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in: Viceversa. Jahrbuch der Schweizer Literaturen #10(2016) Eigenwillige Echos: Zu Heidis Nachleben im Film Von Johannes Binotto In einer frühen Szene aus Luigi Comencinis Heidi-Verfilmung von 1952 steigen Heidi und der Geißenpeter in die Höhe, um nachzuschauen, »wo der Bach herkommt«. Oben auf dem Grat angekommen, zeigt Pe- f ter seinem Heidi nicht nur die überwältigende Natur, sondern auch, Pr oo wie der eigene Ruf von den sie umgebenden Bergen als Echo widerhallt. »Großvater!« und »Heidi!« rufen die Kinder in die Landschaft und das Echo spricht es ihnen nach. Als jedoch der Geißenpeter in seinem Übermut auch ein Schimpfwort in die Landschaft brüllt – »dummi, blödi Schwiichatz dräckigi« –, bleibt der Widerhall aus, sehr zum Erschrecken der beiden Kinder, die glauben, das Echo erzürnt zu haben. Dieser amüsante Einfall findet sich in der Form nicht in der Vorlage von Johanna Spyri. Er ist eine Zutat des Films. Umso mehr aber ließe sich die Idee vom selektiven Echo auch als unfreiwilliger ed Kommentar übers eigene Medium und dessen Umgang mit dem HeidiStoff lesen. Wie das Echo in dieser Szene, welches nicht alles reproduziert, sondern nur wiedergibt, was ihm genehm ist, so hat sich auch die Filmgeschichte als Echoraum erwiesen, der den Heidi-Stoff ganz ct unterschiedlich nachgebildet hat, nie eins zu eins, sondern immer mit ganz entscheidenden Veränderungen. Doch es sind gerade diese Un- re terschiede in der Wiedergabe von Johanna Spyris Doppelroman, die Heidis filmisches Nachleben erst so interessant machen. Darum ist denn auch die Frage danach, welche der Adaptionen besonders werkgetreu sei, eigentlich müßig und zielt letztlich genau an dem vorbei, or was die betreffenden Filme so spannend macht. Ohnehin beweist der alte und immer wieder gerne von Leserseite erhobene Vorwurf gegen das Kino, es verfälsche in seinen Adaptionen die literarische Vorlage, U nc immer nur aufs Neue, wie wenig man vom Kino als eigenständiger Kunstform verstanden hat. Schließlich wirft man auch einem Gemälde nicht vor, dass es anders funktioniert als ein geschriebener Text, und so kann auch der Film wegen seiner grundlegend anderen Media- lität schlechterdings nicht anders, als eine literarische Vorlage komplett umzugestalten. Wären Verfilmungen schlicht dasselbe wie ein Roman, bräuchte es die Filme gar nicht. Mithin sind Literatur-Verfilmungen gerade nicht daran zu messen, wie nah an der Vorlage sie sich 90 bewegen, sondern vielmehr daran, wie eigenwillig sie den Stoff dem eigenen Medium entsprechend verändern. Eigenwilligkeiten bestimmen denn auch die Heidi-Filme. Dabei ist der unterschiedliche Widerhall des Heidi-Stoffs im Echoraum des Kinos umso interessanter, als in den Verfilmungen nicht nur ganz verschie- Pr oo sessionen der jeweiligen Zeit und Kultur zeigen, in denen die Verfil- f sondern vor allem auch, weil sich Anliegen, Befürchtungen und Obmungen entstanden sind. Der literarische Stoff wird zur Versuchsanordnung, in der sich unterschiedlich experimentieren lässt. So nutzt schon die allererste Verfilmung, der amerikanische Stummfilm Heidi of the Alps von 1920, Regie Frederick A. Thomson, den Stoff vor allem zur Erprobung der eigenen Technik: Das Alpensetting eignet sich bestens, um das frühe, unterdessen in Vergessenheit geratene Zweifarbensystem Prizma vorzuführen, in dem der Film gedreht wurde. Ist ed Heidi im ersten Roman überwältigt von der Abendsonne, welche die Berge zum Glühen zu bringen und den Schnee zu verbrennen scheint, veranstaltet das frühe Kino seinen ganz eigenen chemischen Farbenzauber. Die darauffolgende, wiederum aus den USA stammende Heidi- ct Verfilmung von Allan Dwan aus dem Jahr 1937 wird den Schweizer Stoff schließlich komplett den Vorlieben des klassischen Hollywood anpassen, indem er Heidi vom größten Boxoffice-Star dieser Jahre re spielen lässt: von dem Kinderstar Shirley Temple. Deren Heidi mag man denn auch die vorgegebene Naivität nie recht glauben. Allzu selbstbewusst stampft Temple durch die Sets und spielt dabei vor al- or lem sich selbst. Bemerkenswert ist indes auch, dass der Film die Geschichte expatriiert und nach Deutschland in den Süden des Schwarzwalds versetzt. Und wenn Heidi zusammen mit dem Großvater in einem Bilderbuch blättert, folgt kurzerhand eine in Holland angesie- U nc delte Musicalszene. Die amerikanische Perspektive lässt die Distan- zen schrumpfen, und die Fantasie übertrumpft jeden realistischen Anspruch. Die Landschaften, in denen der Film spielt, sind ohnehin alle nur gemalte Kulissen. Europa wird zum Bilderbuch, in dem alles von derselben putzigen Exotik ist und es von Windmühlen zu Alphütten nur einen Kameraschwenk braucht. Wenn Shirley Temple am Dorfbrunnen belustigt einen jodelnden Wandersmann zu imitieren versucht, entpuppt sich ihr Heidi endgültig nicht als Kind von hier, sondern 91 Essay Johannes Binotto dene Aspekte von Johanna Spyris Roman hervorgehoben werden, eigentlich als amerikanische Touristin, die sich in ein märchenhaftes altes Europa hineinträumt. Das alles mag man dem Film als üble Verzerrung vorwerfen, zugleich aber spiegelt sich darin bloß eine Methode, die schon dem Roman selbst eigen ist. Auch dort ist Heidis Leben in der freien Natur mehr phantasmatische Projektion und Idealisierung einer urbanen Erzähle- f rin als wirklich gelebte Realität. Das Prinzip wiederholt sich auch in Pr oo der Erzählung selbst, wenn Heidi umso intensiver vom Leben auf der Alp träumt, je städtischer ihre Umgebung ist. Lässt sich also das in der Stadt von den Alpen träumende Heidi als selbstreflexiver Kommentar über den Roman selbst lesen, so drehen die Filme diese Schraube der Selbstreflexion weiter: Film – so wird hier offensichtlich – ist vor allem Projektion, im konkreten ebenso wie im übertragenen Sinn. Was der Projektor an Bildern auf die Leinwand wirft, sind zugleich Projektionen eines anderen Lebens, das der Zuschauer nur aus seinen Träu- ed men kennt. Da ist es umso faszinierender, dass auch die erste Schweizer Verfilmung von Heidi durch Luigi Comencini die Geschichte einer Projektion ist – hier nun aber in umgekehrter Richtung. Nicht der Alpenraum, ct sondern die deutsche Großstadt ist hier Gegenstand des Traums. Der Film, so betont es explizit der Vorspann, wurde vor Ort im Kanton Graubünden gedreht. Die Szenen sollten »bestimmt nicht meilenweit re nach Atelierluft riechen«, wie es in der zeitgenössischen Presse hieß. Doch während bei Comencini die Alpenszenerie realistisch wirken mag, entpuppt sich dafür der Gegenort Frankfurt als umso phantas- or matischer. Tatsächlich wurden die entsprechenden Szenen denn auch nicht in Frankfurt, sondern in Basel gedreht. Wenn es Heidi in einer der Szenen nicht mehr aushält und auf den Frankfurter Dom U nc steigt, ist nicht nur der von Armin Schweizer mit unüberhörbarem Ak- zent gespielte Turmwärter offensichtlich kein Deutscher, sondern auch die Aussicht, welche Heidi vom Turm aus auf Deutschland hat, eine fadenscheinige Fälschung. Das Panorama von Frankfurt, das entdeckt sogar das ungeübte Auge, ist nur eine Fototapete. Diese kam deswegen zum Einsatz, weil die Stadt zu Heidis Füßen zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch teilweise in Trümmern lag. Im deutsch-österreichischen Remake des Films von 1965 ist das bereits wieder anders und besagte Szene wird dort zur Zelebrierung eines brummenden 92 Wirtschaftswunderdeutschlands mit Straßen voller Autos und eiliger Menschen in eleganten Kleidern genutzt. Im Schweizer Original von 1952 hingegen ist von solchem Erfolg noch nichts zu spüren und sehen. Deutschland bleibt ein Phantom. So entpuppt sich Comencinis nostalgischer Film über eine Idylle des 19. Jahrhunderts unversehens als Deckerinnerung, hinter deren gefälschten Panoramabildern auch das di-Filmen nachlesen – ein voreiliger Journalist in der Westdeutschen Allgemeinen behauptet, der Heidi-Stoff sei für diesen Film aktualisiert und so von einem Heimatfilm zu einem Trümmerfilm gemacht worden. Ganz so radikal war der fertige Film dann zwar nicht. Unbe- absichtigt aber und hinter seinen offensichtlich unwirklichen Nostalgiebildern von Frankfurt ist die schaurigen Realität der jüngsten Geschichte vielleicht noch irritierender spürbar, als wenn man sie direkt ed gezeigt hätte. Und ganz ähnlich ist auch die wohl am stärksten belächelte aller Filmadaptionen der Heidi-Romane, die berühmte japanische Animationsfilm-Serie von 1974 unter dem Deckmantel der rückwärtsgewand- ct ten Kindheitsverklärung auch ein subtiler Kommentar über die aktuelle Gegenwart. Isao Takahata, der Regisseur der Serie, betont denn auch, dass ihm die Realisierung ausgerechnet dieser Serie umso re wichtiger erschien in einer Zeit, da die Umweltverschmutzung wie auch die sozialen Verschiebungen im Zuge des ökonomischen Wachstums in Japan immer stärker spürbar geworden seien. Er habe gefühlt, or dass die japanische Gesellschaft Spyris Geschichte jetzt besonders nötig habe. Das Interesse an der ländlichen Idylle ist durch das Gefühl ihres Verlusts begründet. In der Tat nimmt Takahata damit einen Fa- U nc den auf, der ihn später zu seinem erschütternden Weltkriegsfilm Die letzten Glühwürmchen führt, worauf auch unlängst Oswald Iten im Filmbulletin hingewiesen hat. Takahatas Die letzten Glühwürmchen über zwei Kinder in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs, der zu- gleich auch prophetische Imagination verheerender Atomkriege der Zukunft ist, hat in Heidi seine heimlich-unheimliche Vorläuferin. So erweist sich denn auch die in der Erinnerung als durchwegs heiter scheinende Bilderwelt der japanischen Heidi-Serie bei erneuter Betrachtung als grundiert von der Erfahrung des Verlusts und der Zer- 93 Essay Johannes Binotto Pr oo kann man bei Ingrid Tomkowiaks Ausführungen zu den Schweizer Hei- f ganz aktuelle Trauma des Weltkriegs lauert. Tatsächlich hatte – so störung. Auch darin ist Takahata erstaunlich nah an Spyris Romanen, durch die sich ebenfalls eine obsessive Beschäftigung mit dem Tod und dem Verlust geliebter Personen zieht. Takahata nimmt diese Obsession auf und verleiht ihr gleichsam ein kosmische Dimension: Nicht nur der Einzelne, eine ganze Welt ist vom Untergang bedroht – ein Thema, das sich nicht nur in Takahatas Œuvre, sondern insbesondere in f den späteren Meisterwerken seines Heidi-Mitarbeiters Hayao Miya- Pr oo zaki, in Filmen wie etwa dem apokalyptischen Nausicaä aus dem Tal der Winde explizit zeigen wird. Das japanische Heidi erweist sich so geradezu als verkappter Schlüsselfilm für diese späteren, ungleich düstereren Werke. Und doch ist dieser Zug ins Abgründige durchaus bereits in den Romanen Spyris vorhanden – es galt nur, diesen Aspekt schärfer spürbar zu machen. Zugleich machen Takahata und Miyazaki mit dem Heidi-Stoff indes auch etwas ganz Eigenes, etwa wenn sie die Frömmigkeit von Klaras Großmutter sanft zurücknehmen und sie stattdessen zu einer überaus eigenwilligen Figur der weiblichen ed Emanzipation machen (eine Nachwirkung möglicherweise eines kurz zuvor gescheiterten Projekts Takahatas, nämlich eine Fernsehadaption von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf zu drehen). Wenn Klaras Großmutter das heimwehkranke Heidi in der 28. Episode der Serie in ct ein hinter der Bücherwand verborgenes Zimmer des Frankfurter Anwesens mitnimmt, ist dieser geheime Raum auch als ein »room of one’s own« zu verstehen, wie ihn Virginia Woolf in ihrem gleichnami- re gen Essay als Voraussetzung weiblicher Selbstentfaltung beschreibt. So ist Takahatas Heidi nicht zuletzt auch ein Gegenentwurf zu den damals das japanische Kinderfernsehen dominierenden männlichen or Identifikationsfiguren. Damit machen denn der Schweizer Heidi-Film von 1952 wie auch die U nc japanische Heidi-Serie von 1974 zumindest implizit bereits das, was Markus Imboden mit seinem Heidi-Film von 2001 versuchen wird: den alten Stoff nicht als Nostalgiestück, sondern als Auseinandersetzung mit der Gegenwart zu nehmen. Tatsächlich ließe sich wohl auch für die unzähligen anderen Heidi-Filme zeigen, dass sie alle, ob gewollt oder ungewollt, immer auch ihre eigene Entstehungszeit thematisieren. Imbodens explizite Transponierung der Vorlage in die Jetztzeit mit einem sich in Berlin die Haare blau färbenden Heidi, welches im Internetcafé mit ihrem Freund Peter Kontakt aufnimmt, ging dem Publikum 94 leider zu weit. Was Imboden von Spyris Roman als Echo zurückbehalten hat, erschien einer Mehrheit der Zuschauer wohl als allzu eigenwillig. Die jüngste Heidi-Adaption von Alain Gsponer aus dem Jahr 2015 ist demgegenüber vorsichtiger und offenbar besser auf den Massengeschmack eingestellt. Einen bemerkenswerten Eigenklang hat indes auch dieses filmische Echo: Während bei Johanna Spyri Heidi Schreiben – damit sie später einmal selber Geschichten schreiben könne, wie Heidi erklärt. Dass in diesem Einfall eine selbstreflexive Anspielung auf die Autorin Johanna Spyri steckt, haben alle Kommentatoren sogleich bemerkt. Weniger offensichtlich ist indes, dass sich dies auch als Anspielung auf das filmische Nachleben des Stoffes ver- stehen lässt. Denn so wie die Heidi-Figur bei Gsponer selber zu schreiben beginnt, so haben sich auch die früheren Heidi-Filme nie einfach nur mit der Lektüre zufriedengegeben, sondern haben ihre eigene ed Geschichte immerzu um- und weitergeschrieben. Das Kino schreibt weiter. Das Echo ist noch nicht verklungen. nc or re ct Quellen Hervé Dumont, Geschichte des Schweizer Films. Spielfilme 1896–1965. Lausanne: Cinémathèque suisse, 1987. Oswald Iten, »Die Schweizer Berge zwischen Sehnsucht und Idylle«. In: Filmbulletin, 6 (2015), S. 56–57. Isao Takahata, »Making of the TV Series ›Heidi, a Girl of the Alps‹«. In: Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien (Hg.): Johanna Spyri und ihr Werk – Lesarten. Zürich: Chronos, 2004, S. 189–204. Ingrid Tomkowiak, »Die Schweizer ›Heidi‹-Filme der 50er Jahre«. In: Johanna Spyri und ihr Werk – Lesarten. A. a. O., S. 205–222. Jean-Michel Wissmer, Heidi. Ein Schweizer Mythos erobert die Welt. Aus dem Französischen von Ernst Grell. Basel: Schwabe, 2014. U Johannes Binotto, geboren 1977, ist Kultur- und Medienwissenschaftler, freier Autor, Mitarbeiter am Englischen Seminar der Universität Zürich und Dozent für Filmtheorie an der Hochschule Luzern Design+Kunst. www.schnittstellen.me. 95 Essay Johannes Binotto Pr oo seiner Drehbuchautorin Petra Volpe anstelle der Gottesfurcht das f bekanntlich lesen und beten lernt, lernt sie bei Alain Gsponer und f Pr oo re ct ed Allan Dwan, Heidi, 1937 (Jean Hersholt, Shirley Temple und Delmar Watson) U nc or Luigi Comencini, Heidi, 1952, (Elsbeth Sigmund, homas Klameth und Heinrich Gretler) Isao Takahata, Heidi, 1974 f Pr oo ed U nc or re ct Heidi, TV-Serie von Tony Flaadt & Joachim Hess, mit Katia Polletin (Heidi), Stefan Arpagaus (Geißenpeter) und René Deltgen (Alpöhi) Markus Imboden, Heidi, 2001 (Cornelia Gröschel und Nadine Fano) Alain Gsponer, Heidi, 2015 (Anuk Stefen, Bruno Ganz und Quirin Agrippi)