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ERFURTER STUDI EN
ZUR KULTURGESCH ICHTE
DES ORTHODOXEN CH RISTENTUMS
Vasilios N. Makrides /
Jennifer Wasmuth /
Stefan Kube (Hrsg.)
Christentum und
Menschenrechte in Europa
Perspektiven und Debatten in Ost und West
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Der Band geht auf eine internationale Konferenz in Erfurt zurück und ist den
aktuellen Beziehungen zwischen Christentum und Menschenrechten in Europa
gewidmet. Die Veröffentlichung der offiziellen Position der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Menschenrechten im Jahre 2008 hat der Diskussion eine
neue Dynamik verliehen und intensive Debatten in Ost- und Westeuropa ausgelöst. Die verschiedenen Beiträge behandeln einerseits das russische orthodoxe
Dokument zu den Menschenrechten in seinen diversen Dimensionen, sowohl
im russischen und breiteren orthodoxen Kontext als auch in seinem Verhältnis
zu den westlichen christlichen Kirchen und europäischen säkularen Akteuren
und Institutionen. Andererseits werden Positionen zu den Menschenrechten
aus katholischer und evangelischer Sicht auf prägnante Weise präsentiert und
die Ambivalenzen des modernen Menschenrechtsdiskurses zwischen Säkularismus und Religion thematisiert.
Vasilios N. Makrides lehrt Religionswissenschaft (mit dem Schwerpunkt Orthodoxes Christentum) an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt.
Jennifer Wasmuth ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen
Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.
Stefan Kube ist Chefredakteur der Monatszeitschrift „Religion & Gesellschaft
in Ost und West“, Zürich.
www.peterlang.com
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Christentum und Menschenrechte in Europa
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ERFURTER STUDIEN ZUR KULTURGESCHICHTE
DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS
Herausgegeben von Vasilios N. Makrides
BAND 11
Zu Qualitätssicherung und Peer Review
der vorliegenden Publikation
Die Qualität der in dieser Reihe
erscheinenden Arbeiten wird vor der
Publikation durch den Herausgeber
der Reihe in Zusammenarbeit mit
externen Gutachtern geprüft.
Note on the quality assurance and peer
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is reviewed by the editor in
collaboration with external referees.
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Vasilios N. Makrides /
Jennifer Wasmuth /
Stefan Kube (Hrsg.)
Christentum und
Menschenrechte in Europa
Perspektiven und Debatten in Ost und West
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung:
Ein von der Bulgarischen Orthodoxen Kirche organisierter Aufmarsch
(Sonntag, 23. November 2014) in der Stadt Varna für den Erhalt traditioneller
christlicher Familienwerte. Die Demonstration richtete sich u.a. gegen die
Liberalisierung der Gesetze in der EU bezüglich der Rechte von gleichgeschlechtlichen Paaren und anderen sexuellen Minderheitsgruppen.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Riposte catholique.
(URL: http://www.riposte-catholique.fr/riposte-catholique-blog/
breves/procession-pour-la-famille-chretienne-a-varna-en-bulgarie)
ISSN 1612-152X
ISBN 978-3-631-62580-4 (Print)
E-ISBN 978-3-653-02711-2 (E-Book)
DOI 10.3726/978-3-653-02711-2
© Peter Lang GmbH
Internationaler Verlag der Wissenschaften
Frankfurt am Main 2016
Alle Rechte vorbehalten.
Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
7
Vasilios N. Makrides / Jennifer Wasmuth / Stefan Kube
Christentum und Menschenrechte in Europa – Interaktionen in
Geschichte und Gegenwart: Eine Einführung
9
Kristina Stoeckl
Die Menschenrechtsdoktrin der Russischen Orthodoxen Kirche aus dem
Jahr 2008 – der institutionelle und ideologische Kontext
27
Cyril Hovorun
The Theological Hermeneutics of The Russian Orthodox Church’s Basic
Teaching on Human Dignity, Freedom and Rights
45
Jennifer Wasmuth
Die Grundlagen der Lehre über die Würde, die Freiheit und die Rechte
der Menschen im Kontext der Soziallehre der Russischen Orthodoxen
Kirche
49
Stefan Tobler
Die Erklärung der Russischen Orthodoxen Kirche zu den Menschenrechten
59
Rudolf Uertz
Das Menschenrechtsverständnis der Russischen Orthodoxen Kirche und
der Katholischen Kirche – ein Vergleich
77
Regula M. Zwahlen
Kulturphilosophische Anfragen an die russisch-orthodoxe Konzeption
der Menschenwürde
87
Alfons Brüning
„Orthodoxie, Christentum, Demokratie“: Orthodoxe Priester als
Menschenrechtsaktivisten
Katja Richters
Der Europarat als Adressat des Menschenrechtsdiskurses der Kirchen
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103
121
6
Inhaltsverzeichnis
Mihai-Dumitru Grigore
Positionen zu den Menschenrechten in der rumänischen Orthodoxie
137
Ingeborg Gabriel
Anerkennung und Theologie der Menschenrechte in der Katholischen
Kirche
149
àukasz Fajfer
Die Katholische Kirche in Polen und die Menschenrechte: Kirchliche
Stellungnahmen zu ausgewählten Menschenrechtsdebatten
165
Hans G. Ulrich
Menschenrechte und christliche Tradition – Evangelische Aspekte
183
Evert van der Zweerde
Begründung der Menschenrechte jenseits von Religion und
Säkularismus?
191
Autoren- und Autorinnenverzeichnis
213
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„Orthodoxie, Christentum, Demokratie“: Orthodoxe
Priester als Menschenrechtsaktivisten
Alfons Brüning
This chapter attempts to highlight the actual relationship of Russian Orthodox clerics and
priests towards the idea of human rights. Going beyond the often adopted agenda of a clearcut opposition between the Russian Orthodox Church on the one hand, and Human Rights
organisations on the other, a hypothetical scheme of three generations of priests (Soviet
dissident priests, intellectual opposition, post-Soviet clerics) is applied, in order to better
capture and understand the actually multi-faceted reception of the human rights concept
among Russian Orthodox clergymen. Two biographical sketches, that of father Pavel
Adel’geim from Pskov, and that of father Veniamin Novik from St. Petersburg, serve as
illustrative examples for two out of the three mentioned generations. Crucial in both
approaches outlined in this chapter are an emphasis on the institution of objective rights and
a sophisticated theological argumentation, connected with a high esteem of the pastoral task
of a priest and with a specific notion of Russian patriotism.
Das Verhältnis zwischen russischen Menschenrechtsorganisationen und der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) ist seit Jahren, gelinde gesagt, gespannt. Während
erstere angesichts des orthodoxen Bemühens um Einfluss auf das gesellschaftliche
Leben regelmäßig Anlass sehen, vor einer „Klerikalisierung“ von Staat und Gesellschaft zu warnen,1 sehen Kirchenvertreter ihrerseits in den säkularen Menschenrechten
oft und gern ein Mittel, die Kirche erneut aus der Gesellschaft herauszudrängen – ganz
so wie es zu Sowjetzeiten schon versucht worden sei.2 Das im August 2008 von der
Synode der ROK verabschiedete Dokument zu „Würde, Freiheit und Rechten des
1
2
Vgl. zum Beispiel die jährlichen Berichte der Moskauer Helsinki-Gruppe: Sergej Bur´janov,
„Svoboda ubeždenij, sovesti i religii“ [Freiheit der Überzeugung, des Gewissens und der Religion], in: Prava þeloveka v Rossijskoj Federacii. Sbornik dokladov o sobytijach 2007 g.
[Menschenrechte in der Russischen Föderation. Berichtssammlung zu Ereignissen des Jahres
2007], Moskau: Moskovskaja Chel’sinkskaja gruppa [Moskauer Helsinki Gruppe], 2008, 84–138;
ders., „Svoboda ubeždenij, sovesti i religii“ [Freiheit der Überzeugung, des Gewissens und der
Religion], in: Prava þeloveka v Rossijskoj Federacii. Sbornik dokladov o sobytijach 2010 g.
[Menschenrechte in der Russischen Föderation. Berichtssammlung zu Ereignissen des Jahres
2007], Moskau: Moskovskaja Chel’sinkskaja gruppa [Moskauer Helsinki Gruppe], 2010, 30–95,
besonders 33. Ferner zur Diskussion bereits die Beiträge in: Politiþeskij Žurnal 15, Nr. 110 (24.
April 2006), URL: http://politjournal.ru (besucht am 19.3.2014).
Zur Kritik der ROK-Kirchenleitung an den Menschenrechten (die freilich von liberaleren wie von
eher fundamentalistischen Strömungen unter den Gläubigen unterschieden werden muss) vgl. Joachim Willems, „Die Russische Orthodoxe Kirche und die Menschenrechte“, in: Heiner Bielefeldt
u. a. (Hg.), Religionsfreiheit. Jahrbuch Menschenrechte 2009, Wien (u. a.) 2008, 152–165.
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Alfons Brüning
Menschen“3 enthält eine Reihe kritischer Passagen zur Menschenrechtskonzeption aus
der Sicht der orthodoxen Theologie. In der Presse ließen nach dessen Publikation
verärgerte Reaktionen nicht lange auf sich warten. In Kommentaren wurde der Kirche
vorgeworfen, einer neuen Art Totalitarismus das Wort zu reden, in dem die Menschenrechte letztlich in vollem Umfang eigentlich nur – noch dazu besonders eifrigen –
orthodoxen Kirchenmitgliedern zukommen könnten.4
Indes besteht die Front zwischen Menschenrechtsaktivisten und Kirchenvertretern
eigentlich nicht in dieser Schärfe und Zuspitzung. Denn zum einen war der eben erwähnte Entwurf einer „orthodoxen“ Menschenrechtskonzeption, ungeachtet seiner kritischen Elemente, gerade dazu gedacht, den Dialog mit Vertretern einer „weltlichen“
Menschenrechtsauffassung wieder aufzunehmen. Das Dokument stellt in dieser Form
auch eine Korrektur einer noch distanzierteren, und nach landläufiger Meinung einigermaßen verunglückten kirchlichen Stellungnahme zu den Menschenrechten dar, die
2006 vom „Allgemeinen Russischen Volkskonzil“ (einem unter Ägide der ROK organisierten öffentlichen Forum) verabschiedet worden war.5
Andererseits ist die orthodoxe Kirche auch hier nicht so homogen, wie dies von
westlichen Beobachtern häufig wahrgenommen wird. Das Verhältnis zu Menschenrechten als Konzeption6 ist in der Orthodoxie sowohl inhaltlich als auch in seiner
gleichsam sozialen Wirklichkeit unter Priestern und Gläubigen deutlich komplexer, als
dies aus der von außen meist zuerst rezipierten „Generallinie“ der Moskauer Kirchenleitung7 geschlossen werden kann.
„Orthodoxie, Christentum, Demokratie“ ist der Titel eines im Jahr 2000 erschienenen, von dem Priester und ehemaligen Dozenten der Petersburger Geistlichen Akademie, Vater Veniamin (Novik), herausgegebenen Sammelbandes, dessen Titel sich
bewusst – und für den Eingeweihten leicht erkennbar – absetzt von der einst im 19.
Jahrhundert vom zarischen Unterrichtsminister Sergej Uvarov geprägten Dreiheit von
„Orthodoxie, Selbstherrschaft, Nationalität“ (Pravoslavie, Samoderžavie, Narodnost’).8 Vater Veniamin steht einerseits für eine relativ kleine Gruppe publizistisch oder
3
4
5
6
7
8
Osnovy uþenija Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi o dostoinstve, svobode i pravach þeloveka [Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen], Bischofskonzil 2008, URL: http://www.patriarchia.ru/db/print/ 428616.html (besucht am
10. Oktober 2011).
Vgl. zum Beispiel Sergej Egorov, „Prava þeloveka po-archierejski. RPC-MP brosaet vysov meždunarodno priznannym pravam þeloveka“ [Menschenrechte klerikal: Die ROK Moskauer Patriarchat
fordert die international anerkannten Menschenrechte heraus], URL: http://www.portal-credo.ru/
site/?act=monitor&id=12744 (besucht am 19.3.2014).
Zur Diskussion um die Menschenrechte innerhalb der ROK und einschlägige Medienreaktionen s.
ausführlicher Alfons Brüning, „`Orthodoxe Werte´ und Menschenrechte – Hintergründe eines
aktuellen Diskurses“, Journal of Eastern Christian Studies 62 (2010), 87–136, hier 118..
Mit der Bezeichnung der Menschenrechtskonzeption soll hier deutlich gemacht werden, dass es
um ein Verhältnis zu den Menschenrechten als Gesamtkonzept geht, einschließlich ihrer Voraussetzungen wie Säkularität, Universalitätsanspruch etc., nicht in erster Linie um einzelne und womöglich strittige Unterpunkte.
Vgl. oben Anmerkung 2 und 3.
Veniamin (Novik), Pravoslavie. Christianstvo. Demokratija. Sbornik Statej, St. Petersburg 1999.
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Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten
105
gar politisch zugunsten der Menschenrechtsidee aktiver „Dissidentenpriester“, aber das
Echo und der Zuspruch, den er und seinesgleichen durchaus erfahren, zeigen, wie weite
Kreise eine positivere Einstellung zum Konzept der Menschenrechte in der ROK zu
ziehen vermag.
Die folgenden Ausführungen gelten exemplarisch zwei russisch-orthodoxen
Geistlichen, in deren Werk und Wirken die Menschenrechtskonzeption eine andere und
deutlich positivere Bewertung erfahren, und dies gerade im Licht der orthodoxen Theologie, so wie sie hier verstanden wird. Gleichzeitig soll versucht werden, beider Werk
in einen historischen wie gesellschaftlichen Kontext zu stellen – einen Kontext, der
einen schärferen Blick zulässt auf die Rolle, die die Konzeption der Menschenrechte
in der ROK der Gegenwart hat. Hier ist zunächst eine allgemeine Vorbemerkung nötig.
Ein Generationenproblem
Der heutige Patriarch, damals noch Metropolit Kirill (Gundjaev) von Smolensk und
Kaliningrad, äußerte sich 2006 grundsätzlich so:
Einerseits dienen Menschenrechte dem Wohl der Menschen. Wir dürfen nicht vergessen,
dass dank deren Einfluss auf die öffentliche Meinung in den Ländern der früheren
sowjetischen Einflusszone die Russische Orthodoxe Kirche zusammen mit anderen religiösen Gemeinschaften in Osteuropa von den Fesseln des Atheismus befreit wurde. Darüber
hinaus stehen die Menschenrechte für den Kampf gegen Missbräuche, Demütigungen und
Übel, die in der Gesellschaft gegenüber der menschlichen Person vollzogen werden.
Auf der anderen Seite allerdings sind wir Zeuge der Tatsache geworden, dass das Konzept
der Menschenrechte benutzt wird, um Lügen und Falsch und Übergriffe gegen religiöse und
nationale Werte zu decken. Mehr noch, der Katalog der Menschenrechte und -freiheiten
wird nach und nach erweitert durch Ideen, die sich im Konflikt befinden nicht nur mit dem
christlichen, sondern auch mit dem allgemein traditionellen Verständnis der menschlichen
Person. Das ist alarmierend, denn hinter den Menschenrechten steht die verpflichtende
Macht des Staates, die Menschen dazu bringen kann, Sünden zu begehen, mit ihnen zu
sympathisieren oder sie zu gestatten aus Gründen banalen Konformismus.9
Hier spiegeln sich nicht allein theoretische Bedenken. Mit seinem Statement gibt Kirill,
der ja selbst seine kirchliche Karriere noch zu Sowjetzeiten begonnen hatte,10 in gewissem Sinne auch die historischen Erfahrungen mehrerer Generationen russischer orthodoxer Geistlicher wieder – Erfahrungen, in deren Licht das Verhältnis orthodoxer
9
10
Metropolit (Patriarch) Kyrill beim 10ten Allrussischen Volkskongress 2006, auf Englisch URL:
http://www.mospat.ru/center.php?page=30688&newwin=1&prn=1 und auf den Internetseiten der
ROK-Repräsentation in Brüssel zu finden, URL: http://orthodoxeurope.org/page/14/97.aspx#3
(besucht am 10. Dezember 2010).
Zunächst, ab 1970, persönlicher Sekretär von Metropolit Nikodim (Rotov) von Leningrad, dem
damaligen Chef des Kirchlichen Außenamtes, wurde er 1976 Bischof und vier Jahre später
Erzbischof von Vyborg und Rektor der Leningrader Theologischen Akademie (vgl. Jane Ellis, The
Russian Orthodox Church: A Contemporary History, London 1986, 204).
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Alfons Brüning
Geistlicher zu den Menschenrechten recht verschiedenartig bestimmt werden kann.
Hinzu kommt, dass – worauf noch einzugehen sein wird – die Differenzierung zwischen Gemeindegeistlichen auf der einen und dem höheren, aus dem Mönchtum stammenden orthodoxen Klerus auf der anderen Seite auch hier eine Rolle spielt.
Man hat geschätzt, dass es im Jahr 1966 auf dem Territorium der Sowjetunion noch
7466 aktive russische orthodoxe Gemeinden gegeben hat – aktiv freilich in dem Sinn,
den die damalige, eben unter Nikita Chrušþev wieder deutlich restriktiver gestaltete
Religionsgesetzgebung gestattete. In den 1950er Jahren waren es noch nahezu die
Hälfte mehr gewesen. Nicht jede dieser Gemeinden hatte überdies einen eigenen
Priester.11 Nach einem vielschichtigen religiösen Aufbruch in der späten PerestrojkaZeit und nach dem Fall des Sowjetregimes wurden im Jahr 1993 bereits 14113
Gemeinden und 12013 Priester und Diakone der russischen orthodoxen Kirche gezählt,
darunter aber auch Gemeinden außerhalb des Territoriums der Russischen Föderation
(also etwa in der Ukraine und in Weißrussland und im westlichen Ausland). Ende 2001
verzeichnete das Moskauer Patriarchat allein auf dem Territorium der Russischen
Föderation 13907 Gemeinden, 13048 Priester und 1905 Diakone. Hinzuzurechnen sind
etwa allein auf dem Gebiet der Ukraine, die bereits zu Sowjetzeiten eine erheblich
höhere „Kirchendichte“ aufwies, 11539 Gemeinden (für das Jahr 2003).12
Das bedeutet ein zahlenmäßiges Anwachsen, aber auch den Hinweis auf mehrere
Generationen Geistlicher unter einem Dach. „Generationen“ meint zwar in erster Linie
eine gewisse Gleichheit der Bedingungen des Wirkens und der persönlichen Erfahrungen – nicht unbedingt eine Gleichheit der daraus gezogenen Schlüsse und angenommenen Haltungen. Dennoch kann man, was das Verhältnis zu den Menschenrechten angeht, auch hier bis zu einem gewissen Grad verallgemeinern.
Ein relativ kleiner Teil inzwischen meist älterer Geistlicher blickt aus der
Gegenwart auf eine Aktivität unter den Restriktionen der Sowjetzeit zurück und ist
geprägt von persönlichen erfahrener Diskriminierung, Behinderungen bei der Berufsausübung, teilweise sogar Gefängnis oder Lagerhaft. Die Menschenrechte, unter denen
ja das Recht auf Gewissensfreiheit und auf freie Religionsausübung einen prominenten
Platz einnimmt, werden hier meist positiv bewertet. Eine recht bedeutsame Komponente in dieser Generation ist der kritische Umgang mit den Verstrickungen der Hierarchie in die Machtstrukturen des Sowjetregimes, die meist unter dem Schlüsselbegriff
des „Sergianstvo“ abgehandelt werden und öfter ein gewisses Misstrauen auch der
gegenwärtigen Hierarchie gegenüber zur Folge haben. Gegebenenfalls kann das
11
12
Zahlen nach Zoe Knox, „Postsoviet Challenges to the Moscow Patriarchate, 1991–2001“,
Religion, State & Society 32 (2004), 87–113, hier 89 (mit weiteren Verweisen).
Sovremennaja religioznaja zizn´ Rossij [Religiöses Leben Russlands in der Gegenwart], Teil 1,
Moskau 2004, 29. Für die Ukraine vgl. Viktor Yelensky, „Religiosity in Ukraine According to
Sociological Surveys“, Religion, State & Society 38 (2010) 213–227, hier 217 (mit weiteren
Verweisen).
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Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten
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heißen, dass auch der eigenen Kirchenleitung Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden.13 Priester, die zur Zeit der Sowjetherrschaft Verfolgungen ausgesetzt
gewesen waren, zeigten sich häufig tief enttäuscht von der fehlenden Unterstützung
durch die Kirchenoberen, die ihrerseits ihren Kurs einer scheinbar loyalen Anbiederung an das Regime fortsetzten und bisweilen sogar bei der Verfolgung ihrer unbotmäßigen Priester mithalfen. Herausragendes Beispiel ist Priester Gleb Jakunin, dessen offener Protestbrief an Staat und Kirchenleitung Mitte der 1960er Jahre Furore
machte.14 Ab 1976, dem Jahr der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki, war
Jakunin als Gründungsmitglied eines „Komitees zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen in der UdSSR“ aktiv, was ihm schließlich die Verurteilung zu mehreren Jahren
Lagerhaft einbrachte. In der Perestrojka-Periode entlassen, trat Jakunin seit dem Fall
des Kommunismus für eine Säuberung der Kirche, eine Offenlegung der KGB-Verstrickungen der Hierarchie und eine Demokratisierung ihrer inneren Strukturen ein.
Die Kirchenleitung wollte diesen „radikaldemokratischen“ Kurs freilich nicht lange
mitgehen. Offiziell, weil er sein Duma-Mandat trotz des Verbotes politischer Tätigkeit
für orthodoxe Priester nicht aufgeben wollte, wurde Jakunin 1994 zwangsweise in den
Laienstand versetzt.15 Er amtiert inzwischen als Priester der abgespaltenen Apostolischen Orthodoxen Kirche, einem von ihm miterrichteten Zweig der ukrainischen, aus
dem Exil zurückgekehrten Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche.
Gleich ihm sind eine Reihe der „Dissidentenpriester“ der 1960er und 1970er Jahre
nach dem Fall der Sowjetunion bald auf deutliche Distanz zur eigenen Kirchenleitung
gegangen, der sie fortgesetzte Verstrickungen mit der Macht vorwerfen. Nicht alle gingen freilich derart radikale Wege wie Vater Gleb. Meistens, wie etwa im Fall von
Priester Georgij Edel’štejn16 und anderen, amtieren sie weiterhin als Priester der ROK,
13
14
15
16
Der Begriff „Sergianstvo“ bezieht sich auf die im Jahr 1927 vom damaligen Patriarchatsverweser
Sergij (Stragorodskij, Patriarch ab 1943) abgegebene, umstrittene Loyalitätserklärung zum
Sowjetstaat. Sowohl von Geistlichen in den eigenen Reihen als auch von der Russischen
Orthodoxen Kirche im Ausland (in der westlichen Emigration) wurde diese Erklärung stets heftig
kritisiert. Sie wurde als Beginn einer Korrumpierung der Russischen Orthodoxen Kirchenleitung
im Sowjetsystem gesehen, die vor allem nach der teilweisen Wiederzulassung der Kirche im Jahr
1943 eine gleichsam konstitutive Funktion hatte und das Verhältnis zwischen Hierarchie und
Gläubigen belastete, vgl. William C. Fletcher, A Study in Survival: The Church in Russia 1927–
1943, London 1965, 29ff.; Gerd Stricker, „Die `Katakombenkirchen´ in Russland. Versuch einer
Bestandsaufnahme“, Osteuropa 10 (1996) 1020–1035.
Vollständige englische Übersetzung bei M. Bordeaux (ed.), Patriarch and Prophets. Persecution
of the Russian Orthodox Church Today, London 1969, S. 189–224. In Auszügen in dt. Wiedergabe
Peter Hauptmann und Gerd Stricker (Hg.), Die Orthodoxe Kirche in Russland. Dokumente ihrer
Geschichte (860–1980), Göttingen 1988, no. 349, S. 852f.; vgl. Michael Bordeaux, „Dissent in the
Russian Orthodox Church“, Russian Review 28 (1969) 416–427.
Vgl. Kathrin Behrens, Die Russische Orthodoxe Kirche: Segen für die „neuen Zaren“? Religion
und Politik im postsowjetischen Russland (1991–2002), Paderborn (u. a.) 2002, 260ff.
Vgl. dessen Interview auf URL: http://www.portal-credo.ru/site/?act=news&id=39122&cf= (besucht am 20. Oktober 2011).
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Alfons Brüning
publizieren sogar ihre kritischen Stimmen in Zeitschriften, im Internet und in Buchform. Andere, die sich vor allem in der Nachfolge des seinerzeit gleichermaßen kritischen, aber wesentlich unpolitischeren Alexander Men’ sehen, streiten zurückhaltender
für eine offene Orthodoxie als Gegengewicht zum Staat.17
Das Reservoir für den relativ sprunghaften Anstieg unter den Priestern seit der
offiziellen Wiederzulassung im Jahr 1988 geht hingegen im Wesentlichen zurück auf
die religiösen Aufbrüche der späten 1970er Jahre und der Perestrojka-Zeit bis in die
Jahre unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion. Auch hier herrscht eine dissidentisch-nonkonformistische, wenngleich weniger kämpferische als intellektuell experimentierende Komponente vor. Menschenrechte wurden als Teil eines besseren politischen Systems, als Element des gesellschaftlichen Lebens und in ihrer Vereinbarkeit
mit der christlichen Lehre kritisch diskutiert. Der Aufbruch der 1980er Jahre war
allerdings bereits erkennbar pluralistischer und ließ neben liberal-politisch ausgerichteten auch sozial engagierte und bereits konservative und nationalistische Strömungen
zu.18 Kennzeichnend scheint zu sein, dass sich diese beiden gleichsam „älteren Generationen“ bereitwilliger an intellektuellen Debatten beteiligen, so wie ja etwa auch der
religiöse Aufbruch dieser späten Sowjetphase nicht selten als der einer Intellektuellenreligiosität beschrieben wird. Auch die meisten späteren Anhänger des 1990
ermordeten, in weiten Kreisen noch immer populären Aleksandr Men’ sind dieser
Gruppe zuzurechnen.
Die jüngere Generation schließlich, die ihre Weihen nach dem Ende der Sowjetunion erhielt, lässt sich allgemein als durch die Zeiten des Mangels in der Jel’cin-Ära
und das Scheitern der radikalliberalen Option geprägt charakterisieren. Hinzu kommt
die Tatsache, dass viele Priester ihren Dienst sehr jung und angesichts des allgemeinen
Mangels an adäquaten Ausbildungsstätten wie an Priestern für die rasch anwachsende
Zahl von Gemeinden und Gläubigen nur recht unzureichend vorbereitet antreten mussten. Mitte der 1990er Jahre wurde zeitweise von 4000–5000 fehlenden Priester gesprochen, und in Kirchenkreisen beklagte man das Phänomen des mladostarþestvo, das
heißt die Erscheinung, dass oftmals junge Priester gezwungen waren, die Rolle geistlicher Väter zu übernehmen, ehe sie dazu wirklich reif waren.19 Erst mit Beginn des
neuen Jahrtausends und nach einer Zeit intensiver und schwieriger Aufbauarbeit, hat
sich dies Missverhältnis, wie man den Zahlen entnehmen kann, offenbar etwas entspannt. Wenn die Menschenrechte, in einem Zug mit Begriffen wie „freiheitlicher
Demokratie“ oder „Marktökonomie“ nun in allen gesellschaftlichen Segmenten bis
17
18
19
Vgl. zu den Fraktionen Knox, „Postsoviet Challenges“, 101–105.
Zur späten Sowjetzeit und den frühen 1990ern vgl. allgemein die Darstellung von Kathy Rousselet,
„Die Russische Orthodoxe Kirche in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten von den
sechziger Jahren bis heute“, in: Norbert Brox (u. a.) (Hg.), Die Geschichte des Christentums, Bd.
13, Freiburg im Breisgau (u. a.) 2002, 391–427. Einige Differenzierungen zum „religiösen Boom“
der späten 1980er Jahre bei Kimmo Kääriäinen, „Religiousness in Russia after the Collapse of
Communism“, Social Compass 46 (1999) 35–46.
Knox, „Postsoviet Challenges“, 93.
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Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten
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hinein in die Kirchenhierarchie nach und nach als etwas Fremdes und vor allem „Westliches“ gesehen wurden, das für russische Verhältnisse offenkundig nicht anwendbar
war,20 konnten sich viele junge Geistliche auch infolge ihrer eher unzureichenden theologischen Vorbereitung diesem Sog kaum entziehen.
Vor diesem Hintergrund ist die zitierte Äußerung des Patriarchen auch als
Abbildung einer Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts zu verstehen. Kurz gesagt, ein relativ kleiner Teil der gegenwärtig in der Russischen Orthodoxen Kirche
aktiven Gemeindepriester dürfte angesichts der eigenen Erfahrungen uneingeschränkt
der ersten der beiden von Patriarch Kirill getroffenen Feststellungen zustimmen und
den Akzent auf die Verdienste der Menschenrechte um die Kirche und die Religionsfreiheit im besonderen legen. Eine Generation später wird die Konzeption der Menschenrechte bereits im Zuge eines gesellschaftlich-politischen Aufbruchs reflektiert
und geht einher mit politischen Konzeptionen, die, gleichsam theologisch untermauert
und von der Kirche auf die Gesellschaft übertragen werden. Die Erfahrung der Relativierung einstiger liberaler Vorbilder und Muster für die Gesellschaft, einhergehend
mit den Mühen gesellschaftlicher Arbeit, sorgt schließlich in einem dritten Teil für eine
gewisse Distanz zu den Menschenrechten und ihren Voraussetzungen als Gesamtkonzept. Dem durchaus immer noch vorhandenen Verständnis für deren caritativen Inhalt
steht dabei eine kritischer Distanz gegenüber zu einer Reihe von im Menschenrechtskonzept enthaltenen Freiheiten, wie sie in Kirills Zitat im zweiten Teil, und theoretisch
im jüngsten Dokument der ROK zum Ausdruck kommen.
Die Frage ist freilich auch, wie die jeweils eine Generation ihre Einsichten der
nächsten übermittelte und wie sich das Gesamtspektrum der Ansichten zur Menschenrechtskonzeption in der gegenwärtigen ROK infolgedessen heute darstellt. Hier sollen
nun zunächst zwei Repräsentanten der beiden ersten Generationen samt ihrer theoretischen Ansätze vorgestellt werden und danach der Versuch unternommen werden, den
aktuellen Stellenwert von deren Haltungen und Ansichten einzuschätzen.
Zwei Aktivisten
Vater Pavel Adel’geim
Pavel Anatoleviþ Adel’geim wurde 1938 geboren und ist väterlicherseits von baltendeutscher Abstammung. Seinen Vater, einen Schauspieler und Theaterdirektor, hat Va-
20
Bereits im März 1992 äußerte sich der damalige Sekretär des Patriarchen, Diakon Andrej Kuraev,
kritisch gegen einen unkritisch übernommenen Liberalismus und eine ausschließlich politische
Interpretation von Freiheit (vgl. Rousselet, „Die Russische Orthodoxe Kirche“, 417). Eingehend
dokumentiert ist der beschriebene Trend der 1990er Jahre bei Christopher Selbach, „The Orthodox
Church in Post-Communist Russia and her Perception of the West: A Search for a Self in the Face
of the Other“, Zeitschrift für Religionswissenschaft 10 (2002) 131–173.
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110
Alfons Brüning
ter Pavel allerdings kaum gekannt, dieser fiel im Jahr 1942 den Repressalien der Stalinzeit zum Opfer. Seine Mutter wurde nach Sibirien deportiert, Pavel wuchs eine Zeitlang
in einem Waisenhaus auf. In Karaganda in Kasachstan traf er nach dem Krieg auf den
Priestermönch Sebastian (Fomin), ursprünglich ein Mönch des Optina-Pustyn’-Klosters und später als Sebastian Karagandinskij als einer der „Neo-Märtyrer“ der Sowjetzeit kanonisiert.21 Unter dessen Einfluss erst bekehrte sich Pavel zum Christentum und
wollte sogar Mönch werden, was sich aber – wohl aufgrund seines jungen Lebensalters,
in dem das orthodoxe Kirchenrecht noch keine Mönchsweihe zulässt – als unmöglich
erwies. 1956 trat er ins Priesterseminar von Kiev ein, wurde aber schon 1957 von der
Einrichtung entfernt, offensichtlich aufgrund von Differenzen mit dem damaligen
Direktor der Einrichtung, Filaret (dem späteren Metropoliten von Kiev, und, seit 1992,
Haupt der abgespaltenen Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiever Patriarchats).
Pavel wurde stattdessen Diakon in Taškent, später Student der Moskauer Geistlichen
Akademie; 1964 wurde er zum Priester geweiht. In Kagan, einem Vorort von Buchara
in Usbekistan, baute er, unterstützt vom lokalen Bischof, eine neue orthodoxe Gemeinde auf.22 1969 aber wurde er verhaftet und wegen „anti-kommunistischer Aktivitäten“ zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt.23 Nach schweren Misshandlungen durch die
Lageraufseher verlor er ein Bein, kam auf eine Krankenstation und konnte schließlich
durch Eingreifen seiner Frau befreit werden. Erst 1972 war Vater Pavel offenbar vollkommen wiederhergestellt und bemühte sich darum, eine Gemeinde zugewiesen zu
bekommen. Nach einigen Wirren erhielt er schließlich einen Posten als Gemeindepriester in einem abgelegenen Dorf im Bezirk Pskov. 1978 trat er in einer anderen
Gemeinde in einem Vorort der Stadt Pskov seinen Dienst an.
Seit der Lockerung der Religionsgesetzgebung in der Perestrojka-Zeit konnte Vater
Pavel in Pskov eine Reihe sozialer Initiativen verwirklichen. Es entstanden ein Waisenhaus, eine kleine Fabrik für Kirchengüter wie etwa Kerzen und eine orthodoxe Schule.
Der kleine Mikrokosmos, der entstand, wurde von den lokalen Behörden und von
21
22
23
Sebastian überlebte allerdings die Jahre der Lagerhaft und Folter und starb 1966 in Karaganda
(vgl. das Verzeichnis „Novomuþenniki, ispovedniki, za Christa postradavšie v gody gonenij na
Russkuju Pravoslavnuju Cerkov v XX v“ [Neomärtyrer, Bekenner und um Christi willen Leidende
in den Jahren der Verfolgung der Russischen Orthodoxen Kirche im 20. Jh.] der Moskauer St.
Tichon-Universität, URL: http://213.171.53.29/bin/code.exe/frames/m/ind_oem.html/charset/ans
?notextdecor (besucht am 20. Oktober 2011).
Vgl. Paul Baars, „`Human Rights as a Pre-Condition for the Inner Life of the Church´: Life,
Initiatives and Theology of Father Pavel Adelheim (Pskov, Russia)“, in: Alfons Brüning und Evert
van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, Leuven 2012, 337–350.
Baars, ibidem, 326–329. Von jetzt an empfing Vater Pavel Postkarten von westlichen Menschenrechtsorganisationen. Ein persönlich gefärbter Bericht über Vater Pavel bei Finn Sivert Nielsen,
„The Eye of the Whirlwind. Russian Identity and Soviet Nation Building. Quests for Meaning in
a Soviet Metropolis (Interlude: Father Peter and Tolya)“, URL: http://www.anthrobase.com/Txt/N/
Nielsen_F_S_03.htm (besucht am 19. Oktober 2010). „Father Peter“ ist anhand der biographischen
Gegebenheiten leicht als Vater Pavel Adel’geim zu identifizieren.
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Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten
111
Bekannten im Westen unterstützt, während die lokale Kirchenleitung eher Schwierigkeiten machte.
Seit 1991 war Vater Pavel Mitglied der lokalen Menschenrechtsorganisation „Veþe“,24 eines Pskover Ablegers des Moskauer Helsinki-Komitees. Zudem lehrte er seit
2004 am von Priester Georgij Koþetkov gegründeten unabhängigen Filaret-Institut in
Moskau als Experte für kanonisches Recht.
Vater Pavel schrieb unter anderem eine Reihe kritischer Artikel zur Menschenrechtsfrage, die etwa in der Zeitung „Zastupnica“ [russ. Fürsprecherin] der Organisation „Veþe“ erschienen. Sein Einsatz für die Menschenrechte erscheint darin in erster
Linie als Einsatz gegen eine dem Menschen ungemäße Konzentration von Macht, die
er in totalitären Regimen ebenso gegeben sieht wie etwa in der Macht von Funktionären, Bürokraten und Beamten, deren Macht nicht auf einem „demokratischen“ Mandat
beruht. Von solchen Strukturen ist nach seiner Ansicht sowohl der Staat und die
Gesellschaft, als auch die Kirche selbst bedroht. Eine Verletzung der Menschenrechte
wird immer dann augenfällig, wenn der Einzelne wehrlos bleibt, weil es keine Instanz
gibt, an die er sich wenden kann, um widerfahrenes Unrecht namhaft zu machen und
seine Rechte zu verteidigen. Wohl sei es die Pflicht des Christen, dem Bösen Widerstand zu leisten – innerlich der eigenen Neigung zur Sünde, äußerlich aber verderbten
Strukturen, die zu Unterdrückung und Verfolgung des Einzelnen führen. Seine jeweiligen Rechte sind es, die ihm dazu verhelfen. Im Besitz von Rechten aber ist der
Einzelne grundsätzlich als nach Gottes Ebenbild geschaffener Mensch – das ist gleichsam der traditionelle orthodoxe Ansatz – und als Mitglied einer auf einer entsprechenden Auffassung von Recht und Gerechtigkeit beruhenden Gemeinschaft, also eines
Staates oder einer Kirche. Indes sind diese Rechte verletzt in einem Gemeinwesen in
dem es keine auf diesen Rechtsprinzipien beruhende Appellationsinstanz gibt. „Es gibt
keinen, bei dem du dich beklagen könntest“ (russ. Žalovatвsja tebe nekomu) – so lautete
schon die zynische Auskunft der gewalttätigen Lageraufseher angesichts ihres Willkürregiments, und damit hatten sich auch die Geistlichen zu sowjetischen Zeiten abzufinden, die weder sich noch den klagenden Gläubigen helfen konnten.
Dabei wird die Anerkennung eines säkularen Staates insofern geleistet, als nach
Ansicht Vater Pavels eine „staatsbürgerliche“ und eine Position der christlichen Moral
nicht zusammenfallen müssen. Vor allem ist die Ethik des Widerstandes bei den Christen eine andere, sie hat dialogisch und friedlich zu sein, während Widerstand bei den
Bürgern auch, der historischen Erfahrung nach, zu Gegengewalt und Revolution führen
kann. Die „staatsbürgerliche“ Option immerhin kann man wählen oder ablehnen, auch
als orthodoxer Christ. 25
Auch die Kirche selbst ist durch die Missachtung der Rechte der Gläubigen in
Gefahr. Unter dem Titel „Die Lehre von der Kirche in Recht und Praxis. Reanimierung
24
25
Veþe war ursprünglich der Name der Bürgerversammlung in den russischen Städten Pskov und
Novgorod des späten Mittelalters, eine Art Stadtparlament, dem auch der Fürst rechenschaftspflichtig war.
Vgl. Pavel Adel’geim, „Etika suprotivlenija“ [Ethik des Widerstands], Zastupnica 3 (12. Oktober
2005) 3–6.
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Alfons Brüning
des kirchlichen Gerichts“ veröffentlichte Vater Pavel im Jahr 2002 eine ausführliche
Streitschrift für die Geltung von Menschenrechten auch innerhalb der Kirche. Basierend auf einer Argumentation, die sich fast ausschließlich auf die Schrift, das kanonische Recht und zuweilen die Kirchenväter stützt, wird hier eine Theorie des Rechts
innerhalb der Kirche entwickelt: Neben der Gottesebenbildlichkeit, die für alle Menschen als Basis des Rechts angenommen werden muss (Verweise auf westliches Naturrecht finden sich freilich bei Vater Pavel nicht), ist es die gottgewollte Gleichheit aller
und die darauf gegründete korporative Verfasstheit der Kirche, von der sich das Recht
ableitet. Insofern nämlich das Wesen der Kirche im Dialog besteht – im Dialog des
Gläubigen mit Gott, aber ebenso der Gläubigen untereinander – braucht es eine Reglementierung dieses Dialogs, damit er dauerhaft bestehen kann. Wesentliche Schritte zu
einer solchen Reglementierung sind nach seiner Ansicht in den Regelungen des Landeskonzils der ROK von 1917/18 erreicht worden. Darauf immer wieder verweisend,
kritisiert er scharf den gegenwärtigen Zustand der orthodoxen Kirche, besonders nach
dem Erlass der gegenwärtigen Kirchenordnung (Ustav) sowie der „Sozialdoktrin“ im
Jahr 2000. Laien, so schreibt er, seien darin nahezu vollkommen machtlos, während
der Priester und viel mehr noch der Bischof nicht bevollmächtigte Seelsorger mit einem
Gleichgewicht von Pflichten und Prärogativen seien, sondern gleichsam geistliche
Funktionäre mit einer durch keine Kontrollinstanzen eingeschränkte Verfügungsgewalt, die zum Missbrauch geradezu einlade.26
Vater Pavels Ausführungen hatten eine praktische Seite. Der ohnehin scharfe
Grundton seines Buches wurde noch verstärkt dadurch, dass Vater Pavel seine Ausführungen mit zahlreichen Fallbeispielen illustrierte, von denen die meisten unmittelbar
auf die Diözese Pskov und deren Bischof Jevsefij bezogen werden konnten – wenn der
letztere nicht sogar ausdrücklich genannt wurde. Das schon vorher gespannte Verhältnis zur kirchlichen Obrigkeit verschlechterte sich daraufhin rapide. Während eine nationale Kommission das Buch noch immer untersucht (inwieweit hier überhaupt eine
Bewertung erfolgen wird, scheint fraglich), liegen gesammelte Reaktionen der Priestervertretungen der Diözese schon vor. Das mildeste Statement darin spricht von „psychisch krank“, das Spektrum reicht bis zu einer Charakterisierung von Vater Pavel als
„Genossen des Teufels“.27 Immerhin, der Verdacht auf „judaisierende Irrtümer“ wurde
später vom Kirchengericht der Diözese für unbegründet gehalten.
26
27
Prot. Pavel Adel’geim, Dogmat o cerkvi v kanonach i praktike. Reanimacija cerkovnogo suda [Das
Dogma von der Kirche in den Kanones und in der Praxis. Wiederbelebung des kirchlichen
Gerichts] Pskov 2002. Eine Zusammenfassung seiner Ansichten findet sich auch in: ders.,
Perspektivy dialoga v Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi (Doklad na Meždunarodnoj nauþno-bogoslovskoj konferencii „Vera – dialog – obšþenie: problemy dialoga v cerkvi“, Moskva, 24–26
sentjabrja 2003 g.) [Perspektiven des Dialogs in der Russisch-Orthodoxen Kirche (Vortrag auf der
internationalen wissenschaftlich-theologischen Konferenz „Glaube-Dialog-Kommunikation: Probleme des Dialogs in der Kirche“, Moskau, 24.-26. September 2003)], Moskau 2004.
„Blagodatnye Luþi“ [Strahlen der Gnade] in: Kirchenzeitung der Diözese Pskov (Juli 2002) 22;
vgl. Baars, „Father Pavel Adelheim“, 330.
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Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten
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Es ist von außen schwer zurückzuverfolgen, wo die eigentlichen Ursachen des
Konfliktes liegen – in Konfrontationen auf praktischer Ebene oder in ideologischen
Differenzen oder in beidem. Der Streit zog sich bereits Jahre hin, und zu einer Lösung
kam es nicht.28 Bischof Jevsefij nahm im März 2008 einen – mit dem Buch ansonsten
in keinem Zusammenhang stehenden – Konflikt in den Pskover Gemeinden zum Anlass, Vater Pavel von seinen Posten zu entfernen. Er ist seitdem zwangspensioniert und
Priester ohne Gemeinde. Der Gemeinderat, der Vater Pavel unterstützte, wurde
aufgelöst. Am gleichen Tag wurde hingegen Bischof Jevsefij in den Rang eines Metropoliten erhoben. Vater Pavels Nachfolger im Priesteramt versucht, die von ihm aufgebauten Einrichtungen nach Möglichkeit weiter zu führen. Immerhin führte eine Berufungsklage zu einem Teilerfolg. Im Juni 2010 bestätigte Patriarch Kirill eine Berufungsentscheidung des Obersten Kirchengerichts des Moskauer Patriarchats, demzufolge die Amtsenthebung Vater Pavels unbegründet gewesen sei. Gleichzeitig werden
beide Parteien aufgefordert, sich zu treffen und ihren Konflikt „im Geist christlicher
Liebe“ auszuräumen.29
Vielleicht kam die Aufforderung aber zu spät. Vater Pavel hat offenkundig nicht
die von ihm erwartete vollständige Rehabilitation erhalten, trotz allem. Er hat in der
Zwischenzeit seine Erinnerungen veröffentlicht, die die Jahrzehnte seines Priesterdaseins Revue passieren lassen und ein düsteres Bild seiner Kirche zeichnen: Die
erhoffte Wiedergeburt sei ausgeblieben, sie habe sich nur äußerlich auf die Restauration und Rückgabe von Kirchengebäuden beschränkt, doch statt einer spirituellen Erneuerung unter den Gläubigen sei nur eine neue bürokratische Herrschaftseinrichtung
mit Hierarchen als Funktionären alten Stils entstanden. Der einfache Priester aber, an
dessen Werk so Entscheidendes hänge, sei so rechtlos wie zu Sowjetzeiten.30
Die Kehrseite dieses desillusionierten Bildes ist und bleibt freilich die Überzeugung, dass in der Kirche wie auch im Staat das Recht als unabhängige und objektive
Instanz verankert sein müsse. Vater Pavel argumentiert in seinen Schriften nahezu
ausschließlich biblisch und mit Verweis auf das (ihm außerordentlich gut vertraute)
orthodoxe Kirchenrecht. In den Revisionen des Konzils von 1917/18, am Vorabend der
Revolution, sieht er wesentliche Momente des „konziliaren Geistes“ der Orthodoxie
verwirklicht. Verweise auf westliches Naturrecht indes sind bei ihm offenbar kaum zu
finden. Er agiert in erster Linie als Priester, der sich auf der Seite der Opfer zu finden
hat, und es ist vor allem das Recht der Gläubigen, das ihm ein Anliegen ist, und das
Gesicht der Kirche, die er durch deren Rechtlosigkeit korrumpiert sieht. Diese Kirche
28
29
30
Weitere Dokumente zur Auseinandersetzung Vater Pavels mit dem lokalen Bischof seit dem Jahr
2002 sind veröffentlicht in einer Sondernummer von: Christianskij Vestnik, 4 (2007), no. 2: „Materialy k istorii RPC konca XX veka“ [Materialien zur Geschichte der ROK zum Ende des 20. Jh.]
Veröffentlicht auf der offiziellen Website des Moskauer Patriarchats, URL: http://www.patriarchia.
ru/db/text/1181727.html (besucht am 21. Oktober 2011).
Ierej Pavel Adel’geim, Svoimi glazami [Mit eigenen Augen], Moskau 2010. Ein auf einer ganz
ähnlichen Analyse beruhendes Plädoyer für Rechte innerhalb der Kirche veröffentlichten Vater
Gleb Jakunin und Lev Regelson im November 2010, URL: http://www.portal-credo.ru/site/?act=
english&id=383 (besucht am 2. November 2011).
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Alfons Brüning
ist freilich immer die orthodoxe Kirche Russlands, die mithin das Schicksal auch Russlands bestimmt. Ein eigenes – wenn man so will – patriotisches Element erhellt sich
aus den immer wieder verwendeten Zitaten aus der russischen Literatur, die die russische Lebenswirklichkeit über die Jahrhunderte hinweg erhellen sollen. Vater Pavel hat
nie politische Ambitionen gezeigt. Die Politik ist ihm nicht unmittelbar von Bedeutung
– hierin unterscheidet er sich, will man denn eingangs versuchte Kategorisierungen
weiterführen, von den politischeren Naturen der oben genannten „radikaldemokratischen Opposition“ vor allem der frühen 1990er Jahre. Doch auch im Staat müssen
seiner Überzeugung nach die Rechte den Einzelnen vor Machtmissbrauch und Korruption schützen können, unabhängig von deren Konfession oder nationaler Zugehörigkeit. Geschieht das nicht, sollte eigentlich die Kirche den Protestierenden – mindestens
– Zuflucht bieten.
Vater Pavels Auseinandersetzung mit dem örtlichen Bischof hat ein recht breites
Echo gefunden. Dank seines „Heldenstatus“ als standhafter Verfolgter des Sowjetregimes, aber wohl auch dank seiner Schriften und der Qualität seiner Predigten genoss er
einige Popularität.31 Seine Wirkmöglichkeiten reichten damit weiter, als es sein marginaler Status innerhalb der Kirche vermuten lässt.
Am 5. August 2013, wenige Tage nach seinem 75. Geburtstag, wurde Vater Pavel
von einem offenbar geistig verwirrten jungen Mann, den er zeitweise in seinem Haus
beherbergt hatte, mit einem Messer erstochen. Obwohl von manchen vermutet, wurden
bisher keine Anzeichen dafür gefunden, dass der Mord an dem unbotmäßigen Geistlichen auf höheren Auftrag hin geschehen wäre.
Vater Veniamin (Novik)
Vater Veniamin wurde als Valerij Novik 1946 in der Familie eines Militärs geboren.
1976 schloss er zunächst eine Ausbildung am Polytechnischen Institut in St. Petersburg
ab und arbeitete einige Jahre als Ingenieur. Später nahm er ein Studium an der Geistlichen Akademie St. Petersburg auf, wo er 1987 seine Dissertation verteidigte. Danach
wurde er hier Dozent und bekleidete von 1992–1995 den Posten eines Vizerektors für
den Lehrbetrieb. Als er 1997 eine Petition gegen das neue russische Religionsgesetz
unterzeichnete (das die Betätigungsmöglichkeiten „neuer“ religiöser Gemeinschaften
stark einschränkte und insbesondere der Orthodoxen Kirche besondere Vorrechte
einräumte), kostete ihn dies seine Stellung als Dozent. Seitdem war er – bis zu seinem
viel zu frühen Tod im September 2010 – weiterhin publizistisch tätig, hielt Vorträge,
unterrichtete an der katholischen Akademie St. Petersburg und veröffentlichte zahlreiche Artikel in angesehenen russischen wissenschaftlichen Zeitschriften und Zeitungen
sowie in westlichen Zeitschriften. Nur einige wenige seiner zahllosen Publikationen
können hier ausgewertet werden. Hinzu kam eine intensive Vortragstätigkeit, die – humorvoll und ironisch, aber engagiert und zugleich kenntnisreich wie seine Vorträge
31
Die Predigten werden regelmäßig auf einer ihm gewidmeten Website zugänglich gemacht, URL:
http://adelgeim.livejournal.com (besucht am 20. Oktober 2011).
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Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten
115
waren – meist zahlreiche Hörer anzog. Seine drei letzten Lebensjahre lang wirkte er
wiederum als Gemeindepriester in St. Petersburg.32
Vater Veniamin stammt aus keiner religiösen Familie, und der Ausgangspunkt
seiner Bekehrung ist in den intellektuellen Zirkeln der späten 1970er Jahre zu suchen,
die sich oft um Priester wie Aleksandr Ogorodnikov, Dmitrij Dudko oder Aleksandr
Men’ zusammenfanden – Persönlichkeiten, die alle unter der Verfolgung durch die Behörden zu leiden hatten und zugleich in der Folgezeit auch recht unterschiedliche
intellektuelle Wege einschlugen. Die Themen dieser Bewegungen und Zirkel waren
weitgefächert, doch stand spätestens in der frühen Perestrojka-Zeit die Frage nach dem
Beitrag der Religion und der Kirche im Besonderen zu einer besseren Gesellschaftsordnung weit oben auf der Agenda.33 Vater Veniamin wird von auswärtigen Beobachtern in der Regel der Strömung einer gesellschaftlich liberalen und ökumenisch gesinnten Orthodoxie zugeordnet, die die Gesellschaftsform einer liberalen Demokratie aus
christlichen Wurzeln zu begründen sucht. Vorläufer dieser Denkformen waren der
Religionsphilosoph Vladimir Solovjev und der schon mehrfach erwähnte Priester
Aleksandr Men’.34 Tatsächlich wurde Vater Veniamin im Laufe der 1990er Jahre zu
einer führenden Stimme im Versuch der Versöhnung von liberaler Demokratie, Menschenrechten und orthodoxer Theologie. Auch Vater Veniamins Beiträge sind geprägt
von der Klage über die russische Lebenswirklichkeit, die Kluft zwischen hehren Gesetzen auf dem Papier und verantwortungsloser Exekutive, Korruption und Rechtlosigkeit auf der anderen Seite. Zunächst in der Perestrojka-Periode und dann nach dem
Wegfall der Sowjetherrschaft sollte es besser werden – nur wie? Zunehmend bewegte
sich Vater Veniamin im Laufe der 1990er Jahre in eine Frontstellung gegenüber konservativen, monarchistischen und nationalistischen Kreisen in seiner Kirche, die das Rad
der Geschichte scheinbar zurückdrehen wollten und meist argumentierten, Demokratie
und Menschenrechte passten eben nicht zur russischen Tradition. Er hat jedenfalls die
wachsenden Spannungen persönlich deutlich empfunden: Zu Beginn der 1990er Jahre
sah Vater Veniamin Anlass, den damaligen, zwischen diesen Lagern zerrissenen Zustand der Kirche schon beinahe als „Schisma“ zu charakterisieren.35
Ein Verständnis von objektivem Recht, an das Institutionen in Staat und Gesellschaft gebunden seien, ist nach Vater Veniamin etwas, was der russischen Wirklichkeit
fehlt. Dabei seien Menschenrechte und orthodoxes Christentum nicht nur vereinbar,
32
33
34
35
Biographische Informationen zu Vater Veniamin, der auch im Westen ein häufiger Gast von
Diskussionsforen war, sind den anlässlich seines frühen Todes erschienenen Nekrologen zu
entnehmen, zum Beispiel auf der Website des St. Filaret-Bibel Instituts in Moskau, URL: http://
archive.sfi.ru/rubrs.asp?art_id=12977&rubr_id=186 (besucht am 21. Oktober 2011).
Zur ROK in der Perestrojka vgl. Rousselet, „Die Russische Orthodoxe Kirche“, 400–407.
Mikhail Sergeev, „Liberal Orthodoxy: From Vladimir Solov’ev to Fr. Alexander Men“, in: Occasional Papers on Religion in Eastern Europe 23/5 (2003), URL: http://www.georgefox.edu/
academics/undergrad/departments/soc-swk/ree/2003/sergeev03.html (besucht am 21. Oktober
2011).
Veniamin Novik, „Russia – between Past and Future“, Religion, State & Society 22 (1994) 183–
189, hier 183; vgl. Knox, „Postsoviet Challenges“, 101.
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Alfons Brüning
sondern wesensmäßig aufeinander bezogen – eine Erkenntnis, die Vater Veniamin der
russischen Religionsphilosophie um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert zuschreibt, namentlich Autoren wie Vladimir Solovjev und Nikolaj Berdjaev. Gegen die
Unterstellung, Recht und liberale Demokratie seien kaum anderes als „der Kampf aller
gegen alle“ unter dem Vorzeichen eines libertinären, durch nichts gebundenen Individualismus, zitiert er etwa die beiden Genannten wie folgt:
Recht ist Freiheit, gebunden durch die Gleichheit. In dieser grundlegenden Definition des
Rechts ist das Individualitätsprinzip der Freiheit untrennbar verbunden mit dem gesellschaftlichen Prinzip der Gleichheit, so dass sich sagen lässt, dass Recht nichts anderes ist
als eine Synthese von Freiheit und Gleichheit.36
Freiheit und Gleichheit sind dabei durchaus aus dem christlichen Menschenbild abzuleiten, insofern der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei. Andererseits ist das
Recht eine durchaus säkulare Kategorie, die – wiederum nach Solovjev – bestehe, nicht
um das Paradies auf Erden zu errichten, sondern das vorzeitige Hereinbrechen der Hölle abzuwenden. Recht garantiere die Einschränkung der weltlichen Macht und die
Freiheit der Wahl auch in Religionsdingen – letzteres eine unabdingbare Voraussetzung
für den wahren Glauben. Folglich – hier begibt sich Vater Veniamin auf den Spuren
Solovjevs häufig in die Nähe des westlichen Naturrechts – sei das Recht auch kein
Charakteristikum, das allein Christen oder gar Orthodoxen zukomme, sondern a priori
allen Menschen. Andererseits könne Recht keine Moral regeln. Der alte, aus der russischen Geistesgeschichte so bekannte Gegensatz von „Recht und Gnade“ in seinen
verschiedenen Facetten bestünde fort, und es sei wohl so etwas wie Rechtmäßigkeit
(pravda), nicht aber die Wahrheit (istina) kodifizierbar. Moralische Vervollkommnung
und spirituelle Reifung des Christen seien von den Menschenrechten nicht geregelt.
Diese seien einerseits hierzu nicht bestimmt, andererseits aber unabdingbare Voraussetzung für ersteres in der Gesellschaft.37
Solche Überlegungen sind freilich allein sinnvoll vor dem Hintergrund eines verstärkten Engagements der Kirche in der Gesellschaft, sei es auf dem Gebiet der Bildung, der Gesetzgebung oder der sozialen Fürsorge. Vater Veniamin hat sich schon vor
Verabschiedung der Sozialdoktrin der ROK im Jahr 2000 entschieden für ein solches
Engagement ausgesprochen.38 Die freiheitliche Demokratie sei dabei diejenige Gesellschaftsform, die dem Menschen am ehesten entspreche und die Verwirklichung seiner
Rechte entsprechend der Balance zwischen Freiheit und Gleichheit garantiere. Demokratie zwinge den Menschen, sich – letztlich zu seinem eigenen Heil – selbst Grenzen
36
37
38
Veniamin Novik, „Christianskoe ponimanie prav þeloveka“ [Christliches Verständnis der Menschenrechte], in: ders., Pravoslavie, Christianstvo, Demokratija, 303–365, hier 315f.
Ibidem, passim. Siehe auch ders., „Bog i pravo“ [Gott und das Recht], URL: http://www.sovacenter.ru/religion/publications/religion-human-rights/2007/07/d11259/ (besucht am 21. Oktober
2011); ders., „Neponjatnyi Vladimir Solovjev“ [Der unverständliche Vladimir Solovjev], URL:
http://www.philosophy.ru/library/novik/solovyov.html (besucht am 21. November 2010).
Veniamin Novik, „Social doctrine: Will the Russian Orthodox Church Take a Daring Step?“,
Religion, State & Society 26 (1998) 197–203.
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Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten
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zu setzen. Menschenrechte dienten, unter den Bedingungen der technischen Moderne
und der pluralen Gesellschaft, eben diesem Zweck und seien daher in die Verfassung
der Russischen Föderation eingegangen. „Da Gott allein ohne Sünde ist, sollten alle
anderen durch das Gesetz gebunden sein“.39 Der Vorteil der Demokratie aus christlicher Perspektive bestünde, so schreibt er, ebenfalls im Ausgleich zwischen den Extremen ausschließlicher Gottesverehrung (was unter anderem eine Erblast der orthodoxen Kirche sei) und der Nächstenliebe als ausschließlichem Ideal (ein Irrweg der
Kommunisten, mit den bekannten Folgen).40 Im Zusammenhang hiermit spricht er sich
auch für eine vorsichtige Modernisierung der Kirche selbst aus.
Position im Gesamtbild
Wie ist nun die Wirkung solcher Stimmen in der Gesamtheit der Orthodoxie, insbesondere unter orthodoxen Geistlichen, im Hinblick auf die Haltung zum Thema Menschenrechte? Um diese zu bestimmen, lassen sich einige Faktoren heranziehen, die vor dem
Hintergrund des eingangs geschilderten Generationenverhältnisses von Bedeutung
sind.
Zunächst lässt sich grundsätzlich festhalten, dass beide besprochenen Geistlichen
zwar der Form nach innerhalb der Kirche marginalisiert sind und von der „kirchlichen
Obrigkeit“ diszipliniert und damit gleichsam erkennbar vom offiziellen Mainstream
entfernt wurden. Es wäre aber womöglich verfehlt, hieraus den Schluss einer ganz abgeschnittenen öffentlichen Wirkung zu ziehen. Die beiden Geistlichen waren bekannte
Persönlichkeiten. Insgesamt kann man, wie jeweils geschildert, von einer recht breiten
Rezeption in der russischen kirchlichen Öffentlichkeit ausgehen.
Beiden geht es vor allem um die Kirche selbst. Zu einiger Wirkung ihrer Ansichten
mag auch beigetragen haben, dass von beiden in einer theologisch anspruchsvollen
Form zugunsten einer nicht-hierarchischen und nicht-autoritären Kirche argumentiert
wird – Kirche ist in den Ansichten beider die „konziliare“ (sobornaja) Kirche, nicht
die hierarchisch-autoritäre. In Nuancen kommt hier das Generationenproblem zum
Ausdruck – Vater Pavel Adel’gejm benutzt den Begriff der Menschenrechte kaum
ausdrücklich, und wenn es ihm um das Recht geht, dann um dasjenige, das gleichsam
das „wahre“ Gesicht der Kirche konstituiert. Diese Kirche müsse gerade der Zufluchtsort und die Fürsprecherin der Rechtlosen sein. Das ist hier nur zum Teil deckungsgleich
mit politischem Liberalismus – so unterscheiden sich auch Vater Pavels Ansichten zu
einer Reihe moralischer Fragen deutlich von dem, was man gemeinhin einem westlichliberalen Verständnis zuschreiben würde (der seinerseits oft unter Berufung auf die
39
40
Veniamin (Novik), „Russkaja pravoslavnaja cerkov’ i problema modernizacii obšþestva“ [Die
Russisch-orthodoxe Kirche und das Problem der Modernisierung der Gesellschaft], Religija i
pravo 3 (2002) 13–15; engl. Wiedergabe in East-West Church & Ministry Report 13/2 (2005) 4;
URL: http://eastwestreport.org/articles/ew13202.html (besucht am 21. Oktober 2011).
Veniamin Novik, „Democracy: A Question of Self-limitation“, Religion, State & Society 25 (1997)
189–198.
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Alfons Brüning
Menschenrechte argumentiert). Demgegenüber ist Vater Veniamin, der einer etwas
anderen Strömung entstammt, weit mehr an einer aktiven Rolle der Kirche in der
Gesellschaft interessiert und sieht diese gerade als Verteidigerin der Menschenrechtskonzeption – aber auch diesmal, wenngleich offensiver und unter aktiver Gestaltung
der Gesellschaft (in Bereichen wie in Bildung, Legislative etc.), zugunsten der Minderheiten, der Rechtlosen. Dass dabei Kirche nicht in erster Linie der Patriarch und eine
Reihe offizieller Leitdokumente bedeutet, sondern die Erfahrung der Gemeinde vor
Ort, ist in beiden Fällen exemplarisch erkennbar und wird zudem in einer differenziert
argumentierenden und einigermaßen politikfernen, nicht-ideologischen Weise vertreten. Dabei ist ein Moment der Seelsorge des Geistlichen zentral. Zu dem gezeichneten
Bild trägt die wichtige Tatsache bei, dass beide sich zeitlebens selbst dezidiert und
ausdrücklich als Gemeindepriester verstanden haben und der pastoralen und caritativen
Arbeit in ihrem Selbstverständnis als Geistliche und Katecheten einen zentralen Platz
eingeräumt haben. Vater Pavels karitative Initiativen sind ebenso bekannt wie seine
Schriften. Vater Novik wiederum hat sich bei Gelegenheit – im Jahr 2004, als er ohne
Gemeinde war – sehr betrübt darüber geäußert, dass er als Priester gleichsam heimatlos
sei und „nur“ schreiben könne.41
Beide sind übrigens, in ihrer Art, „Russophile“. Stets fühlbar bleibt in den Schriften
beider die tiefe Verbundenheit sowohl mit der russischen geistesgeschichtlichen und
theologischen Tradition einerseits als auch mit den Nöten und Unzulänglichkeiten der
russischen Lebenswirklichkeit andererseits – auch ihre Klagen darüber stehen gleichsam in jahrhundertealter Tradition und sind oft auch schon die Klagen Puškins, ýechovs, Jesenins, Marina Cvetaevas und anderer Größen der russischen Literatur, die
kenntnisreich zitiert werden. Lösungsansätze aber entnehmen sie ebenfalls der russischen Religionsphilosophie, wie dem seit Aleksej Chomjakov beschriebenen sobornost’-Prinzip oder den zitierten Ansichten Solovjevs. Nirgends findet sich – soweit wir
sehen konnten – ein Ausspruch, etwa allein westlichen Vorbildern folgen zu müssen.
Vielmehr sind vereinzelte Elemente von Kritik zumindest an der Unzulänglichkeit der
westlichen Menschenrechte für das eigentliche, geistliche Leben des Christen auch
immer wieder wahrzunehmen. Man ist in jüngster Zeit, worauf in diesem Zusammenhang hingewiesen werden kann, auch bei anderen der führenden „Liberalen“ in der
russischen Orthodoxie auf deren Verbundenheit mit den spirituellen Schätzen des „Heiligen Russland“ aufmerksam geworden.42
Die letztlich weniger ideologische als vielmehr karitativ-pastorale Komponente ist
womöglich am ehesten geeignet, eine Brücke zur Mehrheit der Priester der Russischen
Orthodoxen Kirche in der Gegenwart zu schlagen. Karitativ verstandene Aufbauarbeit
ist wohl vor allem für die jüngere Generation diejenige Form, in der – eingestanden
oder nicht – Menschenrechtsarbeit gegenwärtig verstanden wird. Jenseits einer ideolo-
41
42
In einer Diskussionsrunde, veröffentlicht vom ukrainischen Magazin „Ji“, im Jahr 2002, URL:
http://www.ji-magazine.lviv.ua/seminary/2002/sem20-04.htm (besucht am 21. Oktober 2011).
Vgl. Wallace L. Daniel, „Father Alexander Men’ and the Struggle to Recover Russia’s Heritage“,
Demokratizatsija 17/1 (2009) 73–92.
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Orthodoxe Priester als Menschenrechtsaktivisten
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gisierten öffentlichen Diskussion gestatten sich Gemeindepriester vor diesem Hintergrund durchaus Äußerungen, die bisweilen von der Generallinie abweichen. Solche
sind zu hören etwa hinsichtlich staatlicher Restriktionen der Gewissensfreiheit (mit
Bezug auf das Religionsgesetz von 1997) – konziliantere Stimmen verschieben den
Akzent auf einen Einsatz für die Benachteiligten in der Gesellschaft.43 Zudem verstehen sich viele Aktivisten in bekannten Menschenrechtsgruppen – wie den Petersburger Soldatenmüttern oder Memorial – explizit als durch ihren orthodoxen Glauben
motiviert, und man kann mit guten Gründen davon ausgehen, dass diese Aktivität auch
von den Priestern der orthodoxen Gemeinden, zu denen sie gehören, unterstützt wird.44
Entsprechend verwies Erzpriester Vsevolod ýaplin, der ansonsten oft gegen die
seiner Ansicht nach „westlich-liberale, säkulare Konzeption der Menschenrechte“ polemisiert, schon 2006 darauf, dass auch die Kirche schon lange mit ihrer Arbeit gegen
Gewalt in Armee und Gefängnissen und zugunsten materiell wie sozial Benachteiligter
für Menschenrechte eintritt – eben mit dieser Koinzidenz der Interessen wird ja auch
die im genannten Dokument von 2008 enthaltene Notwendigkeit einer Annäherung
zwischen Kirche und Menschenrechtsaktivisten begründet.45 Das soll nicht von den in
der öffentlichen Diskussion nach wie vor bestehenden scharfen Gegensätzen zwischen
Menschenrechtlern und Vertretern vor allem eines autoritär-konservativen Kirchenflügels ablenken. Dieser Kirchenflügel ist immer noch lauter als die vereinzelten
Stimmen, die orthodoxes Christentum und Menschenrechte zusammendenken – eine
Tatsache, die die Gefahr einer verzerrten Wahrnehmung von außen mit sich bringen
kann.
Was die beiden hier untersuchten Personen und deren Zugang indes signifikant von
einem nur karitativ verstandenen Einsatz für die Menschenrechte unterscheidet, ist die
theoretisch, und vor allem theologisch untermauerte Annahme eines Rechts als objektiv bindende Gegebenheit und zugleich menschliches Charakteristikum. Rechte werden bei diesen beiden orthodoxen Priestern verstanden als unveräußerlich und zugleich
die Macht bindend. Es ist oft festgestellt worden, dass dies – eine besondere Spielart
des russischen Themas von „Recht und Gnade“ – der russischen Rechtstradition fremd
sei: Recht ist hier etwas, das durch die Gnade des Herrschers gewährt wird, nicht diesen
als objektive Instanz verpflichtet.46
43
44
45
46
Vgl. die Äußerungen bei Maija Turunen, „Official and Unofficial Voices of the Russian Orthodox
Church: Analyzing Human Rights in Official Documents and Personal Interviews“, in: Brüning
und Van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, 237–249.
Da allerdings die Konfessionszugehörigkeit oder Religiosität bei diesen Organisationen nicht
erfragt, geschweige denn offiziell erfasst wird, ist es recht schwierig, hier zu konkreten statistischen Angaben zu kommen. Ich danke hier Regina Elsner, Münster, für hilfreiche Hinweise.
Erzpriester Vsevolod ýaplin, „Prava þeloveka ili pravo na grech?“ [Menschenrechte oder Recht
auf Sünde?], Interview, URL: http://sedmitza.ru/text/407582.html (besucht am 21. Oktober 2011).
Zuletzt etwa bei Tatjana Artemyeva, „From `Natural Law´ to the Idea of Human Rights in 18th
Century Russia: Nobility and Clergy“, in: Brüning und Van der Zweerde (Hg.), Orthodox Christianity and Human Rights, 111–123.
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Alfons Brüning
Dieser Gegensatz bleibt einstweilen. Auf theoretischer Ebene stehen sich hier
gleichsam Menschenrechte als unverletzliche und objektive Rechte des Individuums
und die orthodoxe Konzeption der Person, die auch durch ihre kollektiven Bezüge und
das ihr als gottgeschaffen immanente, aber erst zu verwirklichende Selbst bestimmt
wird, gegenüber. Zu dieser Auffassung von Person aber gehört eine moralische Komponente, die in Widerstreit mit den Freiheiten der Menschenrechtskonzeption geraten
kann. Solche Auffassungen von Person und Moral hatten einen wesentlichen Einfluss
auf das Dokument der ROK von 2008 und die darin enthaltenen und kontrovers
diskutierten Auffassungen von Würde und Freiheit.47 Dahinter stehen eine Reihe von
Fragen zum Verhältnis von säkularem Recht und kirchlicher Moral, über die die Debatten andauern. Dass diese Gegensätze nicht unüberbrückbar sein sollten, haben engagierte Priester mehrerer Generationen zu zeigen versucht.
47
Vgl. zur Umsetzung der theosis-Idee in diesem Dokument Alexander Agadjanian, Russian Orthodox Vision of Human Rights: Recent Documents and their Significance, Erfurt 2008 (Erfurter
Vorträge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums, 7).
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