmerkungen
ten Kirche in der Sowjetunion stand. Die ukrainischen Bischöfe 1) http://de.radiovaticana.va/news/2016/02/12/im_wortlaut_
haben dem Papst in sehr klaren Worten die gegenwärtige Lage
gemeinsame_erkl%C3%A4rung_von_franziskus_und_
des Landes vor Augen geführt und all das beim Namen genannt,
kyrill/1208118.
das zu beschweigen Richtschnur der vatikanischen Politik war 2) http://www.pravoslavie.ru/91390.html.
und mit Einschränkungen bis heute ist. 5
3) ht t p: //r i s u .or g.u a /e n / i nde x /e x p e r t _ t hou g ht /op e n _
theme/59079/.
Am 27. März 2016, zu Ostern, sprach Franziskus erstmals
von einem „Krieg“ in der Ukraine. Dies ist seither vatikanische 4) http://risu.org.ua/ua/index/all_news/ukraine_and_world/
international_relations/64209/.
Sprachregelung, allerdings ohne zu sagen, wer dort gegen wen
Krieg führt. Im Juni 2016 rief Kardinalstaatssekretär Pietro 5) http://risu.org.ua/ua/index/all_news/catholics/ugcc/62721/.
Parolin bei einem Besuch in der Ukraine dazu auf, die Normen 6) ht t p://r isu.org.ua /ua /i ndex /a l l _ news/cat hol ics/vat ikan/63711.
des Völkerrechts hinsichtlich des Territoriums und der Grenzen
der Ukraine zu achten. Das ging über Positionen des Vatikans in 7) http://www.pravda.com.ua/columns/2016/05/7/7107739/.
8) http://uapress.info/uk/news/show/132218.
den vorangegangenen Jahren hinaus. 6
Um die große Not der Menschen im Kriegsgebiet des Donbass zu lindern, rief der Papst alle katholischen Gemeinden in
Gerhard Simon, Prof. em. Dr. phil., lehrte OsteuEuropa zu einer Sonderkollekte für die Ukraine am 24. April 2016
ropäische Geschichte an den Universitäten Köln
und Bonn.
auf. In Deutschland überwies die Deutsche Bischofskonferenz
17
18
UKRAINE
Nr. 3 2017
RGOW
Tatjana Hofmann
Dem Kulturleben der Krim
auf der Spur
Gemeinsam mit dem Kameramann Cyril Venzin hat die Zürcher Slavistin Tatjana Hofmann dem
Kulturleben auf der Krim nachgespürt. Sie ist erneut mit den auskunftsfreudigen Teilnehmern des
Bosporusforums, an dem sie vor zwei Jahren erstmals teilnahm, zusammengetroffen (s. RGOW 3/2016,
S. 28 –29). Dabei hat sie verschiedene Autoren und Kulturschaffende interviewt, die jeweils ihre
eigene Sicht auf das Kulturleben der Krim von düster bis freundlich-distanziert haben. – N. Z.
Überleben. Auch wenn die Besucher nicht ausbleiben – neben den
Stränden ziehen historische Stadtführungen sichtbare Menschentrauben an –, bleiben die Preise, die in den letzten beiden Jahren bis
zu 20 % gestiegen sind, ein Problem. Zudem gefährdet die mangelnde Nachhaltigkeit die Lebensqualität: Außer in Jalta ist der Zugang
zum Meer an der Südküste von Alupka bis Aluschta durch Zäune
verbarrikadiert. Der russisch-ukrainische Essayist Igor’ Klech
kritisiert diesen Zustand, es sei Neofeudalismus mit sowjetischen
Wurzeln. 2 Er hebt als Vorbild den frei zugänglichen botanischen
Garten hervor, den Tschechow in seinem Haus-Museum in Jalta
anlegte. Lokale Kulturgeschichte als Lehrstunde für die Gegenwart.
Wir möchten mit unserer Dokumentation niemanden belehren,
wir möchten die „Krimtschanen“ selbst zu Wort kommen lassen. Die
Aufnahmen setzen bei jedem guten Gespräch ein, oft spontan. Wir
sind mit einem Koffer und einem Rucksack unterwegs, mit gemieteten Objektiven und einer einfachen Videokamera, ohne Zusatzlicht.
Bisher setzen sich unsere Interviewpartner aus den Teilnehmern
des Bosporusforums (s. RGOW 3/2016, S. 28–29) zusammen, sie
sind gesprächsbereit.
Das Forum indet seit 1993 alle zwei Jahre auf der Halbinsel statt.
Der Organisator, Igor’ Sid, bezeichnet es als eine experimentelle
Aktivität an der Grenze zwischen Kunstfestival und Konferenz. Von
Anfang an schloss es kollektive konzeptualistische Aktionen wie
Landart und Happenings ein. In den letzten Jahren ist die anthropologische Krise in den Vordergrund gerückt. 2015 und in diesem Jahr
wurde die Übersetzung – im weiteren Sinne – zum Motto erkoren.
Sid selbst stammt aus Kertsch. Seine dortige Wohnung staubt ein.
Da es in Kertsch kaum Arbeit gibt, hat der Dichter und Organisator,
Kommunikator und Herausgeber (u. a. des Bandes Einführung in
die Geopoetik, Moskau 2013, sowie der geopoetischen Anthologie
Mehr als nur ein Ferienparadies
Cyril und ich drehen einen Dokumentarilm über die Krim. Bisher Unsere Krim, Moskau und New York 2016) seinen Lebensmittelwar unser Projekt Produktionsirmen suspekt, die Rede von Kultur punkt nach Moskau verlagert. Per Telefon, Mail und über soziale
wurde überhört, die Politik verstellt die Sicht. Natürlich geht die Netzwerke steht er mit den Kollegen von der Krim gleichermaßen
Frage nach dem Kulturleben der Krim viel zu weit, denn sie setzt in Verbindung wie mit ukrainischen Autoren. Durch sie wurde die
voraus, dass jemand den Überblick hat. Mehr als um diesen geht es Geopoetik im deutschsprachigen Raum zum Label essayistischuns um den Stellenwert von geerbter und gelebter Kultur für die hybrider Literatur, die den osteuropäischen Raum erkundet. InnerMenschen vor Ort. Sie könnte Ferndiagnosen widersprechen, die halb der Slawistik kam Forschungsinteresse auf.
eine Einöde, gar den Tod der Halbinsel hinaufbeschwören, wie es
Wäre ihr Augenmerk auch auf das Übersetzen gerichtet gewesen,
Karl Schlögel tut, wenn er bezweifelt, dass „aus dem Allunions- wäre der Übersetzer und Theaterautor Jan Shapiro nicht unbemerkt
Sanatorium und Erholungskombinat eine Urlaubswelt [wird], die geblieben. Er ist mindestens ein doppelter Übersetzer: aus dem
die Konkurrenz mit anderen europäischen Urlaubsgegenden auf- Englischen ins Russische und aus dem Atheismus ins Judentum.
nimmt, ohne den ihr eigenen Zauber, die einzigartige Dichte ihres Den schmalen, freundlichen Mann mit Kippa kann ich mir nicht
kulturellen und historischen Erbes zu ruinieren“ und davon ausgeht, als Elektriker im sowjetischen Sewastopol vorstellen. Shapiro sagt
dass „Putins Russland der Krim und allen Krimtschanen die Chance selbst, seine Familie sei weltlich, russiiziert, seine Mutter veröfgenommen [hat], diesen paradiesischen Ort zu einer neuen Blüte zu fentlicht gerade ihr Buch Puschkins Sewastopol. Zum Judentum
bringen.“ 1
gelangte er über Umwege, die auch das Interview mit ihm einDie Krim ist für viele, die dort gewesen sind, vor allem ein schlägt, und über den russischen Dichter Andrej Poljakov scherzt
Ferienort, und für viele, die dort leben, sichert der Tourismus das er: „Vor einem Vierteljahrhundert flehte er mich an, ich solle mich
„Die Krim ist ein Loch. Tiefste Provinz, aber mit Ansprüchen. Nach
dem Motto: Wir sind nicht irgendein Rjazan’ oder Vologda, obwohl
es dort ein Kulturleben gibt, ein ehrlicheres. Hey, hier ist das Parlament! Schwieriges Thema“, urteilt Alexander Barbuch, Fotograf und
Drehbuchschreiber. Kurz darauf sagt er, das Symphonie-Orchester
sollten wir uns anhören, und dass in Simferopol im Kunst- und im
Tauris-Museum viel passiere.
Ein wichtiger Veranstaltungsort ist auch die Ivan-Franko-Bibliothek, in friedlicheren Zeiten nach einem westukrainischen Schriftsteller benannt. Uns werden Besucherausweise ausgestellt. Mein
Begleiter, der Schweizer Kameramann und Kulturwissenschaftler
Cyril Venzin, schreibt zum ersten Mal seinen Namen in kyrillischen
Buchstaben. Auf der Krim heißt er Kirill. In der Bibliothek besuchen wir die Ausstellung von Ismet Scheich-Zade. Der Urgroßvater
des Performancekünstlers war ein Scheich im Krim-Khanat; die
Familie wurde im Zweiten Weltkrieg nach Usbekistan deportiert.
An die Präsenz verschiedenster kultureller Codes müssen wir uns
gewöhnen.
Einen ganzen Tag lang erklärt Ismet Scheich-Zade vor der Kamera seine Malerei, Installationen und Entdeckungen: Verbindungen
zwischen Michelangelo und krimtatarischer Symbolik. Mit solchen Vorträgen nimmt er dieses Jahr an zwei Konferenzen teil, die
zum Projekt der Galerie Krim-Khanat gehören. Zuerst in Moskau
und jetzt in Melbourne. Da, wie er sich ausdrückt, eine russische
Krim auf dem australischen Radar nicht existiert, bedient er sich
für seine Teilnahme und für das Visum seiner alten Dokumente.
Down under repräsentiert er nun die Gesellschaft akademischer
Kunst der Ukraine.
Nr. 3 2017
Der Dichter Andrej Poljakov bei sich zu Hause in Simferopol.
Foto: Cyril Venzin
taufen lassen. Ich habe in der Tat zu Gott gefunden, allerdings in
der Synagoge, als der Rabbiner Benjamin Wolf nach Sewastopol
gekommen ist. Seitdem wurden eine geräumige, schöne Synagoge,
ein jüdischer Kindergarten und eine jüdische Schule eröffnet. Ich bin
,Meturgeman’ in der Synagoge geworden und unterrichte Erwachsene in Judaismus.“
An Rudyard Kiplings Werken beeindruckt ihn, dass sie zur Vorsicht gegenüber schnellen Rückschlüssen mahnen, Geselligkeit und
Einsamkeit vereinen, elaboriert sind und sich dabei auf das Wichtigste konzentrieren. An Stücken hat Shapiro schon früher gearbeitet. Seit vor zehn Jahren der Dramaturg Anatolij Djatschenko
aus Moskau nach Sewastopol zurückgekehrt ist und ein Seminar
gegeben hat, schreibt Shapiro wieder, seine Theaterstücke widmen
sich jüdischen Themen.
Ein weiterer fester Forumsteilnehmer und Mitorganisator neben
Sid und Shapiro ist Andrej Malgin, Direktor des Tauris-Museums.
Was ihn gerade bewegt, ist die verweigerte Rückgabe des sog. Skythengolds. Die Sammlung aus ca. 2 000 Artefakten wurde Anfang
2014 von den lokalen Museen für die Ausstellung Krim: Gold und
Geheimnisse des Schwarzen Meeres in Amsterdam ausgeliehen.
Seit dem Anschluss der Krim an die Russische Föderation sind die
Artefakte Gegenstand eines Rechtstreits. Malgin äußert sich enttäuscht über das Urteil des Den Haager Gerichts, die Schätze an
Kiew zu übergeben. Genauso hat die Kulturministerin der Krim,
Arina Novoselskaja, auf ein ausgewogeneres Urteil gehofft: Diese
Entscheidung widerspreche dem rationalen Denken, moralischen
Normen und der Museumsethik.
Die charismatische Ministerin hat keine Zeit für ein Interview,
gibt mir aber ihre Handynummer, für den Fall der Fälle. Der tritt
ein, als wir vor dem verschlossenen Tor zum Khan-Palast in Bachtschissaraj stehen, obwohl wir dort einen Drehtermin für eine Performance von Ismet vereinbart haben – ein Anruf und das Tor öffnet
sich. Das Schild „Sanitätstag“ hat so viel wie „Saisonende mit Feier
inklusive Kater danach“ bedeutet.
Lyrik abseits der institutionalisierten Kultur
RGOW
UKRAINE
Schwarz-Weiß-Landschaften, ebenso einige Künstlerporträts wie
das fröhliche Gesicht von Poljakov. Der ist zum Lyrikstar geworden, ohne sich physisch aus Simferopol hinauszubewegen. Barbuch
raucht und fragt mich zurück: „Ist Pol Teil unseres Kulturlebens?
Kaum. Er hält Distanz.“ Auch wenn man „Pol“ selten ein Lächeln
abgewinnt, malt er das Kulturleben nicht schwarz. Der frühere Literaturdozent sieht immerhin eines. Er beobachtet es von außen, es sei
wie eine Eisenbahnstation unter seinem Zimmerfenster. Er blicke
auf die Züge, die an ihm vorbeifahren, aber wir müssen verstehen,
er arbeite nicht bei der Eisenbahn.
Diese Eisenbahn ist nur die eine Seite, aber eine beachtliche. Über
700 sozial, ökologisch und präventiv engagierte sowie im engeren
Sinn hochkulturelle Veranstaltungen listet der Plan des Kulturministeriums für dieses Jahr auf, darunter krimtatarische und jüdische
Feiertage, den Tag der krimtatarischen Sprache, die Ausstellung Tragödie eines Volkes zum Gedenken an die Opfer der Deportation,
die Gedenkaktion Geschichte meiner Familie in der Geschichte des
Krieges, die Konferenz Tschechow in Jalta und das Gumilev-Festival
in Koktebel.
Letzteres ist für das schiffs- bzw. kirchenähnliche Haus des
Dichters Maximilian Woloschin berühmt, das wie eine Arche viele
Gäste beherbergt hat – die Krim in Miniatur, eine Ferien- und
Arbeitsresidenz, ein Impuls- und Durchgangsort der Kreativen verschiedener Herkunft. Diese Tradition greift das dortige alljährliche
Poesie-Festival auf. Während die Direktorin des Museums wie eine
Operndiva über Festivals und Bucherrungenschaften berichtet, die
trotz fehlender Räumlichkeiten und geringer Finanzierung erfolgen, fällt der Strom aus. Unsere Aufnahme bricht ab. Die energische Dame erzählt weiter im Dunkeln, hoch erhoben über ihren
Bücherstapeln.
Auch in Poljakovs Zimmer wachsen stalagmitenartige Bücherstapel auf dem Boden. Sein Kopf ragt gerade so über sie hinaus, wenn
er seinen künstlerischen Kosmos umreißt: „Mein ganzes Schaffen
kreist um die Krim, und das literarische Leben der Krim, das bin
ich.“ Das Leben sei ein Intertext, sein schreibendes Ich ein semiotischer Körper. Der Sinn sei für ihn symbolisch und daher dynamisch,
die Dynamik impliziere ein Flimmern. Poesie müsse glimmen, sie
brauche Raum und Leere statt dichter Logosbrocken, sie müsse
sich im Kreis drehen dürfen. Die Semiotik besiege das Schicksal.
Der studentenhafte, schnell und druckreif sprechende Philologe in
Jeansjacke und Brille verkörpert die Geopoetik.
Ursprünglich hat Sid den Begriff als Reaktion und als Appell im
Zwist um die Krim, der Anfang der 1990er Jahre unter Krimtataren, Russen und Ukrainern entbrannte, lanciert. Sid bemühte sich
um einen internationalen, ästhetischen Gegenpol. Gerade jetzt, wo
Maßnahmen zur Friedenssicherung vonnöten wären, herrscht weitgehend Stille. Auch das Kulturministerium schweigt zur Frage, ob
es das nächste Bosporusforum unterstützt. Im „Eisenbahnfahrplan“
taucht es nicht auf.
„Kirill“, empfiehlt Poljakov, „lies Berdjaew, Bachtin und
Schestow, dann können wir ohne Übersetzerin sprechen.“ Öfter als
wir begleiten sie ihn in Simferopol, gemeinsam mit Husserl, Nietzsche, Bataille und Barthes … Wir nehmen Poljakovs Poetikvorlesungen auf und mit. Postsymbolistische Sinnbewegungen benötigen
weder Reisepass noch Visum.
Wieder in Simferopol, setzen wir unser Gespräch mit Alexander
Barbuch und seinem langjährigen Freund, Andrej Poljakov, fort.
Poljakov ist geblieben, Barbuch ist nun nach 15 Jahren zurückgekehrt. Nach dem Studium hat er in Kiew bei einem Fernsehsender
gearbeitet, später in Moskau, wo er am Literaturinstitut studiert
hat. Seine Frau stammt aus Frankreich. Abseits von Hektik, Kälte Anmerkungen
und schlechter Luft verschwindet seine Depression. „Hier kann 1) Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen.
man noch spazieren gehen, Kinder spielen im Märchenpark, er
München 2015, S. 144.
sieht genauso aus wie in der Jugend meiner Eltern.“ Barbuch selbst 2) Igor Klech: Navejannye otdyhom v Krymu nesvoevremennye
widerlegt sein Urteil über die Krim als Loch: Hier bereitet er seine
mysli: http://svpressa.ru/blogs/article/155320/.
nächste Ausstellung und das dazugehörige Fotobuch vor.
Er zeigt uns urbane Schnappschüsse, von den Reklame-SpiegeTatjana Hofmann, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Slavischen Seminar der Universität
lungen blicken düstere Selbstporträts des Fotografen. Oft relekZürich.
tieren sie die Fotosituation, Farbarrangements kontrastieren mit
19
20
RUMÄNIEN
Nr. 3 2017
RGOW
Jürgen Henkel
Wen(n) zu viel Ökumene stört
In der Rumänischen Orthodoxen Kirche übt eine kleine, aber lautstarke Gruppe Kritik an der
Kirchenleitung. Die Fundamentalisten verlangen eine Distanzierung der rumänischen Bischöfe vom
Panorthodoxen Konzil von Kreta. Das Patriarchat hat die Kritik scharf zurückgewiesen und sich zu
den Beschlüssen von Kreta bekannt. – S. K.
In der Rumänischen Orthodoxen Kirche tobt seit dem Panortho- protestantischen Gotteshäusern, ohne ihren orthodoxen Glauben
doxen Konzil von Kreta vom Juni 2016 (s. RGOW 11/2016) eine zu verlieren. Jeder „orthodoxe Christ kann der Orthodoxie treu
heftige Auseinandersetzung zwischen fundamentalistischen Krei- bleiben, wenn er mit anderen Christen Dialog oder Zusammensen und der Kirchenleitung. Mit Protesten im Netz und Unter- arbeit plegt, ohne fanatisch, arrogant oder aggressiv zu sein“, so
schriftensammlungen kritisieren wenige, aber lautstarke Gruppen das Patriarchat.
und Stimmen die Beschlüsse der Synode von Kreta, an der auch das
Im Oktober starteten vier selbsternannte „Bekenner-Mönche“
Oberhaupt der Rumänischen Orthodoxen Kirche, Patriarch Daniel vom Berg Athos (Evrem, Nikodim, Sava und Flavian) eine Tour
(Ciobotea), sowie 25 weitere Bischöfe, Erzbischöfe und Metropo- mit Propagandaveranstaltungen durch Rumänien. Sie gaben vor, als
liten seiner Kirche teilgenommen hatten. Die Kritiker werfen den ofizielle Delegation im Auftrag ihrer Athos-Klöster zu handeln.
Bischöfen vor, mit ihrer Unterschrift unter die Konzilsdokumente Nur wissen die nichts davon. Die Äbte der Skite Prodromou sowie
nicht-orthodoxe Kirchen anerkannt und damit die Orthodoxie der Klöster Megisti Lavra und Xeropotamou bestritten, dass die
Mönche irgendein Mandat oder die Erlaubnis ihrer Klöster hätten,
verraten zu haben.
sich zu dem Konzil von Kreta öffentlich zu äußern, geschweige
denn für den Berg Athos zu sprechen. Die Mönche seien keine
Kritik am Ökumene-Dokument
Vor allem das Bekenntnis zum Dialog mit den anderen Kirchen „Bekenner“, sondern „Gehorsamsverweigerer und Spalter“. Renomund deren explizite Bezeichnung als „Kirchen“ in dem Ökume- mierte Tageszeitungen in Rumänien sinnieren indes bereits, ob eine
ne-Dokument des Konzils stoßen orthodoxen Traditionalisten in Kirchenspaltung droht. Allerdings sehen viele angesichts der wahRumänien sauer auf. Die Kritik kommt aus Kreisen, für die bereits ren Größenordnung der Protestbewegung den Aufstand zu recht
der Begriff „Ökumene“ ein Schimpfwort darstellt. Die Kritiker nur als Sturm im Wasserglas. Immerhin gibt es auch von der Basis
stören sich auch an der Verwendung des Begriffs „Kirche“ für Widerspruch. Der Priester und Blogger Eugen Tănăsescu aus dem
nicht-orthodoxe Kirchen. Besonders einzelne Priester und Klös- Erzbistum Tomis (Constanţa) am Schwarzen Meer bezeichnet die
ter aus der traditionell sehr konservativen Metropolie der Moldau Kritik als „religiösen Talibanismus“.
und Bukowina drohten etwa dem Metropoliten Teofan (Savu) der
Moldau und Bukowina und anderen Bischöfen damit, den in jeder Verteidigung der Konzilsbeschlüsse
gottesdienstlichen Fürbitte (Ektenie) vorgeschriebenen Gebetsruf Das Patriarchat hat mehrfach überdeutlich auf die Anfeindungen
für den Bischof, der symbolisch die kirchliche Gemeinschaft zum reagiert, auch einzelne Bischöfe beziehen in Predigten, Ansprachen
Ausdruck bringt, zu verweigern, wenn die Bischöfe ihre Unter- und Interviews klar Stellung. Sie verteidigen die Konzilsbeschlüsse
und weisen die Kritik daran als theologisch unbegründete und im
schriften nicht zurückziehen.
Im August starteten einige Mönchspriester eine Petition, die Stil unerträgliche Meinung radikaler Wirrköpfe und Splittergrupmittlerweile einige tausend Unterschriften gesammelt haben will. pen zurück. Der ökumenisch höchst versierte Patriarch Daniel
Darin wird gefordert, dass die Bischöfe ihre Unterschriften von hält sich dabei zurück, wird er doch von den radikalen ÖkumeneKreta zurückziehen sowie der Ökumene insgesamt und dem Gegnern bisher aus Respekt vor seinem Amt noch nicht persönlich
Ökumenischen Rat der Kirchen insbesondere abschwören. Am angegriffen. Er gilt als Spitzentheologe unter den derzeitigen ortho30. August 2016 kam es vor dem Patriarchat von Bukarest zu einer doxen Patriarchen, will aber weder konservative Kreise noch die
Protestkundgebung und einem verbalen Schlagabtausch mit Weih- ökumenisch aufgeschlossene Fraktion gegen sich aufbringen, um
bischof Varlaam (Merticariu), der sich unter freiem Himmel der nicht zwischen die Fronten zu geraten oder das Amt zu beschädigen.
Die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche hat
Diskussion stellte.
Die Reaktionen aus dem Patriarchat auf die Vorfälle ließen an sich nicht ofiziell mit den Kritikern beschäftigt oder sich dazu
Klarheit nichts zu wünschen übrig. In einer Stellungnahme im Sep- geäußert. Die Bischöfe haben jedoch auf ihrer Vollversammlung
tember sprach die Kirchenleitung von Personen, die „in weltlichem im Oktober 2016 die Beschlüsse von Kreta ausdrücklich bestätigt
und aggressivem Geist“ die bei dem Konzil anwesenden Bischöfe und sich für eine Fortsetzung des konziliaren Prozesses ausge„angeklagt und beleidigt haben“. Es handle sich dabei um „einige sprochen. Der renommierte Bukarester Kirchenhistoriker Daniel
aufrührerische Kleriker und unkanonische, ungehorsame Wan- Benga wies zudem in einem Beitrag in der unter strenggläubigen
dermönche sowie Laiengläubige, die von diesen beeinlusst wer- Orthodoxen sehr beliebten Tageszeitung Ziarul Lumina anhand
den“. Die Kritiker seien „nicht dialogfähig, sondern aggressiv“ und eines Vergleichs der Beschlüsse des Zweiten Ökumenischen Konzils
„stören von innen heraus den Frieden und die Einheit der Kirche, von Konstantinopel 381 mit denen des ersten Konzils von 325 von
weil sie nicht vom Geiste Christi geleitet sind“. Die Kirche fördere Nicäa nach, dass die Konzilsväter von 381 Änderungen und Ergänweder „konfessionellen Hass noch religiösen Krieg“, sie bekenne zungen zur Verbesserung des Textes von 325 vorgenommen haben.
die Orthodoxie „mit Demut und Frieden in der Seele“. Das Patri- Benga unterstreicht damit die dynamische Lehrtradition gegenüber
archat verwies auch auf die Diaspora. Immerhin 670 der über 700 Splittergruppen, die verbissen um jedes theologische Jota kämpfen.
rumänischen Gemeinden in Westeuropa feiern ihre Gottesdiens- Wobei diese selbsternannten „Superorthodoxen“ ohnehin eine zwar
te nicht in eigenen, sondern in katholischen, anglikanischen oder laute, aber zahlenmäßig verschwindende Minderheit abbilden.
Nr. 3 2017
RUMÄNIEN
RGOW
„Kritiker haben die Texte nicht gelesen“ – Interview mit Erzbischof Laurenţiu (Streza) von Sibiu
Jürgen Henkel: Eminenz, es gibt
heftige Kritik in der Rumänischen
Orthodoxen Kirche an den Beschlüssen des Panorthodoxen Konzils.
Droht eine Kirchenspaltung?
Um ein Schisma auszulösen, muss
man jemand sein, der überhaupt in
der Lage ist, ein Schisma zu veranlassen. Das ist hier nicht gegeben.
Die meisten der Kritiker äußern
sich lautstark, ohne überhaupt die
Dokumente gelesen zu haben, die
sie so scharf kritisieren.
Vor allem das Dokument zum Verhältnis zu den anderen Kirchen ruft Kritik der fundamentalistischen Kreise hervor. Wie
bewerten Sie das?
Wir haben keinerlei Kompromisse gemacht, was die Anerkennung anderer Kirchen betrifft. Das Konzil hatte nicht das Ziel,
Foto: Jürgen Henkel
neue Dogmen oder kirchenrechtliche Normen (Kanones) zu erlassen.
Ziel war es, den orthodoxen Glauben für die Pastoral und missionarisch zu stärken. Seit den 1960er
Jahren wurde dieses Konzil vorbereitet. Ich selbst habe schon 1982 an
einem Vorbereitungstreffen teilgenommen. Ein Panorthodoxes Konzil
ist kein tagesaktuelles Treffen, es
legt Grundsätze fest.
In diesem Dokument wird die
Orthodoxe Kirche wie bisher als
wahre Kirche bezeugt. GleichzeiWie lief das Konzil ab?
tig wird festgehalten, dass es auch
Dieses Konzil wurde von 14 autokeandere gibt, die den Anspruch erheben, Kirche zu sein. Diese unterphalen orthodoxen Kirchen vorbe- Metropolit Laurenţiu (Streza), Erzbischof von Sibiu, beim
scheiden sich von uns, aber wir
reitet. Alle Dokumente des Konzils Durchblättern der Konzilstexte von Kreta.
erklären sie in diesem Dokument
lagen viersprachig vor: Griechisch,
Englisch, Französisch und Russisch. Die zehn beschlossenen nicht für häretisch. Das Konzil erlässt kein neues Dogma zur
Dokumente sind von allen zehn Kirchenoberhäuptern der Deinition von Kirche. Wir sind im Dialog mit anderen Kirchen,
anwesenden Kirchen unterzeichnet worden. Vier Kirchen gerade weil wir unterschiedlich sind. Und es braucht diesen
waren aus bekannten Gründen nicht vertreten, aber das waren Dialog, um zur Einheit zu kommen. Deshalb enthält das Konkeine theologischen Motive. Aber auch die zehn anwesenden zilsdokument auch keine Werturteile über andere Kirchen.
repräsentieren die weltweite Orthodoxie. Unser Patriarch Es geht darum, das Eigene zu betonen. Selbst vom heiligen
Daniel hatte die meisten Wortmeldungen mit konkreten Berg Athos waren Vertreter bei dem Konzil. Alle Stimmen
Änderungswünschen. Es gab eine ernsthafte theologische wurden gehört, auch russische Änderungswünsche wurden
Diskussion. Unser Ziel war es, einerseits die orthodoxe Ord- eingearbeitet. Es wurde mit Akribie darauf geachtet, dass die
nung zu bewahren, gleichzeitig aber auch das Zeugnis und die Änderungswünsche aufgenommen wurden.
Botschaft der Kirche für die Gegenwart zu bekräftigen. Die
Synode hat die Orthodoxie verteidigt und gestärkt.
Einzelne Priester und Klöster fordern die Rücknahme der
Unterschriften der Bischöfe aus Rumänien. Andernfalls
wollen sie die Fürbitte für die Bischöfe im Gottesdienst
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Diskussion um das Fasten. Wenn wir das strenge orthodoxe verweigern.
Fasten um die Hälfte reduziert hätten, hätten wir tatsächlich Solche Kommentare sind aufgekommen, bevor überhaupt
die Ordnung des Fastens zerstört. Das wäre das falsche Signal die Texte veröffentlicht wurden. Es handelt sich um Fundagewesen. Wir haben beschlossen, die strenge Fastenordnung mentalkritik kleiner Gruppen, weniger Priester und einzelner
grundsätzlich beizubehalten, ermutigen aber jeden Gläubigen, Klöster. Wenn Priester oder Klöster die Bischöfe nicht mehr
diese Ordnung nach seinen persönlichen Möglichkeiten umzu- in der Fürbitte erwähnen, übertreten sie das geltende Kirsetzen, so gut er kann. Jeder Ortsbischof und jede Bischofssy- chenrecht. Wenn diese Kritiker nun fordern, dass die Bischöfe
node hat die Möglichkeit, nach dem Prinzip von Akribie und ihre Unterschrift zurückziehen sollen, geht das völlig an der
Heilsökonomie Ausnahmen zu genehmigen. Die Ausnahme Wirklichkeit vorbei. Wir unterzeichnen solche Dokumente
bestätigt die Regel und schwächt diese nicht. Hätten wir die nicht im eigenen Namen, sondern im Namen und Auftrag
Ausnahme zur Regel erklärt, dann hätten wir die Regel wirk- unserer Kirchen, Metropolien und Bistümer. Auch wenn nur
der Patriarch unterzeichnet hätte, dann hätte er dies nicht
lich geschwächt.
in seinem eigenen Namen getan, sondern für die ganze KirWas wird dem Konzil von den fundamentalistischen Gegnern che. Es liegt jetzt an uns, diese Konzilsbeschlüsse in unseren
Kirchen zu analysieren und zu erklären, um sie zu rezipieren.
konkret vorgeworfen?
Der Vorwurf lautet, dass die Orthodoxie mit diesen Beschlüssen Die Rezeption in den Kirchen ist entscheidend für die Gültiggeschwächt wurde. Aber das Gegenteil ist der Fall, die Orthodo- keit der Beschlüsse. Auch die Russen, die nicht teilgenommen
xie wurde gestärkt. Wobei wir freilich für die orthodoxe Welt haben, werden die Konzilstexte analysieren und viele ihrer
wie für die orthodoxen Christen und Gemeinden in der welt- Änderungswünsche in den Texten wiederinden.
weiten Diaspora unsere Verkündigung auch unter den neuen
Bedingungen der Gegenwart verständlich machen müssen. Wir
Jürgen Henkel, Dr. theol., ist Pfarrer der Evang.können nicht einfach dasselbe wiederholen wie vor 1 000 Jahren.
Luth. Kirche in Bayern und Publizist; Grün-
dungsherausgeber der „Deutsch-Rumänischen
Theologischen Bibliothek/DRThB“; Buchveröffentlichungen: Einführung in Geschichte und
kirchliches Leben der Rumänischen Orthodoxen
Kirche (2007), Halbmond über der Dobrudscha.
Der Islam in Rumänien (2016).
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K AU K A S U S
Nr. 3 2017
RGOW
Ansgar Jödicke, Andrea Friedli, Ketevan Khutsishvili
Das Lomisoba-Fest: Volksreligiosität
und Kirche in Georgien
Das Lomisoba-Fest ist eines von vielen volksreligiösen Ritualen in georgischen Gebirgsregionen, das
nicht nur Pilger, sondern auch vermehrt Touristen anzieht. Nach anfänglicher Ablehnung integriert
die Georgische Orthodoxe Kirche heute solche weder eindeutig paganen noch eindeutig christlichen
Praktiken, da sie als Marker georgisch-nationaler Identität auf vielseitiges Interesse stoßen. – R. Z.
Die bedeutende Rolle von Religion in der georgischen Gesellschaft ist sogar für Touristen augenscheinlich. Spätestens wenn
der Taxifahrer sich bei jeder Kirche, an der er vorbeifährt,
bekreuzigt, werden Gäste sich auch der Ikonen bewusst, die auf
dem Armaturenbrett vieler Taxis befestigt sind. Auch die Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich in den letzten Jahren
vermehrt dem Thema Religion, Gläubigkeit, Kirche, Demokratie
und nationaler Identität in Georgien gewidmet, wobei häuig auf
die einlussreiche Stellung der Georgischen Orthodoxen Kirche
in Politik und Gesellschaft hingewiesen wird. Nur wenige Forschungen beschäftigen sich allerdings mit verbreiteten religiösen
Praktiken und deren Verhältnis zur ofiziellen Kirche. Auch der
Tatsache, dass die Georgische Orthodoxe Kirche keineswegs
eine homogene und unumstrittene Institution ist, wird in vielen
Studien nicht Rechnung getragen.
Wir beschäftigen uns in diesem Artikel an einem Fallbeispiel
mit der Frage, wie religiöse Praktiken, die nicht Teil der georgisch-orthodoxen Normen sind (und ihr sogar widersprechen),
die aber in der georgischen Gesellschaft eine gewisse Popularität
genießen, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und gedeutet werden können. Dabei beziehen wir uns auf das LomisobaFest, das wir im Juni 2015 im Rahmen einer gemeinsamen Feldforschungsreise in Georgien besucht und studiert haben.
Ursprung und Ablauf des Lomisoba-Festes
Das Fest indet in einer kleinen Kommune in der Region Mtiuleti ca. 100 km nordwestlich von Tbilisi statt. Das Dorf Mleta
liegt direkt an der Georgischen Heerstrasse, die von Tbilisi nach
Wladiwostok führt und ist somit mit dem Auto von Tbilisi aus in
etwa eineinhalb Stunden erreichbar. Am Festtag säumen zahlreiche parkende Autos die Durchgangsstraße. Auf den Wiesen um
das Dorf herum haben sich viele Familien und Menschengruppen zum Picknick niedergelassen. Der im engeren Sinn religiöse
Teil des Brauchtums indet einerseits in der Kirche im Tal und
andererseits während einer Pilgerwanderung zu einer kleinen
Kirche, die auf dem Berg Lomisi auf der Passhöhe zwischen dem
Aragvi- und dem Ksani-Tal steht, statt. Die Passhöhe ist zu Fuß
von beiden Tälern aus in ca. zwei bis drei Stunden erreichbar,
allerdings liegt das Ksani-Tal auf der Seite des russisch kontrollierten Südossetien, was den Aufstieg von dieser Seite zurzeit
unmöglich macht. Gemäß Erzählungen wurde die Kirche in
der Zeit der Invasion der Choresmier im 13. Jahrhundert erbaut.
Einige Einheimische bringen die Kirche allerdings bereits mit
der Zeit von König Wachtang Gorgasali, also dem 5. Jahrhundert, in Verbindung. Die verbreitete Legende besagt, dass bei
einem Angriff der Choresmier ein Ochse namens Loma 7 000
gefangene Georgier befreit und auf den Lomisi-Berg geführt
habe. Loma habe die Ikone des Hl. Georg auf den Hörnern
getragen, und als der Ochse auf dem Berg verstorben sei, habe
man an der Stelle eine Kirche gebaut und diese Ikone als erste
in die Kirche gebracht.
Das Fest, das jährlich am 53. Tag nach Ostern begangen
wird, trägt den Namen Lomisoba. Das Sufix -oba wird dabei
an einen Eigennamen angehängt, um den Namen eines Festes
zu Ehren einer Person oder eines Ortes zu bilden: so zum Beispiel Va schaoba zu Ehren des Schriftstellers Vascha-Pschavela
oder eben Lomisoba zu Ehren des Hl. Georg von Lomisi. Die
Ursprünge des Fests sind heute schwierig nachzuvollziehen,
es ist aber anzunehmen, dass historisch Bezüge zu georgischorthodoxen Traditionen und Feiertagen bestehen.
Lomisoba ist heute das Fest einer kleinen Kommune, die den
Hl. Georg von Lomisi als Lokalheiligen verehrt. In der Kommune versteht sich die Burduli-Familie als rechtmäßige geistliche
Führung der Gemeinschaft, und es sind nur Mitglieder dieser
Familie, die die Funktion von sog. dekanosi einnehmen können.
Das Wort bedeutet eigentlich Hohepriester, wird aber als Begriff
im georgischen Hochland für all diejenigen gebraucht, die die
Rolle eines Ritualleiters und religiösen Respektperson innehaben. Gemäß lokalen Narrativen waren es immer die Burduli, aus
denen in der Gemeinde die dekanosi rekrutiert wurden, da sie es
waren, die die Region Mtiuleti von der Hegemonie der Dvalen
befreit hatten.
Die Lomisoba-Feier beginnt jeweils am Nachmittag vor dem
Fest, wenn der lokale dekanosi die Ikone des Hl. Georg aus der
Kirche im Dorf zusammen mit einer kirchlichen Flagge unter
rituellen Gesängen hinauf in die Bergkirche bringt. Die Ikone
und die Flagge werden am zweiten Tag vor Sonnenaufgang wieder zurück in die Kirche in Mleta gebracht. Viele Pilger steigen
im Verlauf des Fests zur Kirche auf der Passhöhe. Im Innern der
Kirche gibt es eine schwere Eisenkette, die von einigen Pilgern
um die Schulter gelegt wird, bevor sie dreimal den Kirchenraum
umschreiten. Der Legende nach wurde diese Kette von einer
Frau aus der Dadiani-Königsfamilie der Samegrelo-Region zur
Kirche gebracht. Sie soll die Kette allein und barfuß den Berg
hochgetragen haben, als Gabe für den Hl. Georg. Eine andere
Legende besagt, dass die Kette von einem georgischen Mann
gebracht wurde, der vom Hl. Georg auf wundersame Weise
aus der Gefangenschaft befreit wurde. Es gibt in Georgien
auch an anderen Orten solche Bräuche, in denen Ketten oder
Joche getragen werden, um die Hilfe Gottes oder eines Heiligen
anzurufen.
Was die Lomisoba-Feier jedoch für georgisch-orthodoxe
Verhältnisse außergewöhnlich macht, ist das Opferritual, das
von den lokalen geistlichen Führern durchgeführt wird. Manche Pilger bringen ein Opfertier (in der Regel einen Schafsbock,
weibliche Tiere dürfen nicht geopfert werden) mit, das vom dekanosi gesegnet wird, bevor ihm der Hals durchtrennt wird. Einige
Opfertiere werden auch auf den Berg geführt, wo sie drei Mal
Nr. 3 2017
Lomisoba-Fest bei der Kirche des Hl. Georg auf dem Berg Lomisi in
Georgien (2011).
Foto: Aleksey Muhranoff (Wikimedia Commons)
die Lomisi-Kirche umrunden, bevor sie oben auf dem Berg oder
auch unten im Tal geopfert werden. In der Regel werden der
Kopf und die rechte Schulter des Tiers am Opferplatz gelassen.
Ein Teil des Fleischs geht an die Burduli-Familie, ein weiterer
Teil an Bedürftige und einen Teil behält die Person für sich und
seine Familie. Häuig wird das Fleisch gerade vor Ort in einem
Topf auf dem Feuer gekocht (es darf nicht gebraten werden) und
verspeist. Einige Pilger entscheiden sich, ihr Opfertier nicht zu
schlachten, sondern freizulassen.
Das Gesamt-Arrangement der Pilgerfahrt kann auch verkürzt
durchgeführt werden. So gibt es die Möglichkeit, das Ritual im
Tal zu begehen, ohne den beschwerlichen Aufstieg zur LomisiKirche auf sich zu nehmen. Auch indet man an der Kirche unten
im Tal eine Kette, die an der Außenmauer befestigt ist, so dass
auch dieser Teil des Rituals ohne Aufstieg auf die Passhöhe vorgenommen werden kann.
Kontext und Besucherkreis des Lomisoba-Festes
Ohne auf die religiös-historischen Hintergründe vertieft einzugehen, soll hier erwähnt werden, dass derartige Feste in gebirgigen Regionen Georgiens eine lange Geschichte haben und die
Praktiken auch während des 20. Jahrhunderts trotz Kampagnen
gegen den „schädlichen Volksglauben“ von sog. Schreinpriestern
durchgeführt wurden. Diese Rituale waren jeweils stark in den
jeweiligen lokalreligiösen Kontext eingebunden und wurden nur
im engen Kreis der betreffenden Kommunen begangen. Verschiedene ethnologische Forschungen zeigen, dass die Feste in den
Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion einen Wandel erfahren haben und von lokalen politischen und kulturellen Akteuren
angeeignet und umgedeutet wurden.
Ein ausführlich dokumentiertes Beispiel ist das Fest Lascharoba in Pschavi-Chevsureti, das vom kanadischen Ethnologen
Kevin Tuite in den Jahren 1997, 2000 und 2001 besucht und
studiert wurde. Lascharoba ist das zentrale Fest des Disktrikts
Pschavi und hat einen kommunenübergreifenden Charakter. Mit
der Sowjetisierung verlor das Fest an Bedeutung, umso mehr, als
auch der angesehene und charismatische Schreinpriester verstarb.
Erst 1990 fand sich ein Nachfolger, ein Zugeheirateter aus dem
Unterland, der allerdings nicht mehr dasselbe Ansehen wie sein
Vorgänger genoss. Tuite beobachtete eine zunehmende Heterogenität der Teilnehmenden am Lascharoba Fest: neben den
Bewohnern der lokalen Kommunen kamen vermehrt auch Leute
aus dem Unterland, einige auch in der traditionellen georgischen
männlichen Tracht „Tschocha“, darunter Mitglieder georgischer
traditioneller Kampfkunstgruppen auf der Suche nach authentischen georgischen Kampfformen in abgelegenen Bergregionen.
RGOW
K AU K A S U S
Einige der von Tuite beschriebenen Merkmale des LascharobaFestes dürften auch für das Lomisoba-Fest gelten.
Ein besonderes Merkmal des Lomisoba-Festes ist die enorme
Popularität, die es in den letzten Jahren gewonnen hat. Ursprünglich wurde das Fest von der lokalen Bevölkerung gefeiert. Es
wurde in erster Linie von Personen besucht, die zum Hl. Georg
von Lomisi beten und ihn um etwas bitten möchten, sei es um
die Heilung von Krankheiten, die Erlösung von Kinderlosigkeit oder um die Lösung von Problemen in der Familie, bei der
Arbeit usw. Das Fest hat anscheinend besonders an Popularität
gewonnen, nachdem sich in den 1990er Jahren der Bericht einer
Pilgerin verbreitete, die nach dem Besuch des Lomisoba-Festes
endlich schwanger wurde. Für viele der Besucherinnen und
Besucher ist das Lomisoba Fest aber auch ein Familienanlass.
Sie kommen gemeinsam zum Fest, schlagen auf einer Wiese ihr
Lager auf, wandern allenfalls auf den Berg, opfern den Schafsbock und sitzen dann bei einem geselligen Mahl mit Wein und
Gesang beisammen.
In den vergangenen Jahren hat das Fest den Charakter einer
Massenveranstaltung angenommen. So gibt es einen für die Opferung vorgesehenen Platz unweit der Dorfkirche, der mit Gestellen zur Häutung und Ausweidung der Tiere sowie mit einem
großen Lastwagen zum Abtransport der Tierköpfe ausgestattet
ist. Die Regierung stellt Sanitäter und Aufsichtspersonen zur
Verfügung, um Unfälle zu vermeiden und Ordnung zu garantieren. Um die Kirche herum gibt es zudem viele Marktstände, an
denen neben Ikonen und Kerzen auch Lebensmittel und weitere
Waren wie Spielsachen angeboten werden. Den Kennzeichen der
parkenden Autos lässt sich entnehmen, dass zahlreiche Besucherinnen und Besucher auch aus der Hauptstadt Tbilisi und nicht
nur aus der näheren Umgebung stammen. Diese Entwicklung
spaltet die Bevölkerung, die am Lomisoba-Fest teilnimmt: viele
Einheimische stoßen sich an den „Touristen“, die das Fest als
Anlass zum Campingauslug mit Picknick nutzen.
Außerdem inden sich Vertreter der Georgischen Orthodoxen Kirche unter den Besuchern sowohl unten im Tal wie auch
oben auf dem Berg. Die Kirche in Mleta nahm 2006 ihren Dienst
wieder auf, nachdem sich die Dorfbewohner mit der Bitte an den
Patriarchen gewandt hatten, die Kirche zu eröffnen.
Immer häuiger wird das Fest aber auch von Gruppen von
Jugendlichen frequentiert, die sich im Freundeskreis treffen und
zum Beispiel gemeinsam georgische Volkslieder singen und tanzen. Die Verbindung des Lomisoba-Besuchs mit georgischen
Folklore-Elementen wurde auch von Tuite beim Lascharoba-Fest
festgestellt: vermehrt gibt es Pilger in traditioneller georgischer
Kleidung oder solche, die während der Pilgerfahrt Volkslieder
singen und traditionelle Tänze tanzen.
Lomisoba und die Georgische Orthodoxe Kirche
Das Lomisoba-Fest und seine Popularität müssen im Kontext
des religiösen Umfelds Georgiens verstanden werden. Das religiöse Feld Georgiens ist maßgeblich geprägt durch die Georgische Orthodoxe Kirche, der die Mehrheit der georgischen
Bevölkerung angehört, und die eine lange Geschichte aufweist.
Vertreter der Kirche selbst verweisen immer wieder auf diese
historische Tradition, um die wichtige gesellschaftliche Rolle der
Kirche in Georgien und ihren Beitrag zur nationalen Identität
zu legitimieren (s. RGOW 6–7/2015, S. 16–19). Gerne wird dabei
auch auf quantitative Umfragen verwiesen, wonach in jährlich
wiederkehrenden repräsentativen Befragungen das hohe Vertrauen dokumentiert wurde, das die Kirche in der Bevölkerung
genießt. Zwar ist dieses Vertrauen in den letzten Jahren etwas
zurückgegangen, aber 2015 antworteten auf die Frage, wie sehr
sie ihrer eigenen religiösen Institution vertrauen, immerhin noch
46 Prozent mit „volles Vertrauen“ und 34 Prozent mit „teilweises
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RGOW
Kirche im Dorf Mleta an der
Georgischen Heerstraße, wo
ein Teil des Lomisoba-Rituals
stattfindet (2015).
Pilger mit Opfertier beim
Aufstieg auf die Passhöhe und
im Hintergrund die Kirche des Hl.
Georg von Lomisi (2015).
Fotos: Ansgar Jödicke
Vertrauen“. Damit genießt die Kirche immer noch das höchste
Vertrauen im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen und politischen Institutionen.
Das hohe Vertrauen der Bevölkerung in die Kirche wird
jedoch auch immer wieder kritisch gesehen. Kritiker sehen im
großen Einluss der Kirche auf die Bevölkerung eine Gefahr für
die Demokratisierung, Modernisierung und Westorientierung
Georgiens. Diese Kritik verrät insbesondere auch etwas über die
Religiosität in Georgien. Das hohe Vertrauen, das Georgierinnen
und Georgier in die Georgische Orthodoxe Kirche setzen, ist
nicht unbedingt mit einer hohen individuellen und kollektiven
Religiosität gleichzusetzen. Vielmehr weist die Bevölkerung
Georgiens dieselben Brüche innerhalb des religiösen Feldes
auf, wie sie auch in anderen Staaten zu inden sind. Die in der
Öffentlichkeit ausgetragene Kontroverse zwischen konservativen Kirchenfürsten und säkularen Intellektuellen stellt nur die
Oberläche der fragmentierten religiösen Landschaft dar. Die
Vorstellung einer homogenen Kirche, die sich geschlossen einer
politischen Richtung verschrieben hat und die georgische Bevölkerung vereint, ist insofern lediglich eine Konstruktion – sei es
aus afirmativer, kirchlicher Perspektive oder aus säkular-politischer. Eine differenziertere Betrachtung der Konstellationen
georgisch-orthodoxer Religiosität ist wissenschaftlich erst in den
Anfängen. Die Beschäftigung mit dem Lomisoba-Fest kann in
diesem Zusammenhang hilfreich sein.
Die liturgischen und dogmatischen Eigenheiten der Georgischen Orthodoxen Kirche entwickelten sich in enger Verbindung
mit der byzantinischen Kirche. Sowohl in ihrem Kirchenverständnis als auch in ihrer Liturgie und lebenspraktischen Alltagsreligiosität fügt sie sich damit in die byzantinisch-orthodoxe
Kirchenfamilie ein. Die Autokephalie entwickelte sich bereits
im 5. Jahrhundert (mit einer Bestätigung aus Konstantinopel im
10. Jahrhundert) und ist nach einer längeren Unterbrechung währen der russischen Dominanz im 19. und 20. Jahrhundert heute
wieder intakt. Die Selbstpositionierung als Nationalkirche ist
wesentlich von dieser weit zurückreichenden Autonomie geprägt.
Für das Verständnis des Lomisoba-Festes sind vor allem
die Heiligenverehrung sowie das Prozessions- und Pilgerwesen bedeutsam. Heilige genießen in der Orthodoxen Kirche eine traditionell hohe Verehrung, die sich in zahlreichen
Bräuchen der Alltagsreligiosität bis hin zu Riten der ofiziellen
Religiosität manifestiert. Die Verehrung von lokalen Heiligen und insbesondere der Figur des Hl. Georg wie hier beim
Lomisoba-Fest wird von der Georgischen Orthodoxen Kirche
akzeptiert und entspricht der Praxis in ganz Georgien. Prozessionen und Pilgerfahrten sind ebenfalls üblich. So kann die
Wanderung auf den Berg als eine klassische Pilgerwanderung
angesehen werden.
Die vielfältigen Bezüge zu einem typisch georgisch-orthodoxen Brauchtum können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen,
dass das Lomisoba-Fest auch einige Merkmale aufweist, die für
die orthodoxe Frömmigkeit ungewöhnlich oder fremd sind. Zum
einen ist dies das Schlachten eines Opfertieres. Es ist deshalb
gut nachvollziehbar, dass das Lomisoba-Fest und insbesondere
sein starker Popularitätszuwachs in den letzten Jahren eine heftige Diskussion innerhalb der Kirche und sogar in der breiteren
Öffentlichkeit ausgelöst hat. Während säkularisierte Teile der
städtischen Gesellschaft und politische Eliten das Fest als Aberglaube disqualiizieren und dabei vor allem auf das Argument
des Tierschutzes zurückgreifen, hat die Popularität des Festes
jedoch gerade auch in der städtischen Bevölkerung zugenommen.
Innerhalb der Kirche ist das Fest zunächst auf starke Ablehnung gestoßen. Erstmals im Jahr 2004 nahm auch KatholikosPatriarch Ilia II. in einer Predigt ablehnend Stellung. Es folgten mehrere Erwähnungen in Predigten und eine Epistel. Die
Argumente in diesen Stellungnahmen waren verschiedenartig,
sie stellten jedoch vor allem die Legitimität des Lomisoba-Festes
in Frage und charakterisierten die Feier als etwas, das außerhalb
der Kirche stattinde.
Erst das Jahr 2015 brachte eine Wende. Der Patriarch und in
der Folge auch andere ofizielle Kirchenvertreter agierten vorsichtiger und zurückhaltender. Das Fest hätte etwas Positives
an sich, und es gebe durchaus Elemente, die es zu erhalten gälte.
Nichtsdestotrotz gibt es weiterhin Vertreter der Georgischen
Orthodoxen Kirche, die die Positionierung des Patriarchen
nicht als Richtlinie sehen. So zum Beispiel ein junger und populärer Priester in Mzcheta, dem wichtigsten religiösen Zentrum
Georgiens, der gerade auch über soziale Medien wie Facebook
versucht, die normierende Instanz der Kirche zu stärken und
Abweichungen zu sanktionieren. In diesem Sinn kann der Streit
innerhalb der Kirche um dieses Fest auch als ein Streit um Autorität im religiösen Feld gedeutet werden.
Nr. 3 2017
Wissenschaftliche Interpretationen des Festes
Das Lomisoba-Fest selbst kann bislang keine wissenschaftliche
Interpretationsgeschichte vorweisen. Allerdings haben andere
Fallbeispiele aus dem Brauchtum im georgischen Grenzland zu
Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien und Ossetien die Ethnographie schon seit längerem beschäftigt. Diese Ergebnisse lassen
sich zwar nicht einfach auf Lomisoba übertragen, aber es können
doch grundlegende Zugänge erkannt werden. Mit etwas Bereitschaft zur Vereinfachung lassen sich drei Interpretationsansätze
unterscheiden. Die Ethnographie der Sowjetzeit betonte vor allen
Dingen das pagane Element im Rahmen einer Evolutionstheorie
der Religion. Die teilweise archaisch anmutenden Elemente des
Brauchtums wurden als eine vorchristliche Realität gedeutet, die
in den abgeschiedenen Tälern des Kaukasus überlebt habe. In den
1980er Jahren änderte sich die Religionspolitik der Sowjetunion
und damit auch die Möglichkeit, Religion zu erforschen. In dieser Zeit begann die Entwicklung einer Ethnographie, die auch
noch in der Frühzeit des unabhängigen Georgien dominierte. Ein
Beispiel für diesen Zugang zum Brauchtum in Nordost-Georgien
ist beispielsweise die 1996 auf Georgisch erschienene Monographie von Surab Kiknadse über georgische Mythologie. Kiknadse
vertrat gegenüber der früheren sowjetischen Ethnographie eine
entgegengesetzte Position, indem er von einer Paganisierung des
Christentums ausging. In dieser Sichtweise spiegelt der Synkretismus im Brauchtum der Bergtäler einen Kontrollverlust des
kirchlichen Zentrums in Mzcheta wider.
In der heutigen wissenschaftlichen Diskussion, wie sie zum
Beispiel von dem bereits erwähnten, kanadischen Anthropologen
Kevin Tuite geführt wird, steht die Einsicht im Mittelpunkt, dass
keine der beiden linearen Erklärungsmodelle allein die Vielfalt
der Erscheinungen erklären können. Sowohl die Persistenz alter
Traditionen als auch die Kreation neuer unorthodoxer Bräuche
sind denkbar. Da es kaum empirische Daten gibt, sind die Möglichkeiten begrenzt, die eine oder die andere Theorie zu erhärten.
So vertritt die Mehrzahl der Forschenden im Kaukasus derzeit
eine pluralistische Theorie, die davon ausgeht, dass sich die Entstehungsgeschichte der Rituale im Einzelnen nicht mehr klären
lässt und partiell beide oben geschilderten Erklärungsmodelle
wirksam gewesen sind. Neben der Ursprungsfrage lassen sich
jedoch auch modernere sozialwissenschaftliche Fragen stellen,
die mit der Identitätspolitik und der gegenwärtigen Bedeutung
des Festes zu tun haben.
Der Rückgriff auf pagane Traditionen ist kein neues und
auch kein speziisch postsozialistisches Phänomen. Häuig erleben solche Phänomene im Zusammenhang mit nationalistischen
Bestrebungen einen Aufschwung, wie das auch die neopaganistische Symbolik in nationalsozialistischen Narrativen illustriert.
In postsozialistischen Gesellschaften kamen besonders in den
1990er Jahren in den Reihen ethnonationaler Eliten neopaganistische Tendenzen vermehrt vor: Versuche einer Wiederbelebung
von (ethnischer) Volksreligion kann man in christlichen (z. B. die
neopaganistische Bewegung Dievturība in Lettland) wie auch
muslimischen (z. B. den Tengrianismus in Tatarstan) postsozialistischen Gesellschaften beobachten (s. RGOW 2/2016). Dabei
handelt es sich in der Regel um den Versuch einer urbanisierten
und säkularisierten nationalen Elite, paganistische Traditionen
zwecks Stiftung einer „authentischen“ Volksreligion zu mobilisieren, weil die großen Weltreligionen mit ihren universalistischen
Ausrichtungen sich nicht zur Förderung einer ethnokulturellen
Identitätspolitik anbieten. In diesem Sinne tragen die Rückgriffe
auf ein paganes Erbe unter der nicht-russischen Bevölkerung in
Russland in der Regel ein anti-koloniales Statement gegen die
russische Orthodoxie als „Religion der Ausbeuter“ mit sich.
Ein Zusammenhang mit solchen paganistischen Bewegungen
konnte jedoch bisher am Lomisoba-Fest nicht beobachtet werden.
RGOW
K AU K A S U S
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind weder dezidiert antikirchlich noch erkennbar an eine speziische Ideologie gebunden.
Die Tatsache aber, dass vermehrt Leute aus dem Unterland und
auch aus größeren Städten solche Feste besuchen, und dass dabei
auf verschiedene Weise das Georgisch-Sein inszeniert wird (z. B.
das Abhalten von traditionellen Festmählern (Supra), das Tragen
von ethnischer Kleidung, das Singen von georgischen Volksliedern) deutet darauf hin, dass Feste wie Lomisoba von urbanen
und Unterland-Georgiern in einen nationalen Kontext gestellt
werden, was jedoch auch die Kirche einschließt.
Mit ihrer Kritik an den Bräuchen versuchte die Kirche
zunächst ihre Autorität im Feld zwiespältigen Brauchtums auszubauen. Als dies misslang und die Popularität des Festes stetig
anstieg, schwenkte die Kirche um und inkludierte den ohnehin
kirchennahen Brauch. Die Ambivalenz des „Traditionellen“, das
sich weder eindeutig als vorchristlich noch eindeutig als christlich
einstufen lässt, verschmolz in der georgisch-nationalen Tradition
zu einem Marker gegenwärtiger Identität. In diesem Sinne kann
der Bestand solcher Feste in Georgien einerseits als Kontinuität von Volksreligiosität und andererseits aber auch als Teil einer
Identitätspolitik mittels „Erindung von Tradition“ durch politische und kulturelle Akteure verstanden werden. Zudem dürfte
sich das Fest in den Kontext einer modernen Erlebniskultur einordnen, die auch vor religiösen Bezügen nicht zurückscheut, ohne
dass damit eine besonders intensive oder traditionelle Religiosität
impliziert sein muss.
Literatur:
Jödicke, Ansgar: General Trends in the Interaction of Religion
and Politics as Applied to the South Caucasus: In: Agadjanian,
Alexander; Jödicke, Ansgar; van der Zweerde, Evert (eds.): Religion, Democracy and Nation in the South Caucasus. New York
2015, S. 7–21; Khutsishvili, Ketevan: Popular Religiosity or Hybridic Christianity: the Case of Lomisoba Fest. In: Proceedings
of the Seventh International Symposium on Kartvelian Studies.
Tbilisi 2016; Qenqadze, Vitali: Lomisis mtavarmotsame tsmida
Giorgi (Lomisi St. George the Martyr). Tbilisi 2008; Shnirelman,
Victor: „Christians! Go home“: A Revival of Neo-Paganism between the Baltic Sea and Transcaucasia (An Overview). In: Journal
of Contemporary Religion 17, 2 (2002), S. 197–210; Tuite, Kevin:
The Political Symbolism of the Mid-Summer Festival in Pshavi
(Northeast Georgian Highlands), Then and Now. In: Reineck,
Natia; Rieger, Ute (Hg.): Kaukasiologie heute – Eine Festschrift
zum 70. Geburtstag von Heinz Fähnrich. Greiz 2016.
Dieser Artikel ist das Resultat eines gemeinsamen Feldforschungsprojekts zwischen der Universität Fribourg und der
Ivane Javakhishvili Staatlichen Universität Tbilisi. Das Projekt
wurde unterstützt durch ein Marie Curie International Research
Staff Exchange Scheme Fellowship innerhalb des 7th European Community Framework Programme (grant no: PIRSESGA-2012-318961). Das Material, das diesem Artikel zu Grunde
liegt, stammt aus Beobachtungen und Interviews, die vom Autorenteam zusammen mit Studierenden der Ivane Javakhishili
Staatlichen Universität Tbilisi und der Universität Fribourg
während des Lomisoba Fests am 3. Juni 2015 durchgeführt wurden. Wir bedanken uns bei den Studierenden für ihre Mitarbeit.
Ansgar Jödicke, Dr., Lehr- und Forschungsrat, und
Andrea Friedli, Dr. des., Doktorassistentin am
Departement für Sozialwissenschaften der Universität Fribourg.
Ketevan Khutsishvili, Dr. Professorin am Lehrstuhl
für Ethnologie der Ivane Javakhishvili Staatlichen
Universität Tbilisi, Georgien.
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RGOW
Irene Suchy
Spiritualität und Patriotismus –
der Klang des Glaubens
Musik ist ein tragendes Element der nationalen Identität der Armenier und Armenierinnen. Geistliche der
Armenischen Apostolischen Kirche spielten eine wichtige Rolle bei der Formierung einer „Nationalmusik“.
Manche von ihnen sind Überlebende des Genozids und bieten zusätzliches Identifikationspotenzial,
indem sie das prägendste Ereignis der armenischen Geschichte miterlebt haben. – N. Z.
Als im Sommer 2015 die Menschen in Jerewan auf die Straße gingen, um gegen eine Strompreis-Erhöhung zu kämpfen, las man auf
den handgemalten Plakaten mit aufgemalten Pilzen: „Wenn ihr uns
gießt, wachsen wir!“ Vor den Barrikaden aus Abfalleimern sangen
die Demonstrierenden ein Lied vom Verlust der Heimat, die einst
weit über die Grenzen der heutigen Republik Armenien hinaus das
einstige Großarmenien zwischen Byzanz und Persien umfasste. Sie
sangen, wo es doch um die Rücknahme der Strompreiserhöhung
ging, vom verlorenen Land, von der einstigen Größe und Bedeutung
Armeniens, von der Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit.
Präsente Vergangenheit
Die Armenier waren selten die Herren in ihrem Land, im 20. Jahrhundert gerade einmal drei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und
dann erst seit 1991 wieder. Sehnsuchtsort der Menschen in Armenien ist der Ararat, jenseits der Grenze, quasi unerreichbar, schon in
der Türkei gelegen. Wenn die Sonne aufgeht, erstrahlt der Schneebedeckte Berg jenseits der Grenze. All jene, die in Armenien bleiben – das Land verliert alljährlich 80 000 Einwohner – schauen auf
den Berg, der, wie sie immer betonen, bloß von der armenischen
Seite so schön ist. Der Blick auf den Ararat ist ein Schauen in die
Unerreichbarkeit. Der Blick in die Ferne ist auch einer der Aussichtslosigkeit, es ist ein Blick aus der Enge des klein gewordenen
Landes in die Größe und Internationalität der Vergangenheit. In
den Augen der Armenier und Armenierinnen ist die Hoffnungslosigkeit eingeschrieben: die Arbeitslosigkeit ist hoch, fast 20 Prozent
bei den Jungen, fast 40 Prozent in der älteren Bevölkerung.
Ein Gast ist willkommen, wenn er in die mythische Geschichte
eintaucht, wenn er um sie weiß und von ihr erzählen kann, wie
es Franz Werfel in seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“
tat. Wir Gäste aus Österreich werden ungeladen eingelassen und
bedient. Wir sind keine Fremden, da wir aus dem Lande Franz
Werfels kommen, jener Werfel, der dem verletzten Volk eine Stimmegegeben hat. In „Die 40 Tage des Musa Dagh“ hat Werfel jenes
tiefe und bis heute ungesühnte Leid des armenischen Volkes in die
Literatur eingeschrieben, lange bevor es ein Thema politischer und
historischer Beschäftigung war – den Genozid am armenischen
Volk. 1933 veröffentlicht, hat Werfel in Lesungen die Geschichte schon vorher bekannt gemacht, und der damalige armenischapostolische Patriarch von Jerusalem Tourian hat ihm 1929 zum
Dank ein wunderbar verziertes Kreuz mit einer Reliquie vom
Kreuz Christi geschenkt. Anlässlich des 100-Jahr-Gedenken zum
Genozid (s. RGOW 6–7/2015, S. 8–11), in dem viele Länder der Welt
parlamentarische Erklärungen zur Anerkennung des Genozids
abgaben, lag im Wiener Stephansdom auch das Manuskript von
Werfels Werk anbetungswürdig auf dem Altar. Am Vorabend der
Gedenkfeiern wurden in Jerewan in einer feierlichen Zeremonie
die 1,5 Millionen Opfer des Genozids heiliggesprochen. Es war die
erste Heiligsprechung in der Armenischen Apostolischen Kirche
Ein tausendjähriger Wandvorhang aus Indien, den Pilger der armenischen
Diaspora nach Jerusalem gebracht haben.
Foto: Irene Suchy
seit dem 18. Jahrhundert, eine besondere, vorbildlose Antwort auf
ein Vorbild-loses Verbrechen, der Beginn einer neuen Zeit. Der Völkermord war Weg-weisend, Vorbild-haft für die NS-Herrschaft,
kein Wunder, dass Werfels Buch schon 1934 von den Nazis verboten
wurde. Und es war – so visionär wie poetisch – Rettungsanker für
die damals verfolgte jüdische Bevölkerung.
Werfels Roman und die Musik
Der erwähnte Patriarch Tourian war sowohl Dichter als auch
Kleriker und engagierte sich in Bildungsreformen und Schulgründungen – insbesondere nach 1915, als er unter den Überlebenden
des Völkermords Lehrer anwarb und Schulen begründete. 20 000
Menschen lebten damals im armenischen Viertel, seither sind es
kontinuierlich weniger geworden. 2017 feierten am 18. Januar in
Bethlehem nur mehr ein paar Hundert Armenier und Armenierinnen Weihnachten in Israel: sie sangen die mit Neumen notierten
Hymnen, notiert in jenen alten Prachtbänden, die in der Bibliothek
des armenischen Viertels von einem Mönch gehütet, katalogisiert
und digitalisiert werden. Ein 1 000 Jahre alter Vorhang aus Indien
vor einer der Wände ist ein Geschenk der pilgernden Diaspora, die
sich mit ihren Gaben in die armenische Gemeinde in Jerusalem
einschreibt.
Weil sich die Geschichte der Armenier und Armenierinnen nicht
ohne Musik erzählen lässt, handelt auch Werfels Roman oft von
Musik: Bevor jene tausend armenischen Familien auf die Höhe des
Musa Dagh an ihren Rettungsort gelangen, begraben sie die Musik.
Sie senken die Glocken der Kirche ab und beerdigen sie. Es ist eine
stumme Prozession mit einem „gespenstischen Vortänzer“, ein
Gleichnis für den Auszug der Kinder Israels in die Wüste. Werfel
komponiert die Melodien in seinem Armenier-Roman, er referiert
nicht, er schafft: Da ist die Melodie des Gebetrufers, so klagendlockend, und so verwurzelt im christlichen Glauben, dass sie „jeden
Moslem erzittern lässt“. Da sind die Gesänge der Klageweiber, von
Nr. 3 2017
K AU K A S U S
RGOW
Foto: Wikimedia Commons
Werfel erfunden als „älteste Lieder der Menschheit“, als „langes
gleichlautendes Stöhnen“, als „Kette heulender Koloraturen“, als
„ödes Nicken derselben zwei Töne, endlos schrill und doch gesetzmäßig“. Der Gesang der Klageweiber und der anderen Unterlegenen
ist Werfel eine Waffe zur Selbstverteidigung gegenüber den Anderen. Dem Wort bleibt nur mehr das Zwischenspiel in den Gesängen.
Musik als Element nationaler Identität
Die Musik Armeniens prägt die Nation: sie vereint Gläubigkeit mit
Patriotismus, Komposition mit Rekonstruktion. Sayat Nova (1712–
1795) und Komitas Vardapet (1869–1935) begründeten in ihren
Funktionen als Kirchenmänner und Musikethnologen eine armenische Musiktradition, die für die wenigen Menschen in der kleinen
Republik und die vielen in der Diaspora bis heute den Beginn des
musikalischen Denkens bedeutet. Mit Komitas, dem GenozidÜberlebenden, gewinnt die Musik den Wert des Überlebensmittels, mit dem Komponisten Aram Chatschaturjan (1903–1978) die
Zuschreibung des nationalen Aushängeschildes. Für sein Ballett
Gayane, das er während des Zweiten Weltkriegs schrieb, wählte
Chatschaturjan eine Kolchosearbeiterin als Hauptperson, die ihre
patriotischen über ihre persönlichen Gefühle stellt. Ihr Name ist
dem jener armenischen Nonne entliehen, die als Märtyrerin im
7. Jahrhundert starb. Das nationale Erbe Armeniens lässt sich ohne
das Leid nicht singen.
Es ist die Sehnsucht, die die Menschen in Armenien nährt. Die
Sehnsucht wiegt sie in Gewissheit, dass es die schönere Seite des
Ararat ist, die ihnen zugewandt ist. Die Sehnsucht überschreitet in
ihrer Liebe zum Vermissten die verschlossenen Grenzen des Landes.
Sie greift weit, weiter als das kleine Land reicht, in die Vielstimmigkeit und Internationalität, die in der Musik anklingt. Sie ist dem
Glauben verwandt und führt geradewegs zur Musik.
Glaube und Reinheit und das einigende Schicksal des Völkermords – das sind die Parameter der religiösen und nationalen
Verehrung des Komitas. Komitas steht für Armenien, sagt Tiran
Petrosyan, Archimandrit und Patriarchaldelegat der Armenischen
Apostolischen Kirche für Mitteleuropa und Skandinavien: Wer
über die armenische Musik spreche, ja, wer über Armenien spreche,
meine Komitas. Komitas, 1869 im Osmanischen Reich geboren und
1935 in Paris gestorben, eiferte den europäischen Vorbildern der
Nationalmusiken nach und kreierte eine nationale Musik, ähnlich
Béla Bartók, indem er die Melodien des Volkes und der Liturgie
sammelte. Mit seinem Leidensweg als Opfer des Völkermords identiizieren sich die Menschen in Armenien. Und auch wenn Komitas,
der tief verwirrt als Überlebender des Völkermords in Frankreich
starb, von Claude Debussy hochgeschätzt wurde, ist er in Europa
kaum bekannt.
Der selige Komitas, der seinen Namen dem eines Mönchs aus
dem 7. Jahrhundert nachempfand und auf die mittelalterliche
Notenschrift der Neumen zurückgriff, schuf die Melodien einer
„göttlichen Liturgie“. Die armenische Musikwissenschaft vermutet
auch in den türkischen Melodien, die Komitas’ Zeitgenosse Bartók
sammelte, armenisches Liedgut und beansprucht es für ihren nationalen Schatz. Komitas ist der Nationalkomponist, auf den sich alle
armenischen Komponisten von Chatschaturjan – der seine letzte
Ruhestätte im Komitas-Pantheon fand – bis zu unseren Zeitgenossen wie Tigran Mansurian berufen. „Überall ist der Tod gleich,
jeder Mensch stirbt einmal, aber glücklich ist, wer geweiht ist der
Unabhängigkeit seines Volkes“, heißt es in der Hymne der armenischen Nation. Komitas, der Studien im georgischen Tiblisi und
in Berlin absolvierte, war international gut vernetzt. Seine Lieder
und Gedichte besingen die Schönheiten seines Landes. Posthum
wurde er auch zu einer in der Kirche verehrten Gestalt, zu Lebzeiten kam er in Konlikt mit den kirchlichen Autoritäten. Das
staatliche Konservatorium gab sich seinen Namen. Komitas steht
für die Sehnsucht nach großer Vergangenheit, nach Glaube und
27
Bronzestatue von Komitas Vardapet in einem Park in Jerewan.
Reinheit, er ist eine legendäre Gestalt, die das Verschollene und
Verschwundene gefunden, bewahrt und zur Tradition erhoben hat –
und die Sehnsucht kann wachsen auch an all dem, das im Genozid
1915 aus Komitas’ Melodienschatz vernichtet wurde, die Sehnsucht
ist genährt vom Abwesenden.
Anerkennung und einen besonderen Platz in der Kirchengeschichte erhielt auch der Hymnen-Dichter Grigor Naregatsi, der im
10. Jahrhundert lebte; er wurde von Papst Franziskus zum Doktor
der Universalkirchen ernannt. Naregatsis Hymnen werden heute
in der Liturgie gesungen, er starb 1003 nach jener strahlenden
100-jährigen Periode des Reiches der Bagratiden. Einer der größten
Boulevards in Jerewan ist nach dem Musiker, Dichter und MozartZeitgenossen Sayat Nova benannt. Sayat Nova, geboren 1712 in
Tiblisi und gestorben 1795 im nordarmenischen Dorf Haghpat, hat
mehrere tausend Lieder geschrieben oder überliefert, lediglich etwa
200 sind erhalten. Die Lieder sind in armenischer, georgischer und
aserbeidschanischer Sprache, Sayat Nova sprach auch Arabisch und
Persisch. 1968 war es der in Armenien hochverehrte Filmemacher
Sergei Paradschanow, dessen Haus in Jerewan heute eine Wunderkammer eines Museums ist, der mit „Die Farbe des Granatapfels“
eine ilmische Biographie über Sayat Nova drehte.
***
Paradschanow, vielfach wegen seiner Homosexualität verfolgt und
zu Haftsprachen verurteilt, wird heute als Ikone des armenischen
Filmes verehrt. Die Kunst überholt manchmal die Politik: Der in die
Vergangenheit gerichtete Blick verstellt die Aussicht auf die brennenden Probleme der Gegenwart: die strenge Haltung der Armenischen
Apostolischen Kirche gegenüber Frauen und Abtreibung, oder die
Tatsache des Femizids, der geschlechtsbezogenen Abtreibung von
Mädchen, wofür Armenien bereits vom Europarat gerügt wurde.
Es sind – einmal mehr – Künstlerinnen und Künstler, die das Recht
auf Wahr-Nehmung solcher Probleme umsetzen. Sie vereinigen sich
über die Grenzen der verfeindeten Länder Armenien, Türkei und
Aserbaidschan hinweg. Die Lieder vom alten Leid werden zaghaft
neu gesungen: Armenien, die Menschen, die sich diesem Volke
zuge-hörig fühlen, können Wegweisende sein. „Menschheitslehrer“
wurde Franz Werfel für seine Literatur vom befreunden Dirigenten
Bruno Walter genannt – ob das Wort zu pompös ist?
Irene Suchy, Dr. phil., M. A., Musikredakteurin bei
Radio Ö1, Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, Ausstellungsmacherin, Moderatorin,
Dramaturgin, Librettistin und Literatin. Sie hat in
mehreren Reisen Armenien und das armenische
Jerusalem besucht; www.irenesuchy.org.
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R U SS L A N D
Nr. 3 2017
RGOW
Roman Lunkin
Orthodoxe Charismatiker:
Mit Mozart gegen Stalin
Die Orthodoxe Kirche der Regierenden Gottesmutter mit dem charismatischen Gründer Ioann
Bereslavskij gehört zu den zahlreichen neuen religiösen Bewegungen, die nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion entstanden. Sie sieht sich in der antisowjetischen Tradition der Katakombenkirche
und verbindet orthodoxe Spiritualität mit Elementen der europäischen Kultur. – R. Z.
Der postsowjetische religiöse Boom hat in Russland eine ganze
Reihe völlig neuer und einzigartiger Bewegungen hervorgebracht,
die sich auf dem ganzen Gebiet der ehemaligen Sowjetunion verteilen. Zu Beginn der 1990er Jahre verteilten die Mitglieder dieser
Bewegungen ihre Literatur auf den Straßen und versammelten sich
in Kinosälen zu Predigten und Vorträgen. Bis zu den 2010er Jahren haben diese Bewegungen, auch aufgrund staatlicher Repressionen, einige Krisen erlebt, doch ausgestorben sind sie nicht – jede
von ihnen zählt noch heute einige tausende Mitglieder und verfügt
über zig Gruppen im Land. Dazu zählen u. a. die Roerich-Bewegung der Verehrer einer Lebendigen Ethik von Elena und Nikolaj
Roerich, die aber nicht mehr so populär ist wie Mitte der 1990er
Jahre. Die Kirche des Letzten Testaments von Vissarion-Christus,
der sich selbst als lebendigen Gott verkündete, ist im Krasnojarsker Gebiet aktiv und hat einige Ableger in anderen Regionen.
Die Bewegung Radasteja von Evdokij Martschenko „schickt“
noch immer Leute auf virtuellen Schiffen in den Kosmos, und die
Bewegung Anastasija (nach den Büchern von Vladimir Megre) ist
bei der ökologischen Bevölkerung beliebt und rettet Zedern. Die
neuen religiösen Bewegungen verkörperten das reißende Interesse
der Russländer am Glauben in jeder beliebigen Form und an der
Suche nach einer neuen illusorischen Welt, die die Flucht aus der
insteren Wirklichkeit erlaubt (s. RGOW 2/2016, S. 9–11).
Tägliche Offenbarungen der Gottesgebärerin
Eine der originellsten neuen religiösen Bewegungen in Russland
ist die Orthodoxe Kirche der Regierenden Gottesmutter (oder
„Gottesgebärerin-Zentrum“, Orthodoxie des GottesgebärerinZweigs) mit Ioann Bereslavskij als Oberhaupt. Auf orthodoxer
Grundlage wurde eine im Wesentlichen charismatische orthodoxe
Kirche gegründet, die emotionale Gottesdienste mit Geistesgaben und Tanz feiert, bei denen Prophezeiungen der Gottesmutter
kommuniziert werden. Die Mitglieder glauben an die Reinkarnation Christi und gewisser Heiliger in Kulturschaffenden der Vergangenheit und Gegenwart sowie an die Existenz anderer Welten,
mit denen Vater Ioann in Verbindung steht. Die Kirche wurde
nicht nur aufgrund ihrer Kombination orthodoxer Theologie mit
Elementen der New Age-Bewegung und der Theosophie bekannt,
sondern auch aufgrund ihrer Vergötterung der weltlichen europäischen Hochkultur, was dem Antiwestlertum und der Xenophobie
der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) widerspricht. Kultur
wurde zum Hauptinstrument bei der Überwindung der sowjetischen Vergangenheit, von Stalinismus und Kommunismus.
Erzbischof Ioann (Veniamin Bereslavskij, Vater Ioann) ist die
Schlüsseligur der Kirche, ihr Prophet. Er wurde 1946 geboren
und ist Linguist. Mitte der 1970er Jahre ließ er sich orthodox taufen und unternahm viele Pilgerreisen. Von großer Bedeutung war
seine Pilgerreise zum Potschajever Kloster in der Ukraine, wo
Bereslavskij unter dem geistigen Einluss der „Starzin“ Evfrosinija
stand. Von dieser wird berichtet, ihr sei die Gottesmutter erschienen und habe von ihrer neuen exklusiven Rolle in der Geschichte Russlands und der Welt gesprochen. Der prophetische Dienst
Bereslavskijs begann im Jahr 1984 in Smolensk vor der Gottesmutter-Ikone, wo er eine „Vision“ hatte: Er interpretierte sie als
Offenbarung der Gottesgebärerin, die von nun an durch ihn Prophezeiungen äußern wollte. Sein Gefolgsmann Petr Bolschakov
beschreibt dieses Ereignis so: „Er neigte sich zur Ikone und iel
für sehr lange Zeit vor ihr nieder. Und als er die Treppenabsätze
herunterkam, und wir die Kathedrale bereits verließen, sagte er
plötzlich: ‚Stellen Sie Fragen. Jetzt wird die Gottesmutter sprechen. Sie, die Gottesmutter, ist erschienen und bereit, Fragen zu
beantworten‘. […] und die Gottesmutter antwortete auf Fragen
und wies selbst darauf hin, was man fragen solle in Bezug auf die
Schicksale der Menschheit“.1 Seither hört Bereslavskij, so stellen
es die Publikationen der Kirche dar, täglich die Stimme der Gottesmutter sowie „Offenbarungen“ von Heiligen.
Von großer Bedeutung für die Weltanschauung dieser Kirche
ist die Verfolgung der Orthodoxie in der sowjetischen Periode –
die Verbindung mit der Katakomben- oder der sog. „wahrhaft
orthodoxen Kirche“. 2 Ihre Haupthelden sind die Märtyrer der
Solowezki-Inseln, die orthodoxen Priester und Bischöfe, die in
den 1920er und 1930er Jahren im Solowezki-Lager erschossen und
gefoltert wurden. In den 1990er und 2000er Jahren organisierten
die Anhänger der Gottesmutter-Kirche in dutzenden russischen
Städten Ausstellungen darüber. Neben einer geistigen Verbindung
leiten die Gläubigen auch eine hierarchische Kontinuität aus der
Katakombenkirche ab und halten sich für einen Zweig dieser Kirche. Laut Bereslavskijs Anhängern haben die Bischöfe der wahrhaft orthodoxen Katakombenkirche Vater Ioann gesegnet und
zur Registrierung von Gemeinden und zur Predigt berufen. Eine
antisowjetische und antistalinistische Haltung ist für die Bewegung charakteristisch. Als Helden gelten alle, die gegen die Sowjetmacht gekämpft haben, unter ihnen Patriarch Tichon, General
Vrangel’ und Metropolit Antonij Chrapovizkij. Laut Vater Ioann
hat sich die Regierende Gottesmutter auch im August 1991 „über
dem Weißen Haus offenbart“, und die Sowjetmacht wurde mit
Hilfe von Erzengel Michael gestürzt.
Entwicklung der Gottesgebärerin-Kirche
Die Gottesgebärerin-Kirche ging ihren Weg von einer geschlossenen Gemeinde mit strengen asketischen Regeln zu einer gesamtrussischen Bewegung, die sogar Teil der internationalen marianischen Bewegung wurde. 3 In der ersten Periode von 1982 bis
1991 sammelte Vater Ioann eine Gruppe von Gleichgesinnten um
sich, die sich der Katakomben-Kirche zugehörig fühlte, während
Vater Ioann selbst den Priesterrang innerhalb der ROK anstrebte.
In der zweiten Periode von 1991 bis 1999 institutionalisierte sich
die Bewegung: 1991 wurde in Moskau die Informationsstiftung
Nr. 3 2017
„Gottesgebärerin-Zentrum“ gegründet, die 1993 zur Stiftung
„Neue Heilige Rus’“ umbenannt wurde und bis 1999 existierte.
In dieser Zeit sollten alle Aktivisten zu Missionsmönchen werden,
sich beim Essen zurückhalten und nur wenige Stunden schlafen.
In der dritten Periode, die von 1999 bis heute andauert, wurden
alle asketischen Normen aufgehoben, und die Mission wurde auf
kulturelle Aktionen verlagert: Ausstellungen, Mysterienspiele,
Buchpublikationen. Vater Ioann hob 2001 zwei neue Charakterzüge der Kirche hervor: den Übergang von der Askese zum Aufbau
einer offenen und freien Kirche sowie „neue erleuchtete Personen“
in den Gemeinden. Auf die aus ihrer Sicht Reichtum anstrebende und den Bund mit der sowjetischen und der gegenwärtigen
Macht suchende Stellung des Moskauer Patriarchats reagierten die
Kirchenanhänger mit scharfen Appellen und außergewöhnlicher
Disziplin, die „geistige Kämpfer“ anzog.
Nach einer ganzen Reihe von Verhaftungen und Ausstellungsschließungen in den Jahren 2006 bis 2008 wurde klar, dass die
öffentliche Tätigkeit der Kirchenanhänger seitens der Vertreter
der ROK und der Justizbehörden auf heftige Ablehnung stößt.
Deshalb zogen sie sich in den Halbuntergrund zurück, während
Bereslavskij nun seine Prophezeiungen und Predigten per Internet
verbreitete. 4 In den 2010er Jahren stellte die Kirche ihre breite
Missions- und Ausstellungstätigkeit ein. Laut Kirchenvertretern
wurde seit Mitte der 2000er Jahre eine negative Atmosphäre um
die Kirche aufgebaut, man beschuldigte sie der Anstiftung zum
Selbstmord etc., was jedoch weder bewiesen werden konnte noch
je gerichtliche Folgen hatte. Geistige Mysterientheater fanden nur
noch vor Mitgliedern der Kirche und auf Kinderfesten statt. Diese
Mysterien waren ebenfalls charakteristisch für die GottesmutterKirche: Dabei wurden Personen wie der Hl. Seraim von Sarov
und Vater Ioann von Kronstadt, die Solowezki-Märtyrer, Zar
Nikolaj II. mit seiner Familie mittels der Poesie von Vater Ioann
und von Dichtern des sog. „Silbernen Zeitalters“ in den ersten
zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (Anna Achmatova, Osip
Mandelstam, Aleksandr Blok) neues Leben eingehaucht. Vater
Ioann, der heute um sein Leben fürchtet, ist emigriert und lebt in
Frankreich und Spanien.
R U SS L A N D
RGOW
10. Jahrhunderts sprach, wie zum Beispiel mit Juan de San Grial.
Spanien erleuchtet mich mit der Sonne seines Archetyps.“ So wird
die Heilige Rus’ zu einem weiteren universalen Begriff: „Die Heilige Rus’ ist für mich ein Sonnensiegel, und sie scheint unabhängig
vom irdischen Lebensraum, sei das Europa, die USA, Kanada usw.“
Seit Ende der 2000er Jahre kommt der geistige Dienst von Vater
Ioann musikalisch zum Ausdruck. Ihm zufolge trägt Musik in
sich „die höchsten Vibrationen der Liebe und der Weisheit, durch
sie offenbaren sich die Wahrheiten der Gottheit selbst“. Laut Vertretern seiner Kirche verfügt Vater Ioann über eine professionelle
musikalische Ausbildung. Er spiele oft Mozart, Beethoven und
glaube, dass Gott durch Komponisten zu den Menschen spricht.
Mozart bezeichnet er als musikalischen Christus, der „eine Musik
der erhabensten Liebe“ geschaffen habe, und John Lennon, der
gesagt hatte, er sei populärer als Christus, sei „im Auftrag Roms
ermordet“ worden. Laut Bereslavskij gibt es vier „musikalische
Christusse“: Mozart, Beethoven, Tschajkovskij und Ludwig II.,
der König Bayerns. In seinem neusten Buch „Vier musikalische
Christusse“ (2012) verkündete er, dass „der allerhöchste Vater
heute das Evangelium mittels symphonischer und Klaviermusik
offenbart“. Vater Ioann bringt Mozart auch mit den SolowezkiMärtyrern in Verbindung: „Wolfgang Amadeus brachte seine Flöte
persönlich zu Seraim [von Solowezk], und dieser weinte heiße Tränen.“ Für einen der geistigen Siege Mozarts hält Vater Ioann, dass
er den Gulag und einen „Kandidaten für den Antichrist“, nämlich
Stalin, besiegte: „Als [Stalin] Mozarts Adagio hörte, schloss er den
Gulag. Es gibt eine genaue Version, die von Schostakovitsch in den
Gesprächen mit dem Musikwissenschaftler Volkov und noch durch
viele andere Quellen belegt ist: Stalin starb unter den Klängen
eines Mozartkonzerts.“
***
Die geistige Weltanschauung der Gottesgebärerin-Kirche entwickelt sich schon seit 30 Jahren. Mystische Kunstwahrnehmung
wurde ebenso Teil des für viele russische Intellektuelle typischen
Bewusstseins von Prophet Ioann, der vom Silbernen Zeitalter und
den Neumärtyrern der sowjetischen Zeit zur europäischen klassiUniversale Spiritualität
schen Musik überging. In Russland sind etwa 30 GottesgebärerinMit der Zeit begann Vater Ioann neben der Sonderrolle Russlands Gemeinden und etwa ebenso viele religiöse Gruppen registriert.
auch eine universale Spiritualität, die „Verehrung der sophiani- In Tver’ gibt es ein Frauenkloster (dort dient Priester Vater Michail
schen Spiritualität“ zu predigen. Dabei verband er die Kritik an Tverskoj). Teilweise im Untergrund wirkende Gemeinden gibt
der ROK mit Antikatholizismus und einer generellen Ablehnung es in Weißrussland und in der Ukraine, auch in Frankreich und
historischer Kirchen. Die Ereignisse in der Ukraine von 2014 hal- Spanien gibt es Gruppen. Was die Gottesgebärerin-Orthodoxie
ten die Kirchenanhänger für eine Folge der Nichtbefolgung der besonders auszeichnet ist die Leidenschaft des Kirchengründers
für künstlerisches Schaffen. Bei jeder neuen Wendung der PropheAufrufe der Gottesmutter.
In den verschiedenen Perioden der Kirchenentwicklung setzte zeiungen in den Büchern von Vater Ioann tauchen neue unerwarVater Ioann die Akzente auf unterschiedliche Ideen und Helden, tete Helden auf, und das wird auch in Zukunft so bleiben.
die zu Christusgestalten oder zu Verkörperungen berühmter
orthodoxer Heiliger auf Erden wurden. 2003 wurde ihm offenbart, Anmerkungen
dass Großfürst Michail Romanov nicht, wovon man üblicherweise 1) Aus dem Gespräch mit der Rechtsverteidigerin Zoja
ausgeht, bei Perm’ von den Bolschewisten ermordet wurde, sonKrachmal’nikova: „Božija Mater’ Otkryvaet nebo“. XX Sobor.
Moskau 2000.
dern auf wunderbare Weise dem Tod entkam – er wurde zu „Patriarch Seraim“ im Solowezki-Lager, auf einem „zweiten Golgatha“. 2) Vgl. Beglov, Aleksej: V poiskach „bezgrešnych katakomb“.
Cerkovnoe podpol’e v SSSR. Moskau 2008; http://de.bogoslov.
Während der Reisen durch europäische Länder nahm Vater
ru/text/350943.html.
Ioann westeuropäische Sujets in die mystische Weltanschauung
seiner Kirche auf. Als reine, geistige Tradition wählte Vater Ioann 3) http://www.wrldrels.org/proiles/OCMSG.htm; http://www.
avemaria.ru/pcbmd_sobor_9.htm.
die Bewegung der Katharer. In einem Interview von 2008 unterstrich Vater Ioann, dass auch die westeuropäische Kultur „in 4) Vgl. http://svitsoii.com.ua/.
sich den Schatz des Sonnenarchetyps bewahrt. Zum Beispiel der
Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.
Heilige Gral, der […] von Hand zu Hand weitergereicht wird.“
Zudem stehe er auch mit geistigen Figuren der europäischen VerRoman Lunkin, PhD, wissenschaftlicher Leiter des
gangenheit im Austausch: „Indem ich mich heute im Zentrum
Europa-Instituts der Russischen Akademie der
Europas beinde, habe ich für mich zum ersten Mal den ArcheWissenschaften.
typ Spaniens entdeckt, indem ich mit seinen großen Aposteln des
29
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Nr. 3 2017
RGOW
Armenian Christianity Today
Alexander Agadjanian (ed.)
Armenian Christianity Today
Identity Politcs and Popular Practice
Surrey: Ashgate 2014, 286 S.
ISBN 978-1-4724-1271-3. £ 73.99; CHF 148.90.
Die Armenische Apostolische Kirche
ist noch immer die dominante Religion
der Armenier und wird häuig als ein
Hauptelement der armenischen Identität wahrgenommen. Bis heute ist sie
ein „wichtiger Referenzpunkt und mächtiger institutioneller Akteur“ im Leben
vieler Armenier (S. 1); dies gilt sowohl
für die heutige Republik Armenien als
auch für die weltweite Diaspora. Dennoch gestaltet sich die armenische religiöse Landschaft nicht so homogen, wie
man meinen könnte. Der von Alexander
Daneben spielen aber auch religiöAgadjanian herausgegebene Sammel- se Initiativen „von unten“ eine Rolle,
band verschafft einen anschaulichen wie der Herausgeber in seinem Beitrag
und sozialwissenschaftlich fundierten darlegt. Dabei konzentriert er sich auf
Überblick über das aktuelle religiöse eine religiöse Gruppe, die während der
Leben sowie die soziale, politische und schwierigen 1990er Jahre zu einer breikulturelle Funktion von Religion in ten Bewegung anwuchs. Die „BruderArmenien und in der Diaspora.
schaft“ entwickelte sich zwar innerhalb
Die Verbindung von Ethnie und Religi- der armenisch-apostolischen Tradition,
on propagierte gerade auch die Arme- aber trotzdem außerhalb ihrer Struktunische Apostolische Kirche und tut das ren. Darin spielten die persönliche Spiriauch weiterhin erfolgreich – häuig aus- tualität und soziales Engagement eine
gedrückt im Leitsatz „eine Nation, ein wichtige Rolle, die Kirche und GesellGlaube, eine Kirche“ (S. 21). Aber auch schaft nachhaltig beeinlussten.
Noch weiter vom dominanten armeder armenische Staat bedient sich der
Kirche, um die ethno-nationale Identität nischen Christentum entfernt sich der
zu zementieren. In der Diaspora erfüllt Aufsatz, der auf protestantische Grupdie Kirche eine ähnliche Funktion. Die pen in Armenien eingeht. Anders als
Teilnahme an religiösen Feierlichkeiten in Armenien interagieren im Libanon
wird als Möglichkeit wahrgenommen, protestantische Armenier mit orthododie armenische Identität zu erleben und xen und katholischen Armeniern, wie in
auszudrücken. Die Kirche und ihr mate- einem weiteren Beitrag erläutert wird.
rielles und immaterielles Erbe werden als Das Verbindende der verschiedenen reli„einende Kraft und zentraler Bestandteil giösen Gruppen ist dort die ethnische
der nationalen Geschichte und Identität“ Zugehörigkeit, die sich in erster Linie
verstanden (S. 205). In einer sich wan- aus der gemeinsamen Erinnerung an den
delnden Welt dient die Kirche als „Anker“ Genozid speist.
und als „Vehikel zur Erhaltung der armeNatalija Zenger
nischen Identität und Kultur“ (S. 256).
Weisheitsfreunde
Ilja Karenovics
Weisheitsfreunde
Der Kreis der „Ljubomudry“ 1820–1830 und
die Entstehung der russischen Philosophie
Berlin: Ripperger & Kremers 2015, 368 S.
ISBN 978-3-943999-07-5. € 34.90; CHF 45.40.
In Übersichten zur Geschichte der russischen Philosophie ist oft nur beiläuig
von den „Weisheitsfreunden“ (russ. Ljubomudry) die Rede, die als eine Keimzelle der russischen Philosophie gelten.
Dieser kurzlebigen, aber wirkmächtigen
Geheimgesellschaft von 1823–1825 hat
sich Ilja Karenovics in seiner Dissertation gewidmet und geht damit Fragen
nach, die schon so manchen umgetrieben
haben, der sich mit russischer Ideengeschichte beschäftigt. Dies liegt nahe, denn
„die Ljubomudry stehen […] am Anfang
Karenovics’ Studie beschreibt die
nicht nur der neueren russischen Philo- Situation der akademischen Philososophie überhaupt, sondern – vor dem phie in Russland seit ihren Anfängen
Hintergrund der West-Ost-Problematik – im 17. Jahrhundert, die russische Saloninsbesondere auch von deren beiden kultur, die 1822 verbotenen Freimaurerprominentesten Erscheinungsformen: der logen, die Dekabristenbewegung und
die literarischen Zirkel, in denen sich
literarischen und der religiösen“ (S. 327).
Nach der Französischen Revolution und die Weisheitsfreunde bewegten. Deren
insbesondere nach Russlands Sieg über Mitglieder, Lehrer und überhaupt die
Napoleon 1812 erwartete nicht nur die russischen Schellingianer an den Univeraus Frankreich zurückkehrende „Armee- sitäten und Geistlichen Seminaren werintelligenz“ Reformen. Nach Karenovics den vorgestellt wie auch die Zeitschrifstehen die Weisheitsfreunde exempla- ten und Werke, in denen sie ihre Ideen
risch für ein „Selbstbewusst-Werden der publizierten. Das Interesse für Schellings
russischen Kultur durch deren Relexion Natur-, Identitäts- und Kunstphilosophie
im Medium der (deutschen) Philosophie“ zeigt sich auch in ihrer philosophischen
(S. 281). Paradoxerweise stützten sie sich Dichtung. Zum Schluss geht Karenovics
bei der Suche nach einer philosophischen auf die Wandlungen der russischen PhiSystematik auf die deutschen Romanti- losophie (von Schelling zu Hegel, vom
ker, die sich gerade gegen ebendiese Ljubomudrie zum Slavophilentum) im
gewandt hatten. Im Zentrum steht die 19. Jahrhundert ein. Eingerahmt sind
Schelling-Rezeption, in dessen Werk diese ideengeschichtlichen Kapitel von
die Weisheitsfreunde eine Möglichkeit Relexionen zur Speziik der russischen
sahen, „Natur und Geist, Glauben und Philosophie mit ihrer „mangelnden
Wissen nicht als unversöhnliche Gegen- Trennschärfe“ zwischen den Bereisätze aufzufassen“ (S. 189). Diese „wahre“ chen Literatur, Kritik, Philosophie und
Philosophie stellten sie der „veräußer- Religion.
lichten“ französischen Philosophie des
18. Jahrhunderts gegenüber.
Regula Zwahlen
Nr. 3 2017
B U C H B ES P R EC H U N G E N
RGOW
The Public Role of the Church in Contemporary Ukrainian Society
Myroslava Rap
The Public Role of the Church in Contemporary
Ukrainian Society
The Contribution of the Ukrainian GreekCatholic Church to Peace and Reconciliation
Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2015,
500 S.
ISBN 978-3-8487-2210-5. € 89.–; CHF 108.90.
Mitten in der Ukraine-Krise sind die Kanonen lauter als die versöhnlichen Stimmen.
Umso mehr sind friedliche Initiativen zu
schätzen, vor allem wenn sie aus kirchlichen Kreisen kommen. Tatsächlich haben
die christlichen Kirchen eine aktive Rolle
als Identitätsstifter in den jüngsten sozialen und politischen Krisen gespielt. Darüber hinaus standen manche Priester auch
physisch zwischen den Fronten des Euromajdan. Allerdings stehen der Versöhnung
gegenwärtig geopolitische und ökonomische Interessenkonflikte genauso im
Weg wie komplizierte interkonfessionelle
Beziehungen. Umso wichtiger ist es, die
Versöhnungsinitiativen der Ukrainischen
Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK)
im theologischen und sozial-praktischen
Kontext zu rekonstruieren. Das ist das
Hauptthema der Monograie von Myroslava Rap, die aus einer Promotionsschrift
an der Katholischen Universität Leuven
hervorgegangen ist.
Die UGKK entstand am Ende des
16. Jahrhunderts in den östlichen Gebieten Polen-Litauens aus einer Union der
römisch-katholischen und orthodoxen
Kirche. Dogmatisch wird u. a. der Primat
des Papstes anerkannt, die liturgischen
Traditionen der Orthodoxen Kirche blieben
jedoch erhalten. Die UGKK wird oft als eine
symbolische Brücke zwischen östlichen und
westlichen christlichen Traditionen dargestellt. Tatsächlich, im Laufe der Geschichte
gab es beides: Geistliche der UGKK waren
Agenten der Kommunikation zwischen
den beiden Zweigen des Christentums,
doch genauso oft argumentierten sie im
Sinne von Abgrenzung und Entfremdung.
Mit der Frage, was heutzutage aus diesem
historischen Erbe brauchbar ist, beschäftigen sich Politiker genauso wie Historiker,
Theologen und Religionssoziologen.
Raps Monograie schildet ausführlich
verschiede Aspekte und Friedenspotentiale für die heutige Ukraine. Sie versucht,
auf der Basis ofizieller Texte der UGKK
zwischen November 1989 und März 2014
deren Positionen in Sachen Versöhnung
und Friedensstiftung zu rekonstruieren.
Rap ist auch Mitherausgeberin der ukrainischen Publikation „Sozial-orientierte
Dokumente der Ukrainischen GriechischKatholischen Kirche (1989–2008)“. Sie
konfrontiert die Versöhnungsaussagen
in diesen und anderen Dokumenten mit
den Texten von drei wichtigen zeitgenössischen Theologen: von dem Katholiken
Robert Schreiter und den Protestanten
Miroslav Volf und John Paul Lederach.
Das Buch besteht aus drei Hauptkapiteln. Der erste Teil beschäftigt sich mit
Identitätsdebatten in der Ukraine seit
dem Zerfall der Sowjetunion. Rap stellt
die Frage, welche Hindernisse einerseits
und Potenziale andererseits in diesem
Kontext verfügbar sind. Sie beobachtet
zwei große Lager bei den Identitätsdebatten um die Ukraine: ein europazentriertes
und russisch-orthodox-zentriertes. Dahinter stehen sich als geopolitische Konzepte
die sakralen Konzepte der „Kiewer Kirche“
und der „Russischen Welt“ gegenüber. Für
die UGKK ist Versöhnung in der Gesellschaft aber nur im Rahmen der Kiewer
Kirche möglich. Das beinhaltet die Autokephalie sowie den Zusammenschluss der
drei orthodoxen Kirchen in der Ukraine
(Ukrainische Orthodoxe Kirche–Moskauer Patriarchat, Ukrainische Orthodoxe
Kirche–Kiewer Patriarchat und Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche) mit
der UGKK. Die Debatten um Versöhnung
und Ökumene in den Kirchenkreisen spielen sich laut Rap zwischen ukrainischen
und nicht-ukrainischen Identitäten, im
Rahmen von Nationalismus und Religion ab. Die Frage nach „Nationalisierung
der Religion“ und „Sakralisierung der
Nation“ in den Dokumenten der UGKK
kommt aber letztlich zu kurz. Ebenso ist
die Problematik der Beziehung der UGKK
zu Rom nur sehr knapp geschildert. Ferner
erfährt man leider praktisch nichts über
die Geschichte der Beziehung der UGKK
zu den zahlreichen protestantischen
Gemeinden in der Ukraine.
Das zweite Kapitel ist Konzepten der
Versöhnung gewidmet. Rap beobachtet
für die UGKK drei Problemfelder: die
polnisch-ukrainischen Beziehungen im
langen 20. Jahrhundert, die russisch-ukrainischen Konlikte, schließlich inner-ukrainische Spaltungen. Sehr präzise analysiert Rap die Hintergründe der modernen
katholischen und protestantischen Versöhnungstheologie, die Konzepte wie
Reue, Vergebung und Gerechtigkeit hervorhebt. Diese könnten in der Tat sehr
hilfreich für zukünftige Friedensprozesse
in der Ukraine sein.
Das Thema des dritten Kapitels ist
Gedächtnis und christliche Union. Hier
sind erneut mehrere Konfliktfelder zu
beobachten (der Zweite Weltkrieg und
Kollaboration beim Holocaust, interkonfessionelle Konlikte in der Westukraine
in den 1990er Jahren und das Konzept
des Kiewer Patriarchats). Besonders interessant sind praktische Maßnahmen der
Geistlichen zur Bewältigung der Traumata des Zweiten Weltkrieges im Rahmen
von Versöhnungsprozessen mit Polen und
Israel. Für Rap spielen diese Maßnahmen
der UGKK (oft als die „Reinigung des
Gedächtnisses“ bezeichnet) eine besondere Rolle für eine Heilung und Restauration der innergesellschaftlichen Strukturen. Obwohl Rap über die „Pluralität
der Gedächtnisse“ schreibt, ist allerdings
die Frage nach Memoria-Konlikten um
den Krieg auf die Dichotomie zwischen
„westlichen“ und „sowjetischen“ Narrativen beschränkt. Tatsächlich kämpfen in
der Ukraine zwei politische Lager um die
Deutungshoheit über den Zweiten Weltkrieg. In der Historiograie werden diese
meistens als „post-kommunistisch“ und
„national-liberal“ bezeichnet. Bei den beiden geht es oft um eine Konkurrenz der
Opfer. Ob es sich beim „national-liberalen“ Lager (ähnlich wie bei den meisten
anti-kommunistischen Narrativen in Osteuropa) tatsächlich um eine „westliche“
Interpretation der Geschichte des Zweiten Weltkriegs handelt, ist allerdings zu
bezweifeln. Jedenfalls verorten Historiker
die Ukraine zusammen mit z. B. Ungarn
oder der Slowakei in der Kategorie der
osteuropäischen Erinnerungskultur, die
von heiklen politischen Debatten zum
Thema des Zweiten Weltkrieges gezeichnet ist.
Insgesamt leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zur modernen Geschichte und
Theologie christlicher Versöhnungskonzepte am Beispiel der UGKK. Allerdings
(und das kommt in Raps Buch manchmal zu
kurz) stehen den Versöhnungskonzepten
der UGKK nicht nur dogmatische Unterschiede zwischen katholischen und orthodoxen Traditionen in Wege, sondern auch
die Politisierung der Kirchen. Solange
diese Probleme bestehen, bleiben Versöhnungsprozesse in der Ukraine schwierig.
Liliya Berezhnaya, Münster
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Nr. 3 2017
RGOW
Einladung zur G2W-Jahrestagung 2017
Donnerstag, 23. Mai 2017
Hauptgebäude der Universität Zürich, Hörsaal KOL-G-209
Rämistrasse 71, 8006 Zürich
16:00 Uhr Öffentliche Mitgliederversammlung
17:30 Uhr Apéro
18:15 Uhr Abendveranstaltung:
Alles Propaganda?
Russland in den Medien – Medien in Russland?
Podiumsdiskussion mit
Martin Krohs, Herausgeber des Informationskanals dekoder.org,
Andreas Rüesch, Auslandsredaktor NZZ und für die Dossiers USA
und Russland zuständig, und
Nada Boškovska, Professorin für Osteuropäische Geschichte
an der Universität Zürich
Detailliertes Programm auf www.g2w.eu
Veranstaltung in Kooperation mit der Abteilung für Osteuropäische Geschichte
der Universität Zürich
I M P R ESSU M
Herausgeber Institut G2W. Ökumenisches Forum für Glauben,
Verein G2W – Ökumenisches Forum für Glauben, Religion
Religion und Gesellschaft in Ost und West
und Gesellschaft in Ost und West
Birmensdorferstrasse 52, Postfach 9329, CH-8036 Zürich
Präsident Prof. Dr. Georg Rich, Aarau Aktuarin Eva Gysel, Wilchingen
Tel.: 0041 (0)44 342 18 19, Fax 0041 (0)44 240 06 10
Redaktionsverantwortliche Dr. phil. Rahel Černá-Willi
[email protected] | www.g2w.eu
Jahresbeiträge, Mitgliedschaften: Kollektiv-A CHF 400.–, einschließlich 3 Abo,
Redaktion Stefan Kube, dipl. theol. (Chefredakteur),
Kollektiv-B CHF 200.–, einschließlich 1 Abo; Einzelmitglieder (ohne Abo)
Dr. phil. Regula Zwahlen Guth, Natalija Zenger, lic. phil.
CHF 50.– In den meisten Kantonen können freie Zuwendungen an G2W bis
[email protected]
zu 70 % in Abzug gebracht werden (bei zweckgebundenen Spenden für die
Projektverantwortliche Regula Spalinger, lic. phil.
Projektarbeit zu 100 %)
Die Meinung der namentlich zeichnenden Verfasser braucht nicht mit der
Meinung der Redaktion übereinzustimmen.
Erscheinungsweise monatlich ISSN 2235-2465
G2W – Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in
Bezugspreis Jahresabonnement CHF 85.– / € 69.–;
Ost und West – Deutsche Sektion e. V.
Abonnement für Studierende CHF 43.– / € 35.–; Einzelheft CHF 10.– / € 8.–
Präsident Stefan Kube (ad interim)
Bezugsbedingungen Bestellungen sind an das Institut G2W zu richten.
Geschäftsführer Heiner Hesse, Max-Josef-Metzger-Strasse 1,
Das Abo gilt für ein Kalenderjahr und verlängert sich, wenn es nicht bis zum
DE – 39104 Magdeburg
15. November schriftlich beim Institut G2W gekündigt wird.
Jahresbeiträge Korporativmitglieder € 130.–, einschließlich 2 Abo
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Postbank Karlsruhe, IBAN DE58 6601 0075 0070 3467 57, BIC PBNKDEFF
G2W – Deutsche Sektion e. V. ist laut Bescheid des Finanzamtes Magdeburg
Produktion Thomas Stark, Neuberg (A)
vom 10. 9. 2013 von der Körperschaftssteuer befreit, weil
Druck Druckerei Konstanz GmbH
sie ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen Zwecken dient.