Lars C. Grabbe, Patrick Rupert-Kruse,
Norbert M. Schmitz (Hg.)
Zum Verhältnis von Bildtechnologien
und Embodiment
büchner BEWEGTBILDER
BILDKÖRPER
© 2016 Büchner-Verlag eG
Bildkörper
© 2016 Büchner-Verlag eG
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Lars C. Grabbe, Patrick Rupert-Kruse,
Norbert M. Schmitz (Hg.)
Bildkörper
Zum Verhältnis von Bildtechnologien
und Embodiment
büchnerverlag
wissenschat und kultur
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ISBN (Print) 978-3-941310-71-1
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Inhalt
Dank .............................................................................................................. 7
Einleitung ..................................................................................................... 9
Lars C. Grabbe, Patrick Rupert-Kruse & Norbert M. Schmitz
Von der Handgreiflichkeit des Denkens oder
Die Verkörperlichung des Geistes .........................................................18
Norbert M. Schmitz
Abstrakt – Affektiv – Multimodal: Zur Verarbeitung von
Bewegtbildern im Anschluss an Cassirer, Langer und Krois .............46
Martina Sauer
Körperfilme – Filmkörper: Ein neurowissenschaftlicher Beitrag
zu Embodiment im Film .........................................................................72
Katrin Heimann
Bewusstseinsikonografien und Räume der Kognition im
zeitgenössischen Science-Fiction-Kino .................................................96
Matthias Schulz
Verkörpertes Filmverstehen und intermediale Referenzen:
Ein cybersemiotischer Ansatz .............................................................. 127
Jacobus Bracker
»Language is (not) obvious«: Asynchrone Bewegtbilder von
Geste und Wort ...................................................................................... 147
Jeanine Reutemann
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6
INHALT
Parallaxe der Wahrnehmung und Subjektivierungsformen in
Inception ..................................................................................................... 172
Jihae Chung
Media Embodiment: Die technologische Basis der Verkörperung
digitaler Bilder ......................................................................................... 191
Lars C. Grabbe & Patrick Rupert-Kruse
Zur Grundlegung einer Ästhetik des Embodiments in digitaler
Medienkunst ........................................................................................... 213
Jin Hyun Kim
Autorinnen und Autoren ...................................................................... 234
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Media Embodiment:
Die technologische Basis der
Verkörperung digitaler Bilder
Lars C. Grabbe & Patrick Rupert-Kruse
Einleitung
In seinem zukunftsweisenden Text The Cyborg’s Dilemma: Embodiment
in Virtual Environments (1997) entwickelte Frank Biocca das Konzept
des progressive embodiment. Mit diesem Theoriekonzept entwirft Biocca
ein interaktionistisches Modell des mediatisierten Raumes, in welchem sich physischer Körper und technologische Apparatur über ein
komplex gestaltetes Interface miteinander verbinden lassen. Diese
Verbindung bleibt allerdings nicht ein rein technisches Kalkül, sondern mündet direkt im kognitionsphilosophischen ›Cyborg’s Dilemma‹ und der damit verbundenen Problemstellung, wie sich das
subjektivierte Ich während der rezeptiven Verkörperung innerhalb
digitaler Bildsimulationen autonom von der artifiziellen Präsenz des
Technischen abgrenzen kann. Dies führt zu der bereits neurophänomenologisch anmutenden Frage: »Where am ›I‹ present?« (Biocca
1997: 24).
Mit Blick auf aktuelle Medientechnologien – vor allem in Bezug
auf immersive Interfaces und Displays – lässt sich plausibel vom
progressive embodiment oder von Medien der Verkörperung in zweifacher
Hinsicht sprechen: Zum einen unterstützen die von Biocca genannten Interfaces die virtuelle Verkörperung der Rezipienten in den simulierten Bildraum hinein; und zum anderen entwickeln sich die Medien immer stärker zu ›Körpern der Bilder‹, indem sie eine multimodale und damit sinnlich-extensive Repräsentation erlauben. Diesen
beiden Ausprägungen des progressive embodiment und dessen medientheoretischen Implikationen wollen wir uns im Folgenden widmen,
indem wir uns zunächst mit den Technologien der Virtuellen Realität
auseinandersetzen und deren Potential in Bezug auf Verkörperungs-
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LARS C. GRABBE UND PATRICK RUPERTKRUSE
Strategien analysieren. Von dort aus werden wir uns exemplarisch der
Versinnlichung des Digitalen durch immersive und multimodale
Interfaces widmen und dieses Phänomen an aktuellen medientechnologischen Entwicklungen aufzeigen. Damit soll gezeigt werden,
welchen zentralen Stellenwert Embodiment und speziell Bioccas
progressive embodiment in medien- und bildtheoretischen Überlegungen
einnimmt bzw. einnehmen sollte.
Virtualität: Technologie und Bestimmung
Thematisieren wir dynamische Bewegtbildkonzepte, dann wollen wir
eine kleine Richtungsveränderung fokussieren. Nicht Kinematografie
oder filmische Bewegtbilder stehen im Mittelpunkt, sondern digitale
Mediensysteme, deren Materialität eine scheinbar ganzheitliche, mediale Synchronisierung von Rezipient und technischem Artefakt
ermöglicht. Wir sprechen einerseits von Bewegtbildkonzepten innerhalb der Ausgestaltung der Virtual Reality (VR) und andererseits von
den subjektiven Bedingungen rezeptiver Dynamiken.
Im Wechselverhältnis von technologischer Entwicklung und
Wahrnehmungspotenzialen ereignete sich seit jeher ein kulturelles
Bedürfnis danach die subjektiven Erfahrungen in der Welt über Medien zu speichern, anschaulich werden zu lassen oder aktiv durch
medialen Einsatz zu transformieren. Virtualität ist damit natürlich
eine technische Variable, wird aber gleichermaßen diagnostisches
Instrument zur Charakterisierung einer kulturellen Entwicklungslogik. Begriffe wie »virtual reality«, »virtual environment« oder »simulation« (Biocca/Levy 1995: 5) geben hier deutlich einen erweiterten
Begriffsradius wieder.
VR leistet also neben einem komplexen apparativen Moment eine
nahezu kulturtheoretische Fundierung menschlicher Subjektivität, die
wiederum seit jeher mediale Umgebungen erzeugte, um ein Stück
weit die Begrenzungen physikalischer Realität zu überwinden. Dies
beschreibt bereits Ivan Sutherland im Jahr 1965: »A display connected to a digital computer gives us a chance to gain familiarity with
concepts not realizable in the physical world. It is a looking glass into
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MEDIA EMBODIMENT
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a mathematical wonderland« (506). Sutherland spricht hier ergänzend
vom Erreichen des »ultimate display« (ebd.: 508). Daniel Czitrom
betonte 1982: »[The] dream of transcendence through machines is an
ancient one, and the urge to annihilate space and time found particularly intense expression through new communication media« (187).
Biocca und Levy kennzeichnen diese Entwicklung als »ancient desire
for physical transcendence […] is nothing less than the desire to free
the mind from the ›prison‹ of the body« (1995: 7).
Sprechen wir in diesem Kontext also von Bewegtbildwissenschaft,
dann geht es hier weniger um die Analyse multimodaler Bildkonzepte
(vgl. Grabbe/Rupert-Kruse 2013) im Sinne der Repräsentation von
Bedeutung als vielmehr um die Strukturdimensionen der Repräsentation von Anwesenheit – in medialen Umgebungen. Es geht also weniger um logische Informationsgehalte, sondern vielmehr um kohärente sowie phänomenale Erlebnisinhalte während der subjektiven
Anwesenheit.
Obwohl VR bekanntermaßen ein ingenieurs-wissenschaftliches
Artefakt darstellt, zeigt sich deren Realisierung allerdings wesentlich
organischer, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Denn
die technischen Entwicklungsgrade sind konstant von ihrer phänomenal-leiblichen Einbettung in den rezeptiven Horizont abhängig,
also von der sensomotorischen Effektivität innerhalb der sinnlichen
Adressierung des Rezipienten:
»VR is not a technology; it’s a destination. The ultimate goal of VR interface design is nothing less than the full immersion of the human sensorimotor channels into a vivid computer-generated experience. In the
ideal system, the body is wrapped in communication and pulsates with
information. Media have always been environments – both radio and television dominate the rooms in which they are used and the minds that
use them. But the VR environment surrounds the senses. The optimist
would say VR embraces the senses; the pessimist would say it kidnaps
them« (Biocca/Levy 1995: 17).
VR zeigt sich folglich als komplexes Kommunikationssystem, wobei
dem Interface ein zentraler Stellenwert zugesprochen werden muss:
Hier verbinden sich die Prozesselemente der physikalischen Apparatur mit den sensomotorischen Kanälen des Rezipienten. Neben dem
Verstehen der Apparatur tritt also das Verstehen rezeptiver Dynami-
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ken, was Biocca und Levy als »psychosemiotics of VR« (1995: 18)
kennzeichnen.
Psychosemiose: Zum Verhältnis von Sinnlichkeit
und Apparat
Abbildung 1: Schematische Darstellung der Telepresence nach Steuer. (Quelle:
Steuer 1995; Bearbeitung durch die Autoren)
Die strukturelle Grundausrichtung der Wahrnehmung wurde im
Kontext der frühen Entwicklungen von VR als Telepräsenz (Abb. 1)
bezeichnet (heute weitestgehend als presence begriffen), wobei hier
selbst schon eine ontologische Differenz zum Tragen kommt. Zunächst haben wir die natürliche Wahrnehmung einer Situation oder
Umgebung, die dann ein spezifisches Präsenzbewusstsein ausprägt.
Kontrastierend zeigt sich dann die Telepräsenz als Moment der
Wahrnehmung einer medialen – oder durch mediale Vermittlung zu
Stande kommenden – Umgebung: »Telepresence is defined as the
experience of presence in an environment by means of a communication medium« (Steuer 1995: 36).
Zwei zentrale Subkategorien der Telepräsenz bilden das sinnliche
Adressierungspotenzial (vividness) eines Mediums sowie die multimodale Handlungsflexibilität innerhalb der Interaktivität (interactivity):
»However, the variables vividness and interactivity refer only to the representational powers of the technology, rather than to the individual; that
is, they determine properties of the stimulus that will have similar but
not identical ramifications across a range of perceivers« (ebd.: 41).
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Die sinnliche Adressierung zeigt sich hier unterscheidbar nach Umfang (breadth) und Tiefe (depth), wobei der Umfang einer ganzheitlichen Sinnesadressierung entspricht, die eine ganzheitliche Erfahrung
innerhalb eines medialen Environments hervorbringen kann.
Umfang korreliert dann mit der Annahme, dass sich die Inputs
die innerhalb unseres neuronalen Systems zu Perzepten werden (orientiert am relationalen Verhältnis von sensorischem und perzeptuellen System nach Mausfeld 2010), spezifische Grade von Intensität
aufweisen, je nachdem, welche Sinne am Wahrnehmungsakt beteiligt
sind. Der Tastsinn übernimmt hierbei die Primärfunktion, hier ereignet sich das haptische ›begreifen‹ der Welt. Der Sehsinn ist nachgelagert und besitzt bereits Informationen durch den Tastsinn (also
Raum, Ort, Lagebestimmung, Art und Weise von Objekten). An
dritter Stelle befindet sich das Gehör, welches Atmosphären erkennt
und serielle Vorgänge kodieren kann (Musik, Sprache etc.), eine
akustische Orientierung gilt allerdings als relativ unpräzise. Dann
folgen olfaktorische und gustatorische Sinnlichkeit (vgl. Singer 2009).
Nicht zu vergessen sind allerdings zwei eigenständige Sinnesdimensionen, die als Basissinne grundsätzlich unsere Wahrnehmungswirklichkeit konstituieren. Die Propriozeption bildet hier die Eigenwahrnehmung des individuellen Körperverhaltens im Raum aus (Lageveränderung, Ortsbestimmung, körperliche Reaktion wie Ausweichen oder ducken etc.). Die Viszerozeption hingegen stabilisiert die
nach Innen gerichtete Wahrnehmung der eigenen Organtätigkeiten.
Die Tiefe der Sinnesadressierung lässt sich dann als Bandbreitenphänomen bestimmen, bei dem die Tiefenqualität sinnlicher Adressierung von der Datenmenge sowie Datenübertragungsrate abhängig
ist.
Der vor allem auch in den game studies äußerst prominente Aspekt
der Interaktivität bildet den zweiten Grundpfeiler der Telepräsenz
und beschreibt die Gradstufen oder Handlungssysteme, mit denen
ein Rezipient die vielfältigen Formen und Inhalte einer medialen
Umwelt aktiv beeinflussen kann. Speed beschreibt das Potenzial zur
temporalen Synchronisierung zwischen Medium und Rezipient und
integriert Reaktions- sowie Latenzzeiten. Range charakterisiert die
quantitative Handlungsfähigkeit während der Handlung mit oder
durch die Gesamtanzahl aller interaktiven Artefakte sowie deren
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maximaler Beeinflussbarkeit untereinander. Mapping thematisiert
allgemein die Übersetzung physikalischer Handlungen über das Interface in das mediale Szenario (z.B. Gehen im CAVE, Tennis spielen
mit der Wii etc.). Etwas spezieller und für unsere Zwecke zielführender ist hier allerdings das Konzept des natural mapping:
»Natural mapping […] is typically thought of as how closely actions represented in a game match the actions used to bring about that change in
a real environment. […] [Adapting] virtual controls to movements of the
human body should bring about heightened levels of presence« (Skalski
et al. 2011: 226f.).
Es zeigt sich deutlich, dass diese Formen von Bewegtbildern eine
komplexe Synchronisierung verschiedener Artefaktdimensionen integrieren, wobei die Konstitution von Präsenz dann in der Lage sein
kann, komplexe Erfahrungsmuster zu initiieren und zu stabilisieren.
Werden vividness und interactivity zu autonomen, technischen Systemstufen, kann sich eine intermodale Konsistenz bzw. Kongruenz
zwischen den Sinnesdaten ereignen, die neben einer konsistenten
Medienerfahrung zu einem medialen Evidenzerleben führen kann
(vgl. Singer 2009: 105). Die von Biocca und Levy konstatierte »psychosemiotics« (1995: 18) wird dann zur Systembeschreibung einer
sich über Medium, Sinnesadressierung, Interaktivität und Psyche
erstreckenden medialen Hybridform.
Progressive Embodiment
Das Konzept des progressive embodiment ist eines der zentralen Konzepte unserer Ausführungen. Für Frank Biocca beschreibt dies eine
grundlegende und fortschreitende Entwicklung interaktiver medialer
Systeme:
»At the close of this century the development of advanced computer interfaces is characterized by what we might call progressive embodiment.
Progressive embodiment is the steadily advancing immersion and coupling of the body to advanced communication interfaces« (1997: 14).
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Im Fokus steht hierbei die umfassende sensorische Kopplung des
menschlichen Körpers mit multisensorischen Interfaces, was unter
anderem zum sogenannten natural mapping des Leibes in die Virtuelle
Realität führen soll:
»In immersive VR, more so than in any other medium before it, the representation of the user’s body is a psychologically profound issue. This is
especially true when the systems map the user’s body directly to the first
person experience of a full virtual body, as virtual body that provides
feedback about the location of limbs and head in space« (Biocca 1997:
17).
Immersive Interfaces führen folglich zu einer Verkörperung des
Users durch den Avatar, der als phänomenaler Leib (phenomenal body)
und damit als Extension oder Prothese des fühlenden Selbst beschrieben werden kann. Ziel dieser technologisch induzierten Verschiebung oder Verdoppelung des Leibes ist der psychologische
Zustand des Präsenzerlebens (presence). Ausgehend von diesen Überlegungen wollen wir exemplarisch das Phänomen des media embodiment
in den Blick nehmen, um die unterschiedlichen Ausprägungen der
medialen Verkörperung medien- und bildwissenschaftlich erfassen zu
können und die phänomenal-rezeptive Dimension innerhalb der
medialen Strukturen der Subjektivierung näher zu bestimmen. Wir
verwenden den Begriff des media embodiment, um zu betonen, dass
diese Form der Interface-Teleologie durch die aktuellen medientechnologischen Entwicklungen allgemein auf audiovisuelle Bewegtbildmedien angewendet werden kann. Dennoch werden wir uns – in
Orientierung am Ursprungstext von Biocca – den Interfaces interaktiver Technologien widmen, um aufzuzeigen, wie sich die Idee der
Virtuellen Realität vom Bildraum, über Interfaces bis hin zur Repräsentation des Selbst spannen lässt.
Medien der Verkörperung: Immersive Interfaces
»The vision of such a system foresees some applications where the body
of the user is to be completely immersed in the interface, and the mind is
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LARS C. GRABBE UND PATRICK RUPERTKRUSE
set floating in the telecommunication system – in cyberspace« (Biocca
1997: 14f.).
Bioccas Vision der Interface-Evolution (Abb. 2) spielt in Bezug auf
immersive Medien eine zentrale Rolle. Als immersiv wird ein Medium
immer dann bezeichnet, wenn es als multi-sensorische Reizquelle die
Sinne der Rezipierenden mit vermittelten Informationen überflutet.
Der Grad dieser technologischen oder apparativen Immersion lässt
sich am einfachsten dadurch beschreiben, wie viele Sinne von der
virtuellen Umgebung in welcher Qualität angesprochen werden und
inwiefern diese somit die Wahrnehmung der Realität verdrängen (vgl.
Lombard/Ditton 1997: k.S.).
Abbildung 2: Schematische Darstellung der Relation aus Körper und Interface.
(Quelle: Biocca 1997: 14)
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Immersive Medien sind folglich in der Lage, Präsenzerfahrungen bei
den Betrachtern auszulösen, die ihn mit allen Sinnen im virtuellen
Raum anwesend sein lassen. Dafür müssen sie die User nicht nur
multimodal einbinden, sondern sie müssen ihnen auch eine Erfahrung vermitteln, die ihnen realistisch erscheint. Das Medium muss
folglich in der Lage sein, die Objekte, Ereignisse und Subjekte innerhalb der Virtuellen Realität so zu repräsentieren, dass sie von ihren
Vorbildern in der physischen Realität kaum noch zu unterscheiden
sind: Es geht um die Schöpfung der perfekten Illusion und damit um
die Angleichung der virtuellen Wirklichkeit an die physikalische Realität.
Eine solche Architektur der Interfaces und Displays forciert auf
technologischer Ebene durch einen hohen Grad an vividness und interactivity die Erfahrung von Präsenz als einer »mediated experience that
seems very much like it is not mediated« (Lombard/Ditton 1997:
k.S.) oder als »perceptual illusion of nonmediation« (ebd.).
Erreicht wird dies aktuell durch die Kombination neuartiger Interfaces, von denen einige durch zahlreiche Kickstarterkampagnen in
den kommenden Jahren sicher Marktreife erlangen könnten. Durch
die Kombination dieser Interfaces wird schließlich das möglich, was
Matthew Lombard und Theresa Ditton perceptual immersion genannt
haben und was als apparative Form der Immersion das möglichst
komplette Überfluten der Sinne der Rezipienten mit vermittelten
Informationen – und damit verbunden die Verdrängung der Wahrnehmung der Realität – zum Ziel hat (ebd.). Diese Gesamterfahrung
wird nun durch die einzelnen Technologien meist Sinn- bzw. Modalitätsspezifischgewährleistet. Ein Beispiel für ein Interface hoher
visueller Immersion ist die zweite Entwicklerversion des HeadMounted-Displays Oculus Rift (DK2) (Abb. 3) von der Firma Oculus
VR mit höherauflösendem, Sichtfeld ausfüllendem Display und weiterentwickeltem Headtracking.
Das Display der Oculus Rift bietet für jedes Auge eine Bildauflösung von 960 x 1080 Pixel, insgesamt wird so ein nominales Blickfeld
von 100° geboten. Für einen Abgleich von Kopfposition und Blickfeld im virtuellen Raum stehen ein Gyroskop, ein Beschleunigungsmesser und ein Modul zur Magnetfeldstärkenmessung zur Verfügung. Dadurch kann die Position des Kopfes selbst mit kleinsten
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Abweichungen erkannt werden. Die hohe Aktualisierungsfrequenz
des Trackings (1000 Hz) ermöglicht eine schnelle Positionserkennung
selbst bei minimaler Neigung des Kopfes (vgl. Oculus VR o. J.).
Abbildung 3: Ein Head-Mounted-Display der Firma Oculus VR. (Quelle:
http://www.nerdstar.de/wp-content/uploads/2014/10/-Oculus-Rift-Dev.-Kit2.jpg)
Das Problem, das hierbei noch immer auftritt, ist die Doppelverortung der Nutzenden: Sie mögen sich vielleicht in der virtuellen
Welt bewegen, doch in der Realität sitzen oder stehen sie still. Dies
wird sich allerdings durch eine Kombination von der Oculus Rift mit
dem Cyberith Virtualizer (Abb. 4) aufheben lassen. Der Virtualizer ist
eine omnidirektionale Treadmill, die es erlaubt, die natürliche Gehbewegung aus der Realität in die virtuelle Wirklichkeit zu übertragen:
»The Virtualizer’s flat base plate has a low-friction surface that enables
you to walk, run, and strafe freely in every direction. As it’s flat, movement feels realistic, dramatically enhancing immersion. The uniquely
constructed ring allows for vertical movements such as jumping and
crouching, as well as a 360° axial rotation. The adjustable harness ensures that movement through virtual worlds is effortless… you can even
sit down!« (Cyberith o.J.; http://cyberith.com/product/).
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Abbildung 4: Die omnidirektionale Treadmill der Firma Cyberith. (Quelle:
http://www.geekovation.de/wp-content/uploads/2014/-07/Virtualizer-4.jpg)
Um das Präsenzerleben jedoch noch weiter zu steigern, müssten
neben den Gehbewegungen noch weitere »motoric channels« (Biocca
1997: 14) als Eingabemodalitäten – möglichst natürlich – integriert
werden. Repräsentationen der Bewegungen und Gesten der Hände
innerhalb der VR würden das leibliche Gefühl der Anwesenheit zusätzlich verstärken. Insbesondere, wenn zudem haptisches Feedback
die Grenze zwischen virtueller und physikalischer Realität aufbrechen
würde. Verstanden als multisensorische Integration weiterer Sinnesmodalitäten induziert dieses Feedback das Gefühl, als ob die virtuelle
Repräsentation als das eigene leibliche Selbst in der VR agieren würde
(vgl. Petkova/Khoshnevis/Ehrsson 2011: k.S.).
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Realisiert werden könnte dies durch das Feedback fähige Exoskelett Dexmo F2 der Firma Dextra Robotics (Abb. 5): »Dexmo is a
wearable mechanical exoskeleton that captures your hand motion as
well as providing you with force feedback. It breaks the barrier between the digital and real world and gives you a sense of touch«
(Dextra Robotics 2014: k.S.)
Abbildung 5: Mit dem Exoskelett werden Handbewegungen in die virtuelle
Realität übertragen. (Quelle: http://www.roadtovr.com/-latest-dexmo-inputglove-features-positional-tracking-with-full-finger-input-claims-5ms-latency/)
Der Handschuh bzw. das Exoskelett Dexmo F2 dient dazu, dass zum
einen die Hand- und Fingerbewegungen natürlich in die virtuelle
Welt übertragen werden, doch vor allem soll das System es ermöglichen, diese Welt auch zu berühren. Einschränkend muss jedoch erläutert werden, dass die Force Feadback-Funktion zunächst nur für
den Daumen und Zeigefinger zur Verfügung gestellt wird und der
Widerstand nicht analog gemessen wird, was letztlich bedeutet, dass
es keine weichen Übergänge im Fühlen geben wird, sondern lediglich
einen aktivierten oder nicht aktivierten Widerstand.
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Solche »presence-evoking technologies« (Lombard 2011: 3) belegen den aktuellen Stand des von Biocca früh aufgezeigten progressive
embodiment durch Interfacetechnologien. Folgt man diesbezüglich
Olaf Blankes und Thomas Metzingers Definition von Embodiment,
erlauben die modernen Interface- und Displaytechnologien dieses
insofern, als dass sie eine »subjective experience of using and ›having‹
a body« (2008: 7) innerhalb der virtuellen Realität forcieren. Diese
Medien induzieren ein Gefühl von Anwesenheit in der VR und damit
– in Bezug auf den Avatar bzw. auf das re-embodiment als mediale Repräsentation – ein Gefühl von Selbstheit (phenomenal selfhood):
»[Virtual] limbs and bodies in virtual reality could be owned by participants just as rubber hands can be perceived as parts of one’s body in
physical reality. Furthermore […] ownership of virtual limbs and bodies
may engage the same perceptual, emotional, and motor processes that
make us feel that we own our biological bodies« (Slater et al. 2011: k.S.).
Dies erreichen diese Technologien, da sie drei dafür notwendige
Eigenschaften hervorbringen bzw. unterstützen: »(i) a globalized
form of identification with the body as a whole […], (ii) spatiotemporal self-location and (iii) a first-person perspective« (Blanke/
Metzinger 2008: 8). Eigenschaften (i) und (ii) werden dabei vor allem
durch eine synchrone multisensorische Integration unterschiedlicher
Sinnesreize hervorgerufen: »In this multisensory framework, the
integration of temporally, and spatially congruent visual, tactile, and
proprioceptive signals generates a perceptually coherent percept of
one’s own body« (Petkova/Khoshnevis/Ehrsson 2011: k.S.).
Unterstützt wird diese Auffassung u.a. durch Experimente von
Henrik Ehrsson und Valeria Petkova, welche bei ihren Studien gezeigt haben, dass neben der multimodalen Sinnesreizung auch die
Übernahme der Erste-Person-Perspektive als die eigene Perspektive
als grundlegende Kondition angesehen werden muss, damit es zu
dem kommt, was in der Fachliteratur body swapping genannt wird: Die
(Re)Lokalisierung des eigenen Bewusstsein in einem anderen Körper
– beispielsweise dem virtuellen Körper des eigenen Avatars (vgl.
Petkova/Ehrsson 2008: 6; Petkova/Khoshnevis/Ehrsson 2011: k.S.):
»Through an IVR [immersive virtual reality] a person can see through the
eyes and hear through the ears of a virtual body that can be seen to sub-
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stitute for their own body, and our data show that people have some
subjective and physiological responses as if it were their own body«
(Slater et al. 2010: k.S.).
Mediale Subjektivität: Das Dilemma des Cyborgs
Interessanterweise zeigt sich innerhalb der Telepräsenz oder presence
konstituierenden Medientechniken ein expliziter Fokus auf das Konzept des Körpers, wobei hier nicht von einem statischen Körpermodell ausgegangen werden kann, bei dem nur die physikalische Realität
für ein Evidenzerlebnis sorgt. Vielmehr argumentiert Frank Biocca
für ein triadisches Körpermodell, welches den physikalischen vom
virtuellen Körper (Avatar) unterscheidet und als Zwischeninstanz das
mental stabilisierte Körperschema verortet. Der physikalische Körper
generiert die primäre Präsenzerfahrung der Wahrnehmungswirklichkeit in Raum und Zeit. Der virtuelle Körper ist die Repräsentation
des Körpers innerhalb der virtuellen Umwelt und das Körperschema
ist die mentale oder interne Repräsentation des eigenen Körpers (vgl.
Biocca 1997: 23).
Die komplexe Sinnesadressierung erfolgt im Kontext des physikalischen Körpers, wobei die Erfahrungswirklichkeit zusätzlich auf
den virtuellen Körper übertragen wird. Kommt es an dieser Schnittstelle zur Irritation oder problematischen Umsetzung von Handlungen (aufgrund von Latenzzeit, starker Beschleunigung, Orientierungslosigkeit etc.), kann das eigene Körperschema irritiert bzw.
destabilisiert werden (z.B. simulation sickness):
»It appears that embodiment, especially in immersive virtual environments, can significantly alter body schema. In a way we might say that
the virtual body may compete with the physical body. The result is a tug
of war where the body schema may oscillate in the mind of the user«
(Biocca 1997: 24).
Das Körperschema zeigt sich bereits als neuro-phänomenologisches
Konstrukt, an welchem die Sinnlichkeit und ebenfalls virtuelle Informationen konstitutive Anteile haben können. Grundüberlegung ist
hier die Annahme, dass Erfahrungsinhalte aus der physikalischen
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MEDIA EMBODIMENT
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Realität oder virtueller Realität über die Sinnlichkeit vermittelt werden, dann aber nicht nur schlichte Informationen auf der Körperebene bereitstellen, sondern in der »Meinigkeit« (Metzinger 2005: 8)
meiner Erfahrungswelt konstitutive Anteile haben an der Modellierung des eigenen Selbstmodells, also der phänomenalen Entität, die
man alltagssprachlich als Ich beschreiben würde: »Das Selbstmodell
ist ein transientes komputationales Modul, das vom System vorübergehend aktiviert wird, um seine Interaktion mit der Umwelt zu regulieren« (Metzinger 2005: 11).
Wird das Körperschema bzw. das subjektive Selbstmodell innerhalb eines virtuellen Environments stets versuchen eine Synchronisierung zwischen physikalischem und virtuellem Körper herzustellen,
so erscheint die abschließende Frage in Bioccas berühmtem Aufsatz
überaus plausibel: »Where am ›I‹ present?« (Biocca 1997: 24). Denn
das Ich oder Selbstmodell wird stets versuchen sich flexibel auf das
mediale Environment einzustellen oder auszuweiten (Extension) und
sich als mediale Hybridform, unter Berücksichtigung von Medium,
Sinnesadressierung, Interaktivität, physikalischem und virtuellem
Körper, kohärent zu stabilisieren. Das mediale Ich ist in diesem Kontext keine Singularität, sondern eine ganzheitliche und konnektomatische Systemkomponente, ein intersystemisches und mediatisiertes Erregungsniveau.
Die Verkörperung der Bilder
Im Kontext des progressive embodiment tritt neben das Phänomen der
virtuellen Verkörperung der Rezipienten in den simulierten Bildraum
hinein noch eine andere Bedeutungsdimension der Medien der Verkörperung. Durch die evolvierenden Display- und Interfacetechnologien können Medien zusehends als ›Körper der Bilder‹ verstanden
werden. Aufgrund der vielfältigen Feedbackmöglichkeiten neuer
Medientechnologien gewinnt das Digitale zusehends an Materialität
und damit an sinnlicher Qualität.
Digitale Bilder werden so zu Tastbildern (vgl. Krois 2011: 210–
231). Im Zentrum steht dabei nicht mehr eine ›visuelle Dreidimensi-
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LARS C. GRABBE UND PATRICK RUPERTKRUSE
onalität‹ – was konstitutiv ist für die virtuelle Verkörperung –, sondern ihre ›haptische Dreidimensionalität‹. Damit können der Repräsentation nahsinnliche Qualitäten zugeschrieben bzw. erfühlt werden,
wodurch die bildliche Erscheinung ihren Bildstatus verliert und zum
Quasi-Objekt wird.
»Das beste Bild ist […] das Bild, das sich selbst auflöst, weil es vom Betrachter nicht als Bild gesehen wird und deshalb eigentlich auch gar nicht
Bild genannt werden sollte. Der Betrachter kann zwar noch wissen, aber
nicht mehr sehen, dass er ein Bild sieht. Er sieht die dargestellte Sache
wie eine reale und anwesende Sache« (Wiesing 2013: 66).
Aus der bloßen Sichtbarkeit des Bildinhalts wird eine multimodale
Anwesenheit, aus der artifiziellen Präsenz des immateriellen Bildobjekts wird die artifizielle Existenz des Gegenstandes, der als sinnliches
Konkretum tatsächlich empfunden werden kann (vgl. Misselhorn 2012:
796). Wo zuvor – sollte jemand tatsächlich ein Bild berühren – nicht
das Bildobjekt fühlbar war, sondern lediglich der Bildträger – das
Medium – tritt nun das Repräsentierte multimodal hervor. Um die
Überlegung von Lambert Wiesing noch einmal aufzugreifen: Die
Berührenden fühlen die dargestellte Sache wie eine reale und anwesende Sache.
Ein Beispiel hierfür ist eine neue Technologie von Disney Research,
diese ist:
»a tactile-rendering algorithm for simulating 3D geometric features, such
as bumps, on touch screen surfaces. This is achieved by modulating friction forces between the user’s finger and the touch screen, instead of
physically moving the touch surface« (Kim / Israr / Poupyrev 2013: 1).
Der Algorithmus soll auf Smartphone- oder Tabletoberflächen ein
plastisches und direktes taktiles Feedback erzeugen, durch das zum
einen ein realistischeres Interaktionserlebnis möglich werden soll und
das zum anderen die Effizienz und Genauigkeit dieser Interkationen
steigern soll. Digitale Bilder können so mit einer taktilen Dimension
angereichert werden. Die Auswahl von Büchern aus einer virtuellen
Bibliothek, die bereits in den gängigen mobilen Medien implementiert ist, wird damit wieder zu einem multimodalen Erlebnis, indem
man über die Buchrücken streichen, deren Breite und Struktur erfühlen kann (vgl. Kim/Israr/Poupyrev 2013: 7).
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Geist und Körper: Ich und Welt
Die vorangehenden Ausführungen verdeutlichen in gewissem Sinne
eine Erweiterung medientheoretischer Diskurse, die unabdingbar mit
der Perspektive einer Bewegtbildwissenschaft verknüpft ist. Diese
Diskurserweiterung verweist bereits auf die akademische Analyse von
VR oder poly-sensuellen Mediensystemen (vgl. Biocca et al. 1995;
Steuer 1995; Sutherland 1965), integriert allerdings gleichermaßen
philosophisch und neurowissenschaftlich verankerte Perspektiven der
intersystemischen Verschränkung von Geist und Körper.
Diese Perspektiven zeigen sich besonders prominent innerhalb
der verschiedenen Variationen der extended mind debate (vgl.
Clark/Chalmers 1998), des radical enactivism (vgl. Hutto/Myin 2013)
oder der Vielfalt von embodied cognition theory (vgl. Chemero 2009;
Rowlands 2010). Diesen Ansätzen ist ein körperlicher Fokus zu Eigen, welchem ein primärer Stellenwert für kognitive Prozesse zugesprochen wird. D.h. Kognition wird nicht länger primär innerhalb
von repräsentationalen Eigenschaften des mentalen Systems verortet,
also im Sinne einer neurokomputationalen Theorie des Geistes, sondern körperorientiert in das Außen verlagert. Die Außenwelt stabilisiert das handelnde Subjekt demnach in situativen und empirischen
Kontexten, welche externe Inputs für weitere Verarbeitungsprozesse
generieren, die allerdings nicht auf inhaltsgebundene Repräsentationen angewiesen sind: »radical embodied cognitive science can explain
cognition as the unfolding of a brain-body-environment system«
(Chemero 2009: 43). Im Fokus steht demnach eine explizite Handlungsorientierung und aktive Partizipation an und mit den Elementen
der Lebenswelt: »The enactive view of human cognition starts with
the idea that we are action oriented. Our ability to make sense of the
world comes from an active and pragmatic engagement with the
world, along with our capacities to interact with other people« (Gallagher 2013: 209).
Diese Ansätze lassen sich als produktive Rehabilitation des medialen Körpers beschreiben und leisten ihren evidenten Beitrag zur
Aufhebung der ideengeschichtlichen Spaltung von res cogitans und
res extensa. Werden demnach körperliche und mentale Ebene als
systemisches Konstrukt verstanden, so lassen sich gerade für eine
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Bewegtbildwissenschaft zahlreiche Anknüpfungspunkte in den Blick
nehmen und etwaige Unschärfen innerhalb der Theorieperspektiven
harmonisieren. Vor allem die Problematisierung und Klärung der
repräsentationalen Ordnung des Mentalen (interne Repräsentation)
erscheint hier als überaus notwendig. Denn bei Mediensystemen und
medialen Ordnungsgefügen handelt es sich in vielfältiger Art und
Weise um Bedeutungssysteme die über differenzierte Modi der Darstellung (oder medialen Präsentation) differenzierte Codeebenen
(Handlung, Mitteilung, Kommunikation, Symbolik etc.) evozieren,
die ihrerseits wiederum großen Anteil haben am Verstehen der Medieninhalte und der Rezeptionserfahrung.
Gerade eine explizite Leugnung oder Abkehr vom Konstrukt der
Repräsentation (mental, intern) erscheint demnach als problematisch,
da explizit im Kontext von Medien- oder Kunsterfahrung zumindest
inhaltsbezogene Struktur-mechanismen zum Tragen kommen, welche Handlungen und Kognition prägen, allerdings stets in Abhängigkeit vom medialen Input:
»Radical enactivism thus goes against the commonly held position that
the best explanation of cognition always and everywhere requires positing contents that are acquired and transformed in order to create representations that then inform and guide what an organism does or experiences. Contents are understood as ways of representing the world that
have conditions of satisfaction« (Hutto et al. 2014: 1).
Das Zitat verdeutlicht das Problem: Kognition steht in gängigen
Wissenschaftsdiskursen stets im Zusammenhang mit dem Konzept
eines mentalen Inhalts (content), welcher in ein System aus mentalen
Repräsentationen überführt wird, die wiederum Eigenschaften der
Welt und Erfahrungsinhalte zum Ausdruck bringen. Diese Perspektive wird gerade innerhalb des radical enactivism problematisiert. Obwohl die enaktivistischen Embodiment-Diskurse einen enormen
Vorteil bieten, weil sie die Rolle des Körpers und der Situationsbezogenheit von kognitiven Prozessen betonen, und damit gleichermaßen
Sensorik für die Ausgestaltung subjektiver Erfahrungen heranziehen,
wird jedoch gleichzeitig durch die Abkehr vom RepräsentationsDiskurs ein neues Problem geschaffen: Denn Mediensysteme und
Medieninhalte sind in hohem Maße content-driven und stellen apparative Synchronisationseinheiten zwischen Subjekt und Körper dar.
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Daher muss gerade in einer modernen Bewegtbildwissenschaft dem
Verhältnis von Inhalt, externer und interner Repräsentation sowie
Handlung, Körperlichkeit und Kognition adäquat Rechnung getragen
werden (vgl. Grabbe 2015). Dieses Vorgehen bietet enorme Vorteile,
denn sie führt nicht nur Medientheorie und Philosophie enger zusammen, sondern eröffnet den notwendigen Anschluss an neurowissenschaftliche Perspektiven.
Schlussbemerkung
Das Verhältnis interner und externer (medialer) Repräsentationen
bildet den Kulminationspunkt moderner Medien- und Bildwissenschaften und erstreckt sich von der Wahrnehmung bis zur Wirkung
des jeweiligen Medieninhalts auf kognitive, emotionale und konative
Prozesse. Die Abhängigkeit dieses Verhältnisses von der Körperlichkeit – sowohl des Dargestellten als auch der Rezipienten – zeigt, wie
zentral eine Integration der Überlegungen innerhalb der neuzeitlichen
Embodiment-Diskurse für eine moderne Theorie bewegter (interaktiver) Bilder ist. Dies herauszuarbeiten und anhand von Frank Bioccas Ausführungen zum Problem des progressive embodiment zu diskutieren bildete den Kern des vorliegenden Artikels. Die Aktualität von
Bioccas Konzept zeigt im Hinblick auf heutige Medientechnologien –
vor allem in Bezug auf immersive Interfaces und Displays –, warum
wir von Medien der Verkörperung in zweifacher Hinsicht sprechen
konnten: Zum einen spielte im Kontext von VR-Technologien die
virtuelle Verkörperung der Rezipienten in den simulierten Bildraum
hinein eine zentrale Rolle; zum anderen haben wir aufgezeigt, dass
sich die Medien immer stärker zu Körpern der Bilder entwickeln, indem
sie sinnlich-extensive Repräsentationen abbilden.
Diese Zusammenführung von modernen Medientechnologien
und Verkörperungstheorien offenbart sich innerhalb dieser Ausführungen nicht nur als äußerst schlüssig, sondern ebenfalls als ein Desiderat beider Forschungsbereiche. Das theoretische, aber auch anwendungsbezogene Potential dieses Spannungsfeldes gilt es weiterhin
auszuloten.
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Im internationalen philosophischen und kognitionspsychologischen Diskurs erleben Überlegungen zum
Embodiment momentan einen nie dagewesenen
Aufschwung. Daher verwundert es nicht, dass auch
im Kontext aktueller Entwicklungen der digitalen und
immersiven Medientechnologien die Rolle des Leibes
sowohl im theoretischen als auch im anwendungsorientierten Bereich mit neuer Verve betont wird.
Auf diese Entwicklung Bezug nehmend, stellt der vorliegende Band die Interaktion zwischen dem Medialen
und den somatischen, neuronalen und mentalen –
also verkörperten – Prozessen, die bei der Rezeption
von Medieninhalten aktiv sind, in den Fokus. Denn erst
die Analyse des Verhältnisses von Bildtechnologien
und Embodiment erlaubt es, die Erlebnisdimensionen
und Sinnhorizonte audiovisueller Artefakte von ihrer
leiblichen Basis her näher zu beschreiben.
ISBN 978-3-941310-71-1
www.buechner-verlag.de
www.bewegtbildwissenschaft.de