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Margarete Susman. Beiträge zu Werk und Wirkung (Titelei + Einleitung)

Margarete Susman (1872–1966) war Philosophin, Dichterin und Essayistin. Ihre Beiträge zu Fragen des Feminismus, von Differenz und Alterität, Literatur und Kultur, Religion und Politik erweisen sich weiterhin als relevant. Sie steht innerhalb einer theoriegeschichtlich bedeutsamen Konstellation, die eine genauere Konturierung verdient: Sie entwickelte ihr Werk in engem Austausch mit Georg Simmel, Ernst Bloch, Martin Buber und Franz Rosenzweig und in intensivem Gespräch mit Gustav Landauer wie auch Georg Lukács. In dem aus einer Doppeltagung in München und Zürich hervorgegangenen Band wird von den Beitragenden ihre Bedeutung in ihrer Zeit wie auch für die Gegenwart in signifikanten Kontexten aufgezeigt.

Religiöse Dynamiken in Geschichte und Gegenwart Religious Dynamics – Historical and Contemporary Perspectives herausgegeben von Orit Bashkin, Yossef Schwartz und Christian Wiese Hauptherausgeber Christian Wiese Wissenschaftlicher Beirat Mayte Green-Mercado, Katharina Heyden, Karma Ben Johanan, Iris Idelson-Shein, Volkhard Krech, Isabelle Mandrella, Walid A. Saleh, Heather J. Sharkey 4 Margarete Susman Beiträge zu Werk und Wirkung herausgegeben von Martin J. Kudla, Inka Sauter, Caspar Battegay und Willi Goetschel Mohr Siebeck Martin J. Kudla, Studium der Philosophie, Psychologie und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der LMU München; Doktorand an der Martin-BuberProfessur für Jüdische Religionsphilosophie sowie Mitglied des Buber-Rosenzweig-Instituts an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Inka Sauter, Studium der Philosophie, Mathematik und Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Leipzig; 2019 Promotion; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie und Mitglied des BuberRosenzweig-Instituts an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Caspar Battegay, Studium der Deutschen Philologie, Philosophie und Jüdische Studien; 2009 Promotion; 2017 Habilitation; Lehrbeauftragter für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Basel, zudem Leiter des Teams für Kultur und Kommunikation an der Hochschule für Technik der Fachhochschule Nordwestschweiz. Willi Goetschel, Studium der Philosophie und Literatur in Zürich und an der Harvard Universität; Professor für Deutsche Literatur und Philosophie an der Universität von Toronto. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Dialogik – Mary und Hermann Levin Goldschmidt-Bollag und des GRADE-Centers RuTh der Goethe-Universität Frankfurt. ISBN 978-3-16- 163414-7 / eISBN 978-3-16-163925-8 DOI 10.1628/978-3-16-163925-8 ISSN 2941-6175 / eISSN 2941-6191 (Religiöse Dynamiken in Geschichte und Gegenwart) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier. Printed in Germany. Inhaltsverzeichnis Siglen und Abkürzungen ............................................................................ VII MARTIN J. KUDLA, INKA SAUTER, CASPAR BATTEGAY UND WILLI GOETSCHEL Einleitung ...................................................................................................... 1 W ILLI GOETSCHEL Margarete Susman: eine deutsche Philosophin .............................................. 7 DOMINIQUE BOUREL Margarete Susmans Freundschaft mit Martin Buber und Bernhard Groethuysen. Eine lebensgeschichtliche Skizze ............................29 HANNA DELF VON WOLZOGEN Margarete Susman und Gustav Landauer oder Denkerin trifft Revolutionär .................................................................43 CASPAR BATTEGAY Sternensprache. Utopie und Pathos bei Margarete Susman und Ernst Bloch ..........................71 INKA SAUTER Wiederaufnahmen. Susmans Rosenzweig-Texte ...........................................91 ANNETTE WOLF Todesmetaphysik. Margarete Susmans Kritik einer deutschen Tradition .... 111 YOSSEF SCHWARTZ Margarete Susman und Hannah Arendt: die Geschichte einer Unfreundschaft .......................................................... 131 VI Inhaltsverzeichnis VI MARTIN J. KUDLA Hiob und die Dialogik. Margarete M ARTIN J. Susman KUDLA und Hermann Levin Goldschmidt ................................. 169 Hiob und die Dialogik. GESINE PALMER Margarete Susman und Hermann Levin Goldschmidt ................................. 169 „Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott …“ oder: Einige ESINEGedanken PALMER zur Sinnrede von Margarete Susman ...............................209 G „Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott …“ oder: LOZZI zur Sinnrede von Margarete Susman ...............................209 GIULIANO Einige Gedanken Die Dichterin, die Malerin, die Künstlerin. Zur Vergegenwärtigung von Dichtung und Kunst IULIANO LOZZI G in der écriture die Margarete Susmans ............................................................. 233 Die Dichterin, Malerin, die Künstlerin. Zur Vergegenwärtigung von Dichtung und Kunst ALMUT in der SLIZYKMargarete Susmans ............................................................. 233 Margarete Susmans Das Wesen der modernen deutschen Lyrik und die SMetamorphose des „lyrischen Ich“.................................................249 LMUT LIZYK A Margarete Susmans NEWMAN RAFAËL und die Metamorphose des „lyrischen Ich“.................................................249 „Wo einer für den andern Heimat wird“. Margarete Susman und die lyrische Moderne ............................................. 283 AFAËL NEWMAN R „Wo einer für den andern Heimat wird“. ONNTAGund die lyrische Moderne ............................................. 283 GERHILD SSusman Margarete Pathos, Ethos und Existenz – Margarete Susmans Poetik des Exils imERHILD Kontext der Moderne.............................................................................297 SONNTAG G Pathos, Ethos und Existenz – Margarete Susmans Poetik des Exils P ISANO LIBERA im Kontext der Moderne.............................................................................297 Die Grammatik der Hoffnung. Diasporisches IBERA P ISANOHören und weiblicher Abgrund bei Margarete Susman ........ 317 L Die Grammatik der Hoffnung. AMIT KRAVITZHören und weiblicher Abgrund bei Margarete Susman ........ 317 Diasporisches Schicksal in Freiheit, Schicksal der Freiheit. Eine Perspektive auf Margarete Susmans Deutung MITphilosophische KRAVITZ A der Shoah in ................................................................................................... 335 Schicksal Freiheit, Schicksal der Freiheit. Eine philosophische Perspektive auf Margarete Susmans Deutung GOLDBLUM SONIA der Shoah ...................................................................................................335 Margarete Susman, Gershom Scholem und das Missverständnis um dieG„deutsch-jüdische Symbiose“ ..........................................................351 ONIA OLDBLUM S Margarete Susman, Gershom Scholem und das Missverständnis um die „deutsch-jüdische Symbiose“ ..........................................................351 Namensregister ........................................................................................... 367 Sachregister ................................................................................................ Namensregister ...........................................................................................371 367 Sachregister ................................................................................................ 371 Autorinnen und Autoren 375 Siglen und Abkürzungen AfZ DLA GS I–V NL NLI StAZH UB Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich Deutsches Literaturarchiv Margarete Susman, Gesammelte Schriften, 5 Bde., hg. v. Anke Gilleir/Barbara Hahn, Göttingen: Wallstein 2022 Nachlass National Library of Israel Staatsarchiv des Kantons Zürich Universitätsbibliothek Einleitung MARTIN J. KUDLA, INKA SAUTER, CASPAR BATTEGAY UND W ILLI GOETSCHEL Als Margarete Susman im Januar 1966 in Zürich verstarb, stellte sich die Frage, was auf ihrem Grabstein stehen sollte. Susmans Sohn, Erwin Bendemann, hatte eine entschiedene Meinung: „für spätere Generationen“ sollte durch die Inschrift deutlich werden, „wer Margarete Susman war“.1 Auf den Vorschlag, doch nur den Namen anzuführen, erwiderte er: „Aber was wird M.S. in 50 Jahren, oder gar 100 Jahren bedeuten? Kaum einer wird wissen, wer diese Frau war.“2 Er malte sich aus, „dass vielleicht in hundert Jahren einmal ein verirrter Wanderer in jenen Friedhof“ käme und „dort unter dem Namen M.S. die Worte ‚DICHTERIN, DENKERIN, DEUTERIN‘ sieht und nachforscht, wer das wohl gewesen sein mag und sie den Menschen neu entdeckt“.3 Zugleich fragte er Hermann Levin Goldschmidt, dessen Aufsatz ihn zu der Formulierung angeregt hatte,4 ob er meine, „dass literarische Register diese Aufgabe besser erfüllen werden?“5 Goldschmidt war sicherlich der Unermüdlichste in seinen Bemühungen, die Erinnerung an die Bedeutung Susmans wachzuhalten und die fortdauernde Aktualität ihres Werkes herauszustellen. Die Wertschätzung als literarische Figur, das heißt ihre Bedeutung als Autorin in literarischer Hinsicht, wurde zwar früh anerkannt, aber für eine breitere Wirkung schien es nicht auszureichen. Die in diesem Band vereinten Beiträge zu Werk und Wirkung Susmans gehen auf eine Doppeltagung zurück, die 2022 in München und Zürich zum Anlass ihres 150. Geburtstages stattfand. Den wissenschaftlichen Teil begleitete eine öffentliche Veranstaltung mit der Darbietung einiger Vertonungen 1 Erwin Bendemann Goldschmidt / 408. 2 Erwin Bendemann Goldschmidt / 408. 3 Ebd. 4 Erwin Bendemann Goldschmidt / 407. 5 Erwin Bendemann Goldschmidt / 408. an Hermann Levin Goldschmidt, 11.5.1966, AfZ: NL H Levin an Hermann Levin Goldschmidt, 18.5.1966, AfZ: NL H Levin an Hermann Levin Goldschmidt, 26.1.1966, AfZ: NL H Levin an Hermann Levin Goldschmidt, 18.5.1966, AfZ: NL H Levin 2 Martin J. Kudla, Inka Sauter, Caspar Battegay und Willi Goetschel von Susmans Gedichten, um auf Susmans dichterisches Werk hinzuweisen, das ebenso wie ihr denkerisches Werk den Bezug zur Öffentlichkeit immer schon zur Voraussetzung hatte. Im selben Jahr erschienen auch Susmans Gesammelte Schriften.6 So scheint es, dass einst verirrte Wandernde auf dem Weg zur Bibliothek oder mit dem Blick ins Internet Wegleitung finden mögen, Susman und ihrem Werk in seiner ganzen Fülle auch in Zukunft zu begegnen. In der Tat stellt Susmans Werk eine Herausforderung an Leser:innen dar. Gerade ihre eigenständige Schreibweise lässt zuweilen die subtil kodierte Differenziertheit ihres Zugangs zu ihren Themen vergessen, die ihr Denken aber gerade in seiner Nuanciertheit auszeichnet. So erweist sich ihr Denken in seiner ganzen Komplexität erst Leser:innen, die bereit sind, als Wandernde bei Texten einzukehren, deren Einladung zum Gespräch sie auch wirklich anzunehmen bereit sind. Anders gesagt: Leser:innen, die als Kompass sich lediglich instrumenteller Vernunft bedienen, muss der meditative Charakter von Susmans Stil und Diktion fremd und unverständlich bleiben. Dem wandernden Denken dagegen stellt es das Portal zu theoretisch selbstreflektierendem und damit emanzipatorischem Denken dar. Wurde Susman nach 1945 vor allem als jüdische Schriftstellerin wahrgenommen, so tritt inzwischen ihre weit über die Grenzen jüdischer Belange und des Interesses jüdischer Studien hinausweisende Bedeutung wieder ins Bewusstsein. Die Bedeutung Susmans in der Periode der Kaiserzeit und der Weimarer Republik ist dabei erst noch vollständig zu entdecken. Über den Kontext jüdischer Geschichte und Shoah-Studien sowie ihrer Deutungen historischer Gestalten hinaus ist Susmans Werk in seinem größeren Kontext zu erschließen. Neben ihren Ansätzen, Fragen von Religion und Religiosität in theologisch-politisch aktueller Hinsicht als Probleme der neuzeitlichen Existenz und die Moderne als in den Komplex von Säkularisierung und Resakralisierung verflochten zu verstehen, treten nun auch ihre grundlegenden Beiträge zu Feminismus und Gender-Fragen wieder in den Vordergrund. Dazu kommt ihr Bemühen, Differenz und Alterität gerade in ihrer kritischen Bedeutung für soziale und politische Zusammenhänge fruchtbar zu machen. All diese Themenkreise sind dabei bei Susman nicht in isolierter Weise angesprochen, sondern als letztlich miteinander vernetzt zu verstehen. Aus dieser Komplexität erklärt sich sowohl die anhaltende Aktualität ihres Denkens als auch die Herausforderung, dieses Denken in seiner Reichweite zu würdigen. Margarete Susman, Gesammelte Schriften, 5 Bde., hg. v. Anke Gilleir/Barbara Hahn, Göttingen: Wallstein 2022. Bei allen Verdiensten dieser Ausgabe, das Werk Susmans wieder zugänglich gemacht zu haben, ist gleichzeitig zu bedauern, dass das dichterische Werk – Susmans Lyrik und das literarische Werk – nicht aufgenommen wurde. Indem die Ausgabe die Werke in der jeweils ersten Auflage wiedergibt, geht der Blick auf Susmans kontinuierliches Um- und Neubearbeiten ihrer Texte, das eng mit ihrem Schreibverfahren verbunden ist, verloren. 6 Einleitung 3 Andererseits ist es an der Zeit, Susmans Werk und Denken als Gesamtphänomen besser zu verstehen und historisch genauer einzuordnen. Die Beiträge dieses Bandes sollen so das vielschichtige Werk Susmans und seine Wirkung im Kontext seiner Zeit sowie im Hinblick seiner Aktualität für die heutige Philosophie, Kulturtheorie und den öffentlichen Diskurs in signifikanten Kontexten herausarbeiten. Die an der oben genannten Doppeltagung erstmals vorgestellten Beiträge wurden sorgfältig überarbeitet. Der Anspruch ist, Susman erstmals in ihrer unverkürzten Vielschichtigkeit als weiterhin wegweisende Denkerin, Philosophin und Kulturkritikerin in Erinnerung zu rufen. Das ist nicht so einfach, wie es zunächst erscheinen mag. Denn Susman konnte auch deshalb leicht in Vergessenheit geraten, weil sie als Frau und Jüdin eine doppelte Minoritätenposition einnahm, die sie jeweils als solche immer schon zu disqualifizieren schien. In seinem Beitrag „Margarete Susman: eine deutsche Philosophin“ geht Willi Goetschel dieser Problematik nach, die sich den Versuchen, die Bedeutung Susmans als bahnbrechende Denkerin zu verstehen, bis heute hartnäckig in den Weg stellt. In der Folge wird es möglich, Susman als erste Frau und Jüdin unter den deutschen Philosophen zu würdigen, deren Rolle in der Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts noch immer ihrer Aufarbeitung harrt. Einen ersten Versuch, Susman dabei im Umfeld von zwei ihrer wichtigsten Gesprächspartner zu verorten, bietet Dominique Bourel in „Margarete Susmans Freundschaft mit Martin Buber und Bernhard Groethuysen. Eine lebensgeschichtliche Skizze“. Mit beiden verband Susman eine lebenslange Freundschaft und in verschiedenen Hinsichten waren sie sich gegenseitig schöpferisch befruchtende Gesprächspartner:innen. Durch die Begegnung mit Gustav Landauer trat ein weiterer entscheidender Denker in Susmans Leben, mit dem sie eine intensive, wenn auch durch Landauers Ermordung kurze Freundschaft verband. Hanna Delf von Wolzogen geht der Bedeutung dieser Freundschaft in ihrem Beitrag „Margarete Susman und Gustav Landauer oder Denkerin trifft Revolutionär“ nach. Geistesgeschichtlich relevant ist Susmans langjährige Beziehung zu Ernst Bloch, weil sich damit auch unterschiedliche Perspektiven auf den utopistischen Diskurs verbinden. In seinem Beitrag „Sternensprache. Utopie und Pathos bei Margarete Susman und Ernst Bloch“ geht Caspar Battegay anhand der Blochs wie Susmans Werk durchziehenden „Pathosformel“ der Sterne und der Gestirne dieser Beziehung nach. Es zeigt sich, dass gegenüber Blochs apokalyptischer und sehr diffuser Rhetorik der Utopie Susman trotz allen Pathos ihre Position mit der Übernahme konkreter politischer Verantwortung verbindet. Eine weitere entscheidende Begegnung stellte diejenige mit Franz Rosenzweig dar. In ihrem Beitrag „Wiederaufnahmen. Susmans Rosenzweig-Texte“ zeigt Inka Sauter, wie Susmans Schreibverfahren in kontinuierlichen Revisionen ihre Darstellung immer wieder neu konfiguriert und dabei den jeweils neuen historischen Kontext in ihre Deutungen als konstitutives Moment ihrer philosophischen Reflexion einarbeitet. 4 Martin J. Kudla, Inka Sauter, Caspar Battegay und Willi Goetschel Aber nicht nur im intellektuellen Austausch mit Wegbegleitern treten lange Deutungslinien ihrer Denkbewegung zutage, sondern Susman ist immer wieder von zentralen Topoi und Problemstellungen geprägt, welche die Diskurse ihrer Zeit überhaupt bestimmen. So widmet sich Annette Wolf in ihrem Beitrag „Todesmetaphysik. Margarete Susmans Kritik einer deutschen Tradition“ ihrer Auseinandersetzung mit der Todesauffassung in der deutschen Geistesgeschichte, insbesondere in Romantik und Idealismus, mit besonderem Bezug auf Sigmund Freud und Martin Heidegger. In diesem Prisma arbeitet Wolf eine ideologiekritische Perspektive in Susmans Werk heraus, die bis heute nichts an Sprengkraft verloren hat. Ein erhellendes Licht auf die Konstellation einer Nichtbegegnung, die für das Verständnis der Geistesgeschichte ebenso entscheidend ist wie die der so fruchtbaren Begegnungen, wirft Yossef Schwartz in „Margarete Susman und Hannah Arendt: die Geschichte einer Unfreundschaft“. In seiner wissenssoziologisch orientierten Untersuchung der unterschiedlichen Ansätze und Netzwerke der beiden Denkerinnen entwirft Schwartz ein bestechendes Bild des deutsch-jüdischen Diskurses der Zeit und erlaubt damit eine präzisere Kontextualisierung von Susmans philosophischem Projekt. Auf ein bisher unbearbeitetes Feld macht Martin Kudla in „Hiob und die Dialogik. Margarete Susman und Hermann Levin Goldschmidt“ aufmerksam. Durch Goldschmidt setzt sich die Wirkung Susmans konsequent fort, während gleichzeitig durch Kudlas Beitrag auch Goldschmidts Mitarbeit an Susmans Hiob-Buch deutlich wird. Kudla zeigt, wie über den Komplex von Vernichtung und Zerstörung in der Shoah, den Susmans Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes ja so eindrücklich thematisiert, Susmans Buch für Goldschmidt zum Ausgangspunkt der von ihm entwickelten Dialogik wird. Damit wird Susmans anhaltende Wirkung gerade in ihrer diskursübergreifenden Bedeutung deutlich. Der Frage nach dem „Sinn“, die Susmans essayistisches Werk durchzieht, geht Gesine Palmer in „‚Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott …‘ oder: Einige Gedanken zur Sinnrede von Margarete Susman“ nach. Sie beleuchtet dabei die in Susmans Sinnzuschreibungen an die jeweiligen Phänomene zu findende filigrane, sowohl originelle als auch subtile philosophische Interpretation sowie dem damit verbundenen Bemühen, dem sinnlosen Leiden die Sehnsucht nach einer guten Welt entgegenzusetzen. Giuliano Lozzi untersucht in „Die Dichterin, die Malerin, die Künstlerin. Zur Vergegenwärtigung von Dichtung und Kunst in der écriture Margarete Susmans“ die Frage, wie Bild und Sprache bei Susman miteinander verknüpft sind und wie diese Verknüpfung ihr Schreiben prägt. Von Roland Barthes’ Begriff der écriture ausgehend beschreibt Lozzi Susmans nuanciert metaphorisch komponierte Sprachwelt, die eine stark dichterische und visuelle Prägung besitzt, die von den vielen Leben Susmans Zeugnis ablegt. Einleitung 5 Die kritische Bedeutung des von Susman eingeführten Begriffs des lyrischen Ich erörtert Almut Slizyk in ihrem Beitrag „Margarete Susmans Das Wesen der modernen deutschen Lyrik und die Metamorphose des ,lyrischen Ich‘“. Slizyk arbeitet zum einen die komplizierte Publikationsgeschichte von Susmans erster theoretischer Schrift auf; zum anderen geht sie dem berühmten – wiewohl heute in der Literaturwissenschaft oftmals durch Begriffe wie unter anderem „Sprecher“ abgelösten – Begriff des lyrischen Ich in den modernen kunst-, kultur- und religionsphilosophischen Kontexten nach, die Susman entgegen einer rein literaturtheoretisch verengten Aneignung des Begriffs stets im Auge behielt. Dass die Moderne insgesamt lyrisch ist, dass es für Susman also die Lyrik ist, die die Moderne erst bestimmt, veranschaulicht Rafaël Newman in seinem Beitrag „,Wo einer für den andern Heimat wird‘. Margarete Susman und die lyrische Moderne“. Anhand von Gedichtlektüren zeigt Newman Susmans Suchbewegungen zwischen Heimat, Heimatlosigkeit und Exil, wobei deutlich wird, wie sehr die Konzeptionen von Moderne und modernem Individuum von Bezügen zur jüdischen Tradition und zu biblischen Motiven durchwoben sind. In „Pathos, Ethos und Existenz – Margarete Susmans Poetik des Exils im Kontext der Moderne“ folgt Gerhild Sonntag dem Leitgedanken, dass die Erfahrung einer mehrfachen Exterritorialität, die mit Susmans Denkfigur des Exils einhergeht, in dem ihr eigenen Pathos die adäquate sprachliche Ausdrucksform für die in den Texten verhandelten existenziellen Grenzerfahrungen findet. Sie zeigt damit den kritischen Impuls von Susmans widerständigem Denken auf und verdeutlicht die Aktualität und Modernität ihrer Schriften. Das Diasporische umfasst nach Libera Pisanos Lesart auch das Weibliche. In „Die Grammatik der Hoffnung. Diasporisches Hören und weiblicher Abgrund bei Margarete Susman“ widmet sich Pisano der grundlegenden Bedeutung des Hörens. Das Hören als akustische Sinneswahrnehmung liest sie als ein Phänomen, das sich assoziativ mit dem Exilischen, Jüdischen und Weiblichen verbinde. Susmans letztlich essenzialistische Kategorie des Weiblichen lässt sich so als Kritik des Logozentrismus verstehen. Amit Kravitz untersucht in „Schicksal in Freiheit, Schicksal der Freiheit. Eine philosophische Perspektive auf Margarete Susmans Deutung der Shoah“, wie das Problem des Freiheitsbegriffs in Susmans Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes in neuer Weise thematisiert wird. Er zeigt dabei auf, inwiefern die Frage nach dem Verhältnis zwischen Freiheit und Notwendigkeit, über Kant und Schelling hinausgehend, bei Susman in Antwort auf die Shoah neu konzipiert wird. In der nach der Shoah paradigmatische Bedeutung gewinnenden Debatte über die Frage nach dem deutsch-jüdischen Gespräch weist Sonia Goldblum in „Margarete Susman, Gershom Scholem und das Missverständnis um die ‚deutsch-jüdische Symbiose‘“ die entscheidende Rolle Susmans nach und 6 Martin J. Kudla, Inka Sauter, Caspar Battegay und Willi Goetschel zeigt, wie Scholem, der zunächst lautstark gegen die von Susman eingenommene Position polemisiert, sich schließlich aber von der Susmans nicht unterscheidet. Die in diesem Band zusammengetragenen Beiträge entfalten so das Bild einer Dichterin, Denkerin und Deuterin, deren Werk und Persönlichkeit nicht nur in vielfältiger Weise die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts direkt ansprachen, sondern deren Bedeutung bis in die Gegenwart verfolgt werden kann. Beginnt sich Susmans nachhaltige Relevanz erst mit der Aufarbeitung ihres Werks und Denkens in seiner vollumfänglichen Bedeutung zu erweisen, so machen die hier versammelten Beiträge deutlich, wie bereichernd die Auseinandersetzung mit Susman sein kann, wenn wir uns auf ein Gespräch mit einer Denkerin einlassen, der die dichterische und die deuterische Dimension in unverzichtbarer Weise zur Grundlage philosophischer Auseinandersetzung gehören.