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«Religion und Gesellschaft in Ost und West», 8/2016 Konstantin Mikhailov Die russische Orthodoxie zwischen maskulinem Ideal und Homophobie Die Russische Orthodoxe Kirche verurteilt gleichgeschlechtliche Sexualität scharf und hat das Gesetz über „nicht traditionelle sexuelle Beziehungen“ von 2012 begrüßt. Die Aggressivität des Diskurses in Russland hängt jedoch weniger mit russischen Traditionen zusammen, als mit für den postsowjetischen Raum typischen Phänomenen wie Angst vor Sexualität, sexueller Gewalt in Gefängnissen und in der Armee, einer mangelhaften Ausbildung der Geistlichen und einem hypermaskulinen Männerbild in der Kirche. – R. Z. [S. 26] Am 24. Juni 2016 veröffentlichte der orthodoxe Gläubige Michail Tschernjak einen offenen Brief an das Panorthodoxe Konzil, das gerade auf Kreta tagte. Diese Tatsache an sich wäre wohl kaum bemerkenswert, wenn Tschernjak nicht eines der schmerzlichsten und komplexesten Themen der modernen Orthodoxie angesprochen hätte – das Verhältnis zur LGBT-Gemeinschaft.1 Dabei kam für einmal nicht die Sichtweise der konservativen kirchlichen Mehrheit zum Ausdruck, sondern diejenige der LGBT-Gemeindeglieder: „In der Realität ist die Anzahl Menschen mit einer nicht traditionellen sexuellen Orientierung und Gender-Identität innerhalb der Orthodoxen Kirche gleich groß wie außerhalb,“ schrieb Tschernjak. „Wir stehen direkt vor euch! Wir sind keine abstrakte Idee, sondern echte Menschen – eure Kinder, Schwestern und Brüder.“2 Indem er die Nöte aufzählt, mit denen LGBT-Christen konfrontiert sind – von der sog. „reparativen Therapie“ und der Nötigung zum Mönchsstand bis zum Kommunionsverbot oder der Verstoßung aus der Gemeinde –, bat der Autor des Briefes die Konzilsteilnehmer darum, etwas zu unternehmen, um die Gewalt gegenüber LGBT-Menschen zu stoppen und einen Raum zu schaffen, in dem LGBT-Gemeindeglieder einen ruhigen und konstruktiven Dialog mit ihren Glaubensgeschwistern führen können. Dieses Schreiben, das nicht nur vom Autor, sondern auch von weiteren Vorsitzendes des Europäischen Forums der christlichen LGBT-Gruppen unterzeichnet wurde, war natürlich nicht die erste Artikulation von LGBT-Christen in der russischsprachigen Medienwelt. LGBT – englische Abkürzung für Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transgender. http://www.euroforumlgbtchristians.eu/images/pdf/Open-Letter-to-the-Holy-and-Great-Council-23-June-2016DE.pdf. 1 2 Dennoch erzeugte gerade dieser Brief, sowohl aufgrund der hochrangigen Adressaten als wahrscheinlich auch aufgrund seines offenen und starken Inhalts im orthodoxen Umfeld eine heftige, jedoch vollkommen voraussehbare Resonanz. Der Brief und sein Autor waren unverzüglich einem Schwall von Kritik ausgesetzt. Ein Teil davon blieb im Rahmen einer ideellen Diskussion, teilweise wurden aber auch LGBT-Gläubige oder Tschernjak persönlich angegriffen, eine dritte Reaktionsart wirkte äußerst bedrohlich: So erschien auf einer konservativen Webseite eine Liste der „Freunde des Sodomiten Mischa Tschernjak“, auf der Geistliche, die via Facebook mit ihm kommunizieren, erniedrigend charakterisiert wurden.3 Sogar in vergleichsweise gemäßigten Internetforen tauchten rasch Artikel auf, die Homosexualität und Transsexualität als „Sünde, Pathologie und Gräuel“ bezeichnen.4 Die ROK und das „Sprich nicht Gay“-Gesetz Diese Reaktion kam natürlich für niemanden überraschend. Die strenge Verurteilung von LGBT-Menschen durch die Kirche gehört zu den Traditionen der russischen Orthodoxie. In den letzten Jahren ist sie mehrmals durch konkrete Handlungen verstärkt worden. Seit der Verabschiedung des Gesetzes über „nicht traditionelle sexuelle Beziehungen“ am 28. März 2012 in der Staatsduma ist die Kritik an der LGBT-Bewegung zu einem der Schlüsselthemen der weltlichen und kirchlichen Propaganda in Russland geworden. Obwohl in der Endredaktion des Gesetzes auf den im kirchlichen Umfeld entstandenen Begriff der „Homosexualitäts-Propaganda“ verzichtet wurde, ist der Einfluss der Dokumente der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) und der Reden ihrer Wortführer wie Patriarch Kirill (Gundjaev) oder Metropolit Ilarion (Alfejev) im Gesetz gut sichtbar. Man kann zwar nicht sagen, die Kirche habe die Annahme dieses Gesetzes durchgedrückt, aber der Staat, der Homophobie zur Lösung der eigenen Probleme benutzt, hat den kirchlichen Diskurs und die polemischen Konzepte gern zu seinen Zwecken benutzt. Zur Norm wurden auch Anti-LGBTAktionen, Mahnwachen „gegen homosexuelle Beziehungen und Abtreibungen“5 und regelmäßige Attacken gegen LGBT-Veranstaltungen, die von kirchennahen Aktivisten organisiert wurden. Immer öfter hört man auch von Morden, die von Homophoben aus Hassgründen begangen wurden.6 3 http://vseeresi.ucoz.ru/news/2016_god_kto_protalkivaet_sodom_i_gomorru_v_pravoslavnuju_cerkov_ili_druzja _mishi/2016-06-27-1146. 4 Prekup, Igor’: Vperedi sobornogo parovoza: http://www.pravmir.ru/vperedi-sobornogo-parovoza/. 5 http://lenta.ru/news/2012/07/01/piquette/. 6 Der berühmteste Fall ist bisher der sadistische Mord am jungen Volgograder Vladislav Tornov im Jahr 2013. Einer der Mörder rechtfertigte seine Handlungen mit der homosexuellen Orientierung des Opfers: http://lenta.ru/articles/2013/05/23/volgograd/. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes, das LGBT-Aktivisten oft schlicht „Sprich Nicht Gay“ nennen, ist jede öffentliche Erwähnung nicht-heterosexueller Beziehungen nicht nur im positiven, sondern auch im neutralen Kontext problematisch. Während von den Kirchenkanzeln und sogar aus den staatlichen Fernsehstudios Aufrufe zum Kampf gegen oder gar zur Vernichtung der LGBT-Orientierung erklingen, sind die LGBT-Menschen und ihre Verteidiger gezwungen, sich in sozialen Netzwerken und wenigen Internet-Ausgaben auszutauschen – immer mit dem Risiko Materialien zu publizieren, die das Gesetz verletzen. Dieser Situation ist sich nicht nur jeder LGBT-Aktivist bewusst, sondern auch jeder, der sich auch nur ein wenig für die gegenwärtige weltliche und kirchliche Politik in Russland interessiert. Wo liegen aber ihre Gründe und besonders die Gründe der Heftigkeit und Aggressivität dieser Reaktion auf die LGBT-Bewegung? Schwache „traditionelle“ Begründungen Natürlich kommt jede Rede von einer religiös motivierten Homo- und Transphobie nicht ohne Verweise auf heilige Schriften und alte Traditionen aus. So ist es auch im Falle der Orthodoxie: In den aktuellen Artikeln russischer Priester, die die LGBT-Orientierung verurteilen, findet man rasch den Verweis auf die Briefe [S.27] von Paulus (1 Kor 6, 9), Petrus (1. Petr 4, 3) und die entsprechenden Episoden des Alten Testaments oder Auszüge aus den Schriften der Kirchenväter. Allerdings kann man dies, erstens, kaum als besonderen Charakterzug der russischen Orthodoxie und der Orthodoxie überhaupt bezeichnen; auch ein Katholik oder ein Protestant kann sich darauf beziehen. Zweitens verweisen auf heilige Schriften eigentlich nur Geistliche, die diese aufgrund ihrer Verpflichtungen auch kennen, aber nur eine zahlenmäßig äußerst kleine Gruppe der religiös gebildeten Kirchgänger. Eine Mehrheit der gegenwärtigen russischen Orthodoxen – das zeigen zahlreiche Umfragen der letzten beiden Jahrzehnte – kennen nicht einmal den Text des Neuen Testaments, geschweige denn theologische Arbeiten. Auch der Verweis auf althergebrachte Traditionen ist unbefriedigend. Schließlich waren homosexuelle Beziehungen auch im vorrevolutionären Russland überhaupt keine Seltenheit, wie die Arbeiten von Dan Healey wunderbar zeigen;7 doch das siebzig Jahre dauernde Sowjetregime hat alle Mechanismen des historischen Gedächtnisses faktisch zerstört, und nur sehr wenige 7 Healey, Dan: Homosexual Desire in Revolutionary Russia. Chicago 2001. russischen Familien können mit Recht behaupten, dass sie vorsowjetische Traditionen der russischen Religiosität im Allgemeinen und des Verhältnisses zu LGBT-Menschen im Besonderen bewahrt hätten. Nicht selten trifft das auch auf die Familien der Geistlichen zu. Daher lässt sich davon ausgehen, dass die Gründe für die gegenwärtige kirchliche Homo- und Transphobie nicht so sehr, oder auf jeden Fall nicht nur bei den Vorstellungen der religiösen und nationalen Tradition zu suchen sind, sondern auch in der aktuellen Lage der Dinge. Zur Herausbildung der aktuellen kirchlichen Homophobie haben insbesondere zwei Faktoren beigetragen: Erstens die staatliche Propaganda, die LGBT-Rechte als Verkörperung der Verdorbenheit der westlichen Zivilisation und als Bedrohung Russlands und seiner Traditionen darstellt. Orthodoxe Russen spüren den Einfluss der Propaganda in demselben Maß wie alle anderen auch. Zweitens ist ein wichtiger, wenn auch nicht direkt artikulierter Grund für das Wachstum der Homo- und Transphobie unter Orthodoxen die Angst vor der eigenen Sexualität. Damit soll nicht etwa behauptet werden, dass viele Orthodoxe versteckte Homosexuelle wären, die ihre Identität nicht anerkannt hätten (obwohl das in einigen Fällen wohl durchaus so ist). Es geht vielmehr um die Furcht des Heterosexuellen, als schwul zu gelten, d. h., eine nicht maskuline, nicht männliche Seite seiner Persönlichkeit zu zeigen. Über die Charakteristik dieser Angst der Russländer schrieb bereits einer der Begründer der gegenwärtigen russischen Sexualwissenschaft, Igor’ S. Kon.8 Sexuelle Gewalt und Phobien Diese Ängste werden durch sexuelle Gewalt in russländischen Gefängnissen und in der Armee noch verstärkt, wobei dem Vergewaltigten die männliche Identität abgesprochen wird, während sich der Vergewaltiger auf paradoxe Weise überhaupt nicht als Homosexueller wahrnimmt, sondern im Gegenteil sein Handeln als Verkörperung seiner heterosexuellen Maskulinität betrachtet. Angesichts der spezifischen Kultur im postsowjetischen Raum, in dem noch bis vor kurzem praktisch jede beliebige Person ins Gefängnis geraten konnte (insbesondere und am häufigsten zu Zeiten Stalins), und wo der Aufruf zum Militärdienst die Mehrheit der Männer betrifft, sind die mit Gefängnis und Armee verbundenen Praktiken und Ängste praktisch jedem erwachsenen Mann in Russland bestens bekannt. Orthodoxe Gläubige und Geistliche stellen keine Ausnahme von dieser Regel dar. Hinzu kommt, dass letztere der Homophobie in gewissem Sinne noch stärker ausgesetzt sind, weil sie häufig an eine sog. „blaue Lobby“ in der ROK glauben (als „Blaue“ werden Homosexuelle im russischen Slang bezeichnet). Die Frage, inwiefern sich Priester und 8 Kon, Igor’: Mal’čik – otec mužčiny, Moskau 2009. Bischöfe, die Sex mit Männern praktizieren, sich wirklich gegenseitig stützen, bleibt offen, und die Vorstellungen von einer übermächtigen „Lobby“ sind wohl eher übertrieben. Dennoch besteht an der Tatsache selbst, dass es an orthodoxen Seminaren und ebenso im Umfeld der heutigen Bischöfe homosexuelle Beziehungen gibt, in den letzten Jahren kein Zweifel mehr. Obwohl die Kirche offiziell versucht, die damit zusammenhängenden Skandale unter den Teppich zu kehren, haben einige von ihnen große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, so z. B. die Krise im Geistlichen Seminar in Kazan‘ im Jahr 2013, die mit Entlassungen und Kaderwechseln endete (s. RGOW 2/2014, S. 4-5). Dabei stellen homosexuelle Beziehungen im Bischofsamt keine allzu große Überraschung mehr dar – die künftigen Erzpriester verbringen ihr ganzes Leben in geschlossenen männlichen Gemeinschaften (Seminaren, Klöstern, in einigen Fällen in der Armee) und kommen unvermeidlich mit diesem Aspekt des sexuellen Lebens in Berührung – und es ist durchaus verständlich, dass einige dabei zwar keine eigene homosexuelle Identität entdeckten, jedoch sich von homosexuellen Praktiken angezogen fühlen. Dabei kann man davon ausgehen, dass auch diese Geistlichen, seien es Bischöfe, ihre Dienstsekretäre und „Zellenwarte“, Seminarlehrer oder wer auch immer, einem ständigen psychologischen Druck ausgesetzt sind, der mit sozialen Risiken (Outing, der Zorn der Vorgesetzten, Verachtung durch die Gemeindeglieder) oder religiösen Ängsten zusammenhängt, da die meisten von ihnen ihr Verhalten als Sünde reflektieren. In noch größerem Maße werden ihre Kollegen von diesen Ängsten ergriffen, Seminaristen und Geistliche, die eine ständige Angst vor hypothetischen Verführungs- oder Vergewaltigungsversuchen verspüren. Es ist nicht erstaunlich, dass diese Angst scharfe Kritik seitens einfacher Gläubiger und Geistlicher am Bischofsamt provoziert, ungeachtet dessen, dass solche Kritik überhaupt nicht zu den Traditionen der russischen Orthodoxie gehört. Die homophobe Bewegung wird von populären Geistlichen wie dem berühmten Diakon Andrej Kurajev angeführt, und die Suche nach Mitgliedern der „blauen Lobby“ verwandelt sich zu einer Art Hexenjagd. Dabei werden beliebige persönliche Beziehungen zwischen Bischöfen und banaler Nepotismus plötzlich als Anzeichen einer verborgenen Homosexualität betrachtet, jede exponierte kirchliche Figur gerät unter Verdacht, und so ist, so paradox es auch erscheinen wird, der einzige Beweis der „Ehrlichkeit“ eines Bischofs de facto der Nachweis einer heterosexuellen Beziehung, die aus Sicht der kirchlichen Kanones ebenso verboten ist. Auf diese Weise erzeugt sich die Phobie quasi selbst und wird immer umfassender und irrationaler. [S.28] Niedriger Bildungsstand der Geistlichen Dabei ist natürlich wichtig, dass die Samen der Phobie auf fruchtbaren Boden fallen. Noch Mitte der 2000er Jahre bemerkte der bekannte ROK-Forscher Nikolaj Mitrochin, dass „die erdrückende Mehrheit der Bischöfe über keine Bildung verfügt, die derjenigen, welche die Elitengruppen der Bevölkerung an Instituten und Universitäten erhalten haben, gleichwertig wäre. Ungeachtet der acht Jahre (und für viele weniger) Studium an einer spezialisierten Hochschule kann man das Wissen und die Kompetenzen der Bischöfe nur mit dem Niveau eines säkularen Technikums, im besten Fall mit den ersten zwei, drei Studienjahren eines Instituts vergleichen“.9 Seither ist in der Kirche eine neue Generation von Bischöfen herangewachsen, weil Patriarch Kirill die Zahl der Eparchien auf dem Territorium der Russländischen Föderation stark erhöht hat. Doch hat sich die Situation kaum zum Besseren verändert: Berechnungen auf Grundlage offiziell veröffentlichter Biographien der aktuellen Bischöfe zeigen, dass von den 177 Personen, die zwischen 2009 und 2014 einen Bischofssitz erhalten haben, nur 49 (ca. 42 Prozent) über eine höhere oder nicht abgeschlossene höhere säkulare Bildung verfügt, die Mehrheit aber, fast 60 Prozent, hat nur die obligatorische Schulbildung oder ein Berufstechnikum (College) abgeschlossen. Dabei gilt, dass je jünger ein Bischof ist, desto unwahrscheinlicher ist eine Hochschulbildung – von 64 Bischöfen, die in den 1970er und 80er Jahren geboren wurden, haben nur 22 eine säkulare Hochschule abgeschlossen, also etwa ein Drittel. Das erklärt auch die biologische und humanwissenschaftliche Unbildung bei vielen Wortführern der Kirche – die Mehrheit von ihnen kennt die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft über die menschliche Sexualität schlicht nicht. Dazu kommt, dass von den 49 gebildeten Bischöfen 31 entweder eine technische oder eine militärische Ausbildung durchlaufen haben, so dass sie in deren Verlauf kaum mit den Erkenntnissen der modernen Medizin oder der Geisteswissenschaften in Berührung gekommen sind. Die andere Seite des Problems ist ein banaler Mangel an realen Vorstellungen über das Familienleben: Über 85 Prozent der Bischöfe, die in der Amtszeit von Patriarch Kirill eingesetzt wurden, waren nie verheiratet, mehr als 55 Prozent wurde kurz nach Seminarabschluss oder schon während der Ausbildung Mönche, das heißt sie haben ihre ganze Jugend in geschlossenen männlichen Gemeinschaften verbracht. Es ist kaum Mitrochin, Nikolaj: Social’nyj lift dlja verujuščich parnej s rabočich okrain: episkopat sovremennoj Russkoj pravoslavnoj cerkvi. In: Kaaariajnena, K; Furman, Dmitrij: Starye cerkvi – novye verujuščie, novye cerkvi – starye verujuščie: Sbornik statej. Moskau 2007, S. 260-324. 9 vorstellbar, dass dies keinerlei Einfluss auf ihre Vorstellungen über Sexualität und das Familienleben gehabt hat. Doch die Familienpolitik der Kirchen wird gerade von dieser Gruppe bestimmt, die wenigstens auf den ersten Blick nicht über genügend entsprechende professionelle Kompetenz verfügen, und schon gar nicht über eigene Lebenserfahrung in diesem Bereich. Die Blüte sexueller Phobien in der ROK ist eine natürliche Folge dieser Situation. Das maskuline Ideal Homophobie und Transphobie sind, wie bereits bemerkt wurde, ein Teil der Angst vor dem Verlust der Maskulinität. Doch welcher Art ist denn das Männlichkeitsideal der gegenwärtigen Kirche? Heleen Zorgdrager stellt eine Hypermaskulinität des idealen Männerbildes im gegenwärtigen Russland fest und bringt seine Verbreitung mit Gefängnispraktiken, der Verbreitung von Kinokriegshelden und entsprechenden Büchern, aber auch mit der Staatspropaganda in Verbindung, wobei Präsident Vladimir Putin als hypermaskulines Rollenvorbild angesehen wird.10 In kirchennahen Kreisen bekommt man aber nichts von Bezügen auf Kinofilme oder das Gefängnis zu hören – das sind keine offiziellen Rollenmodelle. Weit häufiger spricht man von der traditionellen Funktion des Mannes in der Familie. Als Ideal für religiöse Konservative dienen hierbei die vorrevolutionäre Erfahrung, eine Kosaken- und Kriegsästhetik, die Idee des „Sieges russischer Waffen“ unter orthodoxen Bannern, zu denen auch die Schlachten des Zweiten Weltkriegs zählen, und in letzter Zeit auch die Annexion der Krim. Im Umfeld konservativer Gläubiger stellt nicht selten der Soldat das ideale Vorbild für einen Jungen dar, und militaristische Beispiele werden auch in einigen orthodoxen Waisenhäusern kultiviert.11 Als grelle Illustration dessen, wie die Vorbilder von Mönch und Soldat sich im Rahmen einer religiösen Organisation verschmelzen können, sei der Bund orthodoxer Kirchenfahnenträger (russ. Sojuz pravoslavnych chorugvenoscev) erwähnt, eine ultrakonservative kirchennahe Gruppe, die aufgrund ihrer antiliberalen und homophoben Aktionen bekannt ist. Allerdings fehlt diesem Ideal des Männersoldaten eine körperliche Komponente. Aufgrund von Vorstellungen, die vor allem mit der erwähnten Angst vor Homosexualitätsverdacht zusammenhängen, meiden Männer im kirchlichen Umfeld Körperkontakt, abgesehen vom 10 Zorgdrager, Heleen: Homosexuality and hypermasculinity in the public discourse of the Russian Orthodox Church: an affect theoretical approach. In: International Journal of Philosophy and Theology 74, 3 (2013), S. 214-239, hier S. 221-222. 11 Als Beispiel sei hier der strenge und manchmal gewalttätige Umgang mit den Kindern im Frauenkloster Bogoljubovo genannt (s. RGOW 2/2011, S. 6-7). Eine positive Darstellung der dortigen Vorkommnisse liefert Stešin, Dmitrij: Čto na samom dele stoit za konfliktom v Bogoljubskom monastyre?: http://www.kp.ru/daily/24595/762882/. dreifachen Osterkuss (einer zutiefst rituellen Handlung) und der Handauflegung, die dennoch manchmal negativ bewertet werden. Der männliche Körper wird in diesem Umfeld nivelliert, er ist praktisch abwesend. Es herrscht die Vorstellung einer normativen Maskulinität, die eine gewisse Verwahrlosung impliziert (in vernünftigen Grenzen), eine Vernachlässigung von Äußerlichkeiten, eine eigenartige Angst vor körperlicher Schönheit als Qualität, die felsenfest nur mit Frauen assoziiert wird. Der männliche Körper wird desexualisiert, und es ist kein Zufall, dass man in orthodoxen Journalen leicht Photographien von gepflegten und auf ihr Äußeres achtendes Frauen findet (es gibt sogar ein spezielles Journal für orthodoxe Mode, die Slavjanka), aber praktische keine von Männern. Ein Problem für die gegenwärtige orthodoxe Kultur ist zudem die Tatsache, dass die Mehrheit der kirchlichen Männer den vorgegebenen Rollenmodellen kaum entspricht. Sie sind nicht nur keine Krieger, sondern sie entsprechen auch ganz und gar nicht den Forderungen, die an das Verhalten eines orthodoxen Ehegatten und Vaters gestellt werden. Das ist kaum verwunderlich, da diese Forderungen auf einer Kultur beruhen, die vor 100 Jahren aktuell war: Die patriarchale vorrevolutionäre Bauernfamilie ist in der modernen säkularen Stadtkultur Russlands schwerlich eine Option. Doch diese Nichtentsprechung beunruhigt die Orthodoxen. Diese Sorge lässt sich nicht nur an den Aussagen orthodoxer Frauen erkennen (in der Realität oder im Internet), sondern auch an den Bemerkungen von [S.29] Wortführern der Kirche. So bezeichnete der Priester Andrej Tkatschev die modernen russischen Männer in der Publikation „Männliche Religion“ als „Waschlappen, Halunken und Faulenzer“ und sogar als „Biomasse“, und fügte hinzu, dass „die Verwandlung eines Waschlappen und Faulenzers in einen vollwertigen Menschen nur unter der Wirkung der Gnade möglich“ sei.12 Denselben Gedanken äußerte Vater Dmitrij Schischkin im Artikel „Warum in der Kirche wenig Männer sind“, und Andrej Rogosjanskij im Artikel „Wo ist der echte Mann verschwunden?“ sowie die amerikanische orthodoxe Publizistin Federica Mathewes-Green.13 In all diesen Artikeln findet sich der folgende gemeinsame Gedanke: Während säkulare Männer degenerieren („die Degeneration der Männer, die ungläubig sind, saufen wie ein Loch und schwach sind“), bewahren nur wenige kirchliche Männer das Ideal der Maskulinität, oder sind wenigstens dazu berufen: „Füllt die Kirchen mit starken und 12 http://www.pravmir.ru/muzhskaya-religiya/#ixzz325PHeBvo. http://www.pravoslavie.ru/put/52272.htm; http://www.foma.ru/kuda-ischez-nastoyashhij-muzhchina.html; http://frederica.com/writings/men-and-church.html. 13 klugen Vertretern der ersten und hauptsächlichen Hälfte der Menschheit, mit jenen, die zuerst geschaffen wurden, denn damit werdet ihr die Nachtklubs, Kasinos, Rehabilitationskliniken für Drogenabhängige und jegliche Bolotnaja-Plätze14 mit ungesunder politischer Aktivität leeren“. Ähnliche Gedanken habe ich schon mehrmals von einfachen Gläubigen gehört: Rechtschaffenheit in Verbindung mit einem traditionellen maskulinen Ideal und Vermeiden von Femininität wird als richtiges und echt-männliches Verhalten betrachtet. Auf diese Weise formiert sich das ideale Männerbild der gegenwärtigen Kirche eher ex negativo: Ein Mann ist nicht homosexuell, keine Frau, kein charakterloser Angsthase, er ist ein Mensch, der moderne sexuelle und Gender-Ideen ablehnt. Im Idealfall ist er gläubiger Familienvater und ein potentieller Krieger oder ein Mönch, d. h., ein Kämpfer gegen das Böse – im physischen oder spirituellen Sinne. Dieses Ideal ist einem breiten russischen Publikum gut bekannt, auch wenn es häufig nicht so direkt formuliert wird – und deshalb wird die orthodoxe Religiosität jährlich häufiger als Beweis von Maskulinität betrachtet: Ein „echter Mann“ soll zur Kirche gehen, d. h., das demjenigen, der zur Kirche geht, die Qualität eines „echten Mannes“ zugesprochen wird. Gegenwärtig wird dieses maskuline Ideal verstärkt, einerseits wird es von kirchlichen Erwartungen unterstützt, andererseits von der staatlichen militaristischen und homophoben Propaganda, und drittens durch einen Mangel an Bildung im Umfeld der Geistlichen und der einfachen Gemeindeglieder. Auch wenn nur wenige Prozente der russischen Staatsbürger regelmäßig zur Kirche gehen oder religiöse Neuigkeiten verfolgen, so wird dieses von der Kirche kultivierte Ideal in den letzten Jahren in der russländischen Massenkultur immer spürbarer. Manche mögen den Eindruck haben, es dominiere. Das ist teilweise durchaus der Fall, aber doch nicht ganz, da in den letzten Jahren auch immer häufiger die Stimmen zu hören sind, die anders denken – orthodoxe LGBT-Menschen, Feministinnen, liberale Kritiker der konservativen Politik des Moskauer Patriarchats. Die Kirche verändert sich, aber insgesamt werden diese Veränderungen viel Zeit in Anspruch nehmen. Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen. Konstantin Mikhailov, Zentrum für Religionsstudien an der Russischen Staatlichen Universität für Humanwissenschaften (RGGU) Auf dem Bolotnaja-Platz im Moskauer Stadtzentrum endeten 2011/2012 drei der größten Demonstrationen gegen die Wahlfälschung und die Partei Geeintes Russland. Am 6. Mai 2012 wurden auf dem Bolotnaja-Platz im Zusammenhang mit dem „Marsch der Millionen“ massenweise Demonstranten verhaftet (s. RGOW 10/2013, S. 8-11). 14