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Reformation als Kommunikationsprozess

2021

NORM UND STRUKTUR Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit Petr Hrachovec, Gerd Schwerhoff, Winfried Müller, Martina Schattkowsky (Hg.) Reformation als Kommunikationsprozess Die böhmischen Kronländer und Sachsen Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 NORM UND STRUKTUR STUDIEN ZUM SOZIALEN WANDEL IN MITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT IN VERBINDUNG MIT GERD ALTHOFF, HEINZ DUCHHARDT, PETER LANDAU (†), GERD SCHWERHOFF HERAUSGEGEBEN VON GERT MELVILLE Band 51 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 REFORMATION ALS KOMMUNIKATIONSPROZESS Böhmische Kronländer und Sachsen Herausgegeben von PETR HRACHOVEC GERD SCHWERHOFF WINFRIED MÜLLER MARTINA SCHATTKOWSKY BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Dieser Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung, die mit den Mitteln der Strategie AV 21 „Formy a funkce komunikace [Formen und Funktionen der Kommunikation]“ vom 28. bis 30. 11. 2017 am Historischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag veranstaltet wurde. Der Druck wurde mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ an der TU Dresden gefördert. Open Access  : Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der Creative-­Commons-Lizenz Namensnennung 4.0 siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Umschlagabbildung  : Allegorische Darstellung der „Traditionskette der Reformation“ (John Wyclif mit einem Feuerstein, Jan Hus mit einer Kerze und Martin Luther mit einer Fackel) im sog. Malostranský graduál [Kleinseitner Graduale von 1572], in: Národní knihovna České republiky Praha [Nationalbibliothek der Tschechischen Republik Prag], Sign. XVII A 3, fol. 363r. Korrektorat: Klara Vanek, Köln Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51951-3 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Inhalt Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 PROLOG Heinz Schilling 1517 – der Mönch und das Rhinozeros. . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 DY NA MIK EN DER ÖFFENTLICHK EIT Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff Der Narrheit närrisch spotten. Mediale Ausprägungen und invektive Dynamiken der Öffentlichkeit in der frühen Reformationszeit. . . . . 37 Thomas Kaufmann Buchdruck und Reformation. Buchkulturgeschichtliche Beobachtungen, insbesondere zu Innovationen in der Wittenberger Produktion der Jahre 1517 und 1520. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Pavel Soukup Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck . . . . . . . . . 101 Petr Voit Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) . . . . . . . . . . . 127 Martin Holý Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium in den Ländern der Böhmischen Krone im 16. und frühen 17. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 6 Inhalt DIE POLITISCHEN A KTEUR E: STÄ NDE – A DEL – FÜR STINNEN Jiří Just Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation des 16. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Martina Schattkowsky Adel und Reformation. Adliges Engagement zur Konfessionsbildung im ländlichen Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Jens Klingner Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557). Eine reformationsgeschichtliche Quelle . . . . . . . . . 203 INSTITUTIONEN IM R EFOR MATOR ISCHEN ­KOMMU NIK ATIONSPROZESS Enno Bünz Stadtpfarrkirchen und Reformation. Wandel und Bestand am Beispiel Leipzigs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Winfried Müller Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel im höheren Schulwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 DIE KU NST DER R EFOR MATION A LS ­KOMMU NIK ATIONSMEDIUM Kateřina Horníčková Framing the Difference. Visual Strategies of Religious Identification in the Czech Utraquist Towns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Kai Wenzel Zirkulierende Zeichen. Konfessionelle Codierungen im frühneuzeitlichen Kirchenraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 7 Inhalt Marius Winzeler Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien als Spiegel des Reformationsprozesses. Oberlausitzer Kunstwerke als Kommunikationsmedien im konfessionellen Zeitalter. . . . . . . . . . 313 Ondřej Jakubec Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? Nichtkatholische Grabmäler in den böhmischen Ländern als konfessionelle Objekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 DIE V ER BR EITU NG DER R EFOR MATION – R ÄUME U ND ­W ISSENSTR A NSFER Martin Rothkegel Mähren als Gelobtes Land. Migrationserfahrung und Heilsgeschichte bei den Hutterischen Brüdern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Gabriela Wąs Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen. Kommunikation und Transfer von Ideen und Personen. . . . . . . . . 381 Martin Wernisch Der Adiaphoristische Streit in Böhmen. Ein Beitrag zum Verständnis des spezifischen Verlaufs der böhmischen Reformation. . . . . . . . . 401 Petr Hrachovec Die Reformation der langen Distanz. Der Zittauer Stadtschreiber Oswald Pergener († 1546) und sein zwinglianischer deutschböhmischer Lesezirkel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Jan Zdichynec Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop. Beispiele aus der Oberlausitz vor und nach 1600. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 8 Inhalt TR A DITIONSÜBER HÄ NGE U ND ­T R A DITIONSKONSTRUKTIONEN Hartmut Kühne „[…] so vns Gott seine gaben mit wunderwercken erzeigt / so halten wir es für ein gespöt oder fabel.“ Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Stefan Dornheim Götzenkammern. Zum Umgang mit vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Wolfgang Flügel Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt . . . . . 585 EPILOG Jiří Mikulec Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628) . . . . . . . . . . 611 A NHA NG Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 Ortsregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 Autorinnen und Autoren des Bandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky Einleitung Der vorliegende Band fasst die Ergebnisse einer Tagung zusammen, die vom Historischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, dem Dresdner Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde und dem Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit am Institut für Geschichte der Technischen Universität Dresden gemeinsam vom 28. bis 30. November 2017 in Prag durchgeführt wurde. Damit fand diese Konferenz, deren organisatorische Hauptlast bei den Prager Kolleginnen und Kollegen lag, fast schon in letzter Stunde des weltweit begangenen 500. Jubiläumsjahres der Reformation statt. Vorausgegangen war die von der Evangelischen Kirche Deutschlands organisierte Reformations- oder Lutherdekade. Zwischen 2008 bis 2016 wurden, in Vorbereitung auf das eigentliche Jubiläumsjahr, zentrale Aspekte der Reformation und der von ihr ausgegangenen Impulse aufgegriffen. Das Spektrum dieser Themenjahre reichte dabei von „Luther – Die Ankunft“ (2008) über „Reformation und Freiheit“ (2011) oder „Reformation und Toleranz“ (2013) bis „Reformation und die Eine Welt“ (2016), die die Vielfalt reformatorischer Kirchen weltweit beleuchteten. Kulminationspunkt war dann natürlich das eigentliche Jubiläumsjahr 2017, für das nach wie vor der legendäre Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche vom 31. Oktober 1517 das Referenzereignis war. Changierend zwischen Public History und wissenschaftlichem Anspruch, historischer Eventkultur und religiöser Feier, wurden in der Reformationsdekade und mit dem 500. Reformationsjubiläum so gut wie alle Optionen der Vergangenheits­ inszenierung ausgeschöpft, um die Vitalität des reformatorischen Gedankens in der Gegenwart und seine Geltungsansprüche für die Zukunft zu dokumentieren: Ausstellungen und Konzerte sind ebenso zu nennen wie historische Feste und Festzüge. Die gute alte Denkmalsetzung spielte zwar keine prägende Rolle mehr, der im 19. Jahrhundert monumentalisierte Luther reüssierte 2017 vielmehr vor allem als Playmobil-Figur aus Plastik. Immerhin wurde aber die Idee des Naturdenkmals wiederbelebt. Hatte das 19. Jahrhundert Luthereichen gepflanzt, so initiierte nun der Lutherische Weltbund den Luthergarten in Wittenberg, in dem seit 2009 500 Bäume gepflanzt wurden; denn „auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde geht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen“. Natürlich waren in die Jubiläumsveranstaltungen auch die dem religiösen Anlass angemessenen Festgottesdienste integriert – der zentrale fand in Verbindung mit Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 10 Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky einem staatlichen Festakt in Wittenberg statt – und nicht zuletzt war die Zahl der wissenschaftlichen Vorträge und Konferenzen Legion. Hier reihte sich die Prager Tagung „Reformation als Kommunikationsprozess. Böhmische Kronländer – Sachsen – Mitteleuropa“ ein, die mit ihrer Fokussierung auf Vermittlungs- und Überlieferungsprozesse gerade auch die Erinnerungskultur der Reformation einschloss und den Sachverhalt reflektierte, dass das Jubiläumsjahr 2017 auch eine selbstreferenzielle Dimension hatte: Das 500. Reformationsjubiläum war das bislang letzte Glied einer langen Erinnerungskette, die – in einem Beitrag dieses Bandes wird es aufgezeigt – bis zum ersten großen Reformationsjubiläum der lutherischen und reformierten Landeskirchen in den Territorien des Alten Reiches von 1617 zurückreicht.1 Während auf diese lange (Vor-)Geschichte der Traditionsbildung 2017 regelmäßig hingewiesen wurde, kam ein grundsätzlicher Aspekt dabei kaum zur Sprache: dass nämlich die im Jubiläum sich vollziehende Skalierung der Geschichte ganz wesentlich durch das Reformationsjubiläum von 1617 etabliert und popularisiert wurde und dass man die moderne historische Jubiläumskultur in gewisser Weise als eine protestantische Erfindung bezeichnen kann – die allerdings auf dem 1300 eingeführten Heiligen Jahr der katholischen Kirche aufbaute.2 Die Abfolge der Reformationsjubiläen – 1617, 1717, 1817, 1917 und 2017 – lädt natürlich dazu ein, in der longue durée auch nach dem Wandel in der protestantischen Erinnerungskultur zu fragen. Dass 2017 mit der Reformationsdekade ein volles Jahrzehnt als Vorlauf für das Hauptereignis genutzt wurde, war beispielsweise ein bis dato unbekanntes Novum, gerade wenn man auf die extrem kurze Vorbereitungszeit von nur wenigen Monaten 1617 zurückblickt. Und auch die polemisierende Abgrenzung der beiden Konfessionskulturen, die sich 1617 im unmittelbaren Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges abgespielt und die sich im 19. Jahrhundert in der Heroisierung Luthers auf protestantischer, dem Bonifatius-­Kult auf katholischer Seite fortgesetzt hatte, gehörte 2017 der Vergangenheit an. Gefeiert wurde im Geist der Ökumene, symbolisiert etwa 2009 durch die Pflanzung einer Linde im Wittenberger Luthergarten durch Kardinal Walter Kasper oder 2016 durch die 1 2 Vgl. V. Leppin, Identitätsstiftende Erinnerung: das Reformationsjubiläum 1617, in: B. J. Hilbe­r ath / A. Holzem / V. Leppin (Hgg.), Vielfältiges Christentum. Dogmatische Spaltung – kulturelle Formierung – ökumenische Überwindung?, Leipzig 2016, S. 45–67; sowie den Beitrag von Wolfgang Flügel in diesem Band. Vgl. W. Müller, Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion, in: Ders. (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004, S. 1–75; zuletzt Ders., Das historische Jubiläum als Motor der Public History, in: Westfälische Forschungen 69 (2019), S. 53–67. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 11 Einleitung Teilnahme von Papst Franziskus, der gemeinsam mit dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes Munib Younan in die Arena von Malmö einzog, unterlegt von der aus anderen Zusammenhängen bekannten Hymne „You’ll Never Walk Alone“. Kritiker einer vom Kalender und Zahlenfetischismus diktierten Eventkultur durften sich durch diese Form der Inszenierung bestätigt fühlen.3 Doch Lutherdekade und Reformationsjubiläum können nicht nur auf Events reduziert werden, vielmehr gab es eben auch – zu verweisen ist für Deutschland etwa auf die Reihe der Nationalen Sonderausstellungen u. a. im Deutschen Historischen Museum in Berlin, auf der Wartburg und in Wittenberg – ein wissenschaftlich fundiertes Ausstellungswesen und die eingangs angesprochene Fülle von Tagungen, darunter die diesen Band konturierende Prager Konferenz. Dass dieser wissenschaftlichen Begleitung von Jubiläumsereignissen gelegentlich durchaus mit Skepsis begegnet wird, soll dabei nicht verschwiegen werden. Dass die Geschichtswissenschaft in den Sog einer massenmedial gesteuerten Aufmerksamkeitsökonomie hineingezogen wird, dass also die Jubiläumsarithmetik die Themen vorgibt und die Wissenschaft sich des ‚Königsrechts‘ des Agenda Setting begibt, wurde nicht zu Unrecht kritisch angemerkt. Zugleich sah sich die fachwissenschaftliche Jubiläumsproduktion von jeher einer gewissen methodischen Skepsis ausgesetzt, die vom affirmativen Charakter vieler Jubiläumsfestschriften gespeist wurde. So kam jüngst eine prominente Gruppe von Autoren zu dem lakonischen Schluss, dass „anniversary moments do not seem to be the best time für scholarly innovation“.4 Ein selbstkritischer und selbstreflexiver Umgang der Geschichtswissenschaft mit der Jubiläumssituation erscheint mithin angebracht. Trotz des formulierten Vorbehalts erscheint der wissenschaftliche Ertrag des Reformationsjubiläums durchaus von imposantem Umfang, wie sich bereits Ende 2017 abzeichnete.5 Gerade vor diesem Hintergrund bedarf jeder weitere Beitrag zum Forschungsfeld eines klaren Fokus, um seine Existenz zu rechtfertigen. Der vorliegende Band hat eine doppelte Zielstellung sowohl in systematischer wie auch in raumzeitlicher Hinsicht. Systematisch eint seine Beiträge ein kommunikationsgeschichtlicher Blick auf die Reformationszeit. Sie folgen dabei einer Agenda, die sich in den letzten Jahrzehnten als äußerst fruchtbar erwiesen hat und die in 3 4 5 Zur Kritik vgl. nur T. Kaufmann, Der Sieg der Inszenierung. Impressionen zum 500. Reformationsjubiläum in bilanzierender Absicht, in: Wartburg-Jahrbuch 2017, S. 39–64. J. Arnold / T. A. Brady / T. Grady / D. Healey / F. McGarry, Anniversaries, in: GH 32 (2014), S. 79–100, hier S. 96. Vgl. M. Pohlig, Jubiläumsliteratur? Zum Stand der Reformationsforschung im Jahr 2017, in: ZHF 44 (2017), S. 213–274; H. Lehmann, 500 Jahre Reformation. Neuerscheinungen aus Anlass des Jubiläums, in: HZ 307 (2018), S. 85–131; R. Slenczka, Zum Reformationsjubiläum 2017, in: ZHF 46 (2019), S. 47–82. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 12 Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky der Konsequenz des zweiten großen forschungsleitenden Perspektivwechsels der internationalen Reformationsgeschichtsschreibung liegt.6 Zunächst war es die Sozialgeschichtsschreibung, die einen Paradigmenwandel hin zur Erweiterung der klassischen Kirchen- und Theologiegeschichte einläutete, nicht zuletzt angeregt durch die Herausforderung der marxistischen Historiografie. In der Konsequenz kam es zu einer Aufwertung des Religiösen als Gegenstand auch einer allgemeinen Geschichtswissenschaft bzw. zu einer stärkeren Verklammerung von Kirchen- und Profangeschichte. Mit der seit dem späten 20. Jahrhundert eingeleiteten kulturwissenschaftlichen Wende (‚cultural turn‘) waren neue Impulse verknüpft, insbesondere der Abschied von allzu eindimensionalen Modernisierungstheorien und von impliziten Annahmen einer gleichsam ‚natürlichen‘ Affinität zwischen einzelnen sozialen Gruppen wie ‚den‘ Bauern oder ‚den‘ Stadtbürgern und bestimmten theologischen Positionen. Neben dem ‚Was?‘, den inhaltlichen Positionen, und dem ‚Wer?‘, den individuellen und kollektiven Akteuren, rückte nun das ‚Wie?‘ stärker ins Zentrum der Analyse, nämlich der Charakter der Reformation als eines pfadabhängigen, ergebnisoffenen Prozesses, dessen Dynamik, die binnen weniger Jahre grundlegende Umwälzungen auslöste, deswegen umso erstaunlicher erscheint. Das Thema „Reformation als Kommunikationsprozess“ hat viele Facetten. Insbesondere die Rolle der neuen Druckmedien bei der Verbreitung der reformatorischen Botschaft wird seit einigen Jahrzehnten intensiv diskutiert. Martin Luther hat als erster Medienstar des Gutenberg-Zeitalters neue Beachtung gefunden, seine Reformation gilt als Medienereignis und die ‚reformatorische Öffentlichkeit‘ als ein verdichteter Kommunikationszusammenhang, der für den innovativen Charakter der Epoche überhaupt steht.7 Dabei reicht das Thema weit über die Welt der Bücher und Bibelübersetzungen, der illustrierten Flugblätter und Flugschriften hinaus, indem es auch die vielfältigen Aspekte der handschriftlichen und mündlichen Kommunikation umgreift, vom Brief bis zur Schmähschrift, von der Predigt bis hin zur mündlichen „Zeitung“ und zum Gerücht; indem es auch Bilder und künstlerische Erzeugnisse als Kommunikationsmedien begreift; und indem es nicht zuletzt symbolisch-performatives Handeln von der ostentativen Verbrennung einer Bannbulle bis hin zum Ikonoklasmus thematisiert. Auf der anderen Seite können 6 7 Nach O. Mörke, Die Reformation. Voraussetzung und Durchsetzung (EDG 74), München 2005, S. 135 ff. Pars pro toto M. Nieden, Die Wittenberger Reformation als Medienereignis, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2012-04-23, http://www.ieg-ego.eu/niedenm-2012-de (letzter Zugriff am 15.5.2020); vgl. weiterhin den Beitrag von Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff im vorliegenden Band. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 13 Einleitung auch traditionellere Themen in diesem Kontext neu aufgegriffen werden, ob es sich um bestimmte Akteure handelt wie die Fürstinnen, den Adel oder bürgerliche Gruppen bzw. um institutionelle Gegebenheiten wie das Pfarrsystem oder die Bildungseinrichtungen.8 Schließlich hat das Thema „Reformation als Kommunikationsprozess“ nicht zuletzt auch eine starke räumliche Dimension, insofern es um inter- und transregionale Vermittlungsprozesse gehen muss. Damit ist bereits die zweite, die raumzeitliche Zielstellung des Bandes angesprochen. Räumlich liegt der Fokus mit Kursachsen und den Ländern der Corona Bohemiae auf zwei Nachbarregionen, die politisch beide unter dem Dach des Reiches angesiedelt waren und die in intensiven ökonomischen und kulturellen Austauschbeziehungen standen. Profiliert erscheinen sie aber auch und gerade in religionsgeschichtlicher Hinsicht: Kursachsen war das Geburtsland und die wichtigste politische Schutzmacht jener Wittenberger Reformation, die die christliche Kirche so stark verändern sollte wie kaum eine Bewegung vor oder nach ihr; Böhmen war, wenige Generationen zuvor, der Resonanzraum von Jan Hus gewesen, eines Mannes, dessen kirchenkritische Lehren ihn 1415 in Konstanz auf den Scheiterhaufen gebracht hatten und zu Kirchenbildungen führen sollten, die zu Luthers Zeiten in den südöstlichen Nachbarregionen Sachsens ungebrochen lebendig waren. Zu Beginn von Luthers öffentlichem Wirken handelte es sich bei seiner theologischen Nähe zum ‚Ketzer‘ Hus eher um eine Zuschreibung von gegnerischer Seite: Johannes Eck charakterisierte den Wittenberger Professor im Zuge der Leipziger Disputation von 1519 eindeutig als einen vom böhmischen Gift (virus Bohemicum) erfüllten Ketzer. Auf der anderen Seite verfuhr ein Hus-Verehrer wie Wenzel Rožďalovský, ein Priester der Prager Utraquisten, ganz ähnlich, wenn er ihn in einem Brief als direkten Nachfahren des böhmischen Reformators ansprach: „Was Johannes Hus für Böhmen war, bist nun Du, Martin, für Sachsen.“ Dagegen hatte Luther trotz seiner affirmativen Bezugnahme auf einige der vom Konstanzer Konzil 1415 verurteilten Lehrartikel zunächst eher eine traditionell-skeptische Haltung eingenommen. Dies wich allerdings bei näherer Beschäftigung einer regelrechten Begeisterung; so äußerte Luther nach der Lektüre von Hus’ „De ecclesia“ im März 1520 zunächst im Vertrauen gegenüber Spalatin, sie seien allesamt, ohne 8 Vgl. KES, Bd. 1: Die Jahre 1505 bis 1532, ed. A. Thieme (QMSGV III/1), Leipzig 2010; KES, Bd. 2: Die Jahre 1533 und 1534, ed. J. Klingner (QMSGV III/2), Leipzig 2016; H. Wunder / A. Jendorff / C. Schmidt (Hgg.), Reformation – Konfession – Konversion. Adel und Religion zwischen Rheingau und Siegerland (VHKN 88), Wiesbaden 2017; M. Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement (SSGV 55), Leipzig 2016; Dies. (Hg.), Adel – Macht – Reformation. Konzepte, Praxis und Vergleich (SSGV 60), Leipzig 2020. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 14 Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky es zu wissen, Hussiten gewesen.9 Im Herbst desselben Jahres bekannte er dann öffentlich, anlässlich der wahrscheinlich in Wittenberg erfolgten ersten Drucklegung von „De ecclesia“, ein so verständiges und edles Buch sei in 400 Jahren nicht geschrieben worden. Die Identifikation mit dem Ketzer Hus transformiert sich allerdings mit der Verbrennung von Bannandrohungsbulle und einigen Büchern des kanonischen Rechts im Dezember 1520 schnell in seine Überbietung: Er sei „fünfmal“ radikaler als Hus, der ja lediglich einen tyrannischen Papst aus der Christenheit ausgeschlossen sehen wollte, während er, Luther, grundsätzlich bestreite, dass das Papsttum einer göttlichen Ordnung entstamme.10 In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wird Hus nicht nur von Luther selbst, sondern von der gesamten protestantischen Bewegung zum Vorläufer der Reformation stilisiert, seine Schriften werden ediert und seine Person wird zum Gegenstand textlicher und bildlicher Propaganda gemacht. So brachte Johann Agricola, Schüler Luthers und Editor etlicher Hus-Schriften, eine „Tragedia Johannis Huss“ (1537) auf die Bühne, in der das Leben und Sterben des böhmischen Märtyrers im Stil einer echten Heiligenerzählung dramatisiert wurde. In der Vorrede zum Stück deutete er eine angebliche (apokryphe) Prophezeiung von Hus aus, die Luther bereits früher auf sich bezogen hatte: Die geröstete Gans (Hus auf dem Scheiterhaufen) werde sich in einen schneeweißen Schwan mit einer hellen und klaren Stimme verwandeln, dessen Gesang nicht nur in Böhmen, sondern in der ganzen Welt erschallen werde.11 Allein diesen beiden Gestalten – die ‚Gans‘ Hus und der ‚Schwan‘ Luther – verklammern so die beiden Untersuchungsgebiete Böhmen und Sachsen. Dabei erscheint heute, historiografisch gesehen, die Deutungsfigur einer möglichen „Vorläuferschaft“ der böhmischen Reformation zu stark mit der lutherischen Eigengeschichte verknüpft und dadurch tendenziell überholt. In anderer Hinsicht freilich fügt sie sich hervorragend in übergreifende neuere Forschungstendenzen ein. In deren Konsequenz ist die früher selbstverständliche Prämisse, der Reformation sei ein grundlegender Umbruchscharakter eigen gewesen, produktiv in Frage gestellt worden. Von verschiedener Seite her hat deren Zäsurcharakter eine Relativierung insofern erfahren, als sie nun stärker als Kern eines weiter ausgreifenden temps des réformes begriffen wurde.12 In dieser Perspektive ließe sich 9 T. Kaufmann, Häresiologie. Jan Hus und die reformatorische Bewegung, in: Ders., Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), Tübingen 2018, S. 30–67, Zitate S. 39 und 51; vgl. auch P. Soukup, Jan Hus, Stuttgart 2014, S. 209–219. 10 T. Kaufmann, Häresiologie (wie Anm. 9), S. 53 und 57. 11 P. Haberkern, ‚After Me There Will Come Braver Men‘. Jan Hus and Reformation Polemics in the 1530s, in: GH 27 (2009), H. 2, S. 177–195, hier S. 187. 12 H. Schilling, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 15 Einleitung vielleicht auch aus dem strukturellen Vergleich beider Bewegungen noch stärkerer analytischer Gewinn ziehen. Davon weitgehend unabhängig, aber ebenso interessant erscheint die Frage, wie sich die religiösen Verhältnisse in den Ländern der Böhmischen Krone im Verlauf der Reformationsgeschichte gestalteten. Die Entwicklung dort ist allerdings kaum auf einen einfachen Nenner zu bringen. Zum einen besaßen die betroffenen Länder (Böhmen, Mähren, Schlesien und die Lausitzen) trotz der Vereinigung unter einem Monarchen, ab 1526 dem Habsburger Ferdinand I., eine gewisse Eigenständigkeit, auf deren Bewahrung Adel und Ständevertreter bedacht waren. Zum anderen blieb die religiöse Landkarte in den betroffenen Ländern von Pluralität geprägt: Neben der utraquistischen Mehrheitskirche der Hussiten, die wenigstens zeitweilig mit der römischen Kurie bzw. dem Basler Konzil einen gewissen Ausgleich erreichte und (in den Baseler Kompaktaten von 1433) den Laienkelch zugestanden bekam, konnte sich unter dem Schutz adliger Patrone zudem eine radikalere ‚taboritische‘ Strömung in Gestalt der Böhmischen Brüder behaupten, die in vielen Aspekten ähnliche Positionen vertraten wie später die Täufer. Seit den 1520er Jahren gelangten umgekehrt nicht nur lutherische Positionen und Personen aus Deutschland in die östlichen Nachbargebiete, sondern auch Vertreter der radikaleren Strömungen der Reformation wie Hans Hut und Balthasar Hubmaier. Überdies hatte sich in vielen deutschsprachigen Randgebieten und in einigen Flecken im Inneren des Königreiches auch der Katholizismus gehalten. Von daher wären idealtypisch mindestens zwei Entwicklungen nachzuzeichnen, einmal nämlich die Begegnung der reformatorischen Bewegung mit den existierenden hussitischen Bekenntnissen, zum anderen die Verbreitung des Luthertums in bisher katholischen (vorwiegend deutschsprachigen) Gebieten.13 Dass die religiöse Entwicklung dabei nicht vor Territorialgrenzen haltmachte, ist wenig verwunderlich. So kam es im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet der Erzgebirgsregion im Jahrhundert zwischen 1520 und 1620 zu einer kulturellen Integration im Zeichen der Confessio Augustana, die unter anderem von einem lebhaften Austausch von Künstlern und Gelehrten geprägt war.14 B. Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, S. 13–34; B. Hamm, Wie innovativ war die Reformation?, in: A. Holzem (Hg.), Normieren, Tradieren, Inszenieren. Das Christentum als Buchreligion, Darmstadt 2004, S. 141–155. 13 W. Eberhard, Bohemia, Moravia and Austria, in: A. Pettegree (Hg.), The Early Reformation in Europe, Cambridge/New York 1992, S. 23–48, hier S. 27. 14 P. Hlaváček, Catholics, Utraquists and Lutherans in Northwestern Bohemia, or Public Sphere as a Medium for Declaring Confessional Identity, in: M. Bartlová / M. Šronĕk (Hgg.), Public Communication in European Reformation. Artistic and other Media in Central Europe 1380–1630, Prague 2007, S. 279–297, hier besonders S. 281. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 16 Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky Die Beiträge des vorliegenden Bandes können der angedeuteten Vielschichtigkeit nur mit großen Einschränkungen bzw. exemplarisch gerecht werden. Nach einem Prolog aus der Feder von Heinz Schilling, der die Vorgänge des Jahres 1517 pointiert in globale Zusammenhänge der Epoche einordnet, beschäftigen sich die Beiträge der ersten Sektion mit Dynamiken der Öffentlichkeit in medienhistorischer Perspektive. Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff entfalten die Dimensionen einer Kommunikationsgeschichte der Reformation beispielhaft in Bezug auf die Buchholzer Spottprozession des Jahres 1524 und loten dabei besonders die Chancen einer analytischen Herangehensweise aus, die den Akzent auf die invektiv-polemischen Kommunikationsformen legt. In filigraner Beweisführung zeigt Thomas Kaufmann sodann auf, dass die Bedeutung des Buchdruckes für die Reformation kaum zu überschätzen ist und wie entschlossen und reflektiert Martin Luther sich dieses Instrumentes bediente. Der Hussitismus war demgegenüber eine Reformation ohne Buchdruck, und Pavel Soukup erläutert in seinem Aufsatz unter anderem die Bedeutung verschiedener anderer Kommunikationskanäle, auf denen sich der Utraquismus in der Frühzeit in Böhmen und Mähren zu etablieren vermochte. Den dünn gesäten Spuren des Frühdrucks im Umfeld der utraquistischen Prager Städte spürt Petr Voit in seinem Beitrag nach. Auch im späteren 16. und im frühen 17. Jahrhundert wurden in den böhmischen Ländern vielfach aus den protestantischen Nachbargebieten importierte Lehrbücher benutzt, wie Martin Holý zeigt; das lag zum Teil an der konfessionellen Nähe, zum Teil hatte es aber auch praktische Gründe, wobei die Bücher ohnehin oft keinerlei ausgeprägtes konfessionelles Profil aufwiesen. Ausgewählte politische Akteure werden in den Aufsätzen der folgenden Sektion thematisiert. Dass in Böhmen und Mähren dem Adel, traditionell bereits Patron der utraquistischen Kirche, bei der Entfaltung reformatorischer Bestrebungen bzw. bei der Abwehr katholischer Restaurationsbemühungen eine entscheidende Rolle zukam, demonstriert Jiří Just. Aber auch für den sächsischen Raum bringt Martina Schattkowsky das Konzept ‚Adelsreformation‘ ins Spiel und plädiert zugleich dafür, künftig stärker das Mit- und Gegeneinander von Adel und weiteren Akteuren der Reformation zu erforschen. In diesem Kontext widmet sich Jens Klingner mit der Korrespondenz der sächsischen Herzogin Elisabeth (1502–1557) einer bedeutenden Reformationsfürstin, die am Dresdner Hof eine beachtliche politische Gestaltungsmacht erlangte. Die folgenden beiden Beiträge beschäftigen sich mit Pfarrkirchen und Schulen als wichtigen Institutionen im Reformationsprozess. Enno Bünz zeigt am Beispiel Leipzig sowohl die Ausdünnung des Netzes von kirchlichen Institutionen als auch die Veränderungen ihrer Erscheinungsformen, wobei die beiden Stadtpfarrkirchen ein wichtiges Kontinuitätselement zwischen vor- und nachreformatorischer Zeit Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 17 Einleitung darstellten. Mit der Reformation als Impuls für die Entwicklung des höheren Schulwesens befasst sich Winfried Müller, indem er insbesondere die drei sächsischen Landesschulen als neue Ebene zwischen lokaler Lateinschule und Universität ins Zentrum der Betrachtung stellt. Kunst als Kommunikationsmedium im Zeitalter der Reformation haben die Aufsätze der folgenden Sektion zum Thema. Kateřina Horníčková kann zeigen, wie die künstlerische Darstellung bestimmter Personen wie Jan Hus oder Jan Žižka bzw. von Symbolen wie des Kelchs im öffentlichen Raum zur Markierung konfessioneller Positionen benutzt wurde. Konfessionelle Codierungen stehen auch im Zentrum des Beitrags von Kai Wenzel, der belegt, dass Bilder aus vorreformatorischer Zeit und sogar aus dem nachtridentinischen Katholizismus in lutherische Sakralräume integriert wurden, dabei allerdings spezifischen Veränderungen unterzogen wurden – eine an den konfessionellen Rahmen angepasste Neucodierung. Darum geht es im Grunde auch, wenn Marius Winzeler das vorreformatorische Große Zittauer Fastentuch mit dem nachreformatorischen, nachweislich bis 1684 in Gebrauch gebliebenen Kleinen Zittauer Fastentuch vergleicht. In der Wechselwirkung von Bild und Text hebt er dabei vor allem den kollektiven Aspekt von Belehrung, Unterrichtung, ja auch Unterhaltung hervor, während bei den gleichfalls untersuchten Zittauer Epitaphien das individuelle Zeugnis im Sinne einer Memorial- und Vorbildwirkung im Vordergrund gestanden habe. Gleichfalls den Epitaphien gilt das Interesse von Ondřej Jakubec. In seinem Beitrag über lutherische Epitaphien in den tschechischen Ländern warnt er dabei von einer überzogenen Betonung des konfessionellen Moments und akzentuiert vielmehr deren überkonfessionelle Verträglichkeit. Räume und Wissenstransfer bilden das thematische Zentrum der folgenden Sektion. Eine interessante eschatologische Aufladung ihres Asyls beobachtet Martin Rothkegel bei den Hutterern, die seit Mitte der 1520er Jahre im südlichen Mähren Zuflucht gefunden hatten. Eine andere kleine Gruppe radikaler Reformatoren, die Schwenckfelder und ihr Wirken im Herzogtum Preußen, macht Gabriela Wąs zum Gegenstand ihrer Betrachtungen, wobei deutlich wird, dass sie trotz einer Kommunikationsoffensive auf mehreren Ebenen den machtgestützten Abwehrbemühungen der Lutheraner letztlich wenig entgegenzusetzen hatten. Am Beispiel des weitgehend unbekannten ‚utraquistischen Flacianers‘ Viktorin Anxiginus geht Martin Wernisch der Adaption der Adiaphora-Lehre in Böhmen nach und stellt Verbindungen sowohl zur europäischen Reformationsgeschichte als auch zur hussitischen Vorgeschichte heraus. Mit der überraschenden Pluriformität der Reformation im oberlausitzischen Zittau macht der Aufsatz von Petr Hrachovec vertraut, der den Briefwechsel und Wissenstransfer zwischen Zürich und einem Kreis von Zwinglianern um den Zittauer Stadtschreiber Oswald Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 18 Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky Pergener behandelt. Welche Herausforderungen die konfessionelle Vielgestaltigkeit in der Oberlausitz sowohl für Herrschaftsträger als auch für einzelne Gläubige bedeutete und welche Konflikte daraus resultierten, zeigt Jan Zdichynec anschaulich am Beispiel der dortigen Frauenklöster und der Stadt Lauban/Lubań. Mit markanten Ausprägungen spezifisch lutherischer Traditionskonstruktion befassen sich die Beiträge der letzten Sektion. Dazu gehörte das Phänomen der – medial weit verbreiteten – heiltätigen ‚Wunder- oder Gnadenbrunnen‘, das Hartmut Kühne am Beispiel von Pyrmont vorstellt und in die Prodigien-Tradition einordnet. Eine andere Traditionslinie betont Stefan Dornheim mit seinem Beitrag zum Umgang mit der vorreformatorischen Bildkultur im Luthertum. Er zeigt, wie die Artefakte teilweise in den sog. Götzenkammern entsorgt wurden – sozusagen prämuseale Depots, die dann im 19. Jahrhundert Impulse für die Denkmalpflege gaben und zu Objekten der Musealisierung wurden. Traditionsbildung steht dann im Zentrum des Beitrags von Wolfgang Flügel. Er beschäftigt sich mit dem bereits angesprochenen Reformationsjubiläum von 1617 sowohl im Hinblick auf seine kommunikative Vorbereitung und ‚Anbahnung‘ sowie in Bezug auf seine öffentliche Begehung und mediale Verbreitung. Den Schlusspunkt des Bandes schließlich setzt Jiří Mikulec mit seiner Skizze zum Ende der Reformation bzw. dem Beginn der Rekatholisierung in Böhmen in den 1620er Jahren. Zweifellos vermag auch der vorliegende Band bestehende Forschungslücken zur Reformation als Kommunikationsprozess in den Böhmischen Kronländern, in Sachsen und den benachbarten Gebieten nicht in Gänze zu schließen. Dennoch sollte er deutlich machen, wie fruchtbar ein grenzüberschreitender Austausch ist. Der Vergleich der verschiedenen historiografischen Traditionen und Schwerpunktsetzungen ist zweifellos anregend – inklusive der unvermeidlichen Provokation, die etwa in der Charakterisierung von Ereignissen als ‚erste‘ bzw. ‚zweite‘ Reformation liegt.15 Einmal mehr tritt mit dem speziellen räumlichen Zuschnitt des Bandes die Vielfalt der reformatorischen Bewegungen hervor, was auf die Notwendigkeit einer Verständigung über unterschiedlich gehandhabte Begrifflichkeiten und Theorien verweist. Hier schließt sich vielleicht auch der Kreis zu dem von Heinz Schilling in diesem Band präsentierten Dürer’schen Rhinozeros, das nicht nur als Symbol für die Begegnung Europas mit der Welt gilt, sondern auch als Erweiterung des Wissenshorizonts zur Reformationsgeschichte. 15 Vgl. den Beitrag von Pavel Soukup in diesem Band. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 PROLOG Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Heinz Schilling 1517 – der Mönch und das Rhinozeros 1. Eine Ausweitung der Perspektive Es könne nur „Geschmack am Paradoxen“ sein, so Benedetto Croce (1866–1952), wolle man in Zweifel ziehen, „daß am 1. November 1517 [sic!] Luthers Thesen an der Kirchentüre in Wittenberg zu lesen waren und daß am 14. Juli 1789 das Volk von Paris die Bastille erstürmte“ und dass mit beiden Ereignissen welthistorische Umbrüche eingeleitet wurden.1 Ich leiste mir im Folgenden diesen ‚Geschmack am Paradoxen‘: Nicht im Sinne einer post-faktischen Geschichte, die die Realität der Thesen in Zweifel zieht, wurden sie nun verschickt, angeschlagen – oder gar angeklebt, so die neueste Volte in einer schier unendlichen Geschichte reformationsgeschichtlicher Selbstbespiegelung; vielmehr soll es darum gehen, den historischen Reflexionsraum über die bislang vorherrschende nationale und europäische Perspektive auszuweiten und dadurch zu überprüfen, ob es stimmt, was noch Adolf von Harnack (1851–1930), der wohl bedeutendste protestantische Theologe und Wissenschaftsorganisator der Weimarer Republik, vor knapp 100 Jahren protestantisch selbstbewusst feststellte: „Die Neuzeit hat mit der Reformation Martin Luthers ihren Anfang genommen, und zwar am 31. Oktober 1517; die Hammerschläge an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet.“2 Anfang des 21. Jahrhunderts ist die protestantisch nationale Geschichtsdeutung dieser Art überwunden. Die Frage nach dem Beginn der Neuzeit, also unserer heutigen Zeit, ist in einen weiteren Rahmen zu stellen, nämlich in eine transkonfessionelle und globale Perspektive. Die Welt war im Jahr 1517 durch eine bunte Vielfalt von Neuansätzen, Hoffnungen und Ängsten bestimmt. Es ist unsere gegenwärtige Welt mit all ihren Bedrohungen und Ängsten, aber auch Chancen, die damals vor einem halben Jahrtausend geboren wurde. Im Einzelnen führt 1 2 B. Croce, Aesthetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft. Theorie und Geschichte, übersetzt von H. Feist / R. Peters (Gesammelte philosophische Schriften, Reihe 1: Philosophie des Geistes 1), Tübingen 1930, S. 31 f.; im Folgenden kommt mein im November 2017 in Prag gehaltener Vortrag weitgehend unverändert zum Abdruck. Es wurden nur die unumgänglichen Anmerkungen hinzugefügt. Detaillierter ausgeführt und belegt finden sich meine Überlegungen in H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 42017; Ders., 1517 – Weltgeschichte eines Jahres, München 32017. A. von Harnack, Die Reformation und ihre Voraussetzung, in: Ders., Erforschtes und Erlebtes (Adolf von Harnack. Reden und Aufsätze NF 4), Gießen 1923, S. 72–140, hier S. 110. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 22 Heinz Schilling der Blick durch das historische Teleskop vor Augen, wie die Welt damals, in vielen Regionen in religiöser Ehrfurcht erregt, auf große Dinge wartete, die dann auch kamen: Wie einzelne Weltregionen zum Ursprung neuer Religionen, neuer Umstände werden, die dann die Welt verändern. Wie im kastilischen Valladolid ein dynastischeres Pokern die Habsburger zur Weltmacht werden lässt. Wie in Kairo ein arabischer Frühling aufbricht, und sich in Dschidda entscheidet, wer Herr über Mekka wird, oder in Moskau eine Mission am Hof des Zaren ergebnislos endet, dem Westen Europas aber erstmals zuverlässige Kunde über den bislang weitgehend unbekannten und daher gefürchteten Teil Europas, ‚gen Mitternacht hin gelegen‘, bringt. Wie in Peking, wo ein portugiesischer Aufbruch ins Reich der Mitte erstmals seit Jahrhunderten bis an den Kaiserhof gelangt, dieser dann elendiglich scheitert, weil die Europäer unsensibel die kosmische Begründung des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs und dessen ritueller Symbolisierung verletzen. Wie schließlich in Yucatán, wo die aus der Karibik aufs mexikanische Festland vorstoßenden Spanier durch die folgenschwere Verwechslung mit rückkehrenden Göttern durch Majas und Azteken Glanz und Macht der meso-amerikanischen Hochkulturen vernichten. Gleichzeitig ist zu berichten, wie in Mitteleuropa in Straßburg/Strasbourg die Hexenjagd propagiert wird oder in Regensburg eine Treibjagd gegen die Juden beginnt. Wie in Joachimsthal/Jáchymov, auf dem böhmischen, bald unter habsburgischer Herrschaft stehenden Teil des Erzgebirges die berühmte Silbermünze geprägt wurde, die als Thaler Jahrzehnte lang den europäischen Geldverkehr beherrschte, und die schließlich der heute noch führenden Weltwährung den Namen gab – dem Dollar: Thaler – Daler – ‚Dollar‘. Zur selben Zeit plagt sich im Ermland/Warmia (im heutigen nordöstlichen Polen) ein Domherr mit Frage der Geldstabilität, die angesichts der Silberknappheit und des rasch expandierenden Handels vor allem in der Ostsee zur Achillesferse der europäischen Wirtschaft geworden ist. Ergebnis ist die erste moderne Geldwerttheorie, aus der Feder von niemand geringerem als Nikolaus Kopernikus (1473–1543), der wenig später als Astronom Weltruhm erringen sollte. In einer frühen Reaktion auf dieses Kopernikus-Kapitel meines 1517er-Buchs titelte „Die Welt“: „500 Jahre Euro-Krise“.3 Somit hatte sich 1517 das diplomatische, politische wie militärische Aktionsfeld der Europäer deutlich ausgeweitet. Doch wichtiger noch: Es war eine mächtige Flut von Informationen über Geographie, Flora und Fauna der neu erschlossenen Welträume, ebenso über die dort lebenden Menschen und deren Kulturen in Europa angekommen. Sie vertiefte dort das neue Weltwissen und 3 M. Kamann, 500 Jahre Euro-Krise, in: Die Welt (28.1.2017), https://www.welt.de/print/ die_welt/article161602524/500-Jahre-Euro-Krise.html (letzter Zugriff am 21.3.2020). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 1517 – der Mönch und das Rhinozeros 23 amalgamierte sich mit dem innereuropäischen Wissensaufbruch im Zuge von Humanismus und Renaissance. Europa trat immer enger mit den anderen Kontinenten in Beziehung. Das europäische Wissen erweiterte und vertiefte sich, es wurde bunter und komplexer. Für rasche Verbreitung sorgte der Buchdruck. Sigismund von Herbersteins (1486–1566) Reisechronik ersetzte die verzerrenden Gerüchte durch eigene Anschauung und begründete die neuzeitliche rationale Russlandkunde. Die „Summa Orientalis“ des portugiesischen Gesandten Tomé Pires (ca. 1465– 1524/40) erschloss den Fernen Osten bis hin zum Essen mit Stäbchen. Vielleicht wichtiger noch wurde die Druckgrafik, die das Neue abbildete und vervielfältigt den Menschen vor Augen stellte – berühmt Albrecht Dürers (1471–1528) Konterfei des Rhinozeros Odysseus, das bis heute als Ikone des neuen Weltwissens gilt. Das aus der Begegnung mit den neuen Welten entstandene Wissen wurde methodisch und theoretisch gleichsam europäisiert und in Herrschafts- und Nutzwissen umgeschmolzen. Das ließ die neuzeitlichen Naturwissenschaften aufblühen. Der moderne Höhepunkt dieser im frühneuzeitlichen Aufbruch wurzelnden Tradition europäischer Wissenskultur sollte dann im 19. Jahrhundert mit Alexander von Humboldt (1769–1859) erreicht werden. 2. Dimensionen der Veränderung Ich kann nicht die ganze Vielfalt der umwälzenden Veränderungen zu Anfang des 16. Jahrhunderts vor Augen stellen. Ich konzentriere mich daher auf drei Hauptkreise, die ich gleichsam von innen nach außen abschreite – den innerchristlich-europäischen Kreis, fokussiert auf das kirchliche und religiöse Reformpotenzial (1); den über Europa hinausreichenden militärisch-machtpolitischen Kreis (2); schließlich den kulturell-wissenssoziologischen Kreis, der die Welt insgesamt umschließt (3). 2.1 Innovationen innerhalb des Christentums – Reformen ohne den Papst: Spanien als Vorreiter Martin Luthers (1483–1546) großer und rascher Erfolg ist ohne den Resonanzboden eines die lateinische Christenheit seit Generationen tief bewegenden Reformverlangens nicht denkbar. Indes gelang es noch im März 1517 Papst Leo X. (1513–1521) das Fünfte Laterankonzil (1512–1517) feierlich zu beenden, ohne religiöse oder institutionelle Reformen zuzulassen; er tat das kraft seiner Position Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 24 Heinz Schilling als ‚souveräner Pontifex‘ – nach Paolo Prodi (1932–2016) – und als erster semi-absolutistische Fürst Europas.4 Längst waren allerdings Reformen ohne den Papst auf dem Weg, so die Devotio moderna, die moderne Frömmigkeit der Laien, Ausdruck ihres subjektiven Heilsverlangens; oder das landesherrliche oder nationale Kirchenregiment der Fürsten, das das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt neu regelte. Beide waren Antworten auf grundlegende soziale und politische Veränderungen, einerseits auf den Aufstieg eines gebildeten, selbstbewussten Laienstandes in den Städten, teils sogar bereits auf dem Lande, andererseits auf die Herausbildung eines auf Autonomie angelegten frühmodernen Staates. Angesichts der damals engen strukturellen Verzahnung von Religion, Politik und Gesellschaft waren das nachgerade fundamentale Voraussetzungen für einen universellen Umbruch, auf der Ebene individueller Frömmigkeit ebenso wie für den politisch-gesellschaftlichen Wandel im Sinne der Säkularisierung. Schauen wir konkret auf das Jahr 1517, so zeigt sich Spanien, das in nach­ reformatorisch-protestantischer Sicht gar zu gerne auf die Inquisition reduziert wird, als Vorreiter kirchlicher und religiöser Reformen. Dort war die soziale, disziplinarische und geistig-moralische Reform des Klerus vorangeschritten, in den Orden ebenso wie bei den Weltgeistlichen. Das war die Leistung der katholischen Könige, aber auch der Kirche selbst, in der sich ein beeindruckend offenes und lebendiges Reformklima entfaltet hatte. Man denke nur an den 1373 gegründeten Reformorden der Hieronymiten oder Jeromiten, der Anfang des 16. Jahrhunderts das Land mit 49 Konventen überzog; diese Reformgruppen der Benediktiner hatten sich der neuen Spiritualität der niederländischen Devotio moderna angeschlossen. Leitender Kopf war Francisco Jimenez de Cisneros (1436–1517), Erzbischof von Toledo und seit 1507 Großinquisitor, als Beichtvater der Königin und Regent von Kastilien (1516/17) einer der mächtigsten Männer der vereinigten Kronländer. Cisneros hatte begierig die neuen religiösen Ideen reformerischen und mystischen Charakters aus dem Ausland aufgegriffen, insbesondere Gedanken Girolamo Savonarolas (1452–1498), Katharinas von Siena (1347–1380) und Erasmus’ von Rotterdam (1466/69–1536). Um die Verbreitung der Reformschriften zu beschleunigen, förderte Cisneros gezielt den Buchdruck. 1499 gründete er die Universität von Alcalá de Henares oder (nach dem römischen Namen der Stadt) Complu­ tense. Sie wurde sogleich zum Zentrum des geistigen und religiösen Aufbruchs auf den Grundlagen der neuesten wissenschaftlich-humanistisch-philologischen 4 Vgl. P. Prodi, The Papal Prince. One body and two souls: The papal monarchy in early modern Europe, aus dem Italienischen von S. Haskins, Cambridge/New York/Melbourne 1987. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 1517 – der Mönch und das Rhinozeros 25 Kenntnisse, hierin der Wittenberger Neugründung vergleichbar, die nur wenige Jahre später ihre Arbeit aufnahm. Für diese Bestrebungen brachte das Jahr 1517, das zugleich das Sterbejahr des großen Kirchenmannes werden sollte, einen Höhepunkt – den Abschluss eines vor 15 Jahren begonnenen großen Editionsprojektes; es war weitgehend aus dem Privatvermögen des Erzbischofs finanziert worden, weil dieser, wie man sagte, reich wie ein Fürst war, aber wie ein Mönch lebe. Mit der Vollendung des druckfertigen Manuskripts des Alten Testaments war im Frühjahr 1517 die Arbeit an der „Complutense Polyglotte“ zu einem glücklichen Ende gekommen, nachdem das Neue Testament bereits 1514 gedruckt worden war. Damit hatte Spanien die erste polyglotte Gesamtausgabe der Bibel auf dem Stand der neuesten philologischen Erkenntnisse hervorgebracht.5 Das bedeutete einen Meilenstein in der frühmodernen Bibelwissenschaft. Die 1517 abgeschlossene Ausgabe des Alten Testaments war besonders an­ spruchsvoll: Die Seite wurde in drei Textspalten gesetzt – außen Hebräisch, in der Mitte das Latein der „Vulgata“ und in der Innenspalte der griechische Text der „Septuaginta“, im Falle des „Pentateuchs“ am unteren Rand noch um erläuternde aramäische Texte und deren lateinische Übersetzung ergänzt. Innerhumanistische Querelen, vor allem mit Erasmus, verzögerten den Druck, sodass die „Complutensische Polyglotte“ erst Anfang der 1520er Jahre in sechs stattlichen Bänden vorlag – vier für das Alte, einer für das Neue Testament, der sechste mit aramäischen, hebräischen und griechischen Wörterbüchern und sonstigen philologischen Hilfsmitteln. Doch hatten sich inzwischen durch Luthers Auftreten die religiösen und wissenschaftlichen Konfliktlinien dermaßen verändert, dass die unmittelbaren Wirkungen dieses spanischen Pionierwerks begrenzt blieben. 1517 indes war nicht Wittenberg, sondern Alcalá das Zentrum moderner Bibelwissenschaften in Europa, daneben auch Basel, wo Erasmus eben das Neue Testament in der griechischen Ursprache veröffentlicht hatte. Vergleichbare Ansätze praktischer Kirchenreformen brachen auch in anderen Ländern, ja auch in Rom selbst auf. Dort stieß der französische Gesandte Guillaume Bri­­çonnet (ca. 1470–1534), Bischof von Meaux, 1517 auf eine eben entstandene Reformgruppe mit Namen „Oratorium der Göttlichen Liebe“, deren Verbindung 5 Detailliert zu Bibeldrucken vgl. E. Cameron (Hg.), The New Cambridge History of the Bible, Bd. 3: From 1450 to 1750, New York 2016; Überblicke in den Bibelartikeln vgl. in den verschiedenen Bänden der TRE sowie in H. J. Hillebrand (Hg.), The Oxford Encyclopedia of the Reformation, 4 Bde., New York 1996; weiter vgl. A. Coroleu, Anti-Erasmianism in Spain, in: E. Rummel (Hg.), Biblical Humanism and Scholasticism in the Age of Erasmus (BCCT 9), Leiden/Boston 2008, S. 73–92, hier S. 74 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 26 Heinz Schilling von mystischer Frömmigkeit und praktischer Nächstenliebe ihn faszinierte und deren Reformansatz er, während seiner Wirkungszeit als Abt von St-Germaindes-Prés in Paris, nach Frankreich zu übertragen versuchte.6 Anders als Savonarola in Florenz zu Beginn der 1490er Jahren oder später Luther in Deutschland lag diesen Gruppen allerdings eine Rebellion gegen die Papstkirche fern. Es ging ihnen vielmehr um deren Festigung durch Beseitigung der Missstände und Rückkehr zu den ursprünglichen apostolischen Lebensformen. Die Bruderschaft des „Oratorio del Divino Amore“, das Oratorium der göttlichen Liebe also, zu der sich die Reformströmungen im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts – zunächst in Genua/Genova, dann in Rom und andernorts – institutionalisierten, stellte nicht fromme Werke zu Gunsten des eigenen Seelenheils ins Zentrum, sondern das Ideal gelebter, die Person durchdringender caritas, die sie als eine von Gott geschenkte Gnade begriff – eine Distanz zur herrschenden Werkfrömmigkeit also, wie sie im selben Jahr auch in den Ablassthesen des Wittenberger Augustiners zum Ausdruck kam. Bei der Realisierung im kirchlichen Alltag schlugen beide aber unterschiedliche Wege ein. Die Italiener setzten auf den Klerus selbst, der durch Verbesserung seiner Bildung, Frömmigkeit und Disziplin den Laienstand gleichsam organisch nach sich ziehen und damit die Priesterkirche wieder auf den Stand der Reinheit bringen sollte. Luther dagegen entwickelte aus seiner Gnadenlehre die These vom Priestertum aller Getauften und machte damit einen zur Vermittlung des göttlichen Heils notwendigen Priesterstand überflüssig.7 1517 indes war ein solcher fundamentaler Gegensatz noch nicht zu erkennen. Erst als die römische Hierarchie keine Antwort auf die im Oktober 1517 veröffentlichten Ablassthesen gab, trat das in der lateinischen Christenheit tiefverwurzelte Reformverlangen in zwei alternative Wege des religiösen und kirchlichen Aufbruchs auseinander: den radikalen Systembruch der Wittenberger mit der daran anschließenden Reformationen einerseits und die systemkonforme Reform der römischen Papstkirche andererseits. Die so heraufbeschworenen Gegensätze erscheinen in der Perspektive der Gemeinsamkeiten im Jahr 1517 inhaltlich-sachlich ganz und gar unbegründet – was die Hochschätzung der Bibel und das Verständnis der Gnade ebenso betrifft wie die Marienfrömmigkeit oder die Bewertung der Sexualität von Priestern oder Pfarrern, um nur die wichtigsten zu nennen. 6 7 Vgl. D. MacCulloch, Die Reformation 1490–1700, aus dem Englischen von H. Voß-Becher / K. Binder / B. Leineweber, München 2008, S. 43, 138. Näher ausgeführt in H. Schilling, Martin Luther (wie Anm. 1), S. 153–156. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 1517 – der Mönch und das Rhinozeros 27 2.2 Militärisch-machtpolitische Entscheidungen von geostrategischer (weltgeschichtlicher) Tragweite Was 1517 die europäische Christenheit aktuell in Atem hielt, war nicht die Reform, sondern ein Ereignis auf der nordafrikanischen Gegenküste: Am 23./24. Januar 1517 war unter dem Ansturm der osmanischen Janitscharenheere das Mamelukenreich zusammengebrochen, das sich Mitte des 13. Jahrhunderts als Herrschaft von Heerführern ehemaliger Militärsklaven in Syrien und Ägypten etabliert hatte. Von Sultan Selim I. (1512–1520) persönlich angeführt, war das osmanische Heer in einem triumphalen Siegeszug über Aleppo und Damaskus vor die Hauptstadt Kairo gelangt, wo es der Mamelukenherrschaft den Todesstoß versetzte. In Europa verbreitete sich sogleich Angst und Schrecken, vor allem in Italien, wo noch der Terror in frischer Erinnerung war, den der Blitzüberfall der Türken in den 1480er Jahren in Otranto ausgelöst hatte. Gerüchte sprachen bereits von einer gewaltigen Flotte, die der Sultan in Alexandrien zusammenziehe, um zum Sprung auf die italienische Gegenküste anzusetzen. Selbst das norditalienischen Bergamo wurde von unheilverkündenden Vorzeichen erschüttert – einer in wabernden Wolkengebilden zu erkennende Geisterschlacht, in der die andrängenden Türkenheere als Strafe Gottes gegen die sündige Christenheit erschien. Realgeschichtlich machte der Fall Kairos den Weg die nordafrikanische Küste entlang Richtung westliches Mittelmeer und vor allem nach Arabien frei, ein folgereicher Wendepunkt für das osmanische Weltreich und seine Beziehungen zu den europäischen Mächten. Einige Monate später fiel weit im Westen eine komplementäre Entscheidung, die die frühmoderne Staatenwelt Europas neu ordnete und gegenüber einem islamischen Weltreich der Osmanen positionierte, das sich zunehmend an Europa interessiert zeigte: Am 23. November 1517 zog der eben siebzehnjährige Burgunderherzog Karl (1500–1558), Enkelsohn des römischen Kaisers Maximilian i. (1493–1519) und der burgundischen Erbtochter Maria (1457–1482) einerseits und der katholischen Könige Spaniens Isabellas I. (1474–1504) und Ferdinands II. (1468–1516) andererseits, in die kastilische Hauptstadt Valladolid ein. Damit machte er zeremoniell wie politisch unmissverständlich klar, dass er allen widerstrebenden Kräften zum Trotz alleine und ausschließlich das durch den Tod Ferdinands II. von Aragón angefallene spanische Erbe einzunehmen entschlossen war. Mit Kastilien fielen ihm die von Jahr zu Jahr durch neue Entdeckungen anwachsenden Länder in Übersee zu; mit Aragón das Königreich Neapel und damit die entscheidende ­Legitimation, die Interessen seines Hauses in Italien zu verfolgen.8 8 Zu diesen Zusammenhängen jetzt ausführlich H. Schilling, Karl V. – Der Kaiser, dem die Welt zerbrach, München 2020. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 28 Heinz Schilling Damit war das europäisch-amerikanische Weltreich des Hauses Habsburg geboren – was wenig später auch formell und rituell befestigt wurde, als es Karl nach dem Tod seines deutschen Großvaters 1519 gelang, seine Wahl zum römischen Kaiser durchzusetzen. Diese in ihrem Ergebnis umstürzenden Vorgänge waren für die Zeit ebenso alltäglich wie außergewöhnlich: alltäglich, weil der Zuschnitt von Reichen durch dynastische Heiratspolitik bestimmt wurden; außergewöhnlich, insofern es konkret einer ganzen Reihe von ‚glücklichen‘ (passenden) Sterbefällen bedurft hatte, bevor sich die von den Großeltern am Ende des 15. Jahrhunderts durch Ehe- und Erbverträge eröffnete Möglichkeit zum Erbrecht Karls eröffnete und sich auch politisch in Spanien wie in Deutschland durchsetzen ließ. Der kastilische Herbst leitete den Aufstieg des ersten christlich-europäischen Weltreiches ein. Damit begann die Konkurrenz zu dem älteren osmanischen Weltreich, das in Kleinasien verankert war, nun aber immer entschiedener nach Westen vordrang – zu Land auf dem Balkan und die afrikanische Küste entlang sowie zu Wasser ins westliche Mittelmeerbecken. Wichtiger als die geostrategisch-territoriale Konstellation waren die mit den beiden Weltreichen verbundenen religiös-ideologischen Kraftlinien. Sie wirkten über die Jahrhunderte fort, in gewandelter Konfigu­ ration sogar bis heute. Während der Habsburgerkaiser Karl V. (1519–1556) die christliche Rittertradition aufnahm und als miles christianus gegen die inneren wie äußeren Feinde der Kirche zu Feld zog, traten die Sultane der Osmanen nach ihrem Sieg über die Mameluken die Oberherrschaft über Mekka und damit die Führung über die islamische Welt an. Mehr noch, mit der Mamelukenherrschaft war auch das Mitte des 13. Jahrhunderts von Bagdad nach Kairo übertragene abbasidische Kalifat beendet. Zwar kam es nicht sogleich zu einem institutionalisierten osmanischen Kalifat. Doch traten einzelne Sultane zu besonderen Anlässen als Kalifen auf, wie bereits Selims Nachfolger Soliman I. (1520–1566), ‚der Prächtige‘, ein hochgebildeter, urbaner Herrscher, der in einem Gesetzestext nicht nur als ‚Chagan (Groß­ khan) des Erdkreises‘, sondern auch als ‚Chalīfa des Gottesgesandten‘ tituliert wurde. Die 1517 eröffnete Tradition des osmanischen Kalifates bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine der Reformation im lateinisch-christlichen Zivilisationskreis vergleichbare weltgeschichtliche Weichenstellung: Sie festigte die osmanisch-sunnitische Interpretation des wahren Islams und ermöglichte ein entsprechendes disziplinierendes Vorgehen gegen die der Schia zuzurechnenden Bevölkerungsgruppen im Innern des Reiches. Macht- und außenpolitisch verlieh sie dem Gegensatz zum benachbarten schiitischen Persien eine vertiefte und die osmanischen Kräfte stärkende Legitimation. Und schließlich gab die neue geistliche Würde Sultan Soliman I., Sohn und Nachfolger des Siegers von Kairo, die Legitimation und das propagandistische Rüstzeug, sich im Ringen mit dem lateinisch-christlichen Europa als Endzeitherrscher darzustellen und dadurch in der damals weit über Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 1517 – der Mönch und das Rhinozeros 29 Europa hinaus üblichen eschatologischen Interpretation der Zeitgeschichte mit dem römischen Kaiser und dem Papst gleichzuziehen.9 Die weltgeschichtliche Bedeutung der Ereignisse in Syrien und Arabien kann eine kontrafaktische Überlegung verdeutlichen: Etwa gleichzeitig mit der Eroberung Kairos durch die Osmanen unternahm der portugiesische Vizekönig des ‚Estado da Índia‘ Lopo Soares de Albergaria (ca. 1460–1520) den Versuch, die Hafenstadt Dschidda, den wichtigsten Umschlagplatz der Arabischen Halbinsel und das Tor zu den Heiligen Stätten der Muslime, handstreichartig einzunehmen. Die Operation scheiterte, die weltgeschichtliche Perspektive eines Erfolges ist aber faszinierend: Die katholischen Portugiesen und nicht die muslimischen Ottomanen als Herren über die arabische Halbinsel. Das hätte der Neuzeit einen völlig anderen Verlauf gegeben bis hin zur gegenwärtigen Situation in Syrien und dem 2014 ausgerufenen neuen „Kalifat“ des Islamischen Staates. 2.3 Übersee in Europa Dem europäischen Selbstverständnis nach kam das Neue in Wissenschaft, Kunst und Kultur in Gestalt einer Rückbesinnung auf die eigene Tradition, vor allem auf die Antike, zum Durchbruch. In Wahrheit hatten aber auch andere Weltregionen Anteil am Aufstieg der Neuzeit und der Moderne. Denn seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert, verstärkt in eben jenem Jahr 1517, das die Europäer als Reformationsjahr und Beginn der Neuzeit feiern, strömte eine Welle neuen Weltwissens nach Europa ein – von Westen durch die Begegnung der Spanier mit der ersten amerikanischen Hochkultur auf Yucatán; von Osten durch das Vordringen der Portugiesen Fernão Pires de Andrade († 1552) und Tomé Pires in das seit Jahrhunderten verschlossene chinesische Reich der Mitte; und – kaum weniger bedeutsam – auf dem alten Kontinent selbst durch die Moskaureise des kaiserlichen Gesandten Sigismund von Herberstein. Die davon erweckte Wissbegierde auf fremde Lebenswelten amalgamierte sich mit dem innereuropäischen Aufbruch des Wissens im Zeichen von Humanismus und Renaissance und trieb einen Prozess voran, der Europa immer enger mit anderen Kontinenten in Beziehung brachte und so das europäische Wissen erweiterte, vertiefte und immer bunter werden ließ. 9 Vgl. die Abb. Soliman I., des Prächtigen, mit Tiara (New York Metropolitanmuseum of Art. Harris Brisbane, Dick Fund 1942, 42/41/1), abgebildet in H. Schilling, 1517 (wie Anm. 1), S. 294. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 30 Heinz Schilling Der Buchdruck, vor allem aber die Anschaulichkeit der Druckgrafik, ließen das neue Weltwissen rasch in eine breite Öffentlichkeit von Kaufleuten, Wissenschaftlern, Intellektuellen und Künstlern gelangen. Herbersteins Reisechronik erfuhr schnell hintereinander mehrere Auflagen und sollte über Generationen hin das Russlandbild prägen. Heute noch gilt sie als Beginn einer empirischen, rationalen Osteuropakunde. Die überseeischen Lebenswelten mit ihren exotischen Bewohnern, Tieren, Pflanzen und Artefakten menschlicher Kunst konnte jeder Interessierte direkt in Augenschein nehmen. Denn die Entdecker ließen die Zeugnisse der fremden Welten nach Europa bringen, wo sie in Ausstellungen, voran in Sevilla, Valladolid und Brüssel/Bruxelles, zu Exponaten der Neugier wurden. Wem Zeit und Geld zu einer direkten Besichtigung fehlten, dem gaben wohlfeil auf den Markt gebrachte Flugblätter mit genauen Beschreibungen und Holzschnitten die Möglichkeit, seinen europäischen Gesichtskreis in die Welt hinaus zu erweitern. Berühmte und gefragte Meister wie Giovanni Giacomo Penni mit Stephano Guilireti in Rom oder die Deutschen Hans Burgkmair d. Ä. (1473–1531), Al­brecht Altdorfer (ca. 1480–1538), Jörg Breu d. Ä. (ca. 1475/80–1538) und vor allem Albrecht Dürer, der die wunderliche künstlich ding [aus dem, Anm. H. S.] neuen gulden land 1520 in Brüssel selbst gesehen hatte, sorgten dafür, dass die viel bestaunten Artefakte, allen voran die beiden kunstvoll in Gold und Silber gearbeiteten großen Sonnenscheiben, sogleich Aufnahme in den europäischen Wissensund Kulturkanon fanden. Auch darin kam es zu einer fruchtbaren Verbindung mit dem Renaissance-Aufbruch des Wissens, Sammelns und Kategorisierens, der in den fürstlichen Kunst- und Wunderkammern bereits kostbare artificalia und außergewöhnliche naturalia zusammengetragen hatte. Dasselbe gilt für die neuentdeckten Völker und ihre Lebensart oder für die Kunde über die exotische Pflanzen- und Tierwelt. Nur wenige Monate nach den Neuentdeckungen des Jahrs 1517 waren die Europäer mit den Kalikutischen Leuten bekannt, wie man die Inder oder Indianer der westlichen Hemisphäre als Verwandte der längst bekannten Inder des Ostens meinte bezeichnen zu können. Und dass dabei auch afrikanische Völker erscheinen, die die Künstler mit Schilden und Holzschwertern nach Aztekenart auftreten lassen, gibt zu erkennen, wie vorsichtig man sich vorantasten musste, um das Neue und Fremde angemessen zu beschreiben und zu kategorisieren.10 Doch dauerte es nicht lange, bis man 10 Vgl. C. Feest, Von Kalikut nach Amerika, Dürer und die „wunderliche künstlich ding“ aus dem „neuen gulden land“, in: J. Sander (Hg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext, Städel-Museum, Frankfurt am Main, 23. Oktober 2013–2. Februar 2014, München/London/New York 2013, S. 366–375; sowie ebd., S. 306 f. (Abb.). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 1517 – der Mönch und das Rhinozeros 31 erkannte, dass es sich bei den vermeintlich einheitlichen ‚Indern‘ um Bewohner zweier weit auseinander gelegener Erdteile handelte, deren Gestalt, Geschichte und Kultur ganz unterschiedlich waren. Wie präsent die fremden, exotischen Welten bereits 1517 in Europa waren, zeigt das berühmte asiatische Rhinozeros Odysseus, das der Gouverneur von Portugiesisch-Indien Afonso de Albuquerque (1453–1515) dem portugiesischen König Manuel I. (1495–1521) aus Indien geschickt hatte. Am 20. Mai 1515 in Lissabon/Lisboa angekommen, konnte es dort im königlichen Gehege von jedermann bewundert werden. Aber auch außerhalb Portugals machten binnen kurzem hunderte von Flugblättern sein Konterfei bekannt – am Papsthof in Rom bereits im Juli durch den Vers-Traktat „Forma e natura e costumi de lo Rinocerante“ des Florentiner Humanisten und Arztes Giovanni Giacomo Penni. Wie rasch sich Wissen und Anschauung über die neuen Welten über Europa verbreiteten, belegt der bis heute berühmte Holzschnitt Albrecht Dürers, den der Nürnberger noch im selben Jahr riss und vertrieb. Das Bild wird auf der Beschreibung eines Nürnberger Kaufmanns fußen, der das Tier in Lissabon sah. Womöglich lagen Dürer aber auch bereits Holzschnitte anderer Künstler vor. Um ganz genau zu informieren, fügte Dürer der Abbildung einen Herkunft und Lebensgewohnheiten des Rhinozeros’ erklärenden Text bei, übrigens mit der nachweislich falschen Mitteilung, das Tier sei bereits 1513 in Lissabon angekommen – der Künstler hatte die Schnelligkeit des Informationsflusses von Lissabon nach Nürnberg offenbar nicht erfasst. Zum besseren Verständnis greift der Text auf einen Vergleich mit dem in Europa seit längerem bekannten Elefanten zurück: Nach Christus geburt 1513. Jar Adi. 1.May. Hat man dem großmechtigen Kunig von Portugall Emanuell gen Lyssabona pracht aus India / ein sollich lebendig Thier. Das nennen sie Rhinocerus […]. Es hat eine farb wie eine gespreckelte Schildkrot. Und ist von dicken Schalen uberlegt fast fest. Und ist in der größ als der Helefandt Aber nydertrechtiger von peynen / und fast werhafftig. Es hat ein scharff starck Horn vorn auff der nasen / Das begyndt es albeg zu wetzen wo es by steynen ist. Das dosig Thier ist des Heleffantz todt feyndt. Der Helffant furcht es fast ubel / dann wo es In ankumbt / so laufft Im das Thier mit dem kopff zwischen dye fordern payn und reyst den Helef­ fandt unden am pauch auff und erwürt In / des mag er sich nit erwern, Dann das Thier ist also gewapent / das Im der Heleffandt nichts kann thun. Sie sagen auch das der Rhynocerus Schnell / Fraydig und Listig sey.11 11 H. Schilling, 1517 (wie Anm. 1), S. 147 f. Vor und neben Dürer sind weitere sieben zeitgenössische Darstellungen des Rhinozeros Odysseus bekannt. Vgl. dazu J. Sander, Dürer (wie Anm. 10), S. 306 f. (Abb.). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 32 Heinz Schilling Dürers Rhinozeros wurde immer wieder popularisiert, etwa in Meißner Porzellan. Es gilt auch heute noch als Symbol für die Begegnung Europas mit der weiteren Welt und deren intellektuelle und künstlerische Aneignung, für die sammelnde und ordnende Aufnahme fremder Welten und deren Integration in das europäische Wissen und Selbstverständnis. Das Rhinozeros Odysseus ist aber zugleich ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich präsent das neue Weltwissen in den einzelnen Regionen Europas war: Odysseus war 1517 in Rom am päpstlichen Hof zu bestaunen, wenn auch nur als ausgestopfter Kadaver, denn das als Geschenk des portugiesischen Königs Manuel I. an Leo X. verschiffte Tier hatte vor der Küste Liguriens Schiffbruch erlitten. Dass es dennoch sogleich in das Renaissance-Wissen Aufnahme fand, beweist Raffaels (1483–1520) Fresko in der 1517/18 ausgemalten Loggia der Papstgemächer, das das Rhinozeros in trauter Eintracht mit seinem bereits seit längerem in der päpstlichen Menagerie lebenden ostasiatischen ‚Landsmann‘, dem Elefanten Hanno, zeigt. Ganz anders in der Stadt, die sich noch im selben Jahr den Weg zum Antipoden Roms und Kathedralstadt des Protestantismus antreten sollte: Die Stadt ‚am Rande der Zivilisation‘, wie der aus der Großstadt Erfurt kommende Luther klagte, war 1517 zwar alles andere als verschlafen. Wittenberg boomte geradezu mit der aufstrebenden Universität ebenso wie durch mächtige und ambitionierte Herrschaftsbauten, allen voran das wettinische Residenzschloss, wo bedeutende Künstler Deutschlands und Italiens beschäftigt waren und das der Bramante-Ruine von Neu-St.-Peter in Rom die solide Finanzierung voraushatte. Von dem bereits im Süden Deutschlands begierig aufgenommenen neuen Weltwissen indes findet sich dort keine Spur. 3. Epilog Und der Mönch, dessen Hammerschlägen nach guter protestantischer Lesart Ende Oktober 1517 die Neuzeit eröffneten? Luders Elternhaus scheint wenig, wenn überhaupt, von den neu entdeckten Welten berührt worden zu sein. Jedenfalls befanden sich in der an zeitgenössischen Überresten reichen Baugrube, die die Archäologen unlängst neben dem Mansfelder Elternhaus entdeckten, keinerlei Haushaltsgegenstände, Textilien oder Nahrungsmittel außereuropäischen Ursprungs.12 Das gilt auch für den eigenen Haushalt, den der Reformator ein Vierteljahrhundert später im Wittenberger Augustinerkloster gründen sollte. 12 Vgl. H. Meller (Hg.), Luther in Mansfeld. Forschungen am Elternhaus des Reformators (ASA Sonderbd. 6), Halle/Saale 2007. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 1517 – der Mönch und das Rhinozeros 33 Luthers Weltbild blieb kontinental und von dem neuen Wissen seltsam unberührt. In den 1520er Jahren handelt er kurz über den scheinbaren Widerspruch, dass einerseits die Bibel von der Mission der Apostel sagt: ir stimm ist in die gantze welt außgangen, andererseits vil inseln erfunnden wordenn noch zu unseren zeiten, die da heiden seind und niemant hat in gepredigt.13 Und in seiner Geschichtstabelle „Supputatio annorum mundi“ der 1540er Jahre deutet er neue Krankheiten, die von Übersee nach Europa gelangten, als Unum de signis magnis ante diem Ex­tre­ mum, also als ein Zeichen des Weltendes.14 Jenseits dieser missionsgeschichtlichen und eschatologischen Perspektive fand Luther kein Interesse am Ausgreifen Europas auf die anderen Kontinente. Diese Begrenztheit darf indes nicht missverstanden werden, etwa im Sinne eines Gegensatzes von Weltläufigkeit des Papstes und Roms versus Provinzialität Luthers und Wittenbergs. Dem widerspricht schon die Tatsache, dass die Elbestadt sogleich zur ‚Kathedralstadt‘ Luthers und ‚Gegen-Rom‘ aufstieg – hoch bewundert oder abgrundtief gehasst. Somit lässt sich als Ergebnis unserer Gegenüberstellung von Mönch und Rhinozeros als zwei symbolische Repräsentationen des im Jahr 1517 über die lateinische Christenheit oder Europa hereinbrechenden Neuen festzuhalten: Das Reformationsjahr 1517 als ein Jahr der Weltgeschichte zu betrachten, macht Luthers am 31. Oktober 1517 versandte „95 Thesen“ und die damit ausgelöste Reformation nicht zu einer belanglosen Episode. Wohl aber befreit die weltgeschichtliche Kontextualisierung den deutschen Protestantismus von der Last des Mythos, Luther hätte am 31. Oktober 1517 die Neuzeit oder gar die Moderne eingehämmert. Der tiefgreifende Wandel, der die Neuzeit und schließlich die Moderne hervorbrachte, war vielmehr das Ergebnis eines Syndroms, in dem drei unabhängige Kräfte zusammenwirkten: erstens der innereuropäische Aufbruch von Humanismus und Renaissance als Rückbesinnung auf die eigene antike Tradition; zweitens das mit Macht einströmende neue Weltwissen; und drittens schließlich natürlich die christlichen Reformationen, die protestantischen wie die von ihnen provozierte katholische. 13 M. Luther, Predigten des Jahres 1522, in: WA, Bd. 10/III, Weimar 1905, hier S. 139; vgl. auch Ders., Weihnachtspostille 1522, in: ebd., Bd. 10/I 1, Weimar 1910, hier S. 21 f. 14 Ders., Supputatio annorum mundi. 1541. 1545, in: ebd., Bd. 53, Weimar 1920, S. 1–184, hier S. 169. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 DYNAMIKEN DER ÖFFENTLICHKEIT Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff Der Narrheit närrisch spotten Mediale Ausprägungen und invektive Dynamiken der Öffentlichkeit in der frühen Reformationszeit* Einleitung Gegen Ende des Jahres 1524 besang ein anonym verfasstes Nachrichtenlied ein denkwürdiges Spektakel, bei dem wer tzu sahe, hab an vnd lacht / Das Jm der gur­ tell bei zersprang.1 Der Verfasser des Liedes wollte indes weit mehr als Leser und Zuhörer mit einer vergnüglichen Geschichte lediglich zu unterhalten. Vielmehr sollte das beschriebene und besungene Ereignis anzeigen, wie christo sey alleyn / Das mittel vnd keyn todten / beynn.2 Solum Christum statt Reliquienkult – dieser Verweis auf reformatorische Grundpositionen besaß zugleich einen konkreten zeithistorischen Bezug, denn es handelte sich zweifellos um eine Anspielung auf die hitzige Kontroverse um die Heiligsprechung des Bischofs Benno von Meißen.3 Im Sommer 1524 hatten im Gefolge dieser Debatte eine große Menge Berg­ knappen und andere junge Leute in der ernestinischen Bergstadt Buchholz eine Spottprozession veranstaltet, um die kurz zuvor erfolgte Erhebung der Gebeine des Meißener Bischofs zu verhöhnen. Die rechte erhebung Bennonis ym Buchholtz geschehen wurde in der Folge zum Gegenstand mehrerer Flugschriften, die wiederum die Vorlage für das zitierte Lied bildeten. Die Buchholzer Spottprozession von 1524 soll uns in diesem Beitrag in mehrfacher Hinsicht als Paradigma dienen: Erstens sollen einige Grundzüge * 1 2 3 Der Beitrag entspringt der gemeinsamen Arbeit im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs 1285. Wir danken den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Prager Konferenz „Reformation als Kommunikationsprozess“ für Anregungen zum Vortrag, der diesem Beitrag zugrundelag. Insbesondere danken wir Stefan Beckert, Maximilian Rose, Jan Siegemund und Wiebke Voigt für eine kritische Diskussionen verschiedener Fassungen des Textes. ALB Dessau, Georg Hs. 101. 8°, fol. 50r. Ebd., fol. 45v. C. Volkmar, Die Heiligenerhebung Bennos von Meißen (1523/24). Spätmittelalterliche Frömmigkeit, landesherrliche Kirchenpolitik und reformatorische Kritik im albertinischen Sachsen in der frühen Reformationszeit (RGST 146), Münster 2002; zu den Buchholzer Vorgängen insbesondere S. 172–180. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 38 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff der Forschungsdebatte über die ‚Reformation als Kommunikationsprozess‘ in Erinnerung gerufen werden; zweitens lassen sich an diesem Beispiel die Diskussionen über die Intermedialität der reformatorischen Öffentlichkeit rekonstruieren, illustrieren und in eine neue Perspektive rücken; drittens schließlich soll mit der Analysekategorie der ‚Invektivität‘ ein neuer Aspekt in die Debatte um die reformatorische Öffentlichkeit eingebracht werden. Buchholz – Kontext und Relevanz des Fallbeispiels Die kurfürstlich-ernestinisch regierte Bergstadt Buchholz (St. Katharinenberg im Buchholz, gegr. 1501) drängt sich als Untersuchungsgegenstand sowohl räumlich als auch zeitlich für das Jahr 1524 geradezu auf:4 Buchholz grenzte als kursächsische Enklave an die katholischen Territorien der Abtei Grünhain, der Grafschaft Wolkenstein sowie an die obere Grafschaft Hartenstein der Herren von Schönburg. Vor allem aber lag die Bergstadt an der Nahtstelle zum streng katholisch ausgerichteten albertinischen Herzogtum Sachsen, wo Herzog Georg mithilfe von landesherrlichem Kirchenregiment und reformkatholischen Initiativen, da­runter strikter Zensur und großzügiger finanzieller und logistischer Unterstützung antireformatorischer Autoren, konsequent gegen die aus seiner Sicht hussitische Ketzerei der Anhänger Luthers vorging.5 Zugleich behielt Georg die Vorgänge jenseits seiner Landesgrenzen scharf im Blick und kommunizierte regelmäßig mit seinen ernestinischen Vettern über vermeintlich ketzerische Umtriebe nahe der Grenzen seines Herzogtums.6 4 5 6 Im Folgenden kann dies nur knapp skizziert werden. Eine ausführliche Analyse des lokalen und intermedialen Kontextes wird derzeit im Rahmen eines Projektes im Teilprojekt G des SFB 1285 erarbeitet. Vgl. A. Kästner, Invektive Dynamiken frühreformatorischer Öffentlichkeit im Erzgebirge, 1519–1524 (Arbeitstitel). Nach wie vor grundlegend sind für die Reformationsgeschichte von Buchholz die quellengesättigten Studien des ehemaligen Buchholzer Schuldirektors und passionierten Heimatforschers Ernst Louis Bartsch, über dessen umfassende Quellenkenntnis auch neuere Arbeiten nicht hinausgelangt sind. Vgl. E. L. Bartsch, Kirchliche und schulische Verhältnisse der Stadt Buchholz während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts [T. 1], in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Buchholz 3 (1897), S. 25–72; T. 2, ebd. 4 (1899), S. 73–216. Hierzu äußerst umfassend C. Volkmar, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525 (SMHR 41), Tübingen 2008. Siehe hierzu die entsprechenden Dokumente in: ABKG, ed. F. Gess, Bd. 1: 1517–1524 (SSKG 10), Leipzig/Berlin 1905, passim. Weiteren Aufschluss über die Kommunikation in Religionsangelegenheiten zwischen den wettinischen Linien dürften die derzeit bearbeiteten Briefe und Akten zur Kirchenpolitik Friedrichs des Weisen und Johanns des Beständigen 1513 bis Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 39 In Sichtweite von Buchholz lag gegenüber dem Flüsschen Sema mit der Bergstadt St. Annaberg zudem das bedeutendste reformkatholische Stadtgründungsprojekt des sächsischen Herzogs – die Hauptkirchen beider Städte trennten gerade einmal 1.500 Meter Luftlinie.7 Im Sommer 1524 predigte in Buchholz unter großem Aufsehen der dortigen Bevölkerung ein Mann, der kurz zuvor aus seiner Klosterhaft im Annaberger Franziskanerkonvent entwichen war, nämlich Friedrich Myconius, vormals Seelsorger in Zwickau und späterer Reformator Gothas.8 Sein ebenfalls 1524 von Schönsperger und Gastel in Zwickau publizierter Sendbrief an die protestantische Untergrundgemeinde Annabergs (die unter anderem enge Kontakte zu Erfurter Humanistenkreisen und nach Wittenberg pflegte) verweist zudem auf die Bedeutung Zwickaus, der nominell größten kursächsischen Stadt, als nahes intellektuelles Zentrum und als regional wichtiger Zentralort für den Druck und die Distribution frühreformatorischer Schriften.9 Überdies lagen mit dem Kondominat Schneeberg und dem böhmischen Grenzgebiet weitere Regionen in unmittelbarer Nähe, in denen sich in den 1520er Jahren nicht nur soziale Konflikte zuspitzten, sondern vor allem auch die Auseinandersetzungen in Religionsfragen erheblich verschärften. Zugleich gab es mit Böhmen sehr enge soziale und intellektuelle Austauschbeziehungen, deren 7 8 9 1532, edd. A. Kohnle / M. Rudersdorf, Bd. 1: 1513–1517, Leipzig 2017, bieten, von denen bislang mit Bd. 1 die Jahre 1513 bis 1517 publiziert sind. Vgl. für Hinweise auf die ältere Literatur und auf einige relevante Quellen zur Geschichte Annabergs im frühen 16. Jahrhundert den knappen Beitrag von B. Moeller, Annaberg als Stadt der Reformation, in: H. Marx / C. Hollberg (Hgg.), Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. 2. Sächsische Landesaustellung, Torgau, Schloss Hartenfels, 2004, 2 Bde., Dresden 2004, Bd. Aufsätze, S. 103–111; überdies die ausnahmslos wichtigen Beiträge in B. Stephan / M. Lange (Hgg.), Wortwechsel. Das Kolloquium zum 475. Geburtstag der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 2014, Annaberg-Buchholz 2015. Zur Biografie trotz aller Schwächen im Detail gegenüber neueren Studien noch immer die grundlegende und lesenswerte Darstellung von P. Scherffig, Friedrich Mekum von Lichtenfels. Ein Lebensbild aus dem Reformationszeitalter. Nach den Quellen dargestellt (QDRG 12), Leipzig 1909. F. Myconius, Eyn Freüntlich Ermanung vnd tröstung aller freündt vnd liebhaber gottis wort yn der loblichen berümpte[n] Pergkstadt S: Annapergk, von wegen viler anstöß die sie teglich überfallen um[b] Euangelischer lere un[d] Christliche freyheit willen […], Zwickau: Johann Schönsperger d. J. 1524 (VD16 M 7351); zu Zwickau als Druckort siehe H. Claus, Die Zwickauer Drucke des 16. Jahrhunderts, T. 1: Johann Schönsperger 1523–1528, Gabriel Kantz 1527–1529 (VFG 23), Gotha 1985; aber auch schon E. Fabian, Die Einführung des Buchdrucks in Zwickau 1523, in: MAVZ 6 (1899), S. 41–128; jetzt T. Kaufmann, Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen (BHTh 187), Tübingen 2019, S. 229–232. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 40 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff Komplexität hier gar nicht angemessen dargestellt werden kann.10 Hierzu zählen an erster Stelle die Mobilität breiter Bevölkerungsschichten (nicht zuletzt auch des niederen sächsischen Adels) dies- und jenseits der sehr durchlässigen Grenze im Gefolge des sog. Großen Berggeschreys und die frühzeitige Rezeption von Lutherschriften durch die utraquistische Mehrheitskirche Böhmens.11 Fer10 Siehe hierzu nur die vielfältigen Beiträge in M. Schattkowsky (Hg.), Das Erzgebirge im 16. Jahrhundert. Gestaltwandel einer Kulturlandschaft im Reformationszeitalter (SSGV 44), Leipzig 2013. 11 Vgl. den Beitrag von Pavel Soukup im vorliegenden Band. All dies kann hier bibliografisch kaum angemessen gewürdigt werden. Siehe hierzu die Beiträge in F. Naumann (Hg.), Sächsisch-böhmische Beziehungen im 16. Jahrhundert. 6. Agricola-Gespräch, Chemnitz 2001, hier vor allem die Aufsätze von Jan Martínek, Margarethe Hubrath und Günther Wartenberg; vgl. ferner noch immer S. Sieber, Geistige Beziehungen zwischen Böhmen und Sachsen zur Zeit der Reformation, T. 1: Pfarrer und Lehrer im 16. Jahrhundert, in: Bohemia 6 (1965), H. 1, S. 146–172. Das Verhältnis der böhmischen zur lutherischen Reformation hat in der Forschung seit Jahrzehnten Aufmerksamkeit erfahren; der Einfluss Luthers und dessen Positionen sowohl gegenüber den Neo-Utraquisten als auch gegenüber den Böhmischen Brüdern ist wiederholt kontrovers diskutiert worden. Vgl. unter den älteren Darstellungen insbesondere F. G. Heymann, The Impact of Martin Luther upon Bohemia, in: CEH 1 (1968), H. 2, S. 107–130; zu den Wirkungen des Bauernkriegs auf Böhmen M. Hroch, Die Auswirkungen des deutschen Bauernkriegs in Böhmen, in: G. Brendler / A. Laube (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg 1524/25. Geschichte, Traditionen, Lehren (SZIG 57), Berlin (Ost) 1977, S. 107–111; unter den neueren Arbeiten siehe etwa W. Eberhard, Bohemia, Moravia and Austria, in: A. Pettegree (Hg.), The Early Reformation in Europe, Cambridge/New York 1992, S. 23–48, hier S. 23–40; P. Hlaváček, Catholics, Utraquists and Lutherans in Northwestern Bohemia, or Public Sphere as a Medium for Declaring Confessional Identity, in: M. Bartlová / M. Šronĕk (Hgg.), Public Communication in European Reformation. Artistic and other Media in Central Europe 1380–1630, Prague 2007, S. 279–297; Z. V. David, Utraquism’s Curious Welcome to Luther and the Candlemas Day Articles of 1524, in: SEER 79 (2001), H. 1, S. 51–89. Auch die Rezeption hussitischer Texte und Motive im Dienste der reformatorischen Polemik der 1520er und 1530er Jahre ist wiederholt diskutiert worden. Vgl. H. Roloff, Die Funktion von Hus-Texten in der Reformations-Polemik, in: C. Caemmerer / W. Delabar / J. Jungmayr / W. Neubar (Hgg.), Hans-Gert Roloff. Kleine Schriften zur Literatur des 16. Jahrhunderts, FS zum 70. Geburtstag (Chloe 35), Amsterdam/New York 2003, S. 227–264; P. Haberkern, ‚After Me There Will Come Braver Men‘. Jan Hus and Reformation Polemics in the 1530s, in: GH 27 (2009), H. 2, S. 177–195; T. Kaufmann, Häresiologie. Jan Hus und die reformatorische Bewegung, in: Ders., Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), Tübingen 22018, S. 30–67; stellvertretend für die hymnologische Forschung I. Scheitler, Der Beitrag der böhmischen Länder zur Entwicklung des Gesangbuchs und des deutschen geistlichen Liedgesangs (1500–1620), in: JLH 38 (1999), S. 157–190; zu den antithetischen Vorlagen der hussitischen ‚Bildpropaganda‘ für die lutherische Bildpublizistik Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 41 ner berührten die antimonastischen Kampagnen der Frühreformation in gleicher Weise die eng vernetzte Ordens- und Frömmigkeitslandschaft auf beiden Seiten des Erzgebirgskamms.12 Und schließlich setzte sich das reformatorische Anliegen rasch auch unter der bis dahin überwiegend katholischen deutschsprachigen Bevölkerung Böhmens durch. Herausragendes Beispiel ist sicherlich das 1520 zur freien Bergstadt erhobene Joachimsthal, wohin insbesondere Andreas Bodenstein von Karlstadt zwischen 1520 und 1523 äußerst enge Kontakte unterhielt.13 Die Herren Joachimsthals, die Grafen von Schlik, förderten die Reformation eifrig und sorgten so für eine Vielzahl reformatorischer Impulse in der Region, die von katholischer Seite aus argwöhnisch als ‚pikardische‘ bzw. hussitische Umtriebe wahrgenommen wurden. Der herausragend hohe Grad von Vernetzung und Transfer im Erzgebirge, das im 16. Jahrhundert nicht nur für Böhmen, sondern auch für das ernestinische Kursachsen und das albertinische Herzogtum Sachsen eine Schlüsselregion darstellte, ist damit angedeutet. Im Schnittpunkt einiger der angedeuteten Transferprozesse und konfessionspolitischen Konfliktlinien lag die Bergstadt Buchholz. Anhand der dortigen Vorkommnisse des Jahres 1524 lassen sich über die räumliche Verortung hinaus auch die Veränderungen der historiografischen Großwetterlagen in den letzten zweihundert Jahren grob kartieren. zur Gegenüberstellung von Christus und Papst (als Antichrist) siehe H. Bredekamp, Kunst als Medium sozialer Konflikte. Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution, Frankfurt a. M. 1975, insbesondere S. 309–327. 12 In jüngster Zeit ist hierzu insbesondere das Schicksal der Franziskanerkonvente und -provinzen in den Blick der Forschung geraten, knapp P. Hlaváček, Das Annaberger Land als Schnittpunkt reformatorischer Bestrebungen. Zu konfessionellen Beziehungen im böhmisch-sächsischen Erzgebirge im Reformationszeitalter, in: B. Stephan / M. Lange (Hgg.), Wortwechsel (wie Anm. 7), S. 62–73, dort mit weiterführenden Hinweisen auf seine sonstigen Arbeiten zum Thema; überdies J. Schlageter, Die sächsischen Franziskaner und ihre theologische Auseinandersetzung mit der frühen deutschen Reformation (FrFor 52), Münster 2012; vgl. künftig auch die reichhaltigen Beiträge in H. Heimann (Hg.), Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz, Bd. 2: Von der Reformation bis zum Kulturkampf, Paderborn 2020 (im Druck); sowie die Forschungen zur vorreformatorischen Ordensgeschichte der sächsischen Franziskaner in V. Honemann (Hg.) / G. Roth (Red.), Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, Paderborn 2015; für den Wandel von Frömmigkeitspraktiken vgl. exemplarisch die Beiträge in J. Hrdina / H. Kühne / T. T. Müller (Hgg.), Wallfahrt und Reformation / Pouť a reformace. Zur Veränderung religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen der Frühen Neuzeit (Europäische Wallfahrtsstudien 3), Frankfurt a. M. 2007. 13 Hierzu schon R. Wolkan, Die Anfänge der Reformation in Joachimsthal, Prag 1894, Sonderdruck aus dem MVGDB 32 (1894). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 42 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff Deutungs(ge)schichten Lange stand die Geschichtsschreibung zur Reformation im Allgemeinen und zu den Buchholzer Ereignissen im Besonderen im Schlagschatten konfessioneller Deutungen.14 Den frühneuzeitlichen Buchholzer Chronisten Adam Daniel Richter und Friedrich Wilhelm Köhler taugte die Spottprozession im 18. Jahrhundert noch als Beleg für die unerschrockene und bereits gut protestantische Haltung der Buchholzer Bevölkerung während der Zeit der Frühreformation.15 Ernst Louis Bartsch sah die Sache gut ein Jahrhundert später in seinen bis heute grundlegenden Arbeiten zur Geschichte von Buchholz im 16. Jahrhundert differenzierter. Mehr als eine populäre Adaption reformatorischer Ideen unter Teilen der Bevölkerung mochte er in dem spöttischen Treiben nicht erkennen.16 Überhaupt schien der älteren, stark auf theologische Streitfragen fixierten Forschung eine übermütige Spottprozession eher suspekt. Als „eine Komödie gemeinster Art“ kennzeichnete Johannes Kirsch die Aktion in seiner 1911 erschienenen Dissertation zur Heiligenerhebung Bennos.17 Und Gustav Sommerfeldt konstatierte, es habe sich um „ein Spektakelstück recht rüder Art“ gehandelt.18 Dagegen notierte die Weimarer Ausgabe der Lutherwerke zu dem gedruckten Bericht über die Spottprozession in eher nüchternem Ton und die Überlieferungsproblematik präzise erfassend, es handle sich um eine „drastische Erzählung“.19 Alfred Götze erkannte 1906 in den Buchholzer Ereignissen einen Anschluss an vorreformatorische Formen der innerkirchlichen Verballhornung kirchlicher Rituale und 14 Es versteht sich, dass mit den folgenden skizzenhaften Bemerkungen lediglich einige wenige Akzente pointiert hervorgehoben werden können; ein ausgewogener Forschungsbericht liegt außerhalb der Reichweite dieses Aufsatzes. 15 A. D. Richter, Reformationem Religionis Buchholzii Factam Breviter Exponit […], Annaberg: Valentin Frisius 1756, unpag.; F. W. Köhler, Kurzgefaßte Reformations- und Kirchen-Geschichte des chursächsischen Bergstädtgens St. Catharinenberg im Buchholz im meißnischen Obererzgebürge, Chemnitz: Johann David Stößel (Erben)/Putscher 1781, S. 13 f. 16 E. L. Bartsch, Kirchliche und schulische Verhältnisse, T. 1 (wie Anm. 4), S. 62, 72; ebd., T. 2 (wie Anm. 4), S. 85–87; ebd., S. 207–215 mit Editionen einzelner Flugschriften. 17 J. Kirsch, Beiträge zur Geschichte des hl. Benno Bischofs von Meißen (1066–1106), München 1911, S. 50. 18 G. Sommerfeldt, Mykonius’ Bericht über eine sonderbare Bennofeier zu Buchholz, 1524, in: Unterhaltungs=Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung 69, H. 4, 22. Januar 1922, S. 3 f., hier S. 4. 19 M. Luther, Wider den neuen Abgott und alten Teufel, der zu Meißen soll erhoben werden. 1524, in: WA, Bd. 15, Weimar 1899, S. 170–198, hier S. 173. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 43 deutete die Ereignisse als „Travestie“, eine Interpretation, die jüngst von Marcel Nieden aufgegriffen worden ist.20 Erst die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzende sozialgeschichtliche Erweiterung der Reformations- und Bauernkriegsforschung setzte dann andere Akzente, aber auch sie konnte nur begrenzt etwas mit einem Ereignis wie dem in Buchholz anfangen. Bekanntlich sah die marxistische Historiografie in der reformatorischen Botschaft so etwas wie den ideologischen Überbau zu einer frühbürgerlichen Revolution, der freilich kein Erfolg beschieden war. Vor diesem Hintergrund ordneten Adolf Laube, Max Steinmetz und Günter Vogler Mitte der 1970er Jahre die Persiflage einer Prozession, bei der indirekt auch der Landesherr Herzog Georg verspottet und „ein imitierter Papst in die Gosse gestürzt“ worden sei, als Ausdruck der sich radikalisierenden sozialen Bewegung in den Bergstädten ein.21 Auf dieser Deutung bauten noch in den 1990er Jahren die Darstellungen lokaler Autoren auf.22 In den 1970er Jahren bahnte sich eine neue Sichtweise der Reformation an, als deren Pionier der australische Historiker Robert W. Scribner gelten kann. In einem zuerst 1978 erschienenen Aufsatz stellte er die Spottprozession im Erzgebirge in eine Reihe mit vielen anderen, ähnlichen Phänomenen, die er als karnevaleske Praktiken ritueller Entweihung verstand, welche überdies die Verbreitung antiklerikaler Stimmung anzeigten.23 Insgesamt ist die neu20 Von der rechten Erhebung Bennonis ein Sendbrief (1524), ed. A. Götze, Halle/Saale 1906, S. 32 (erneut in: Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation, ed. O. Clemen, 4 Bde., Leipzig 1907–1911, Bd. 1, Leipzig 1907, S. 185–212); M. Nieden, Die Wittenberger Reformation als Medienereignis, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2012-04-23, http://www.ieg-ego.eu/ niedenm-2012-de (letzter Zugriff am 1.3.2020), hier Abschnitt 14 f. und Anm. 30 unter Verweis auf die Edition von Alfred Götze. 21 Vgl. A. Laube / M. Steinmetz / G. Vogler, Illustrierte Geschichte der deutschen frühbürgerlichen Revolution, Berlin (Ost) 1974, S. 168 f.; A. Laube, Zum Problem des Bündnisses von Bergarbeitern und Bauern im deutschen Bauernkrieg, in: G. Heitz / A. Laube (Hgg.), Der Bauer im Klassenkampf. Studien zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges und der bauerlichen Klassenkampfe im Spatfeudalismus, Berlin (Ost) 1975, S. 83–110, Zitat S. 100. 22 L. Klapper / L. Uhlig, Kirchliche Verhältnisse, Reformation und Bauernkrieg, T. 1 (Beiträge zur Geschichte des Landkreises Annaberg 4), Annaberg-Buchholz 1996, S. 83 f. 23 R. W. Scribner, Reformation, Carnival and the World Turned Upside-Down, in: SH 3 (1978), H. 3, S. 303–329, hier S. 306; übersetzt als Ders., Reformation, Karneval und die „verkehrte Welt“, in: R. Van Dülmen / N. Schindler (Hgg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1987, S. 117–152, hier S. 119 f.; eine spannende Perspektive auf die Verkehrung einer als bereits als verkehrt empfundenen Welt im Spottritual bietet auch H.-D. Heimann, „Verkehrung“ in Volks- und Buchkultur als Argumentationspraxis in der reformatorischen Öffentlichkeit, in: ARG 79 (1988), S. 170–188; Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 44 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff ere Debatte überwiegend der Deutung Scribners gefolgt – stellvertretend für diese Einschätzung steht die für die Ereignisse um die Heiligenerhebung Bennos von Meißen gültige Studie von Christoph Volkmar, auf die noch zurückzukommen sein wird.24 Rückblickend kann Scribners Aufsatz als Pionierwerk jener ‚Historischen Anthropologie‘ eingeordnet werden, die in den achtziger Jahren ihre Hochkonjunktur haben sollte.25 Das war durchaus auch schon ein Stück ‚Kommunikationsgeschichte‘, obwohl es noch nicht so genannt wurde. Nur wenig später sollte sich das ändern: Bernd Moeller behandelte in einem Vortrag von 1992 die „frühe Reformation als Kommunikationsprozeß“ und damit als einen Vorgang, „dessen Verlauf und dessen Dynamik durch Kommunikation, durch den Austausch von Mitteilungen und die Verständigung über diese, hervorgerufen und gesteuert wurde“. Mit diesem Ansatz fügte er sich „in eine zur Zeit aktuelle Forschungsrichtung ein, die bereits beachtliche Resultate gezeitigt hat“.26 Ein Vierteljahrhundert später ist diese Forschungsrichtung nach wie vor aktuell, hat sich aber inzwischen weiter entfaltet und die reformationshistorischen Debatten nachhaltig geprägt. auf das Ineinandergehen von Antiklerikalismus und reformatorischer Gesinnung hatte überdies 1970 bereits Karlheinz Blaschke knapp am Buchholzer Beispiel hingewiesen. Vgl. K. Blaschke, Sachsen im Zeitalter der Reformation (SVRG 185), Gütersloh 1970, S. 116; und erneut in Ders., Erscheinungen des Antiklerikalismus in Sachsen vor und während der Reformation, in: P. A. Dykema / H. A. Oberman (Hgg.), Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe (SMRT 51), Leiden/New York/Köln 1993, S. 229–236, hier S. 232; für die Verwurzelung der Reformation im spätmittelalterlichen Antiklerikalismus vgl. dann grundlegend H.-J. Goertz, Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517–1529, München 1987, insbesondere S. 52–68. 24 C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 172–180. 25 Vgl. seine Aufsätze und die Einordnungen von L. Roper (Hg.), Robert W. Scribner. Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800 (VMPIG 175), Göttingen 2002; U. Rublack, Reformation als Modifikation. Zum Tod des Historikers Robert William Scribner, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 492–495. 26 B. Moeller, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: J. Schilling (Hg.), Bernd Moeller. Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, Göttingen 2001, S. 73–90, hier S. 74. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 45 Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Die Reformation als druckmediales Ereignis ‚Reformation als Kommunikationsprozess‘ – dieses Stichwort steht zunächst und vor allem für die Rolle, die die neuen Massenmedien, insbesondere Flugschriften und illustrierte Flugblätter, für die reformatorische(n) Bewegung(en) und ihre Gegner gespielt haben. Verfügbarmachung und Verbreitung von Ideen, Mobilisierung von Bewegungen und Meinungsbildung bzw. Meinungsstreit scheinen als herausragende Leistungen dieser neuen Massenmedien unbestritten.27 Der noch heute trotz Überlieferungsverlusten geradezu überwältigende Variantenreichtum des Gedruckten sowie die mediale Eruption vielfältigster und einander entgegengesetzter Meinungen hat Peter Matheson dazu veranlasst, die frühe Reformation bis zum Einschnitt des Bauernkriegs als Zeit eines erstaunlich freien, fantasievollen und spielerischen Austauschs von Ideen und Ordnungskonzepten zu beschreiben.28 Ob man Matheson hierin folgt oder nicht, zumindest wird man mit Berndt Hamm von einer „noch nicht domestizierten Öffentlichkeitswirkung der frühreformatorischen Medien“ ausgehen dürfen.29 Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten die Reformation als ein Geschehen gezeichnet, das sich wenige Jahrzehnte nach dem Eintritt in die Gutenberg-Ära abspielte, das erst durch die Erfindung des Buchdrucks ermöglicht wurde und das seinerseits einen nach einer ersten Hochphase im ausgehenden 15. Jahrhundert eher behäbigen Markt der Druckerzeugnisse entscheidend (wieder-)belebte.30 Im europäischen Vergleich hat sich hierbei allerdings auch gezeigt, dass die für die Argumentation der Forschung zentralen Flugschriften als Medien der Massenkommunikation ein weitgehend auf die Territorien des Alten Reiches (und 27 H.-J. Goertz, Deutschland 1500–1648. Eine zertrennte Welt, Paderborn/München/Wien/ Zürich 2004, S. 98–110; vgl. hierzu nur die seit 1972 im ARG / Literaturberichte jeweils unter der Rubrik Buchdruck besprochenen Studien. 28 P. Matheson, The Rhetoric of the Reformation, Edinburgh 1998, S. 1–26; siehe auch Ders., The Imaginative World of the Reformation, Edinburgh 2000; zur Frage des utopischen Charakters einzelner Schriften siehe auch E. Wolgast, Die Neuordnung von Kirche und Welt in deutschen Utopien der Frühreformation (1521–1526/7), in: Ders., Aufsätze zur Reformations- und Reichsgeschichte ( JusEccl 113), Tübingen 2016, S. 465–486 (zuerst in: K.-H. Kästner / K. W. Nörr / K. Schlaich (Hgg.), FS für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 1999, S. 659–679). 29 B. Hamm, Die Reformation als Medienereignis, in: JBTh 11 (1996), S. 137–166, hier S. 153. 30 Vgl. hierzu die differenzierte Diskussion bei T. Kaufmann, „Ohne Buchdruck keine Reformation“?, in: S. Oehmig (Hg.), Buchdruck und Buchkultur im Wittenberg der Reformationszeit (SLSA 21), Leipzig 2015, S. 13–34; zu den Bildungsvoraussetzungen der Reformation auch Ders., Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M./Leipzig 2009, S. 98–125. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 46 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff mit Abstrichen einige ostmitteleuropäische Territorien) begrenztes Phänomen waren.31 Dennoch, in den Wirkmöglichkeiten und Dynamiken des Buchdrucks hat die Forschung schon frühzeitig einen entscheidenden Unterschied zur sog. ‚Ersten Reformation‘ des Jan Hus gesehen.32 Ein eindeutiger Schwerpunkt der jüngeren Forschung lag im Gefolge von Robert Scribners „For the Sake of the Simple Folk“ daher auch auf den druckmedialen Propagandainszenierungen vornehmlich der reformatorischen Bewegungen; erst in jüngerer Zeit sind auch die katholischen Druckerzeugnisse systematischer untersucht worden.33 Die enge Verwobenheit von reformatorischer Dynamik und massenmedialer Entfaltung hat Johannes Burkhardt 2002 derart prägnant formuliert, dass sein Werk zu einer zentralen Referenz für diesen Zusammenhang geworden ist. In den 31 Vgl. schon die Beiträge in A. Pettegree, Early Reformation (wie Anm. 11); ein umfängliches Hilfsmittel, mit dem das Druckgeschehen im frühneuzeitlichen Europa mittlerweile für die Forschung offen nachvollziehbar ist, ist die seit über 20 Jahren gründlich recherchierte Datenbank des USTC unter der Leitung von Andrew Pettegree, erreichbar unter https:// www.ustc.ac.uk/ (letzter Zugriff am 1.3.2020). 32 So schon die Zusammenfassung der älteren Forschungsdiskussion bei L. W. Holborn, Printing and the Growth of a Protestant Movement in Germany from 1517 to 1524, in: CH 11 (1942), H. 2, S. 123–137, hier S. 123; zur Reformation des Jan Hus, deren Einordnung und zum Forschungsstand siehe die neueren Beiträge von František Šmahel, Jiří Kořalka (†) und Wolf-Friedrich Schäufele in A. Strübind / T. Weger (Hgg.), Jan Hus. 600 Jahre Erste Reformation (SBKGE 60), Berlin/München 2015. 33 R. W. Scribner, For the Sake of Simple Folk: popular propaganda for the German Reformation (CSOLC 2), Cambridge 1981; M. U. Edwards, Luther’s Last Battles. Politics and Polemics 1531–46, Ithaca 1983; Ders., Printing, Propaganda and Martin Luther, Berkeley/ Los Angeles/London 1994; M. U. Chrisman, Conflicting Visions of Reform. German Lay Propaganda Pamphlets, 1519–1530 (StGH), Boston 1996; unter den frühen deutschsprachigen Arbeiten wäre etwa zu nennen W. Wettges, Reformation und Propaganda. Studien zur Kommunikation des Aufruhrs in süddeutschen Reichsstädten (GG BHS 17), Stuttgart 1978; vgl. für die katholische Presse die grundlegenden Untersuchungen von C. Volkmar, Reform (wie Anm. 5), vor allem S. 554–593, der insbesondere die zentrale Stellung des sächsischen Herzogs bei der Finanzierung und infrastrukturellen Unterstützung von Autoren wie Cochläus herausarbeitet. Dort auch die weiterführende Literatur, insbesondere zu einzelnen Akteuren wie Emser, Cochläus und Alveldt; darüber hinaus auch schon R. A. Crofts, Printing, Reform, and the Catholic Reformation in Germany (1521–1545), in: SCJ 16, H. 3 (1985), S. 369–381; M. U. Edwards, Catholic Controversial Literature, 1518–1555. Some Statistics, in: ARG 79 (1988), S. 189–205; für den polnischen Fall siehe die instruktiven Ausführungen bei N. Nowakowska, High Clergy and Printers. Anti-Reformation Polemic in the Kingdom of Poland, 1520–36, in: HR 87 (2014), S. 43–64; Dies., Lamenting the Church? Bishop Andrzej Krzycki and Early Reformation Polemic, in: A. Suerbaum / G. Southcombe / B. Thompson (Hgg.), Polemic. Language as Violence in Medieval and Early Modern discourse, Farnham/Burlington 2015, S. 223–236. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 47 lutherischen Druckmedien, angefangen 1517 mit den Ablassthesen, sieht er den eigentlichen „innovatorischen Impuls der Zeit“: „Was Luther sagte, war wichtig, aber wie er es sagte und unter die Leute brachte, war das eigentlich Moderne an der Reformation“.34 Die Botschaft des Wittenbergers wurde zum Schwungrad einer Gutenbergschen ‚Informationstechnologie‘, die auf der Suche war nach einem Medienereignis. Sie habe es dann mit der Reformation und mit der Person Martin Luther gefunden, einem Mann, der zum überragenden „Medienstar“ des neuen Zeitalters wurde, wie es bei Burkhardt – einen von Thomas Kaufmann geprägten Begriff aufgreifend – heißt.35 Neueste Studien haben hierzu auch präzise herausgearbeitet, wie Luther im engen Zusammenspiel etwa mit dem Unternehmer Lucas Cranach und verschiedenen Druckern selbst eine neue und führende ‚Marke‘ sowie ein ‚Image‘ innerhalb des neuen Medienuniversums kre­ ierte; hierdurch sind wir mittlerweile auch detailliert über den genauen Weg einiger reformatorischer Texte aus Luthers Feder hin zum fertigen Druck unterrichtet.36 Umfangreiche Arbeiten und Texteditionen liegen zu einzelnen Protagonisten der frühreformatorischen Debatten vor. Deren Fülle ist hier in der gebotenen Kürze bibliografisch nicht darstellbar, sollte künftig jedoch noch stärker systematisch unter einer kommunikationsgeschichtlichen Perspektive fruchtbar gemacht werden.37 Ähnliches gilt für Studien zu den teils imaginierten Akteuren 34 J. Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002, S. 15. 35 Ebd., S. 86: die sehr heterogene und teils widersprüchliche Verwendung des Begriffs „Medienstar“ ist aufgearbeitet worden von R. Kahlmann, Martin Luther – ein Medienstar? (TU Dresden, Masterarbeit im Fach Geschichte, Lehramtsbezogener Studiengang Allgemeinbildende Schulen 2016, 61 S., Typoskript). 36 A. Pettegree, Brand Luther. 1517, Printing, and the Making of the Reformation, New York 2015; S. Ozment, The Serpent and the Lamb. Cranach, Luther, and the Making of the Reformation, New Haven/London 2011; zur frühen Textproduktion Luthers siehe auch T. Kaufmann, Von der Handschrift zum Druck. Einige Beobachtungen zum frühen Luther, in: Ders. / E. Mittler (Hgg.), Reformation und Buch. Akteure und Strategien frühreformatorischer Druckerzeugnisse / The Reformation and the Book. Protagonists and Strategies of early Reformation Printing (BuW 49), Wiesbaden 2016, S. 9–36; sowie den Beitrag von demselben in diesem Band; für die visuelle Erschaffung eines spezifischen Luther-Images nach wie vor äußerst instruktiv M. Warnke, Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image (Fischer Bücherei. Kunststück 3904), Frankfurt a. M. 1984. 37 Entsprechende Ansätze hierzu finden sich, um an dieser Stelle lediglich ein Beispiel anzuführen, etwa in den Studien von Christian Peters und Geoffrey Dipple zum Werk von Johannes Eberlin von Günzburg. Vgl. G. Dipple, Antifraternalism and Anticlericalism in the German Reformation. Johann Eberlin von Günzburg and the Campaign Against the Friars (SASRH), Aldershot/Brookfield 1996; C. Peters, Johann Eberlin von Günzburg ca. 1465–1533. Franziskanischer Reformer, Humanist und konservativer Reformator (QFRG 60), Gütersloh 1994. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 48 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff und Adressaten wie den Bauern oder dem ‚gemeinen Mann‘38 sowie schließlich für thematische Knotenpunkte der frühreformatorischen Debatten beginnend mit dem Ablassstreit bis hin zu den für unseren Zusammenhang relevanten Debatten über das Heilige und die Heiligenverehrung.39 Für eine sozialhistorische Grundierung einer Geschichte der Reformation als Kommunikationsprozess sind überdies jene Arbeiten zu einzelnen Akteursgruppen (Studenten, Buchhändler, Kaufleute, Drucker, Täufer) und deren Netzwerken bedeutsam, die konkrete 38 N. Jørgensen, Bauer, Narr und Pfaffe. Prototypische Figuren und ihre Funktion in der Reformationsliteratur. Aus dem Dänischen übersetzt von Monika Wesemann (ATD 23), Leiden/ New York/Københaven/Köln 1988; W. Lenk, Das Bild des Bauern in Literatur und Publizistik im Zeichen der frühbürgerlichen Revolution, in: G. Heitz / A. Laube (Hgg.), Der Bauer im Klassenkampf. Studien zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges und der bäuerlichen Klassenkämpfe im Spätfeudalismus, Berlin (Ost) 1975, S. 279–302; R. H. Lutz, Wer war der gemeine Mann? Der dritte Stand in der Krise des Spätmittelalters, München/Wien 1979; H. Köhler, ‚Der Bauer wird witzig.‘ Der Bauer in den Flugschriften der Reformationszeit, in: P. Blickle (Hg.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation (Bauer und Reformation 1), Zürich 1987, S. 187–218; V. Schmidt Blumer, Ikonographie und Sprachbild. Zur reformatorischen Flugschrift ‚Der gestryfft Schwitzer Baur‘ (FN 84), Tübingen 2004; in kunsthistorischer Perspektive auch instruktiv K. Moxey, Peasants, Warriors, and Wives. Popular Imagery in the Reformation, Chicago/London 1989. Es ist hier nicht auf die Diskussion über das zeitgenössische Verständnis des Begriffs vom gemeinen Mann einzugehen, doch verdiente dieser unter dem Gesichtspunkt einer Diskussion über relevante Öffentlichkeiten sicherlich noch einmal eine eingehende Diskussion. An dieser Stelle sei lediglich verwiesen auf den in geschlechterhistorischer Perspektive zentralen Beitrag von L. Roper, ‚The Common Man‘, ‚The Common Good‘, ‚Common Women‘. Gender and Meaning in the German Reformation Commune, in: SH 12 (1987), H. 1, S. 1–21; vgl. aus der übrigen Literatur mit einer für den hier diskutierten Zusammenhang wichtigen Perspektive W. O. Packull, The Image of the „Common Man“ in the Early Pamphlets of the Reformation (1520–1525), in: HRRH 12 (1985), H. 2, S. 253–277; ferner auch R. H. Lutz, Gemeiner Mann (wie oben in dieser Anm.), mit einer systematischen Analyse insbesondere der rechtlichen Kontexte des spätmittelalterlichen Begriffs, der von der später dominanten Verwendungsweise als imaginierter Repräsentant einer großen Menge respektive Öffentlichkeit zu unterscheiden ist. Zum Problem der tendenziell unschärfer werdenden Begrifflichkeit mit Blick auf die Untersuchung der Produktions- und Rezeptionsbedingungen der ‚neuen Medien‘ kurz D. Bagchi, Poets, Peasants, and Pamphlets. Who Wrote and Who Read Reformation Flugschriften?, in: K. Cooper / J. Gregory (Hgg.), Elite and Popular Religion (SCH 42), Woodbridge/Rochester 2006, S. 189–196. 39 B. Hamm, Medienereignis (wie Anm. 29), S. 140, weist zu Recht darauf hin, dass Luthers im März 1518 publizierter „Sermon von Ablass und Gnade“ die erste reformatorische Flugschrift überhaupt war. Zur Problematik der Heiligenverehrung hat 2017 unter dem Titel „Sakralität und Sakrileg. Die Herabsetzung des Heiligen im interkonfessionellen Streit des 16. Jahrhunderts“ ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Marina Münkler im Rahmen des SFB 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ seine Arbeit aufgenommen. Mit ersten Publikationen ist in Kürze zu rechnen. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 49 Kommunikationsstrukturen und Praktiken der Vernetzung und des Transfers untersuchen.40 Hinsichtlich der verschiedenen Gattungen der reformatorischen Medien haben – angefangen vom Tübinger SFB 8 „Spätmittelalter und Reformation“ – disziplinär nicht zuletzt auch viele germanistische Arbeiten zur Forschung beigetragen.41 Eine zentrale Referenz stellen hier nach wie vor Hans-Joachim Köhlers Pionierstudien zum Meinungsprofil der reformatorischen Publizistik dar.42 Innerhalb der Gattungen nehmen insbesondere die Reformationsdialoge (s. u.) einen prominenten Platz ein; gleiches gilt für die illustrierten Einblattdrucke mit ihren komplexen Bild-Text-Relationen.43 Erst in jüngerer Vergangenheit hat 40 J. D. Fudge, Commerce and Print in the Early Reformation (The Northern World 28), Leiden/Boston 2007; H. Kim / S. Pfaff, Structure and Dynamics of Religious Insurgency. Students and the Spread of the Reformation, in: ASR 77 (2012), H. 2, S. 188–215; zur Rolle der Drucker bereits R. G. Cole, Reformation Printers. Unsung Heroes, in: SCJ 15 (1984), H. 3, S. 327–339; zu den unterschiedlichen europäischen ‚Kulturen des Druckens‘ A. Pettegree / M. Hall, The Reformation and the Book. A Reconsideration, in: HJ 47 (2004), H. 4, S. 785–808; zur Publizistik der Täufer siehe K. Hill, Anabaptism and the World of Printing in Sixteenth-Century Germany, in: P&P 226 (2015), H. 1, S. 79–114. 41 Zu denken wäre an Autorinnen und Autoren wie Rudolf Bentzinger, Gisela Brandt, Mirra M. Guchman, Gerhard Kettmann, Wolfgang Pfeifer, Joachim Schildt, Britt Marie Schuster, Christina Stockmann-Hovekamp, Hannelore Winkler und viele andere mehr. 42 H.-J. Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: V. Press / D. Stievermann (Hgg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit (SMFNZ 16), Stuttgart 1986, S. 244–281; noch immer wegweisend in vielerlei Hinsicht die Beiträge in Ders. (Hg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposium 1980 (SMFNZ 13), Stuttgart 1981. 43 Die aktuelle Diskussion ist abgebildet in A. Messerli / M. Schilling (Hgg.), Die Intermedialität des Flugblatts in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2015; vgl. auch schon F. Beyer, Eigenart und Wirkung des reformatorisch-polemischen Flugblatts im Zusammenhang der Publizistik der Reformationszeit (Mikrokosmos 39), Frankfurt a. M. 1994; neuerdings C. Gruber, Radikal-reformatorische Themen im Bild. Druckgrafiken der Reformationszeit (1520–1560) (FKDG 115), Göttingen 2018; klassisch H. Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter (AKG 57), Berlin/New York 1992; grundlegend zudem C.-P. Warnke, Bildpropaganda in der Reformationszeit, in: B. Stollberg-Rilinger / T. Weissbrich (Hgg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte (SKGWS 28), Münster 2010, S. 185–198. Illustrierte Flugblätter, insbesondere Bildsatiren und bildliche Invektiven waren wiederholt auch Thema von Ausstellungen (bspw. 1980/81 im Long Room des Trinity College, 1983 auf der Veste Coburg, 2016 in Gotha). Vgl. hierzu etwa die neueren Kataloge A. Ogdowski / S. Theilig (Hgg.) / A. Bödecker / B.-J. Kruse (Verf.), Esel, Teufel, Schwein. Böse Seiten der Reformation. Sonderausstellung im Brandenburg-Preußen Museum mit Einblattdrucken aus der Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 50 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff sich die Forschung verstärkt auch den Inhalten und Ansprüchen von pseudonym oder anonym publizierten Flugschriften gewidmet, wie sie die Berichte über die Buchholzer Spottprozession darstellen.44 Die Buchholzer Spottprozession als Medienprodukt Die anonymen Berichte über die Buchholzer Spottprozession kursierten in drei verschiedenen Flugschriften und einem Nachrichtenlied. Diese waren ein typisches Medienprodukt der Frühreformation. Überhaupt ist die Prozession zunächst ausschließlich als ein reines Medienereignis greifbar, eine keineswegs triviale Feststellung, insofern sie bisher fast ausschließlich als faktisches Geschehen, als Interaktions- und Agitationszusammenhang wahrgenommen wurde. Das ist nicht falsch und wird im Folgenden nähere Betrachtung erforderlich machen. Zunächst aber gilt es die bislang weitgehend übersehenen Tatsachen zu würdigen, dass die Prozession zum einen weder in offiziellen Berichten lokaler Amtsträger noch in der dichten Korrespondenz zwischen Herzog Georg und seinen ernestinischen Vettern erwähnt wird. Zum anderen gab die druckmediale Inszenierung den Buchholzer Vorgängen den entscheidenden ‚Spin‘. Bekanntlich bildete die Berichterstattung über Buchholz den Schlussakt einer umfassenderen Kontroverse im Anschluss an die Kanonisierung Bennos von Kulturbesitz vom 25. März bis 24. September 2017, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2017; J. Lenssen (Hg.), Lutherbock & Papstesel. Bildsatiren der Reformationszeit. Katalog zur Ausstellung „Lutherbock & Papstesel“. Bildsatiren der Reformationszeit im Museum Johanniskapelle Gerolzhofen vom 22. April bis 5. Juni 2017, Würzburg 2017. 44 Umfassend aufgearbeitet von T. Kaufmann, Anonyme Flugschriften der frühen Reformation, in: B. Moeller (Hg.) / S. E. Buckwalter (Mitarb.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch (SVRG 199), Gütersloh 1998, S. 191–267; vgl. zur häufig pseudonymen ‚Laienpublizistik‘ M. Arnold, Handwerker als theologische Schriftsteller. Studien zu Flugschriften der frühen Reformation (1523–1525) (GTA 42), Göttingen 1990; P. A. Russell, Lay Theology in the Reformation. Popular Pamphleteers in Southwest Germany 1521–1525, Cambridge/New York 1986; M. U. Chrisman, Conflicting Visions (wie Anm. 33); hinsichtlich der Dialogliteratur auch A. Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachbereich veröffentlichten Dialogflugschriften, in: ARG 88 (1997), S. 77–117; unter anderem die Studien von Paul Albert Russell und Miriam Usher Chrisman kritisch reflektierend und ergänzend jetzt T. Kaufmann, Das Priestertum der Glaubenden. Vorläufige Beobachtungen zur Rolle der Laien in der frühreformatorischen Publizistik anhand einiger Wittenberger und Baseler Beispiele, in: H. Kühne / H.-J. Goertz / T. T. Müller / G. Vogler (Hgg.), Thomas Müntzer – Zeitgenossen – Nachwelt. Siegfried Bräuer zum 80. Geburtstag (VTMG 14), Mühlhausen 2010, S. 73–120. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 51 Meißen im Mai 1523.45 An deren Beginn hatte eine breite Werbekampagne für den neuen Heiligenkult durch den Meißener Bischof und vor allem durch den sächsischen Herzog Georg gestanden. Mit Drucken der Kanonisationsbulle und offenen Briefen an verschiedene Herrschaftsträger im Reich war die päpstliche Approbation für den Bennokult bekannt gemacht sowie eine besondere Erhebungsfeier für den 16. Juni 1524, den Tag des Heiligen, in Meißen angekündigt worden. Offenkundig in Sorge um die Reaktion der Reformationsanhänger in Kursachsen verband der Herzog die Aufforderung zur Bekanntmachung von Kanonisation und Fest an den sächsischen Kurfürsten mit der Bitte, das solchem anslag nicht schmehe oder lesterung zugefugt werde, wie ytzt layder gewonlich geschiet, auf das gott der allemechtig ins mysbietung seiner hayligen nit zu ungnad gerayzt werde.46 Martin Luther erfuhr durch Georg Spalatin vom geplanten Festakt und kündigte in einem Brief vom 4. April 1524 sogleich eine Reaktion an. Auch wenn der Aushang Tag und Nacht mit bewaffneter Hand bewacht werden würde, so fügte er spöttisch an, würde er nicht vor Schmähungen bewahrt werden können.47 Im unmittelbaren Vorfeld der Bennofeier platzierte der Reformator dann seine Schmähschrift „Wider den neuen Abgott und alten Teufel der in Meissen soll erhoben werden“, die vielfach nachgedruckt wurde.48 Ihr Inhalt kann hier ebenso wenig berücksichtigt werden wie die polemischen Gegenschriften aus dem altgläubigen Lager. Die Schilderung der Buchholzer Ereignisse beschloss diesen Reigen von Flugschriften; auch die Spottprozession im Erzgebirge wurde so zu einem überregionalen Medienereignis. Das bezeugen schon die Druckorte. 45 R. C. Finucane, Contested Canonizations. The Last Medieval Saints, 1482–1523, Washington 2011, S. 207–240; C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3); zur publizistischen Begleitung siehe auch Ders., Druckkunst im Dienste der Kultpropaganda. Der Buchdruck als Instrument landesherrlicher Kirchenpolitik am Beispiel der Kanonisation Bennos von Meißen, in: E. Bünz (Hg.), Bücher, Drucker, Bibliotheken in Mitteldeutschland. Neue Forschungen zur Kommunikations- und Mediengeschichte um 1500 (SSGV 15), Leipzig 2006, S. 439–460; siehe jetzt auch P. Dänhardt, Der wundersame Bischof. Die Verehrung des heiligen Benno in Meißen, in: C. Kunde / A. Thieme (Hgg.), Ein Schatz nicht von Gold. Benno von Meißen – Sachsens erster Heiliger, Albrechtsburg Meißen, 12. Mai bis 5. November 2017, Katalog zur Sonderausstellung, Petersberg 2017, S. 44–51. 46 ABKG, Bd. 1 (wie Anm. 6), S. 620 f., Nr. 621. Herzog Georg wusste, wovon er sprach, als er die ‚gewöhnliche‘ Schmähung von Heiligen usw. ansprach, denn erst im September 1522 hatte er sich bei Kurfürst Friedrich über die Schändung eines Marienbildes eben in Meißen beschwert, das dort in ein Gerinne geworfen worden war. Ebd., S. 361 ff., Nr. 386. 47 WA BR, Bd. 3 (1523–1525), Weimar 1933, S. 265 f., Nr. 727; vgl. auch C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 165. 48 M. Luther, Wider den neuen Abgott (wie Anm. 19), S. 183–198. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 52 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff Die Erstausgabe der Flugschrift über die Buchholzer Ereignisse kam im Zeitraum von Ende Juli bis Anfang Oktober 1524 bei Hans Lufft in Wittenberg heraus. Bereits kurz darauf erschien in Worms bei Peter Schöffer (die ältere Forschung nennt die Offizin von Jakob Schmidt in Speyer) eine zweite, gleichfalls auf 1524 datierte Ausgabe. Diese diente wiederum als Vorlage für einen weiteren – vermutlich ebenfalls noch im gleichen Jahr erschienenen – Druck, der in Straßburg von Matthias Schürers Erben herausgebracht wurde. Einer der beiden Nachdrucke gab vermutlich auch die Vorlage für das in der Fürst-Georg-Bibliothek in Dessau erhaltene und eingangs zitierte Nachrichtenlied.49 Den Kern der Berichte in den Flugschriften zur Buchholzer Spottprozession bildete die lebhafte Schilderung eines Augenzeugen, nämlich des oben bereits erwähnten Friedrich Myconius, der zu jener Zeit als Prediger in Buchholz weilte. Sein Bericht ist in einer handschriftlichen Fassung überliefert, was einen Vergleich zwischen dieser trotz aller Unklarheiten in der Überlieferungsgeschichte anzunehmenden Ursprungsfassung und den Druckversionen möglich macht.50 Myconius überschrieb seinen ursprünglichen Bericht, folgt man der Abschrift, als Abentewer.51 Entweder fehlte dem Original ein konkreter Adressat oder, was wahrscheinlicher ist, Myconius wählte diese Bezeichnung sowie eine anonyme Anrede, weil es sich hier im Sinne Peter Mathesons um einen ‚glorified letter‘ handelte, der wenn nicht für den Druck so doch zumindest für eine gewisse Verbreitung bestimmt war.52 Der Vergleich der unterschiedlichen Fassungen offenbart, wie sehr der Text im Druck verändert wurde. Nicht nur, dass an einigen Stellen neutrale Formulierungen ins Positive gewendet wurden (aus machten eyn[en] process wird machten eyne herrliche lo[e]bliche process); oder dass eine deutlich kritische Wendung wie diejenige, man habe Bischof Benno mit selczame[n] lecherlichen poss[e]n erhoben, 49 Vgl. zur Druckgeschichte die begleitenden Hinweise von H. Claus zur Edition in Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524), edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.), 2 Bde., Berlin (Ost) 1983, Bd. 2, S. 1346; und seine revidierten Auffassungen in Ders., Astrologische Flugschriften von Johannes Virdung und Balthasar Eißlinger d. Ä. als „Leitfossilien“ des Speyerer Buchdrucks der Jahre 1514 bis 1540, in: AGB 54 (2001), S. 111–156, hier S. 121, Anm. 58 und S. 151; die Drucke umfassen die Siglen VD16 V 2623, VD16 V 2624 und VD16 V 2625, wobei letztere den Urdruck bei Hans Lufft bezeichnet. 50 Verglichen werden hier die Manuskriptfassung nach SLUB Dresden, Ms. d 51, fol. 82; und die Edition nach Flugschriften, Bd. 2, edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.) (wie Anm. 49); für den Textvergleich wurde eine neue Transkription der Vorlage erstellt, die leicht von der älteren Edition Seidemanns abweicht. Alle Zitate nach Flugschriften, Bd. 2, edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.) (wie Anm. 49). 51 SLUB Dresden, Ms. d 51, fol. 82r. 52 Vgl. P. Matheson, Rhetoric (wie Anm. 28), S. 60 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 53 ersetzt wurde durch eine Erhebung mit grossem ernst und andacht, das man sich mocht starr gelacht haben. Vor allem wurde der distanzierende Gestus von Myconius am Anfang seines Briefes eliminiert, er wolle von dem Ereignis, das er zudem als ein naturlich bosz [Posse, Anm. A. K. / G. S.] bezeichnet, berichten: Wy wol es myr nicht gefelt. Eine weitere für die Positionierung des Berichts gravierende Veränderung zwischen der handschriftlichen Überlieferung und den Drucken bezog sich auf das Ende der Prozession. Nach der Druckversion waren es einige erschrockene Bürger, die noch schwach ym glauben waren, die den Bergvogt als den Leiter der lokalen Bergwerksverwaltung zum Einschreiten gegen die Darbietung veranlassten. In Wirklichkeit aber war es der Augenzeuge Myconius selbst, den die Sorge umtrieb, man könne ihn als örtlichen Prediger für das Spektakel verantwortlich machen und der deshalb den Bergvogt ansprach. Während Myconius somit eine zumindest ambivalente Haltung zur Spottprozession einnahm, was seine auch später zutage tretende, grundsätzlich reservierte Einstellung gegenüber radikalen Aktionsformen von Laien unterstreicht, wurde seine Darstellung durch Weglassungen, Umdeutungen und dramatisierende Einschübe in den gedruckten Berichten zur Stellungnahme eines Sympathisanten. Die Prozession erschien nunmehr in einem eindeutig positiven Licht, während für die ursprüngliche Fassung nicht auszuschließen ist, dass der Leit- und Merkspruch Noli ludere cum sanctis / Ne p[er]merdant te beati (der in den Drucken gänzlich fehlt) von Myconius selbst und nicht vom Chronisten seines Berichts stammte.53 Diese Tendenz verstärkte sich in der dritten Druckfassung sogar noch weiter. Während in der Wittenberger Ausgabe (der Vorlage im Kern folgend) noch davon die Rede ist, es sei eyn seer grosser hauffe hewer und junges pobels zusammengekommen, wurde der negativ konnotierte Pöbel spätestens in der Straßburger Ausgabe durch junges volks ersetzt. Diese positive Stilisierung hatte offenkundig Erfolg, denn sie prägte die zeitgenössische Öffentlichkeit ebenso wie die nachfolgende Historiografie. Die Flugblätter schufen eine ganz eigene Wirklichkeit, der nota bene auch die geschichtswissenschaftliche Analyse Rechnung tragen muss. Zu dieser Wirklichkeitskonstruktion gehören nicht nur sinnändernde Eingriffe in den Augenzeugenbericht, sondern ebenso seine spezifische Rahmung durch vorangestellte und nachfolgende Zusätze. Vorgeschaltet ist der Brief eines mit den Initialen J. N. versehenen Mannes an seinen Freund N., einen Bürger zu Konstanz. Der Schreiber – es könnte sich um den aus Zwickau stammenden Wittenberger Theologiestudenten Johann Neander handeln, für den Verbindungen zur Offizin Hans Luffts nachweisbar sind – wisse, dass der Empfänger – die Forschung vermutet in ihm den Konstanzer Ratsschreiber Jörg Vögeli, wenngleich 53 SLUB Dresden, Ms. d 51, fol. 82r, unten in abweichender Federführung. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 54 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff dieser die Buchholzer Episode nicht erwähnte – an einer Chronik der gegenwärtigen seltsamen Zeitläufte arbeite.54 Unter den Exzerpten des adressierten Chronisten, so schreibt der Autor, habe er auch solche zur Heiligenerhebung Bennos gesehen. Vermutlich hätte er doch deshalb Interesse, mit dem beiliegenden gleubwirdiglich bericht über die Ereignisse in Buchholz seine Darstellung zu ‚spicken‘. Zweifellos soll diese Rahmung den Eindruck großer Unmittelbarkeit und Authentizität vermitteln und damit die Glaubwürdigkeit erhöhen. Vor allem aber eröffnet sie die Möglichkeit, jenseits der Prozessionsschilderung noch weitere darstellerische Elemente in die Flugschrift aufzunehmen, insbesondere weitere Ausfälle gegen Papstkirche, Bennokult und sogar einzelne Fürsten, die jeweils verdeutlichen, dass diese Flugschrift selbst bereits eine spezifische Form der Anschlusskommunikation darstellt und Bezug auf verschiedene Ereignisse und Zusammenhänge nimmt. Die Reformation als Interaktionszusammenhang So markant die druck- bzw. massenmediale Dimension der Reformation auch war – der Ansatz, die Reformation als einen komplexen ‚Kommunikationsprozess‘ zu untersuchen, weist über diese Ebene weit hinaus. In der Forschung wurden etwa gegen die Bedeutung des gedruckten Wortes wiederholt zwei Argumente ins Feld geführt: erstens, die enorme Bedeutung tradierter mündlicher Formen öffentlicher Meinungsbekundung und zweitens die insgesamt niedrige Alphabetisierungsrate. Daher müssen notwendigerweise auch andere Kommunikationsmedien und -wege beleuchtet werden.55 In einer im Kern auf die Verbreitung einer inhaltlich konturierten reformatorischen Botschaft gerichteten Perspektive 54 Die Autorschaft ist bis heute umstritten. Frühere Mutmaßungen, es könnte sich bei J. N. um den St. Gallener Reformator Joachim von Watt (Vadianus) handeln, der mehrfach unter dem Pseudonym Judas Nazarei publiziert hatte, sind aber wohl nicht haltbar. Siehe hierzu die Hinweise bei C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 173, Anm. 673. 55 Vgl. hierzu den Überblick über die Diskussion bei D. Bagchi, Printing, propaganda and public opinion in the age of Luther, in: The Oxford Research Encyclopedia of Religion (August 2016), doi: 10.1093/acrefore/9780199340378.013.269 (letzter Zugriff am 3.3.2020); M. Bauer, Die „gemain sag“ im späteren Mittelalter. Studien zu einem Faktor mittelalterlicher Öffentlichkeit und seinem historischen Auskunftswert, phil. Diss. FAU Erlangen-Nürnberg 1981, hier durchaus auch mit einem Schwerpunkt der Analysen auf Umbrüchen der Reformationszeit; E. Schubert, „bauerngeschrey“. Zum Problem der öffentlichen Meinung im spätmittelalterlichen Franken, in: JfL 34/35 (1975) (zugleich FS für Gerhard Pfeifer), S. 883–907; R. W. Scribner, Oral Culture and the Diffusion of Reformation Ideas, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London/Ronceverte 1987, S. 49–69. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 55 hat Berndt Hamm jene neue „Fülle an Vermittlungsformen“ (Flugschrift, Flugblatt, Grafik, Predigt, Bibelübersetzung, Kirchenlied, Fastnachtsspiele) und neuartige Multiplizierung einzelner Medien sowie die Potenzierung von Meinungen zusammengefasst und beschrieben, wie sie in der frühen Reformation erstmals gesamtgesellschaftlich wirksam wurden. Hierbei wies Hamm insbesondere dem gesprochenen Wort vor Ort eine zentrale Rolle zu.56 An Hamms Position, von der aus auch Ansätze zur Analyse des Ineinandergreifens und -wirkens verschiedener Medien sichtbar wurden, schloss prominent etwa Birgit Emich an und formulierte ein Programm zur systematischen Analyse der Intermedialität frühneuzeitlicher Öffentlichkeiten über die engere Reformationsgeschichte hinaus.57 Ihre Forderung, Medienkombinationen, Medienwechsel und intermediale Bezüge systematisch zueinander in Beziehung zu setzen, findet sich, auch wenn entsprechende Arbeiten erst am Beginn stehen, bereits in einigen Studien zur reformatorischen Predigt und zu Predigtstörungen sowie in hymnologischen Untersuchungen umgesetzt.58 Bei all dem darf allerdings nicht vergessen werden, dass das intermediale Szenario nicht allein mit Blick auf die Vermittlung ‚einer‘ Botschaft missverstanden werden sollte. Vielmehr erhob sich insbesondere in den frühreformatorischen Medien ein vielstimmiger Chor, für den Robert W. Scribner den Begriff der Partitur geprägt hat – klangliche Reibungen und Dissonanzen eingeschlossen. 56 B. Hamm, Medienereignis (wie Anm. 29), Zitat S. 155. 57 B. Emich, Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche, in: ZHF 35 (2008), H. 1, S. 31–56. 58 Zu Predigstörungen T. Kaufmann, Geschichte (wie Anm. 30), S. 327–330; zur Bedeutung der Predigten (hier anhand von Flugschriften, die als gedruckte Predigtsummarien klassifiziert werden) unabdingbar B. Moeller / K. Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529 (AAWG 3. Folge, Nr. 220), Göttingen 1996; siehe auch K. Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Flugschriften evangelischer Prediger an eine frühere Gemeinde, in: H. Boockmann (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts (AAWG 3. Folge, Nr. 206), Göttingen 1994, S. 186–206; unter den neueren Arbeiten G. Seebass, Wie Worte eine Stadt verändern. Andreas Osiander in Nürnberg und die Wirkung der reformatorischen Predigt, in: ZBKG 72 (2003), S. 41–48; vgl. zur Debatte über die Predigtpraxis den instruktiven Artikel von S. Karant-Nunn, What was preached in the German cities in the early years of the Reformation? Wildwuchs vs. Lutheran unity, in: P. N. Bebb / S. Marshall (Hgg.), The Process of Change in Early Modern Europe. Essays in honor of Miriam Usher Christman, Athens 1988, S. 81–96, mit einer weiteren Auflistung der relevanten Literatur; aus der musikhistorischen Literatur siehe mit umfassenden Verweisen jetzt C. Bertoglio, Reforming Music. Music and the Religious Reformations of the Sixteenth Century, Berlin 2017. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 56 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff Gegenwärtige Forschungsansätze ergänzen daher diese Perspektiven mithilfe eines breiteren Verständnisses von Kommunikation, die sie kurz gefasst definieren als „die Hervorbringung von sozialem (d. h. für die Beteiligten relevantem) Sinn unter Bedingungen der doppelten Kontingenz“.59 Es reicht nicht, dass eine Information bloß vorliegt, sie muss darüber hinaus auch mitgeteilt und als Mitteilung verstanden werden – wobei die Interpretation der Information keineswegs der ursprünglichen Mitteilungsintention entsprechen muss. Denn Kommunikation bedeutet ja nicht nur – wie es ältere Ansätze in Analogie zur Funktion eines Telegraphen nahelegen – das Übermitteln einer für alle Beteiligten klar umrissenen Information von einem Sender an einen Empfänger über mehr oder weniger große Distanzen. Vielmehr konstituiert Kommunikation eine wechselseitige Relation von Personen, einen zirkulären Prozess von Mitteilungen und Interpretationen, bei dem beiderseits ständig Erwartungen abgeglichen und Sinnhorizonte generiert werden.60 Ein solches Verständnis kann für alle Kommunikationssituationen geltend gemacht werden, ob es sich um ein Gespräch zwischen zwei Menschen handelt oder um gedruckte Massenmedien. Zentral geworden ist es aber insbesondere im Kontext der großen Forschungskonjunktur der letzten Jahrzehnte zur symbolischen Kommunikation.61 In deren Mittelpunkt standen typische Formen gemeinschaftlicher Kommunikation, Rituale nämlich, die sich unter Anwesenden, von Angesicht zu Angesicht (‚face-to-face‘), vollziehen. Im Kontext der Reformationsforschung ist diese Analyseperspektive durchaus präsent, aber sie scheint doch noch keineswegs ausgereizt. Es mag genügen, hier auf die Arbeiten von Anselm Schubert und Natalie Krentz zu Wittenberg zu verweisen, in denen unter anderem die Verbrennung der Bannandrohungsbulle des Papstes durch Luther und seine studentischen Anhänger am 10. Dezember 1520 thematisiert wird. Am 59 R. Schlögl, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014, S. 29; vgl. auch E.-M. Schnurr, Religionskonflikt und Öffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Kölner Kriegs (1582–1590) (RhA 154), Köln/ Weimar/Wien 2009, S. 40 ff., hier S. 41 zum systemtheoretischen Verständnis von Kommunikation als ‚gemeinsame Aktualisierung von Sinn‘. 60 Vgl. auch B. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: ZHF 31 (2004), H. 4, S. 489–527, hier S. 493 f. Dieses Argument weist auch über ältere reformationshistorische Arbeiten hinaus, die bereits in reflektierter Weise eine kommunikationshistorische Perspektive eingenommen hatten, wie bspw. J. Schmidt, Lestern, lesen und lesen hören. Kommunikationsstudien zur deutschen Prosasatire der Reformationszeit (EHS.DLG 179), Bern/ Frankfurt a. M./Las Vegas 1977. 61 Pars pro toto B. Stollberg-Rilinger / C. Brauner / T. Neu (Hgg.), Alles nur symbolisch? Erträge und Grenzen der Erforschung symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne 1), Köln/Weimar/Wien 2013. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 57 Nachmittag dieses Tages veranstalteten dann die Wittenberger Studenten einen aufwändigen parodistischen Umzug durch die Stadt, der in einer nochmaligen Bücherverbrennung gipfelte.62 In mancherlei Hinsicht können diese Ereignisse als direkter Vorläufer der erzgebirgischen Spottprozession gelten, die sich gut drei Jahre später zutrug. Betrachten wir den mutmaßlichen Ablauf der Buchholzer Vorgänge, wie ihn die Flugschriften berichten, etwas eingehender. Deren stilisierte Fassung, so ist unmittelbar zu erkennen, arbeitet viele Elemente deutlicher heraus als der ursprüngliche Bericht. Auch wenn es sich hierbei um eine bereits interpretierende Kommunikation über einen Interaktionszusammenhang handelt, so halten wir uns zunächst an diese Fassung (hier nach dem Druck bei Hans Lufft in Wittenberg), um den Beschreibungen der Vorgänge etwas Kontur zu verleihen. Die Schilderung beginnt mit der Kleidung und der Ausstattung der jugendlichen Akteure der Prozession. Sie hatten sich Badehüte und Hanfsiebe als Barette aufgesetzt, das man sehe/ wie es geystliche gelerten weren. Der das liturgische Geschehen bestimmende Bischof wurde – mangels Perlen und Edelsteinen, wie es ironisch heißt – in einen Strohmantel gehüllt, hielt einen Krummstab in der Hand und trug als Mitra auf dem Kopf eine Fischreuse. Dem Prozessionszug voran gingen mit Fiedel- und Lautenspielern Musiker mit sehr profanen Instrumenten. Als Fahnen wurden alte faule Fußtücher umhergetragen, das Weihwasser wurde in einem Fischkessel aufbewahrt und Mistgabeln fungierten als Kerzenersatz. Ein Brettspiel ersetzte das Gesangbuch.63 Die Heiltümer selbst wurden in alten Getreidebehältern transportiert; über ihnen wölbte sich ein schöner Himmel von eynem beschissen grastuch. So ausgestattet, zog der Prozessionszug durch die Stadt zu einem alten Bergwerksschacht, wo die Beteiligten die Gebeine Bischof Bennos erhoben, und zwar mit grossem ernst und andacht, das man sich mocht starr gelacht haben. Grund der Heiterkeit mochte nicht zuletzt die Zusammensetzung der Gebeine gewesen sein, sie trugen nämlich eynen rosskopff, eynen kynbacken von eyner kue, zwey ross­ beyn. Diese trugen sie auf einer Trage, mit Mist und alten peltzflecken zugedeckt, 62 N. Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533) (SMHR 74), Tübingen 2014, S. 125–139; vor allem aber A. Schubert, Das Lachen der Ketzer. Zur Selbstinszenierung der frühen Reformation, in: ZThK 108 (2011), H. 4, S. 405–430. 63 C. Brauner, Ironische Stiche, sarkastische Schnitte. Überlegungen zu einem Konzept der Bildironie am Beispiel der reformationszeitlichen Bildsatire, in: FMSt 44 (2016), H. 1, S. 437–460, hier S. 454, weist an genau diesem Beispiel darauf hin, dass derartige Elemente der Verkehrung Entsprechungen in ironischen Bildelementen der Zeit hatten, womit sich das Buchholzer Beispiel in gewisser Weise als im zeitgenössischen Kontext grundsätzlich vorstellbar und ironischen Bildkonventionen folgend erweist. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 58 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff weyl die gulden und seyden stuck nicht da waren, zum Marktplatz. Hier trat der Bischof vor, hielt eine schöne Predigt und verkündete das Heiligtum: O lieben andechtigen, sehet, das ist der heylig arsbacken des lieben korschu[e]lers zu Meyssen S. Benno. Danach verkündete er den Ablass und mahnte die Anwesenden, dem Heiligen zu opfern. Mitsamt einem Stuhl wurde er auf die Misttrage gehoben und unter Gesang zu einem Trog für die Verteilung des Röhrwassers getragen und dort mit allen Utensilien hineingeworfen; schließlich erlitten seine Träger das gleiche Schicksal. Die bislang sorgsamste Interpretation des Buchholzer Ereignisses stammt aus der Feder von Christoph Volkmar. In engem Anschluss an Bob Scribner sieht er in der Spottprozession ein „volkstümliches Ritual des mittelalterlichen Karnevals“.64 Ob es eine feste Formensprache des Karnevalesken gab, die umstandslos aus der Fastnachtszeit in den Hochsommer zu transferieren war, sei hier dahingestellt. Fragwürdig ist aber jedenfalls das Interpretament einer ‚Volkskultur‘, der das rituelle Handeln der Buchholzer angeblich entsprang. Volkmar treibt es auf die Spitze, indem er der rituellen Verspottung den gelehrten Diskurs entgegensetzt, in dessen Kontext es Luther um die argumentative Widerlegung des Bennokultes gegangen sei.65 Eine solche Entgegensetzung von Schmähung und Herabsetzung auf der einen, Gelehrsamkeit und Argument auf der anderen erscheint anachronistisch und artifiziell, wie zu zeigen sein wird. Vorerst mag der Hinweis auf Schuberts Interpretation des Wittenberger Studentenumzugs vom Dezember 1520 reichen, der das Lachen der Teilnehmer mittels einer detaillierten Entschlüsselung der komplexen Symbolsprache als „das satirische Gelächter hochgelehrter Akademiker“ entschlüsselt.66 Aber auch im Lichte dieser Kritik bleibt der zentrale Befund Scribners und Volkmars gültig, dass es sich bei der Buchholzer Spottprozession um ein Ritual handelte, bei dem zentrale Glaubens- und Praxiselemente der Papstkirche – Heiligenerhebung, Reliquienkult und Ablass – angegriffen wurden. Mit dem Mittel der Parodie,67 der nachahmenden Transformation eines festen Kanons von Verhaltensweisen, wurde der Heiligenkult der Lächerlichkeit preisgegeben: Kostbare Gewänder und Stoffe wurden durch alte verdreckte Lumpen und Tierhäute und die Reliquien des Heiligen wurden durch ein Sammelsurium 64 C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 176; vgl. R. W. Scribner, Reformation, Carnival (wie Anm. 23), S. 306. 65 C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 178, 180. 66 A. Schubert, Lachen (wie Anm. 62), S. 414. 67 P. Stocker, Art. Parodie, in: G. Ueding (Hg.) / A. Hettiger u. a. (Red.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6: Must–Pop, Tübingen 2003, Sp. 637–649. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 59 von Tierknochen ersetzt. Mit der übermütigen Wassertaufe aller Beteiligten wird der Profanierung die Krone aufgesetzt. Aus einer Erhebung Bennos wurde eine Erniedrigung alles vorgeblich Heiligen. Ja, mehr noch: Im Ritual der Erniedrigung deutete sich die Geringschätzung der Bedeutung des Rituals selbst an, ein Zug von Antiritualismus, der öffentlichen Aktionsformen der frühen Reformation durchaus eigen war.68 ‚Reformatorische Öffentlichkeit‘ Wie lassen sich die bisher erörterten Dimensionen, die Ebene der Druckmedien und die Ebene der Anwesenheitskommunikation, zusammendenken? Einen wichtigen Ansatzpunkt bildet u. E. der Aufsatz von Rainer Wohlfeil von 1984 mit der schlichten Überschrift „Reformatorische Öffentlichkeit“. Er leistet eine skizzenhafte und thesenstarke Beschreibung dieser Öffentlichkeit als eine „überregionale und zugleich Sozialgruppen und Standesdenken überwindende Kommunikationssituation“, die „zu den wichtigsten Bedingungen der Reformationsphasen von 1517 bis 1525“ zählte.69 Wohlfeils Beitrag birgt bis heute Potenziale für die Forschung, wobei allerdings einige zeitbedingte Verkürzungen kritisch zu diskutieren sind. Das betrifft vor allem die Referenz auf das Konzept der ‚bürgerlichen Öffentlichkeit‘, das der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas in seinem Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ aus dem Jahr 1961 entwickelt hatte. Dessen Anregungskraft ist bis heute unbestritten, doch hypostasiert Wohlfeil (wie andere vor und nach ihm) die ‚bürgerliche Öffentlichkeit‘ zu einem unhinterfragten normativen Bezugspunkt, dem gegenüber die reformatorische Öffentlichkeit eher als eine Art vormoderne Kümmerform 68 B. Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt a. M./New York 2013, S. 237 f. 69 R. Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, S. 123–133; erneut als Ders., Reformatorische Öffentlichkeit, in: L. Grenzmann / K. Stack­ mann (Hgg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), Stuttgart 1984, S. 41–52, hier S. 47 f.; dort auch alle in diesem Absatz folgenden wörtlichen Zitate. Zweifelsohne wichtig für die Gesamtdiskussion auch P. Ukena, Tagesschrifttum und Öffentlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert in Deutschland, in: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung (Studien zur Publizistik. Bremer Reihe 23), München 1977, S. 35–53. Auch bei Peter Ukena finden sich eine gebündelte Kritik an Jürgen Habermas und systematische Überlegungen zu den strukturellen Neuerungen und den Formen von Öffentlichkeit in der Reformation. Der Stand der klassischen Diskussion ist zudem aufgearbeitet in H. Talkenberger, Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Ein Forschungsreferat 1980–1991, in: IASL Forschungsreferate, Sonderheft 6 (1994), S. 1–26. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 60 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff erscheinen muss: Zwar hätten sich in der Reformationszeit – zumindest kurzfristig – die vormals lokal wie sozial begrenzten sektoralen Öffentlichkeiten durch die Druckmedien überregional ausgedehnt und vom Anspruch her auch den ‚gemeinen Mann‘, also die Gesamtheit der Herrschaftsunterworfenen und Lateinunkundigen, adressiert. Aber wichtige Kriterien der bürgerlichen Öffentlichkeit hätten doch gefehlt, „vor allem jene Kennzeichen, die dem bürgerlich-­ demokratisch-politischen Bezugssystem entstammen, Alphabetisierung voraussetzen und von einem gewissen Grad ‚bürgerlicher‘ Bildung ausgehen.“ Es sei nicht um „Wissensvermittlung, sondern meinungsbildende Belehrung, nicht [um, Anm. A. K. / G. S.] Verständnis für und Verständigung mit dem Gegner, sondern dessen Bekehrung“ gegangen. Eine solche Überdramatisierung der Differenzen erscheint heute zunehmend problematisch: Zwar ist es richtig, und auch durch die neuere begriffsgeschichtliche Forschung bestätigt, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Substantiv ‚Öffentlichkeit‘ die neue, vom Staat unterschiedene Richterinstanz der Gesellschaft die historische Bühne betritt (eben die ‚öffentliche Meinung‘);70 bestimmte Stilisierungen der Habermas-Konstruktion wären aber kritisch zu hinterfragen: Fraglos blieb z. B. auch im 18. Jahrhundert die soziale Reichweite der Öffentlichkeit eher begrenzt: Auch ging es in dieser Sphäre keineswegs um herrschaftsfreie Deliberation, sondern sehr weitgehend auch um meinungsbildende Überzeugung, wie es schon zur Zeit der Reformation der Fall war. Mit der neueren Forschung ist aber vor allem festzuhalten, dass eine weniger an den zeitgenössischen Begriffsgebrauch gebundene, Verwendung der analytischen Kategorie ‚Öffentlichkeit‘ Möglichkeiten des unbefangeneren Gebrauchs eröffnet. In einem weiteren Sinne könnte man so Öffentlichkeit als eine für möglichst viele Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten zugängliche Sphäre definieren, in der intensiv über gemeinsame Angelegenheiten (egal, ob sie die Literatur, die Politik oder eben die Religion betreffen) kommuniziert wird.71 Als ein wichtiges Kennzeichen dieser Öffentlichkeit wäre z. B. ihre mediale Vielgestaltigkeit zu verstehen, „das komplexe Zusammenwirken“ verschiedener Medien, „von Sprechen, Hören, Schauen, Lesen, Diskussion und Aktion“, das bereits Rainer Wohlfeil konstatiert hatte; dabei bezog er sich seinerseits auf die Metapher der ‚Partitur‘, mit 70 L. Hölscher, Die Öffentlichkeit begegnet sich selbst. Zur Struktur öffentlichen Redens im 18. Jahrhundert zwischen Diskurs- und Sozialgeschichte, in: H.-W. Jäger (Hg.), „Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert (DAJ Supplementa 4), Göttingen 1997, S. 11–32. 71 In Anlehnung an Otto Groth definierte P. Ukena, Tagesschrifttum (wie Anm. 69), S. 36, wie folgt: „öffentlich ist, was jedermann zugänglich ist, was von jedermann benutzt bzw. zur Kenntnis genommen werden kann.“ (kursiv i. O.). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 61 der Bob Scribner die Vielstimmigkeit und die (damals noch nicht so genannte) Intermedialität der Reformation in ein Bild gefasst hatte.72 Wohlfeils Konzept ist in der Folge vielfach aufgegriffen worden, allerdings mit deutlichen Akzentunterschieden. So hat Johannes Burkhardt in seiner Rezeption des Ansatzes vor allem betont, dass es sich vornehmlich um eine „druckgestützte“ Öffentlichkeit gehandelt habe. Als das „Geheimnis der reformatorischen Öffentlichkeit“ gilt ihm einerseits die Entdeckung der meinungsbildenden Kraft vor allem der Flugschriften, andererseits – und eng damit zusammenhängend – die in der Heiligen Schrift geborgene Offenbarung Gottes.73 Zugespitzt formuliert, könnte man von einem doppelten sola scriptura-Prinzip sprechen, bei dem der Inhalt der theologischen Botschaft kongenial zur medialen Vermittlung gewesen sei. Ganz ähnlich sieht Rudolf Schlögl die „spezifische Ereignishaftigkeit der Reformation […] von zwei Faktoren getragen: von ihrer Theologie und von deren medialen Erscheinungsformen“. Die Veränderung des epistemischen Status der Theologie sieht er – ganz ähnlich wie Burkhardt – darin, dass sie nun „zur Vergegenwärtigung des […] in der Schrift verfügbaren Gotteswortes“ wird: „Aus Denkoperationen wurden […] performative Akte, aus Theologen Prediger und Propheten, die zu Zeugen des Wortes wurden und daraus ihren Wahrheitsanspruch schöpften.“ Bei Schlögl ist es ganz zentral die „Stadt als Vergesellschaftung unter Anwesenden“, in der das Ereignis ‚Reformation‘ stattfand, allerdings unter den Bedingungen der „expandierende[n] Gutenberggalaxis“.74 Anders als in den älteren Entwürfen von Dickens oder Moeller vorgezeichnet, geht Schlögl aber nicht mehr von einer Art wesenhafter Konvergenz zwischen bürgerlicher Stadtverfassung und theologischer Botschaft aus, bei der das städtische Bürgertum zu einer angemessenen Form von Religion gefunden habe; vielmehr rekonstruiert er die spezifische mediale Ausprägung der Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Dabei konstituierte sich das Medienereignis Reformation, so seine zentrale These, unter engem Bezug auf die städtische Anwesenheitsgesellschaft, blieben die neuen Druckerzeugnisse „stets an die theatralische Performativität spektakulärer 72 R. Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit (wie Anm. 69), S. 48; vgl. zur Diskussion um die Öffentlichkeit die Beiträge in G. Schwerhoff (Hg.), Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit (Städteforschung. A 83), Köln/Weimar/Wien 2011. 73 J. Burkhardt, Reformationsjahrhundert (wie Anm. 34), S. 55 ff.; vgl. komprimiert M. Nieden, Medienereignis (wie Anm. 20). 74 R. Schlögl, Anwesende und Abwesende (wie Anm. 59), S. 209–245, hier S. 214 f. Bei diesem Kapitel „Macht der Anwesenden: Reformation in der Stadt“ handelt es sich um die deutsche Version eines englischen Handbuchartikels: Ders., The Town and the Reformation as an Event, in: H. Louthan / / G. Murdock (Hgg.), A Companion to the Reformation in Central Europe (BCCT 61), Leiden/Boston 2015, S. 281–315. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 62 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff Aktionen zurückgebunden“.75 Zwischen diesen beiden Polen – Druckmedien und Aktionen – ließe sich mit Martin Bauer das murmeln under dem volck positionieren, die mündliche Alltagskommunikation, in der Grundsatzpositionen und Werthaltungen ausgehandelt wurden und sich Stimmungslagen als Nährboden für Aktionen abzeichneten.76 Eine derartige Aktionen begünstigende theatralische Performativität war den damaligen Städten gleichsam in ihre soziale und politische DNA eingeschrieben, die – wie die einschlägigen Forschungen der letzten Jahrzehnte gezeigt haben – vom Pulsschlag ritueller Inszenierungen in Gestalt von Ratswahlen, Prozessionen und Herrschereinzügen, aber auch von vielfältigen Protestaktionen beherrscht waren. So wurde die Stadt, oder besser gesagt, wurden die vielen Städte „mit ihren interaktionszentrierten Formen der Vergesellschaftung und einer auf der Logik der Performanz basierenden Reproduktion sozialer Ordnung zu einem perfekten Resonanzraum für die Erschütterung des Bestehenden im Modus des Konflikts und der Transgression“.77 Was Schlögl hier auf den abstrakten Begriff bringt, ist das große Spektrum von Aktions- und Interaktionsformen, die dem frühreformatorischen Geschehen vielerorts seine Dynamik verliehen, etwa Zehntverweigerungen, Predigtstörungen, Fastenbrechen, Klosteraustritte, Desakralisierungen von Reliquien und Bilderstürme, schließlich aber auch karnevaleske Inszenierungen wie in Buchholz.78 Bei all dem war von entscheidender Bedeutung, dass die Vielzahl reformatorischer Epizentren durch ein dichtes Netzwerk personaler wie institutioneller Kommunikationsinfrastrukturen miteinander verbunden waren, politische Netzwerke in Form brieflichen Austauschs der Räte ebenso wie die Netzwerke von Humanisten, Studenten oder Buchhändlern – die eingangs angedeuteten Verstrebungen des Buchholzer Exempels stehen hier gewissermaßen pars pro toto und in gleicher Weise verdeutlicht dieses Beispiel den Umstand, dass wir in der Analyse jeweils nur konkrete Teilöffentlichkeiten untersuchen und im besten Fall ein wenig profilieren können.79 75 76 77 78 79 Ders., Anwesende und Abwesende (wie Anm. 59), S. 219. M. Bauer, „gemain sag“ (wie Anm. 55), S. 53–110. R. Schlögl, Anwesende und Abwesende (wie Anm. 59), S. 245. Umfassender Überblick bei T. Kaufmann, Geschichte (wie Anm. 30), S. 300–364. Zur Kritik an immer neuen Teilöffentlichkeiten z. B. D. Bellingradt, Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches (BKG 26), Stuttgart 2011, S. 22 ff.; zur Abgrenzung von Teilöffentlichkeiten nach bestimmten Dimensionen z. B. E. Schnurr, Religionskonflikt und Öffentlichkeit (wie Anm. 59), S. 45 f.; vgl. N. Fraser, Rethinking the Public Sphere. A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy, in: Soc Text 25/26 (1990), S. 56–80, doi:10.2307/466240 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 63 Auf der Basis von Schlögls Überlegungen ließen sich u. E. die Kommunika­ tionsprozesse in der Reformation besser analytisch erfassen und – über eine additive Aneinanderreihung hinaus – aufeinander beziehen. Das gilt insbesondere für die hier betonte Verknüpfung von druckmedialen und interaktiven Kommunikationsvorgängen, wobei natürlich auch weitere mediale Formen öffentlicher Kommunikation miteinbezogen werden müssten, vom Kirchengesang über Bilder bis hin zu Erzeugnissen der materiellen Kultur.80 Festzuhalten bleibt vorerst mit dem Buchholzer Exempel, dass sich gerade vorgebliche Paradebeispiele mündlich-präsentischer Kommunikation als äußerst stark von den Massenmedien beeinflusst erweisen. Andere Beispiele ließen sich leicht ergänzen: Vor allem mit den sog. Reforma­ tionsdialogen wurde ein Genre aus der Taufe gehoben, bei dem der gedruckte Text als Gespräch zwischen Anhängern und Gegnern der Reformation inszeniert wurde, der also von der performativen Anmutung einer spezifischen Form von Anwesenheitskommunikation lebte – eine Inszenierung fiktiver Mündlichkeit, wie sie seit der Antike bekannt war.81 Diese wenigen Bemerkungen zu den medialen Ausprägungen der Öffentlichkeit in der Reformationszeit weisen darauf hin, dass deren Analyse nicht umhin kommen kann, dem jeweiligen Modus der Kommunikation sowie den durch sie erzeugten Dynamiken ein besonderes Augenmerk zu widmen. Modi und Dynamiken der Kommunikation. ‚Invektivität‘ in der Reformation Eine angemessene Analyse der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit in der Reformationszeit muss über die bisher genannten Aspekte hinausgreifen und neben den verschiedenen Akteuren und Ausprägungen von Kommunikationsprozessen auch deren sprachlich-symbolischen Modi in den Blick nehmen: Wie also wurde (letzter Zugriff am 7.3.2020), zum Mehrwert der Kategorie „multiple publics“ aus demokratietheoretischer Perspektive. 80 Auf eine solche, den „Kontext der Kommunikationssituation“ einbeziehende Perspektive zielte u. E. auch schon P. Ukena, Tagesschrifttum (wie Anm. 69), hier insbesondere S. 42. 81 Vgl. zu den Reformationsdialogen T. Kaufmann, Geschichte (wie Anm. 30), S. 313–377, 331 ff.; P. Matheson, Rhetoric (wie Anm. 28), S. 81–110; A. Zorzin, Beobachtungen (wie Anm. 44); für England: A. Bevan Zlatar, Reformation Fictions. Polemical Protestant Dialogues in Elizabethan England, Oxford/New York 2011; zu den insbesondere für die Dialoge konstitutiven stilistischen Gestaltungsmittel sprechsprachlicher Erscheinungen systematisch bereits J. Schildt, Sprechsprachliche Gestaltungsmittel, in: Ders. / G. Kettmann (Hgg.), Zur Literatursprache im Zeitalter der frühbürgerlichen Revolution. Untersuchungen zu ihrer Verwendung in der Agitationsliteratur (BSN 58), Berlin (Ost) 1978, S. 21–85. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 64 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff kommuniziert – eine Frage, zu der die geschichtswissenschaftliche, vor allem aber die germanistische Forschung seit langem eine Menge Gesichtspunkte zusammengetragen hat, wie bereits angedeutet wurde. Dass es angesichts der in diesen Jahren verhandelten grundsätzlichen Glaubensfragen kaum um bloße Informationsvermittlung, sondern immer auch um Meinungsbildung und -beeinflussung ging, bildete implizit oder explizit eine Prämisse aller einschlägigen Debatten – nehmen wir nur die klassische Bestimmung der Flugpublizistik durch Köhler, der darin eben ein Meinungsbildungs- und kein Nachrichtenmedium sah.82 Diese Meinungsbildung vollzog sich in der Regel im Modus der Herabsetzung bis hin zur polemischen Schmähung. Das lässt sich sehr präzise selbst in jenen Schriften erkennen, deren Autoren als vergleichsweise gemäßigt und zurückhaltend gelten, wie etwa in der Dialogschrift „Der Laie“ (1525), die vom Frankfurter Dominikanerprior Johannes Dietenberger verfasst und von Johannes Cochläus in den Druck gegeben wurde. In dieser Schrift wird die invektive Ausgangssituation der für Autor und Rezipienten gegebenen Alltagskommunikation über Fragen des wahren christlichen Bekenntnisses in der Person eines keck herausfordernd auftretenden Laien dargestellt und (gleichsam metainvektiv) reflektiert: Dem Laien ist allein durch beharrliches und zunächst vor allem am Schriftprinzip [!] orientiertes Belehren und Erklären zu begegnen.83 Auch reformatorische Autoren wie Karlstadt sahen sich zumindest ab und an rhetorisch genötigt, den invektiven Grundton ihrer Schriften zu reflektieren. So heißt es etwa in seiner 1524 erschienen Dialogschrift über den Missbrauch des Sakraments, er schreibe nicht aus fürwitz vnd geylheit, treibe hiermit auch keinen schympf vnd kurtzweyl, habe auch nicht spott oder lust mit seiner offenkundigen Polemik gesucht.84 Vielmehr sei es ihm allein um die göttliche Wahrheit und das Seelenheil seiner Leser usw. gegangen. Und, so könnte man hier kurz zusammenfassen, gerade weil es ihm um dieses Ein und Alles ging, bedurfte es einer drastischen Sprache, um die eigene Position zu verdeutlichen und um zu überzeugen. Systematisch wurde der Tatbestand, dass der kommunikative Modus der reformatorischen Öffentlichkeit ein grundsätzlich invektiver war, in dem die eigene 82 H.-J. Köhler, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Flugschriften (wie Anm. 42), S. IX–XII, hier S. X und passim durch weitere Autoren im angegeben Band. So letztlich auch schon der Befund bei P. Ukena, Tagesschrifttum (wie Anm. 69), S. 46, hinsichtlich des Wandels der aktualitätsbezogenen Publizistik im 17. Jahrhundert, als insbesondere in den Periodika „die zur Nachricht versachlichte Neuigkeit“ als historisch neues Phänomen sichtbar wird. 83 Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), ed. A. Laube, Berlin 1997, S. 545–563. 84 A. Bodenstein von Karlstadt, Dialogus oder ein gesprechbüchlin Von dem grewlichen unnd abgöttischen mißbrauch des hochwirdigsten sacraments Jesu Christi, Basel: Johann Bebel 1524 (VD16 B 6141). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 65 Position stets in der herabsetzenden Abgrenzung der gegnerischen dargestellt wurde, in der Forschung lange als randständig betrachtet – vermutlich, weil der weithin benutzte Begriff der ‚Polemik‘ nur einen Teil der hierunter fallenden Phänomene und Texte erfasst. Insgesamt aber ist der Befund dennoch einigermaßen verwunderlich; immerhin führten bereits einige Zeitgenossen auch das Auseinanderbrechen der reformatorischen Bewegung auf den unmäßigen Sprachgebrauch ihrer Protagonisten in persönlichen Auseinandersetzungen zurück.85 Überhaupt lässt sich der gesamte Sachverhalt sehr gut am Beispiel des begnadetsten Schmähredners der Reformation zeigen, des Reformators oder, wie es Martin Brecht ausdrückte, des „Schimpfers Martin Luther“.86 Luthers deftige Sprache wurde früher entweder peinlich übergangen oder als persönlicher Fehler einer ansonsten großartigen Persönlichkeit vermerkt, allenfalls als Zeichen seiner ‚Volkstümlichkeit‘ genommen.87 Das änderte sich zunächst, wiederum im Anschluss an Scribner, unter den Vorzeichen einer neuen Aufmerksamkeit für die ‚Propaganda‘ in der Geschichte.88 Insofern hier aber die Bedeutung einer instrumentell-rationalen Strategie des Einsatzes bestimmter Mittel zum Zwecke intendierter Manipulation zumindest mitschwingt, erscheint er als zu eng und steht außerdem für das 16. Jahrhundert unter Anachronismusverdacht. Nur für bestimmte kommunikative Textgattungen zutreffend ist wie angedeutet andererseits das vielbenutzte Etikett der ‚Polemik‘. Dieses wird zwar oft in einem 85 So schon V. Ickelsamer, Clag etlicher brüder: an alle christen von der grossen vngerechtigkeyt vnd Tirannei, so Endressen Bodensteyn von Carolstat yetzo vom Luther zu Wittembergk geschicht, Mainz: Johann Schöffer 1525 (VD16 I 30). Es kann dieser Umstand hier nicht näher beleuchtet werden. Mark U. Edwards hat allerdings schon 1975 die Spezifika von Luthers Polemiken gegen innerevangelische Opponenten in seiner Studie „Luther and the False Brethren“ herausgearbeitet. Zu den ad personam geführten Invektiven in unterschiedlichen Gattungen systematisch einschlägige Befunde bereits bei F. Pensel, Zur Personenabwertung, in: G. Kettmann / J. Schildt (Hgg.) Literatursprache (wie Anm. 81), S. 219–340. 86 M. Brecht, Der „Schimpfer“ Martin Luther, in: Luther 52 (1981), S. 97–113. Unter den einschlägigen Biografien Luthers lässt, das sei hier lediglich angemerkt, insbesondere auch das dreibändige Werk Martin Brechts die Streitlust und Streitpraxis des Reformators bereits in Struktur und Benennung der Kapitel erkennen. Vgl. in systematischer Perspektive auch O. Roynesdal, Luther’s Polemics, in: LQ 6 (1992), H. 3, S. 235–255, zu einzelnen polemischen Kontroversen Luthers. 87 Vgl. G. Schwerhoff, Radicalism and Invectivity. ‚Hate speech‘ in the German Reformation, in: B. Heal / A. Cremers (Hgg.), Radicalism and Dissent in the World of Protestant Reform, Göttingen/Bristol, CT 2017, S. 36–52; vgl. aber schon H. A. Oberman, Teufelsdreck. Eschatology and Scatology in the ‚Old‘ Luther, in: SCJ 19 (1988), H. 3, S. 435–450. 88 Der Propagandabegriff bildet selbst in der sich von Robert W. Scribner abgrenzenden Arbeit von A. Pettegree, Brand Luther (wie Anm. 36), noch immer den Hintergrund für die Interpretation. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 66 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff unspezifischen Sinn benutzt, impliziert aber doch eher einen scharfen, wenn auch zugleich kontrollierten Meinungsstreit.89 Neuere Arbeiten, die für die hier verhandelten Tatbestände höchst einschlägig sind, benutzten deshalb eine eher technisch-funktionale Terminologie, stellen ‚Streitschriften‘ in den Mittelpunkt oder sprechen von ‚sprachlicher Ausgrenzung‘ oder verweisen allgemein auf die Differenz zwischen konfessionellen ‚Selbst- und Fremdbezeichnungen‘.90 Hier knüpft thematisch und analytisch ein geschichtswissenschaftliches Forschungsprojekt mit dem Titel „Pamphlete, Pasquille und Parolen. Invektive Dynamiken frühneuzeitlicher Öffentlichkeit“ an, das seit Mitte 2017 seine Arbeit aufgenommen hat. Es ist eingebettet in einen größeren Forschungsverbund an der TU Dresden, der mittels des Konzeptes der ‚Invektivität‘ epochen- und kulturübergreifend Phänomene der Schmähung und Herabwürdigung, der Beschämung und Bloßstellung untersucht und auf ihre Erscheinungsformen, Funktionen und Effekte hin befragt.91 Mit dem (bewusst artifiziell gehaltenen) Terminus der ‚Invektivität‘ soll ein sehr breites und heterogenes Spektrum von Phänomenen in einen gemeinsamen analytischen Horizont gerückt werden, das von der herabsetzenden Unhöflichkeit über Schmähungen, Lästerungen und Beleidigungen bis hin zur Hassrede 89 Vgl. H. Stauffer, Art. Polemik, in: G. Ueding (Hg.) / A. Hettiger u. a. (Red.), Historisches Wörterbuch, Bd. 6 (wie Anm. 67), Sp. 1403–1415; jetzt mit einer umfassenden Vermessung des Begriffsfeldes S. Steckel, Verging on the polemical. Towards an interdisciplinary approach to medieval religious polemic, in: Medieval Worlds 7 (2018), S. 2–60, doi: 10.1553/ medievalworlds_no7_2018s2 (letzter Zugriff am 7.3.2020). 90 K. Bremer, Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert (FN 104), Tübingen 2005; B. Jörgensen, Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen. Zur Terminologie der Religionsparteien im 16. Jahrhundert (CA 32), Berlin/Boston 2014; A. Lobenstein-Reichmann, Sprachliche Ausgrenzung im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit (SLG 117), Berlin/Boston 2013; K. Lundström, Polemik in den Schriften Melchior Hoffmans. Inszenierungen rhetorischer Streitkultur in der Reformationszeit (SGDS 1), Stockholm 2015. Die Arbeit von Kerstin Lundström verweist auf den Umstand, dass ein umfassenderer Literaturbericht das Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung als Ganzes berücksichtigen müsste. Das kann hier nur exemplarisch geschehen. Vgl. etwa das aktuell noch laufende, von Irene Dingel geleitete Forschungs- und Editionsprojekt „Controversia et Confessio“. Informationen unter http://www.controversia-et-confessio.de (letzter Zugriff am 7.3.2020); eingängig hierunter die Rubrik „Schimpfwort des Monats“ unter http://www.controversia-et-confessio.de/pro jekt/schimpfwort-des-monats.html (letzter Zugriff am 7.3.2020). 91 Zum Ansatz des von der DFG geförderten SFB 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“, der hier lediglich kurz angesprochen werden kann, vgl. ausführlicher: Konzeptgruppe Invektivität [D. Ellerbrock u. a.], Invektivität – Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: KWZ 2 (2017), H. 1, S. 2–24. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 67 und zur verbalen bzw. symbolischen Gewalt reicht. Als gemeinsame Eigenschaft, eben als ‚invektive‘ Qualität erscheint es, dass in all diesen Fällen mittels verbaler oder nonverbaler Kommunikationsakte Bewertungen von Personen, Gruppen und Positionen vorgenommen werden, die geeignet sind, deren soziale Position negativ zu verändern, sie zu diskriminieren und gegebenenfalls auszuschließen. Invektiven, das zeigt sich hier, sind klassische ‚Sprechakte‘ im Sinne von Austin, mit ihnen wird nicht nur etwas ausgesagt, sondern zugleich und vor allem etwas ‚getan‘ – im Extrem wird ein Akt verbaler Gewalt ausgeübt, der höchst folgenreich sein kann. Zugleich können Invektiven die Menschen sowohl auf einer kognitiv-inhaltlichen als auch auf einer affektiven Ebene bewegen: Religiöse oder auch wissenschaftliche ‚Wahrheiten‘ erlangen oft erst in der invektiven Zuspitzung gegen Kontrahenten ihre höchste Präzision und den Status etablierter Allgemeingültigkeit; andererseits bilden Schmähungen und Herabsetzungen nicht selten den Kitt, der religiöse ebenso wie politische Gemeinschaften zusammenhält. Invektivität besitzt so eine höchst bedeutsame Funktion für soziale Inklusions- und Exklusionsprozesse. Überdies soll mit dem Begriff der ‚Invektivität‘ ein Kommunikationszusammenhang adressiert werden, der über den bloßen isolierten Akt einer Schmähung und Herabwürdigung hinausgeht. Immer soll der Zusammenhang von Invektierenden, Invektierten und einem Publikum im Blick gehalten werden, der idealtypisch als ‚invektive Triade‘ figuriert. Es geht mithin um die Formen der Anschlusskommunikation, die oft genug erst über den Charakter und die Heftigkeit einer Herabwürdigung entscheidet. Meistens wird im Zuge dieser Anschlusskommunikation auf einer reflexiven Ebene der Charakter einer Invektive thematisiert, die betreffende Äußerung heruntergespielt oder skandalisiert, gerechtfertigt oder ironisiert. Vor diesem – hier nur sehr kursorisch skizzierten – konzeptuellen Hintergrund geht es dem frühneuzeitlichen Forschungsprojekt um die mögliche Prägekraft des Invektiven für eine Kommunikationsgeschichte der Reformation bzw. für die Entfaltung der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit. Dabei gehen wir von der These aus, dass der Invektivkommunikation insgesamt ein Vernetzungs- und Dynamisierungspotenzial innewohnt, das es erlaubt, intermediale Bezüge ebenso präzise nachzuzeichnen wie die Verflechtungen raum-zeitlich getrennter Arenen, Praktiken und Akteure – ganz so, wie es das Buchholzer Fallbeispiel von 1524 bereits nahegelegt hat. Das Geheimnis der reformatorischen Öffentlichkeit, um die bereits zitierte Formulierung Johannes Burkhardts abzuwandeln, offenbarte sich aus dieser Perspektive, zugespitzt formuliert, überhaupt erst im Modus der Invektivität. Diese invektive Kommunikation konnte vielfältige Funktionen erfüllen: Sie mochte das Reflexivwerden einer Konfliktkonstellation begünstigen, intellektuelle und theologische Positionen schärfen, Schwachstellen des Gegners offenlegen und umgekehrt die eigenen Anhänger mit großer emotionaler Durchschlagskraft Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 68 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff mobilisieren. Insofern es bei der Verkündung von Gottes Wort um nichts weniger als die Wahrheit ging, war Invektivität eines der effektivsten Mittel, diese Wahrheit in der intellektuellen Auseinandersetzung nicht nur aufzufinden, sondern über soziale und raumzeitliche Barrieren hinweg auch mit Wort und Tat zu verteidigen. Inhalt und Form, so einer der Ausgangspunkte unserer Argumentation, müssen daher eng zusammengedacht werden – zumal dann, wenn es, wie beispielsweise von Mark Edwards meisterhaft vorgeführt wurde, um die Frage geht, welche Ideen und Formulierungen eigentlich massenwirksam ‚gezündet‘ haben.92 Das angedeutete Forschungsprogramm hat viele Facetten, die hier auch nicht ansatzweise entfaltet werden können. Zentral ist, um nur einen Aspekt herauszugreifen, das Zusammenspiel von Gelehrten und Laien, von lateinischen und volkssprachlichen Kommunikationsakten. Es wäre – wie bereits die dänische Kirchenhistorikerin Ninna Jørgensen gezeigt hat – ein Zerrbild davon auszugehen, dass die Derbheit invektiver Gebrauchsformen ein Signum der volkskulturellen Niederungen gewesen sei, während sich die lateinkundigen Bildungseliten dieser Formen lediglich bedient hätten, um ihre Botschaften ans Volk zu vermitteln.93 Ganz im Gegenteil ging je nach Perspektive entweder das moralische Überlegenheitsgefühl oder die sorgsame Rücksicht vieler Autoren soweit, dem ‚gemeinen Mann‘ nicht dieselben groben Invektiven in volkssprachlicher Form zumuten zu wollen, die im Lateinischen elementarer Bestandteil gelehrter Auseinandersetzungen und Sprachwettkämpfe war. Selbst während der aufgeheizten Stimmung der Leipziger Disputation gehörten diese zum akademisch sportlichen Zeitvertreib des dortigen Rahmenprogramms.94 Das Leipziger Beispiel verweist zugleich darauf, dass in unterschiedlichen Arenen auch mit differenten Sprechpraktiken und Bedeutungszuschreibungen (von agonal sportlich und spielerisch bis hin zum tödlichen Ernst) sowie mit varianten Sprechlizenzen (bis hin zur klaren Tendenz zur Vermeidung von Invektiven auf den Reichstagen)95 zu rechnen ist. Wie verbissen und heftig die humanistische Gelehrtenwelt, dabei nicht selten auf einer rein persönlichen Ebene, die Auseinandersetzung suchte und in die 92 M. U. Edwards, Luther’s Last Battles (wie Anm. 33); Ders., Printing, Propaganda (wie Anm. 33). 93 N. Jørgensen, Bauer (wie Anm. 38), bes. S. 62 f. 94 L. Roper, Der Mensch Martin Luther. Die Biografie. Übersetzt von H. Fock / S. Müller, Frankfurt a. M. 2016, S. 581, Anm. 24. 95 Siehe hierzu B. Jörgensen, Selbst- und Fremdbezeichnungen (wie Anm. 90), Kap. 5–8. Im Rahmen des oben angesprochenen SFBs 1285 widmen sich unter anderem auch diesem Zusammenhang mehrere Teilprojekte (D: Uwe Israel, E: Marina Münkler, F: Jürgen Müller und G: Gerd Schwerhoff und Alexander Kästner). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 69 Öffentlichkeit trug, zeigt sich etwa daran, dass die Konfliktkonstellationen der Reformation wiederholt zum freudigen Anlass genommen wurden, um andere Kontroversen zu aktualisieren. 1520 holte Johannes Eck etwa seine frühere Auseinandersetzung mit Erasmus ein, als er zur Zielscheibe mehrerer humanistischer Spott- und Satireschriften wurde, die den Nachklang der Leipziger Disputation deutlich veränderten und Ecks Ruf nachhaltig beschädigten.96 Hierbei ist auch in Rechnung zu stellen, dass diese und vergleichbare Schriften wohl vor allem wegen ihrer scharfen, ad personam gerichteten und ehrabschneidenden Polemik anonym bzw. pseudonym verfasst wurden. Die invektiven Sprachformen der Reformationszeit, so zeigt sich an den Auseinandersetzungen innerhalb der humanistischen Parteiungen zugleich, waren keine Erfindung der reformatorischen Bewegungen oder ihrer Gegner. Allein die Heftigkeit und mediale Präsenz der Reuchlin-Kontroverse spricht hier für sich.97 Aber insbesondere die vernakularen Invektiven sowohl der reformatorischen Autoren als auch ihrer Gegner waren gerade deswegen so wirksam, weil sie allgemein geteilten sprachlichen Konventionen entsprachen, die jederzeit aktualisiert werden konnten. Invektivität erscheint auf diese Weise als funktional bedeutsam und voraussetzend für eine Vielzahl von Handlungszusammenhängen, in denen schwelende Konflikte sprachlich aktualisiert und Wahrheitsansprüche offensiv verteidigt werden sollten. Das gilt letztlich auch für katholische Autoren, die, das sollte nicht vergessen werden, in durchaus beachtlicher Zahl und Breite volkssprachlich publizierten. Hiervon zeugt etwa die dreibändige Edition entsprechender antireformatorischer Flugschriften, welche Adolf Laube und Ulman Weiss besorgt haben.98 Und das gilt selbstredend für alle Situationen, in denen frühreformatorische Ideen oder spätere protestantische Reformbemühungen begründet und/oder verwirklicht wurden. Letzteren Zusammenhang hat der vielzitierte Robert W. Scribner am 96 Darunter 1520: J. F. Cottalembergius, Eckius dedolatus […], Straßburg: Matthes Maler 1520 (VD16 C 5587, VD16 C 5588); Dialogi Decoctio. Eckius monachus […], Straßburg: Johann Prüß d. J. 1520 (VD16 D 373, VD16 E 486); vgl. hierzu und zu weiteren entsprechenden Schriften kurz H. Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, T. 2: Das Zeitalter der Reformation: 1520–1570 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 4/2), München 1973, S. 102–109. 97 J. Schwitalla, Brutalität und Schamverletzung in öffentlichen Polemiken des 16. Jahrhunderts, in: S. Krämer / E. Koch (Hgg.), Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens, Paderborn/München 2010, S. 97–123, hier S. 100 ff. 98 Flugschriften, ed. A. Laube (wie Anm. 83); Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), ed. Ders. / U. Weiss (Mitarb.), 2 Bde., Berlin 2000. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 70 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff Beispiel des Ineinanderwirkens von antiklerikalem Denken und Handeln bereits eindrücklich ausgeführt.99 Die Relation von produktiven und mobilisierenden Effekten einerseits zu ausgrenzenden und destruktiven Seiten von Invektivität andererseits müsste für eine neu auszurichtende Geschichte der Reformation als Kommunikationsprozess nun überhaupt erst einmal systematisch bestimmt werden. Dabei wäre natürlich auf zahlreiche existierende Forschungsansätze und -debatten zurückzugreifen. Anknüpfen ließe sich z. B. an die Überlegungen Berndt Hamms zu Kohärenz und Vielgestaltigkeit der frühreformatorischen Bewegung. Hamm hat unterschiedliche Positionsbestimmungen des Verhältnisses von geisterfüllter Seele und geistlosem Schriftgelehrtentum analysiert.100 Vor dem Hintergrund seiner Ausführungen erscheint Polemik keineswegs als ein bloß von Schreibkontexten abhängiges, funktional notwendiges Kontrastmittel, mit dessen Hilfe unterschiedliche Autoren wie Andreas Osiander, Hans Denck, Lazarus Spengler, Diepold Peringer, Hans Sachs oder Hans Greiffenberger nicht nur öffentliche Abgrenzungsbewegungen vollzogen haben, sondern zugleich immer auch als Medium der Mobilisierung nach innen. Buchholz als Paradigma eines invektiven Modus der Kommunikation Die Bedeutung des Invektiven für eine Kommunikationsgeschichte der Reformation bzw. das Vernetzungspotenzial von Invektivität für die Konstituierung einer reformatorischen Öffentlichkeit soll im Folgenden wiederum unter Rückgriff auf das Buchholzer Beispiel verdeutlicht werden, ohne die komplexen lokalen, regionalen und überregionalen Konfliktfelder und Akteurskonstellationen an dieser Stelle weiter entfalten zu können. Im Erzgebirge lagen, wie eingangs angedeutet, Schmähungen schon lange vor 1524 in der Luft. Seit Jahren hatten religiös grundierte Friktionen die Stimmung an dieser territorialen Bruchzone der beiden wettinischen Linien aufgeheizt. Die antilutherischen Maßnahmen Herzog Georgs trafen in Annaberg auf eine Situation, die von einer schwelenden Kritik des Rats an Missständen im Franziskanerkloster einerseits und von einer 99 Vgl. R. W. Scribner, Anticlericalism and the Cities, in: P. A. Dykema / H. A. Oberman (Hgg.), Anticlericalism (wie Anm. 23), S. 147–166, wenngleich Scribner trotz enger Bezüge in antiklerikalem Denken keinen automatischen Mechanismus zur Initiierung antiklerikalen Handelns im Kontext reformatorischer Aktionen sah. 100 B. Hamm, Geistbegabte gegen Geistlose: Typen des pneumatologischen Antiklerikalismus. Zur Vielfalt der Luther-Rezeption in der frühen Reformationsbewegung, in: ebd., S. 379–440. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 71 im Ausmaß unklaren Ausbreitung reformatorischer Ideen in der Bürgerschaft andererseits geprägt war. Die enorme Entwicklungsdynamik der beiden jungen Städte Annaberg und Buchholz, die das Stadtrecht 1497 bzw. 1501 verliehen bekommen hatten, mag zur Unübersichtlichkeit zusätzlich beigetragen haben. 1523 hatten mutmaßlich einige Annaberger Bürger101 mit derben Schmähschriften auf die antilutherischen Maßnahmen im Herzogtum Sachsen reagiert. In diesen Pasquillen und Drohbriefen schmähten sie nicht nur Franziskaner und Dominikaner mit Hilfe eines breiten Repertoires antiklerikaler und antijüdischer Stereotype als Gotteslästerer, dabei gleichsam die lokalen Konflikte der Stadtgemeinde mit den Mönchen vor Ort aufgreifend. Zugleich drohten sie der weltlichen Obrigkeit – ganz im Sinne der von Martin Bauer identifizierten programmatischen Kampfansagen102 – auch unverhohlen mit umstürzlerischen Aktionen. Dabei verwiesen die anonymen Invektierer unter anderem auf das Potenzial der Schrift für zukünftige Aktionen: was forder mer geschehen wirdt steckt noch in d[er] fed[er] ir obristen pedencktz eben.103 In der Folge griff der sächsische Herzog hart durch und ließ einige mutmaßliche Religionsabweichler gefangen nehmen. Auch in benachbarten Orten beförderte die unmittelbare Nachbarschaft Konflikte. Im nahen Schneeberger Kondominat brach im Frühjahr 1524 ein Streit über die obrigkeitskritische Predigtpraxis des dortigen evangelischen Pfarrers Amandus aus, der nicht ohne die parallelen Ereignisse in Buchholz und Annaberg betrachtet werden sollte: Eine Ermahnung zum Amtsantritt von Amandus verrät einiges über die sowohl konfessionellen als auch politischen Spannungen im Grenzgebiet; dort hieß es 1524, er solle das evangelium ohne lesterung und plasphemirung geistlicher und weltlicher oberkeyt predigen, womit die konfessionelle und politische Problemlage in den Bergstädten des Erzgebirges in nuce als ein Problem der Invektivität beschrieben ist.104 Und kurz darauf im Sommer 1524 beschwerte sich Herzog Georg bei Kurfürst Johann über entlaufene Mönche, die in Buchholz evangelisch predigten, wohin auch zahlreiche Annaberger Bürger zur Predigt ausliefen. In Buchholz selbst 101 Der soziale Hintergrund der Autoren kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden, doch legen die Quellen nahe, dass es sich durchaus auch um Personen aus der Umgebung bzw. um Einwohner aus Buchholz gehandelt haben könnte. Eine ausführliche Diskussion auch einiger bislang unbekannter Quellen in A. Kästner, Hin und wieder zurück (wie Anm. 4). 102 M. Bauer, „gemain sag“ (wie Anm. 55), S. 109. 103 HStA Dresden, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9827/22, fol. 156r. 104 Zitiert nach F. Neumann, Reformation als religiöse Devianz? Das Schneeberger Kondominat und der Fall Georg Amandus (1524/25), in: A. Kästner / G. Schwerhoff (Hgg.), Göttlicher Zorn und menschliches Maß. Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften (KuK 28), Konstanz/München 2013, S. 93–122, hier S. 99. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 72 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff verlangten die Einwohner, Friedrich Myconius als Prediger einzustellen, zugleich jedoch gab es offenkundig Gruppierungen, denen das bedachte Handeln des Predigers nicht weit genug ging und die trotz mahnender Worte zur Tat schritten. Damit sind wir wieder bei der Flugschrift zur Buchholzer Spottprozession: Am Beispiel der dort enthaltenen, bereits erwähnten Kommentierung der beschriebenen Vorgänge lässt sich aufzeigen, wie durch einen invektiven Schriftgebrauch im Vor- und Nachwort zum eigentlichen Bericht (und eigentlich auch nur so) ein weiterer, überregionaler Deutungsrahmen für die Schmähaktion vor Ort aufgespannt werden konnte. Dies war insofern wichtig, als auf diesem Wege der unbekannte Verfasser, der ja selbst nicht Zeuge des Vorfalls gewesen war, ein überregionales Publikum adressierte, dessen Teil er zugleich war. Zunächst einmal gehört es zur Strategie des Verfassers, sich als Untertan des albertinischen Herzogs Georg zu inszenieren, freilich nur indirekt, indem er darauf hinweist, dass das Wormser Edikt von ‚seinem‘ Landesfürsten angeschlagen worden sei. Der ernestinische Kurfürst dagegen hatte bekanntlich dessen Gültigkeit klar bestritten und war nach dem zweiten Nürnberger Reichstag von 1523 sogar von dessen Aufhebung ausgegangen.105 Auf die entsprechenden reichspolitischen Hintergründe und Kontroversen spielte der informierte Verfasser auch deshalb an, weil ihm dies die Gelegenheit gab, den päpstlichen Nuntius Aleander als ränkeschmiedenden Urheber des antilutherischen kaiserlichen Mandats zu benennen. Dieses, so der anonyme Verfasser, habe eyn welscher bube getichtet […] zu lateyn und ist darnach verdeutscht boeslich gnug. Der Grund hierfür wird gleich mitgeliefert, denn Aleander habe sich zu Worms hören lassen, wie man sagt, Er wollts zu richten, das sich die deut­ schen sew selbst unternander sollten erwuergen.106 Kritik an der Papstkirche wird hier also im Gewand von Anprangerung eines blutduerstig wellsch suepplin geübt, wobei hier ganz beiläufig eine satirische Wendung aus der bekannten Flugschrift „Die Lutherisch Strebkatz“ zitiert wird.107 Da der Verfasser seine Leser durch die Verwendung des Kollektivplurals ‚wir‘ als eben jene von Aleander mit einer dehumanisierenden Tiermetapher geschmähten Deutschen anspricht, geht damit zugleich die Handlungsaufforderung einher, auf diese Invektive angemessen zu reagieren. Diese Invektive funktioniert einfach und effektiv über ein binäres Schema von 105 C. Volkmar, Reform (wie Anm. 5), S. 503; differenzierter A. Kohnle, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden (QFRG 72), Gütersloh 2001, S. 128 ff. 106 Flugschriften, Bd. 2, edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.) (wie Anm. 49), S. 1343. 107 Ebd., S. 1344. Vgl. [ Johann Bader], Die Lutherisch Strebkatz, Worms: Peter Schöffer d. J. 1524 (VD16 L 7644), fol. Di v. Zu dieser Flugschrift F. Büttner, Johann Bader. Eine biographische Studie zum reformatorischen Netzwerk am Oberrhein (FKDG 121), Göttingen 2020, S. 77–107. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Narrheit närrisch spotten 73 Gruppenzugehörigkeiten – die ‚Deutschen‘, als die der Verfasser damit und durch die nachfolgende Verwendung des Kollektivplurals sich und alle avisierten Leser als ‚imaginierte nationale Öffentlichkeit‘ meint, auf der einen und die ‚Welschen‘ auf der anderen Seite, für die er das personaldeiktische Pronomen in der dritten Person Plural verwendet – sprachlich also eine größtmögliche Distanz aufbaut. Diese abwertende Unterscheidung wird durch einen weiteren sprachlichen Trick verstärkt, der aus dem ‚Wir‘ eine emotionale Gemeinschaft konstituiert. Der gesamte Abschnitt erfährt nämlich seine Akzentuierung durch den Konnektor ‚aber‘, der die Phrase einleitet, man spuert, dass Aleander der Urheber dieser – so das implizite Argument – dem Wesen dieses ‚Wir‘ fremden Textes sei. Der Autor spielte damit auf ein Gespür, mithin eine Stimmungslage an, die er als gegeben voraussetzt und damit zugleich der Diskussion entzieht. Doch damit nicht genug dehnt der Verfasser seine Kritik noch auf jene deutschen Fürsten und Bischöfe aus, die häufig lust haben yhre unterthane zu plagen. Die Herrscherkritik an jenen, die eigentlich Frieden und Sicherheit im Land bewahren sollten, dagegen aber allererst selbst auffrur gepieten und anrichten und urlaub geben allen frid und sicherheyt zu verprechen, ist an sich eindeutig; sie wird jedoch begleitet von der interessanten Bitte um göttliche Gnade und Einsicht für vnserm Fürsten. Diesem könnte es bei mangelnder Einsicht villeicht bald auffs armbrust geregnet haben. Da mit diesem Fürsten, wie eben dargelegt, mit hoher Wahrscheinlichkeit Herzog Georg von Sachsen gemeint war, enthält die Einleitung auch eine mehr oder weniger unverhohlene Drohung für die Zukunft aus unmittelbarer Nachbarschaft. Denn was diese Zukunft womöglich bereithalte, so ist aus der Abfolge und Struktur des Textes zu schlussfolgern, zeigten die Geschehnisse im kurfürstlich-ernestinischen Buchholz. Zum Arsenal invektiver Kommunikationsmittel, die am Beispiel der Buchholzer Flugschrift zu besichtigen sind, gehören schließlich nicht nur subtile Anspielungen, grobe Schmähungen und gewaltträchtige Drohungen, sondern auch die reflexive Thematisierung vorausgegangener Invektiven, von der oben bereits die Rede war. Diese Thematisierung ist hier keineswegs ein Hinweis auf Besinnung, Reue oder gar Mäßigung. Vielmehr wird sie, wie meist, als strategische Ressource im Konfliktaustrag dienstbar gemacht. Zunächst scheinen es bereits die Bergknappen selbst gewesen zu sein, die sich – so der Augenzeugenbericht des Myconius – gegen die Intervention des Bergvogtes zur Wehr setzten, indem sie ihre Aktion – mithilfe von Spr 3,34 („Er wird der Spötter spotten“) – metainvektiv rechtfertigten: Ey wollen denn die papisten nicht auffhoeren so groeblich und unverschampt zu nar­ ren, warumb sollt man nicht yhrer narrheyt nerrisch spotten?108 Der Verfasser der 108 Flugschriften, Bd. 2, edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.) (wie Anm. 49), Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 74 Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff Flugschrift lässt es dabei nicht bewenden, sondern spiegelt diese Operation noch einmal, gleichsam eine Ebene höher, im Urteil auswärtiger Beobachter: Ich habe auch ynn eyner geselschafft davon hoeren reden, das eyner fragt: Nu ratet alle, wilche haben des Benno am ergsten gespottet, die zu Meyssen mit yhrem heben, odder die ym Buchholtz? Da wart geantwortet: Das die zu Meyssen hetten den ergisten spott getrieben […,] das ym Buch­ holtz ist eyn schympff und schertz, der niemant geschadt hat. Aber die zu Meyssen haben mit ernst gespottet und viel leut umbs gelt da zu bracht.109 Der Verfasser unterschied also deutlich zwischen einer ernsten Invektive, die einen wirklichen Schaden verursache, und einem scherzhaften Spott, der niemandem schade. Auf diese grundsätzliche Unterscheidung hätten sich die Konfliktparteien vermutlich sofort einigen können. Das Beispiel verweist aber an dieser Stelle zugleich auch auf die an sich banale, für ein tieferes Verständnis des Kommunikationsverhaltens der historischen Akteure jedoch wichtige Einsicht, dass es keine eindeutige Wahrnehmung und Deutung von Invektiven gibt. Und daraus folgt, dass wir invektive Sprechakte, Gesten und Bilder stets nur in einem für die jeweilige historische Situation möglichst breit zu rekonstruierenden Kontext der Medien, Modi und Dynamiken der ‚reformatorischen Öffentlichkeit‘ untersuchen können. Der hier grob umrissene Forschungsstand erhellt, dass Invektivität zweifelsohne eine notwendige Voraussetzung für intellektuelle und strukturelle Neuerungen, ja grundsätzlich unabdingbar für die Ausformung von Gegenüberstellungen im Zeitalter der Reformation war. Invektivität sollte daher künftig als ein eigenständiger Faktor für die Frage, wie und mit welcher Dynamik reformatorische und antireformatorische Botschaften ausgeformt, transportiert und rezipiert wurden, stärker systematisch beachtet werden. Denn schließlich trat die reformatorische Bewegung von Beginn an mit dem Gestus der Herausforderung und Herabsetzung des status quo in Erscheinung. Wenn man diesen Befund ernst nimmt, dann ließe sich die Geschichte der Reformation vermutlich auch als Geschichte eines dynamischen Invektivgeschehens neu erzählen. Damit wäre dann aber zugleich die Herausforderung verbunden, die paradox anmutende Beobachtung angemessen zu deuten, dass das Großprojekt einer gesamteuropäischen christlichen Purifizierung zugleich eine Epoche allgegenwärtiger Schmähungen und Herabsetzungen in der öffentlichen Kommunikation war. S. 1344 f.; vgl. J. K. Seidemann, Schriftstücke zur Reformationsgeschichte, in: ZHT 44 (1874), H. 1, S. 115–139, hier S. 138. 109 Flugschriften, Bd. 2, edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.) (wie Anm. 49), S. 1345. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Thomas Kaufmann Buchdruck und Reformation Buchkulturgeschichtliche Beobachtungen, insbesondere zu Innovationen in der Wittenberger Produktion der Jahre 1517 und 1520 Die folgenden Ausführungen gliedern sich grob in drei Teile.1 Zunächst wähle ich zwei mikrologische Zugänge: Einmal werde ich anhand einer neuen Rekonstruktion der Vorgänge des 31. Oktobers 1517 zu zeigen versuchen, dass die Druckpresse in einem sehr prononcierten Sinne am Anfang der reformatorischen Aktivitäten Martin Luthers (1483–1546) stand. Zum anderen werde ich die Beschleunigung des Druckens, die in Wittenberg seit dem Frühjahr 1520 eingeübt wurde, vorführen. In einem dritten Schritt werde ich gleichsam synthetisierend die allgemeine Bedeutung des Buchdrucks für den Prozess der Reformation und seine weiteren historischen Wirkungen skizzieren. 1. Zunächst soll auf den traditionellen Anfang der Reformation, die Vorgänge am und um den 31. Oktober 1517, in publizistischer Perspektive geblickt werden.2 Den Ausgangspunkt der folgenden Rekonstruktion bildet ein knapper handschriftlicher Eintrag auf einem Exemplar des anonym erschienenen Plakatdrucks der „95 Thesen“, der dem Leipziger Drucker Jakob Thanner (ca. 1448–1528) zuzuschreiben ist. (Abb. 1) Ein Exemplar dieses Druckes befindet sich im Berliner Staatsarchiv; während und nach dem Zweiten Weltkrieg war es längere Zeit in Merseburg aufbewahrt worden. Der Forschung ist es seit längerem bekannt, vor allem durch einen 1983 aus Anlass des letzten großen Lutherjubiläums in 1 2 Die folgenden Ausführungen berühren sich mit meinem unlängst erschienenen Buch T. Kaufmann, Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen (BHTh 187), Tübingen 2019. Für manche der hier nur thetisch knapp behandelten Überlegungen finden sich dort ausführlichere Begründungen. Nähere Nachweise vgl. ebd., Kap. 3; zur Diskussion um den Thesenanschlag vgl. zuletzt (ohne substantiellen Erkenntnisgewinn) B. Hasselhorn / M. Gutjahr, Tatsache! Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag, Leipzig 2018; anregend R. Bergmeier, Martin Luthers Thesenanschlag und Erwin Iserlohs Fehldiagnose, Berlin 2018. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 76 Thomas Kaufmann Weimar erschienenen Katalogs, der ein farbiges Faksimile des Blattes veröffentlichte.3 Der Wortlaut des handschriftlichen Eintrages am rechten oberen Rand lautet: Anno 1517 ultimo Octobris, vigilie Omnium sanctorum, indulgentie pri­ mum impugnatae („Im Jahre 1517, am Vorabend von Allerheiligen, wurden die Ablässe zuerst bekämpft.“). Dank der Identifizierung der Handschrift durch den ingeniösen Paläografen Ulrich Bubenheimer,4 den besten lebenden Kenner reformationszeitlicher Autografen, ergeben sich m. E. weitreichende Konsequenzen: War bisher gelegentlich Luther selbst für den kurzen handschriftlichen Zusatz in Anspruch genommen worden, weshalb Bubenheimer und ich uns im Rahmen eines gemeinsamen Seminars über „Luthers Handschrift“ mit dem Dokument befassten, so hat nach Bubenheimer Luthers Erfurter Ordensbruder Johannes Lang (ca. 1487–1548) als Verfasser dieser kleinen, an sich völlig unspektakulären Eintragung zu gelten. Warum ist diese Zuschreibung von Interesse? In einem Brief vom 11. November 1517, in dem Luther seinen erstmals am 31. Oktober 1517 nachweisbaren Namenswechsel von Luder – seinem Geburtsnamen – zu Luther bzw. Eleutherius (nach dem griechischen Wort eleutheria, d. h. der Befreite) gegenüber dem alten Weggefährten Johannes Lang in Erfurt verwendete, sandte er diesem seine „anderen Paradoxa“, d. h. die „95 Thesen“ mit.5 Aufgrund des Eintrages des Berliner Exemplars von Langs Hand besitzt es die größte Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem ihm von Luther aus Wittenberg zugesandten Stück um den Leipziger Plakatdruck gehandelt haben wird. Dies aber bedeutet, dass dieser Druck bereits am 11. November 1517, weniger als zwei Wochen nach dem 31. Oktober 1517, fertig gestellt war. Luther hatte seinem berühmten, auf den 31. Oktober 1517 datierten Schreiben an Albrecht von Brandenburg (1490–1545), den Erzbischof von Mainz (1514– 1545) und Magdeburg (1513–1545), der für den die Ablasskritik auslösenden Petersablass verantwortlich war, die „95 Thesen“ beigefügt.6 Die Mehrheit der Forscher geht davon aus, dass diesem Brief, der erstmals mit dem ‚neuen‘ Namen Luther unterzeichnet war, die „95 Thesen“ in Gestalt eines in Wittenberg hergestellten Urdrucks beigefügt waren. Dieser Urdruck, der verschollen, d. h. in 3 4 5 6 Vgl. Martin Luther 1483–1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens, edd. R. Gross / M. Kobuch / E. Müller, Weimar 1983, S. 71 f., Nr. 38. Vgl. T. Kaufmann, Druckerpresse statt Hammer, in: FAZ, Nr. 254 (31.10.2016), S. 6; vgl. auch die online-Version unter https://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/reformationstag-druckerpresse-statt-hammer-14504788.html (letzter Zugriff am 9.3.2020). Vgl. WA BR, Bd. 1 (1501–1520), Weimar 1913, S. 121–123, Nr. 52, hier S. 121,4. Vgl. ebd., S. 108–115, Nr. 48. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 77 Abb. 1: Leipziger Plakatdruck der „95 Thesen“, Leipzig: Jakob Thanner 1517 (40,5 × 30 cm); Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 16, Nr. 88; handschriftlicher Eintrag Johannes Langs (Zuschreibung: Ulrich Bubenheimer) oben rechts: Anno 1517 ultimo Octobris, vigilia Omnium sanctorum, indulgentię primum impugnatę. Der Eintrag dürfte von Lang zu einem späteren, bereits historische Distanz voraussetzenden Zeitpunkt getätigt worden sein. Möglicherweise war dieses Exemplar mit jenem identisch, das Luther am 11. November 1517 an Lang sandte: WA BR, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 121,4 f., Nr. 52 [Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I.HA Rep. 13, Nr. 4–5a, Fasz. 1]. keinem einzigen Exemplar erhalten ist – ein Schicksal, das außer der lediglich in einem Wolfenbütteler Exemplar überlieferten „Disputatio contra scholasticam theologiam“ (1517) und der in zwei Exemplaren erhaltenen „Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones“ (1518) alle frühen Wittenberger und sehr viele Disputationen anderer Universitäten teilen –, wird wohl nur in einer recht kleinen Auflage gedruckt worden sein. Außer den möglicherweise an den Kirchentüren angeschlagenen und einigen weiteren Briefen an andere Bischöfe beigefügten Exemplaren – auch diese Briefe sind verloren – werden nur wenige Stücke kursiert sein. Eines dieser Exemplare wurde von dem Wittenberger Stiftsherrn Ulrich von Dienstedt (ca. 1460–1525) an Christoph Scheurl (1481–1542), den Ratskonsulenten Nürnbergs, gesandt; dieser gab die „95 Thesen“ in seiner Vaterstadt in den Druck. Von diesem Nürnberger war dann ein Basler Druck abhängig, der erstmals nicht als Einblattdruck, sondern als kleines Heftchen im Quartformat erschienen ist. Der Leipziger Druck, von dem wir jetzt wahrscheinlich machen können, dass Luther ihn versandt hat, weist gegenüber der sonstigen Drucküberlieferung einige kleinere Besonderheiten auf. Sie sind kaum als Eingriffe eines Druckers zu verstehen und machen es wahrscheinlich, dass Luther selbst an einem Exemplar des Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 78 Thomas Kaufmann ursprünglichen Wittenberger Drucks Korrekturen vorgenommen und dieses korrigierte Exemplar dann nach Leipzig transferiert hatte. Für einen solchen Vorgang, die Versendung korrigierter Exemplare eines Erstdrucks zum Zweck eines optimierten Nachdrucks an anderem Ort, gibt es bei Luther Parallelen. In dem Leipziger Druck wurde etwa sein Name von Lutther in Luther geändert, ein Zusatz zu seiner Ordenszugehörigkeit (Eremitano Augustiniano, d. h. Augustinereremit) eingefügt sowie einige falsche oder ungenaue Verbformen verbessert – durchweg Änderungen, die seitens eines Druckers kaum nachvollziehbar wären. Sodann, wohl wichtiger als die genannten Emendationen, wurde die Thesenreihe mit einer durchlaufenden Zählung versehen. Die Nürnberger und die von ihr abhängige Basler Ausgabe hingegen boten die bei längeren Thesenreihen der Zeit übliche Aufteilung nach 25er- bzw. 20er-Gruppen. Diese Gruppierung in einer kleineren Menge von Thesen stand in einem unmittelbaren Bezug zur Disputationspraxis; die einzelnen Respondenten hatten bei einer Disputation eine überschaubarere Thesenmenge zu verteidigen. Freilich unterliefen dem Drucker Thanner bzw. seinem Setzer bei dem Druck der Zählung mehrere Missgeschicke: Nach der Zahl 23 vertauschte man die Zahlenfolge und druckte 42. Nach der Nummer 26 druckte man fälschlich die 17; von dort an zählte man dann richtig weiter – bis zur Zahl 87. Luthers „95 Thesen“ sind also das Ergebnis einer numerischen Bereinigung; in seiner eigenen Kommentierung der „95 Thesen“, den „Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute“ aus dem Sommer 1518 folgte Luther der durchlaufenden Zählung. Zuerst verbreitet wurden seine Thesen „Von der Kraft der Ablässe“ („De virtute indulgentiarum“) aber als ‚dreimal 25 plus 20‘ – so im Nürnberger und im Basler – bzw. als „87 Thesen“ im Leipziger Druck. Wohnt dem Zahlenspiel eine tiefere Bedeutung inne? Ich denke schon! Die fortlaufende Zählung, deren Thesenmenge das im Rahmen einer Disputation zu leistende ‚Maß‘ deutlich überschritt, deutet darauf hin, dass Luther zu jenem Zeitpunkt zwischen dem 31. Oktober und dem 11. November 1517, als er den Wittenberger ‚Urdruck‘ für den Leipziger ‚Nachdruck‘ redigierte bzw. korrigierte, die Idee einer tatsächlich durchzuführenden Wittenberger Disputation, wenn er sie denn je ernsthaft verfolgt hätte, bereits deutlich zurückgestellt oder gar aufgegeben hatte. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Luther im Spätjahr 1517 die avisierte Disputation über die Ablassthesen tatsächlich durchzuführen beabsichtigte. Alles spricht hingegen dafür, dass er die von vornherein vorgesehene ‚literarische‘ Auseinandersetzung mit jenen, die „nicht anwesend sein könnten, um sich mit ihm auseinanderzusetzen“ – wie es in der intitulatio der Thesen heißt –, als eigentliche Diskursform vor Augen hatte. Im Rahmen einer primär publizistischen Debatte machte die fortlaufende Zählung durchaus Sinn, denn sie akzentuierte den Zusammenhang der Thesen und vereinfachte die Bezugnahme bzw. Zitation. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 79 Geht man aufgrund der Indizien also davon aus, dass Luther die „95 Thesen“ eigenhändig zwei Mal in den Druck gegeben hat – bei dem lokalen Wittenberger ‚Universitätsdrucker‘ Johann Rhau-Grunenberg († wohl 1529) und in der Leipziger Offizin Jakob Thanners, die vermittels der Infrastruktur der sächsischen Marktund Messemetropole eine zügige und weite Verbreitung der Druckerzeugnisse ermöglichte und gewährleistete –, ergibt sich ein komplexes, gleichwohl kohärentes Gesamtbild von Luthers Handeln im Umkreis des 31. Oktobers 1517. Das Datum seines Schrittes ‚in die Öffentlichkeit‘ hatte er gewählt, weil die üppigen Ablassgnaden, die an der Wittenberger Schlosskirche zu Allerheiligen geboten wurden, besondere Aufmerksamkeit auf die Ablassthematik und eine vermehrte Präsenz von Besuchern erwarten ließen. Wenn Luther, statutenkonform, eine Anbringung der Thesen an den Türen der Wittenberger Kirchen betrieben hätte – was wahrscheinlich ist –, wären die Thesen in Wittenberg bekannt geworden. Ulrich von Dienstedts Versand eines Exemplars an Scheurl könnte darauf hindeuten, dass es einen gewissen öffentlichen ‚Vertrieb‘ der Thesen in Gestalt des Wittenberger ‚Urdrucks‘ gegeben hat. Nach allem, was wir wissen, hatte Luther wegen der Veröffentlichung seiner „95 Thesen“ niemanden ins Vertrauen gezogen, sondern handelte weitgehend ‚auf eigene Faust‘. Dies ist insbesondere im Verhältnis zu Georg Spalatin (1484–1545), den Berater und Vertrauten des Kurfürsten und Luthers wichtigsten und engsten Korrespondenzpartner überhaupt, aufschlussreich. Luther setzte wohl voraus, dass der kursächsische Hof gar nicht anders hätte reagieren können, als ihn von einer Kritik am Ablass abzuhalten. Denn man selbst profitierte vom Ablassgeschäft in erheblichem Umfange; Friedrichs Reliquiensammlung war eine der größten der Zeit. Sie bot gewaltige Zeiträume der Befreiung von Fegefeuerpein an. Also hielt Luther Spalatin und den Hof aus seinen Plänen in Sachen Ablasskritik heraus. In seinem Brief an den obersten Kommissar des Petersablasses, den Erzbischof Albrecht von Magdeburg und Mainz, behandelte Luther den Ablass als eine zutiefst kritikwürdige Angelegenheit. Sollte der Ablassverkauf fortgehen, werde sich der Prälat vor Gott für die Seelenverderbnis unzähliger Christenmenschen verantworten müssen. In diesem Schreiben ließ er keinen Zweifel daran, dass der Ablass umgehend abzuschaffen sei. Dadurch freilich, dass er die Thesen einer geplanten akademischen Disputation, mutmaßlich in gedruckter Form, beifügte, behandelte er den Ablass zugleich als eine offene theologische Frage, die erst geklärt werden müsse. Dies war in der Tat auch der Fall. Erst im Herbst 1518 schuf die römische Kurie in Gestalt einer von Kardinal Thomas de Vio, genannt Cajetan (1469–1534), verfassten päpstlichen Ablassdekretale jene eindeutige Rechtsgrundlage, mit deren Hilfe dann eineinhalb Jahre später auch die Verurteilung Luthers über die Bühne gebracht werden konnte. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 80 Thomas Kaufmann Eine Reihe an Indizien deuten darauf hin, dass es, zumal aus Luthers Sicht, im Herbst 1517 keineswegs unrealistisch war, auch unter Theologen und führenden Kirchenmännern eine breitere Zustimmung für seine Ablasskritik zu finden. Indem Luther seine Thesen drucken ließ, und dies wohl gleich zwei Mal, tat er alles ihm Mögliche, um die Angelegenheit von vornherein in die außerakademische Öffentlichkeit zu ziehen und auf publizistischem Feld abzuhandeln. Die Disputationsthesen waren also nicht mehr, aber auch nicht weniger, als eine traditionelle Form, derer er sich bediente, um mit ‚gefährlichen Ideen‘ eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Dabei zielten die Aktivitäten des Augustinereremiten von vornherein deutlich über die Provinzuniversität Wittenberg hinaus. In Bezug auf die Beurteilung von Luthers Rolle ergibt sich daraus, dass er hochgradig intentional handelte. Der Eindruck, den er später gelegentlich selber erzeugte, nämlich dass er in den Ablassstreit und die sich aus ihm ergebenden Konsequenzen gleichsam ‚hineingetappt‘ sei und dass die recht komplizierten akademischen Thesen kein geeignetes Mittel gewesen wären, um die Kritik am Ablass zu verbreiten, wird der reflektierten Weise, in der er im Umkreis des 31. Oktober 1517 vorging, kaum gerecht. Denn Luthers Handeln zielte von vornherein darauf ab, dass es eine breite Auseinandersetzung um die in der zeitgenössischen Frömmigkeitskultur ubiquitär präsente Ablassthematik geben sollte. Dass er sich auch in seiner Kritik am Ablass als loyal sein wollendes Glied der römischen Kirche, meinetwegen auch als ‚Reformkatholik‘, empfand, ist unstrittig. Ihm lag daran, dieser Kirche aus einer bedrohlichen Glaubwürdigkeitskrise, in die sie durch das fiskalisierte Heil geraten war, heraus zu helfen. Eindeutig ist aber auch, dass er sich seiner Kritik am Ablass sicher war und deshalb entschlossen in die Öffentlichkeit ging, d. h. sich konsequent publizistischer Mittel bediente. Die Pointe von Erwin Iserlohs (1915–1996) These7 bestand darin, dass die Protestanten Jahrhunderte lang eines Vorgangs triumphierend gedacht hätten, der gar nicht stattgefunden habe; in Wirklichkeit, so Iserloh, habe Luther zunächst auf eine Verständigung mit seinen Kirchenoberen gesetzt und die Öffentlichkeit geradezu gescheut. Der springende Punkt meiner auf den zweimaligen Druck der „95 Thesen“ hinauslaufenden Rekonstruktion der Vorgänge um den 31. Oktober 1517 besteht darin, Luther von seinen frühesten Anfängen an als das zu begreifen, was er tatsächlich war und was seinen ‚Erfolg‘ begründen sollte: Ein genialer Publizist, ein ‚printing native‘, ein Propagandist und Agitator, der die Möglichkeiten der relativ jungen Technologie des Buchdrucks auf revolutionäre Weise im Sinne seiner Interessen und Anliegen zu nutzen wusste. Die erstaunliche Sicherheit im 7 Vgl. den Neudruck in E. Iserloh, Der Thesenanschlag fand nicht statt, in: U. Wolff (Hg.), Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt (SOF 61), Basel 2013, S. 169–238. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 81 Umgang mit dem Druckwesen, die bei Luther auch aufgrund seines Briefwechsels spätestens seit 1518 annähernd lückenlos dokumentiert ist, stand ihm bereits zu Beginn seiner reformatorischen Publizistik zur Verfügung. 2. Der zweite mikrologische Blick ist auf die Beschleunigung der Druckproduktion bezogen; er ist allerdings nur im Zusammenhang allgemeinerer Bemerkungen zur Lage des Wittenberger Buchdrucks sinnvoll. Die einzige Wittenberger Druckerei, die Johannes Rhau-Grunenbergs, steigerte ihre Produktion im Jahre 1518 gegenüber den durchschnittlichen Leistungen der Vorjahre um mehr als das Doppelte – auf 29 Titel, die auf ca. 120 Quartbogen gedruckt wurden.8 Gleichwohl reichten ihre Kapazitäten bereits seit Spätsommer 1518 nicht mehr aus,9 als auch Karlstadts (1486–1541) Kontroverse mit Eck (1486–1543) in eine entscheidende Phase eintrat, um die publizistischen Ansprüche und Herausforderungen der Wittenberger Gelehrten in den frühreformatorischen Auseinandersetzungen zu befriedigen. Knapp 75 Prozent des Produktionsvolumens Grunenbergs, also etwa 80 Quartbogen, waren allein für die Texte Luthers benötigt worden. Insbesondere die längeren Schriften, die nicht, wie der Großteil der nur ein bis zwei Bogen umfassenden Flugschriften, binnen Wochenfrist hergestellt werden konnten, stellten für die Grunenberg’sche Offizin ein erhebliches Problem dar; denn sie blockierten die Pressen und drohten die immer nötiger werdenden schnellen Reaktionen des Wittenbergers einzuschränken. Die Unterstützung, die Luther deshalb seit 1518 regelmäßig bei Leipziger Druckern suchte, dürfte – vor allem im Falle der Leipziger Erstdrucke seiner Schriften – mit einer persönlichen Kontaktaufnahme zu den Druckern verbunden gewesen sein. Als Grunenbergs Pressen etwa im Sommer 1518 noch immer mit dem Druck der „Resolutiones“ beschäftigt waren, Luther aber dringend auf den „Dialogus“ des Prierias (1456–1523), die erste gegen ihn gerichtete Schrift aus dem Umkreis des Papstes, replizieren wollte, wurde er bei 8 9 Zahlen nach VD – ZV; aufgelistet bei C. Reske, Die Anfänge des Buchdrucks im vorreformatorischen Wittenberg, in: S. Oehmig (Hg.), Buchdruck und Buchkultur im Wittenberg der Reformationszeit (SLSA 21), Leipzig 2015, S. 35–70, hier S. 63. Vgl. Kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Andreas Bodensteins von Karlstadt, ed. T. Kaufmann, Bd. 1, Teilbd. 1–2: Schriften 1507–1518 (QFRG 90/1-2), Gütersloh 2017, Teilbd. 2: 1518, bes. S. 903 f., Nr. 90; vgl. auch Karlstadts 30 Blätter umfassende, bei Grunenberg gedruckte „Defensio“ gegen Eck, die im September/Oktober 1518 fertiggestellt wurde: A. Karlstadt, Defensio Andree Carolstadii adversus eximii. D. Ioannis Eckii theologę […], Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg 1518 (VD16 B 6138). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 82 Thomas Kaufmann Melchior Lotter d. Ä. (1470–1549) vorstellig, der sich allerdings entschied, beider Kontrahenten Texte herauszubringen.10 Die ungemein zügige publizistische 10 Ich vermute, dass Luther bei seiner Reise nach Dresden (ca. 25.7.1518) die Manuskripte für die Thesenreihe „Pro inquirenda et timoratis conscientiis consolandis“ – vgl. Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod, edd. J. Benzing / H. Claus, 2 Bde. (BBA 10), Baden-Baden 21989/94, Bd. 1, S. 29, Nr. 209 –, die inhaltlich mit den „95 Thesen“ und den dann im Juli/August 1518 bei Grunenberg hergestellten „Resolutiones“ – vgl. M. Luther, Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute […], Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg 1518 (VD16 L 5787) – eng zusammenhängen und den ‚Dialog‘ mit Prierias nebst seiner „Responsio“ darauf – vgl. Ders., Ad Dialogum Silvestri Prieratis […] de potestate papae responsio […], Leipzig: Melchior Lotter d. Ä 1518 (VD16 L 3670); vgl. dazu auch: Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (a. a. O.), S. 31, Nr. 224 ff. – nach Leipzig expedierte und dort bei Valentin Schumann († 1542) und Melchior Lotter d. Ä. drucken ließ. Für die Thesenreihe ist ein Datierungshinweis nicht bekannt, vgl. M. Luther, Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones 1518, in: WA, Bd. 1, Weimar 1883, S. 629–633, hier S. 629 f.; in Bezug auf die „Responsio“ auf Prierias ist gesichert, dass Luther nach Ausweis eines Briefes an Spalatin (28.8.1518) voraussetzte, dass sie una cum ipso Dialogo in Leipzig herauskomme und er sie ihm demnächst schicken könne; WA BR, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 189 ff., Nr. 87, hier S. 190,33 f.; bei dem Lotter’schen Druck – vgl. M. Luther, R. P. Fratris Silvestri Prieratis ordinis predicatorum et sacre Theologie professoris celeberrimi […] in presumptuosas Martini Luther conclusiones de potestate pape dialogus, Leipzig: Melchior Lotter d. Ä. 1518 (VD16 L 4458); vgl. auch Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521), edd. P. Fabisch / E. Iserloh, Münster 1988, T. 1: Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen (1517–1518) (CCath 41), S. 45, 48; zum historischen Kontext usw. vgl. ebd., S. 19 ff. – fällt auf, dass er sich in seiner Aufmachung (Titelbordüren etc.) von dem der Luther’schen „Responsio“ (VD16 L 3670) nicht unterscheidet. Möglicherweise deutet die Wendung una cum (vgl. oben in dieser Anm.) darauf hin, dass Luther seine Absprachen mit Lotter so verstanden hatte, dass an eine Sammelausgabe mit beiden Schriften gedacht war; entsprechend ist der „Dialogus“ ja dann auch kurze Zeit später in die Froben’sche Sammelausgabe – vgl. dazu T. Kaufmann, Capito als heimlicher Propagandist der frühen Wittenberger Theologie. Zur Verfasserfrage einer anonymen Vorrede zu Thesen Karlstadts in der ersten Sammelausgabe von Schriften Luthers [Oktober 1518], in: ZKG 103 (1992), S. 81–86 – aufgenommen worden, vgl. auch Dokumente zur Causa Lutheri, edd. P. Fabisch / E. Iserloh, T. 1 (a. a. O.), S. 51. Ob die Entscheidung zum Nachdruck des „Dia­logus“ zu Recht Luther zugeschrieben wird („Daß der Reformator seines Gegners Schrift ohne jegliche Bemerkung seinerseits wiederdrucken ließ, war ein scharfes Urteil über sie“; M. Luther, Ad dialogum Silvestri Prieratis de potestate papae responsio 1518, in: WA, Bd. 1 [a. a. O.], S. 644–686, hier S. 645) ist m. E. alles andere als eindeutig. Am 16. September 1518 teilte Luther Lang auf dessen Frage nach einem Exemplar des „Dialogus“ mit: Dialogos Sylvestrinos non habeo, nisi hunc unum; alios excudit Melchior Lotther, venditis omnibus prio­ ris excusionis exemplaribus. Ita enim Dominicales Fratres omnia emunt et supprimere conantur; WA BR, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 202–204, Nr. 93, hier S. 203,5–8. Der Hinweis darauf, dass die Ordensbrüder des Prierias die erste Auflage aufkauften, um die Schrift des Prierias zu unterdrücken, dürfte entweder ein Witz sein oder Luthers Erklärung dafür, warum diese salvo errore Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 83 Reaktion auf Prierias wurde charakteristisch für Luthers Agieren in den kommenden Monaten und Jahren. Immer dann, wenn die typografische Infrastruktur in Wittenberg beschleunigte Kommunikationsakte nicht zu bewältigen vermochte, wurde die Unterstützung durch Leipziger Pressen gesucht. Im Februar 1519 traten Luther und vier seiner Kollegen – der Mediziner Petrus Burckhart (ca. 1461–1526) und die Theologen Bartholomäus Bernhardi (1487– 1551), damals amtierender Rektor, Karlstadt und Nikolaus von Amsdorf (1483– 1565) – gegenüber dem Kurfürsten dafür ein, einen weiteren Drucker nach Wittenberg zu holen.11 Interessanterweise begründeten sie dieses Bedürfnis nicht mit den Kapazitätsengpässen, in die das Wittenberger Buchgewerbe vor allem durch Luther geraten war, sondern mit dem Wohlergehen der Universität. Auch der Bericht, den Luther Spalatin gegenüber von einem Besuch lieferte, den der Leipziger Drucker Lotter d. Ä. im Mai 1519 in Wittenberg abgestattet hatte, zielte ganz darauf ab, dem Kurfürsten plausibel zu machen, welche Vorteile die Universität durch ihn gewönne. Lotter habe ihm die von Froben (ca. 1460–1527) erhaltenen Matrizen, aus denen die Typen gegossen würden, gezeigt und sei bereit, in Wittenberg eine officina excusoria einzurichten, wenn der Kurfürst seine Zustimmung dazu gebe. Die Entwicklung der Universität werde dies ungemein fördern, da für die Hörer nun verlässliche Texte, auch und vor allem in griechischer Sprache, wie sie vor allem Melanchthon (1497–1560) benötige, hergestellt werden könnten.12 Spalatin solle sich deshalb in dieser Sache gegenüber dem Kurfürsten engagieren. Zu Beginn des Jahres 1520 nahm die von Melchior Lotter d. J. (ca. 1490–1542) geleitete Lotter’sche Filiale dann ihre Tätigkeit in Wittenberg auf. Vergleicht man die Menge der von den nunmehr zwei Wittenberger Offizinen, der Lotters und der Rhau-Grunenberges, im Jahre 1520 gesetzten und gedruckten Bogen, wird abgründig schwache Schrift eine so große Nachfrage erreichte. Vermutlich hat das Interesse an Luthers „Responsio“ auch das am „Dialogus“ befördert. Die Information bzgl. des Nachdrucks bezeugt jedenfalls auch, dass Luther in engem Kontakt mit Lotter d. Ä. stand. Die insgesamt drei Ausgaben, die Lotter von Luthers „Responsio“ druckte (vgl. Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (a. a. O.), S. 31, Nr. 224 ff.) deuten jedenfalls darauf hin, dass sich der erfahrene Leipziger Drucker hinsichtlich der Auflagenhöhe verschätzt haben muss; mit der „Responsio“ verdiente Lotter erstmals an Luther. 11 Auch ist’s bei vielen fur gut angesehen, so wir mochten einen redlichen Drucker hie zu Wittenberg haben, dann das sollt nit wenig der Universität Furderung und E. K. Gn. Ehr einlegen; WA BR, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 349 f., Nr. 155, hier S. 350,32–34 (23.3.1519). 12 Venit Melchior Lotterus, instructus optimis formularum matricibus e Frobenio acceptis, paratus apud nos officinam excusoriam instruere, si adhoc illustriss[imus] princeps noster annuere dig­ nabitur […]. Nobis id decorum, imprimis Universitati nostrę, tum comodum auditoribus arbitra­ mur, praesertim praesente Philippo, Gręcas literas & fideliter & copiose propagare cupiente. Ebd., S. 381–384, Nr. 171, hier S. 381,4–11 (8.5.1519). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 84 Thomas Kaufmann klar, dass die Produktionsleistung der Wittenberger Lotterfiliale die Grunenbergs um etwa das Dreifache, sowohl bezogen auf Lutherschriften (60 Bogen zu 193 Bogen) als auch in Hinblick auf die Gesamtproduktion (109½ Bogen zu 298½ Bogen),13 überstieg. Unter den Wittenbergern war Karlstadt in diesem Jahr der Autor mit den zweitmeisten Drucken; wie im Falle Luthers verteilten sich seine Schriften einigermaßen gleichmäßig auf Grunenberg14 und Lotter d. J.15 Die Produktionsmenge an bedruckten Bogen anderer Autoren, die Lotter vorlegte, lag mit 105½ Bogen etwa doppelt so hoch wie die Grunenbergs (49½ Bogen). Auch griechische Drucke spielten bei ihm bereits eine erhebliche Rolle.16 Die Erwartungen, die von Seiten der Universität an Lotters Tätigkeit gestellt worden waren, scheint seine Druckerei also sehr zügig und in erheblichem Umfange erfüllt zu haben; der typografische Notstand der Wittenberger, der im Sommer 1518 erstmals aufgetreten und 1519 akut geworden war, war mit Beginn des Jahres 1520 überwunden. Zu den handschriftlichen Vorlagen der Drucke lässt sich Folgendes feststellen: Von keinem anderen Autor der Reformationszeit sind so viele Druckmanuskripte erhalten wie von Luther. Für seine früheste Schaffenszeit, das Jahrfünft zwischen seiner ersten Veröffentlichung, der Ausgabe der „Theologia deutsch“17 aus dem Dezember 1516 und der bis Anfang März 1522 währenden Wartburgzeit, liegen allerdings vergleichsweise wenige Handschriften vor; es hat sich die überschaubare Menge von vier überwiegend vollständigen Druckmanuskripten von Luthers Hand erhalten. Es handelt sich um die Schriften „Von den guten Werken“, „Grund 13 Die Zahlenwerte basieren auf den im VD16 unter 1520 den genannten Offizinen zugewiesenen Drucken; im Falle Rhau-Grunenberg sind dies 34 Drucke (davon 20 Luther), im Falle Lotter/Wittenberg handelt es sich um 60 Drucke (davon 31 Luther). 14 Vgl. VD16 B 6121, VD16 B 6122, VD16 B 6173, VD16 B 6250, VD16 B 6255; Karlstadts längste Schrift („De canonicis scripturis“) druckte Grunenberg, vgl. A. Karlstadt, De canonicis scripturis libellus […], Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg 1520 (VD16 B 6121). 15 Vgl. VD16 B 6109, VD16 B 6259, VD16 B 6133, VD16 B 6253, VD16 B 6210, VD16 B 6214. 16 Ende April 1520 erwähnt Melanchthon Graeciae nostrae primitias, also den ersten, nicht identifizierten griechischen Druck Lotters; PM Bw, ed. R. Wetzel, Bd. 1: Texte 1–254 (1514–1522), Stuttgart/Bad Cannstatt 1991, S. 203,21, Nr. 88; vgl. auch ebd., S. 203–205, Nr. 89 (Vorwort zu Aristophanes); vgl. auch Melanchthon-Bibliographie 1510–1560, ed. H. Claus, Teilbd. 1: 1510–1540 (QFRG 87/1), Gütersloh 2014, S. 46–48, Nr. 1520.10–13; VD16 B 5020; VD16 H 4712 (Homer, Odyssee); Melanchthon-Bibliographie, ed. H. Claus, Teilbd. 1 (a. a. O.), S. 49 f., Nr. 1520.16; VD16 P 3310. 17 Vgl. Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 14, Nr. 69; VD16 T 890; M. Luther, Vorrede zu der unvollständigen Ausgabe der „deutschen Theologie“. Dezember 1516, in: WA, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 153 f., hier S. 153; der Wittenberger Urdruck Johann Rhau-Grunenbergs trägt das Tagesdatum 4.12.1516. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 85 und Ursach aller Artikel“, „Ein Urteil der Theologen zu Paris“ und – lediglich fragmentarisch überliefert – „Wider den falsch genannten Stand des Papstes und der Bischöfe“.18 Die beiden letztgenannten Schriften entstanden auf der Wartburg und unterlagen den spezifischen Produktionsbedingungen dieses Lebensabschnittes, in dem Luther die sonst im Falle der Wittenberger Drucke seiner Schriften mögliche und in Anspruch genommene direkte Einwirkung auf den Druckprozess, insbesondere durch Korrekturen,19 verwehrt war. Diese vier Handschriften spiegeln eine sehr elaborierte Arbeitsweise; sie ist das Ergebnis eines mehrjährigen Lernprozesses, den er in der Erstellung von Druckvorlagen absolvierte. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die erste umfänglichere Schrift, die bei Lotter d. J. erschien, nämlich den Traktat „Von den guten Werken“. Luthers Handschrift dieses Textes hat sich gemeinsam mit seinem Manuskript zu dem Urteil der Pariser Theologen in einem Sammelband der einstigen Stadtbib­ liothek Danzig/Gdańsk erhalten.20 Es handelt sich um 70 Blätter; die einzelnen der überwiegend sechs Blätter umfassenden Bogenlagen – A1r bis N1v – sind durchgängig von Luthers eigener Hand beschriftet und in der Regel fortlaufend – z. B. Bg. C1r bis C6r – durchgezählt worden. Das Manuskript ist im Wesentlichen ausgesprochen gut lesbar. (Abb. 2) Luther hat es offenbar sogleich als Satzvorlage abgefasst; da die Handschrift durchgängig Korrekturen von seiner eigenen Hand aufweist, ist davon auszugehen, dass es sich um das ursprüngliche und einzige Manuskript der Schrift handelt; eine Vorfassung, die in eine Reinschrift überführt worden wäre, existierte also mutmaßlich nicht. Die Handschrift weist ein im Ganzen homogenes Erscheinungsbild auf; die längere Bearbeitungszeit, 18 Zu den Handschriften Luthers, sofern es sich um (potenzielle) Druckmanuskripte handelt, vgl. meine Auflistung in T. Kaufmann, Mitte der Reformation (wie Anm. 1), S. 99 f., Anm. 279. 19 Zur Frage, ob Luther selbst Korrektur gelesen hat, vgl. Ders., Von der Handschrift zum Druck – einige Beobachtungen zum frühen Luther, in: Ders. / E. Mittler (Hgg.), Reformation und Buch. Akteure und Strategien frühreformatorischer Druckerzeugnisse / The Reformation and the Book. Protagonists and Strategies of early Reformation Printing (BuW 49), Wiesbaden 2016, S. 9–36. 20 Vgl. BGPAN, Nr. inw. 1397 = Ms. 1985; frühere Sign. XX C.q 410 (im Folgenden als Ms. 1985 zitiert); fehlerhaft in: M. Luther, Luthers Handschrift des Sermons von den guten Werken. 1520, in: WA, Bd. 9, Weimar 1893, S. 226–301, hier S. 226. Es handelt sich um einen mit Leder überzogenen Pappband aus dem 16. Jahrhundert. Einem in den Band eingeklebten Katalogzettel ist zu entnehmen, dass die Handschrift wohl erst im 18. Jahrhundert nach Danzig kam, als sie der Danziger Bürgermeister Gottfried Schwartz (1716–1777) für einen hohen Preis in Augsburg [hatte, Anm. T. K.] ankaufen lassen. Der Band enthält 121 mit neuerer Bleistiftbezeichnung durchgezählte Blätter; Verweise auf diesen Handschriftenband werden mit Ms. 1985 angegeben; die jeweilige Blattangabe bezieht auch auf die durchgehende Bleistiftzählung. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 86 Thomas Kaufmann von der wir aufgrund der Korrespondenz wissen, hat im Manuskript nur geringe Spuren hinterlassen.21 21 Eine solche sehe ich nach dem Abschluss der Auslegung der ersten beiden Gebote, vgl. M. Luther, Von den guten Werken, 1520, in: WA, Bd. 6, Weimar 1888, S. 196–276, hier S. 229,14; Ders., Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 255,6; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 74r. Luther setzte bei der Auslegung des dritten Gebotes zunächst mit der (falschen) Zahl 31 – vgl. M. Luther, Von den guten Werken (a. a. O.), S. 228,3; Ders., Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 253,34 – ein, die er schon als letzte Ziffer bei der Auslegung des zweiten Gebotes verwendet hatte. Dann strich er diese Zahl wieder durch und begann mit einer neuen Zählung für das dritte Gebot, obschon er beim ersten und zweiten fortlaufend gezählt hatte. Eine weitere, gravierendere Unterbrechung sehe ich innerhalb der Auslegung des dritten Gebotes, nach Ders., Von den guten Werken (a. a. O.), S. 243,4; Ders., Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 268,29 mit Anm. 4; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 87v. Luther hatte diesen Abschnitt bereits mit der Bemerkung beendet: Unnd das sey gnug gesagt von der ersten taffell und dreyen gepoten gottis folgett die andere Taffell. Dieser Satz war dann mit demselben roten Stift gestrichen worden, den der Setzer auch sonst benutzte; ebd. Die Handschrift weist in den beiden Schlusszeilen der Bogenlage F überdies nicht die Flüssigkeit auf, die Luthers Linienführung sonst eignet; auch einzelne Buchstaben sind erkennbar anders geschrieben als bei Luther sonst üblich. Schon Nikolaus Müller (1857–1912) hat erkannt, dass diese beiden letzten Zeilen nicht von Luthers Hand geschrieben sind, vgl. M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 268, Anm. 4. Bogenlage G setzt sodann in der ersten Zeile mit einem linken Überhang in Zeile eins ein, wie er sonst in Luthers Manuskript nicht begegnet; diese Zeile, die eine Fortsetzung des von anderer Hand geschriebenen Satzes: [fremde Hand, Anm. T. K.] Zum Sibenczehenden hat diß gebot nach geistlichen verstant noch vil ein hoher werck welchs [Ms. (wie Anm. 20) 1985, fol. G1r/88r, Luthers Hand, Anm. T. K.] antr begreyfft die gantz natur des menschenn. Wahrscheinlich wollte Luther zunächst antrifft formulieren, diktierte dem unbekannten Schreiber dann aber begreyfft. Der innere Zusammenhang zwischen dem Satz: Czum Sibentzehenden hat disz gebot nach geistlichem vorstand noch vil ein hohers werck, wilchs begrifft die gantz natur des menschen; M. Luther, Von den guten Werken (a. a. O.), S. 243,5 f., und dem Anschlusssatz: Hie musz man wissen, das ‚sabbat‘ auff Hebreisch feyr odder ruge; ebd., S. 243,6 f., ist inhaltlich sehr problematisch. Die angekündigte anthropologische Unterweisung jedenfalls unterbleibt; stattdessen folgt eine allegorische Deutung des Sabbats. Die Auslegung des dritten Gebotes wurde also unten auf Bogenlage F6v mit dem 17. Abschnitt fortgeführt; bald darauf hat Luther dann die Zahl 17 ein zweites Mal verwendet – vgl. G1v; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 88v – also nicht mehr gewusst, dass er bereits bis 17 gezählt hatte, vgl. M. Luther, Von den guten Werken (a. a. O.), S. 243,5; Ders., Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 268,29; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 87v. In den Urdruck ist die doppelte Zählung der 17 dann eingegangen, vgl. M. Luther, Von den guten werckenn, Wittenberg: Melchior Lotter d. J. 1520 (VD16 L 7141), fol. H4v, J1v. Diese Doppelung scheint mir am einfachsten dadurch erklärbar, dass Luther die neuerliche Fortsetzung der Auslegung des letzten Gebotes der ersten Tafel auf den beiden Zeilen am Schluss der Bogenlage F6v diktierte und von anderer Hand notieren ließ und dann die erste Zeile auf Bogenlage G1r weiterschrieb, die Arbeit dann aber vorerst unterbrach. Die bisher beschriebenen Manuskriptbogen gingen dann vermutlich in die Druckerei; deshalb war ihm der Manuskriptbogen, auf dem er die Zählung Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 87 Abb. 2: Beispielseite aus Luthers Druckmanuskript „Von den guten Werken“, hier fol. 56r [Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk, Nr. inw. 1397 = Ms. 1985]. Luther war erkennbar um eine klare Linienführung bemüht; die Textseiten sind regelmäßig mit je ca. 25 bis 29 Zeilen beschrieben. Für einen erfahrenen Drucker dürfte aufgrund dieses ordentlichen Manuskriptes eine Umfangs- und damit Kostenkalkulation mühelos möglich gewesen sein. Die Textmenge einer Druckentsprach in etwa dem Umfang einer normal beschriebenen Manuskriptseite. Luther hat die von ihm vorgesehenen Absätze durch Einrücken der Zeile gekennzeichnet; auch die Zwischenüberschriften sind im Manuskript hervorgehoben. (Abb. 3) Eine einheitliche Durchsicht des Gesamtmanuskriptes durch Luther mit 17 fortgeführt hatte, nicht mehr zur Hand. Sodann zählte er aus dem Gedächtnis und vertat sich um eine Nummer. Da die Auslegung zum dritten Gebot nun weitergeführt wurde, strich der Setzer, sicher auf Weisung Luthers, den oben zitierten Übergangssatz zur Auslegung der zweiten Tafel. Das bisher fertiggestellte Manuskript ging in den Satz. Vielleicht ist es die einfachste Erklärung, dass Luther entweder einem Setzer oder einem das Manuskript in die Lotter’sche Offizin tragenden amanuensis den Beginn von 17 diktierte und er seinerseits den neuen Bogen begann, an dem er nun, ohne das vorangehende Manuskript, weiterarbeitete. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass ein Mitarbeiter der Lotter’schen Druckerei zu Luther kam und um neuen Text bat, da man ‚Leerlauf ‘ befürchtete und Luther das gerade bis an das Ende einer Bogenlage gelangte Manuskript zu „Von den guten Werken“ herausgab. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 88 Thomas Kaufmann Abb. 3: Beispielseite aus Luthers Druckmanuskript „Von den guten Werken“, hier fol. 117v [Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk, Nr. inw. 1397 = Ms. 1985]. selbst ist freilich unterblieben; andernfalls wäre nicht zu erklären, warum etwa Unterschiede in der Form der Überschriften zu den einzelnen Geboten – einige nennen nur seine Zahl, andere zitieren den Wortlaut22 – oder auch Inkonzinnitäten in der Zählweise einzelner Abschnitte stehen geblieben sind. Durch die Verwendung des Rubrums, bei der Einfügung von Leerzeilen und im Gebrauch des den gesamten Druck durchziehenden Kolumnentitels Jhesus (Abb. 4) – eine Gewohnheit, an der dann in der zeitgenössischen altgläubigen Polemik Anstoß genommen wurde23 –, setzte die Lotter’sche Offizin eigene satztechnische Akzente. 22 Vgl. Ders., Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 250,20 f.: Das erst Gebot der ander taf­ fell Mosi. Du solt dein Vatter und Mutter ehrenn; vgl. auch ebd., S. 265,27: Von dem Funfften Gebot; vgl. auch ebd., S. 268,8 f.: Von dem Sechsten Gebot. Du solt nit Ehebrechen. Da nun die Abschnitte zu den einzelnen Geboten jeweils kürzer geworden sind, behält Luther die einheitliche Form (Gebotszählung und Wiedergabe des Gebotes) bis zum Schluss bei, vgl. ebd., S. 270,20 f., 273,14 f. Der Setzer bildet in Bezug auf die Überschriften Luthers Vorgaben exakt ab. 23 Luther wurde von seinen altgläubigen Gegnern vorgeworfen, dass er wie ein Apotheker gutt titell auf ihre Büchsen schrieben, aber Gift darin aufbewahrten, so er auch den namen ‚Jhesus‘ auff meine gifftige buchle schreybe, wie woll nit ich, sonder die drücker das thun durchs buch, das Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 89 Abb. 4: Beispielseite aus: Martin Luther, Von den guten Werken, Wittenberg, Melchior Lotter d. J., 1520 [VD16 L 7141, hier fol. C2r]. Aufgrund von Beobachtungen am Manuskript, die darauf hindeuten, dass Luther die ersten sechs Bogenlagen bereits aus der Hand gegeben hatte, bevor das Gesamtmanuskript abgeschlossen war (Abb. 5),24 ist davon auszugehen, dass die Satzarbeiten am Druck von „Von den guten Werken“ in der Lotter’schen Offizin etwa Anfang Mai begonnen hatten. Am Ende der Bogenlage F ist von ich nur am ersten blatt thue; Ders., Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort. Darin auch Murnarrs seines Gesellen gedacht wird. 1521, in: WA, Bd. 7, Weimar 1897, S. 614–688, hier S. 678,3–7. In den Schriften Emsers, gegen die sich Luther hier wendet, konnte ich den entsprechenden Vorwurf nicht finden, vgl. aber einen Beleg bei Cochläus in: T. Kaufmann, s. u. in dieser Anm. Es wird angespielt auf den von Lotter sowohl in „Von den guten Werken“, als auch in „An den christlichen Adel“, vgl. hierzu T. Kaufmann, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (KSLuth 3), Tübingen 2014, S. 51, durchgängig verwendeten Kolumnentitel Jhesus. Luther verwendete diese apokopierte Benediktions- oder Salvationsformel (für ‚im Namen Jesus ‘) in seiner Handschrift von „Von den guten Werken“ in der Tat nur als Abkürzung Jhüs; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 50r; vgl. auch M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 229,1. 24 Vgl. oben Anm. 21. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 90 Thomas Kaufmann Abb. 5: Druckmanuskript von Luthers „Von den guten Werken“, hier fol. 87v; am Schluss des Bogens F (fol. 6v) wechselt die Handschrift. Die letzten drei Zeilen des von Luther geschriebenen Textes sind von der Hand des Setzers gestrichen. Mit Zum Sibenczenden schließt eine fremde Hand an; bei Abschluss dieses Bogens ging das Manuskript in den Satz, während Luther noch weiterschrieb [Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk, Nr. inw. 1397 = Ms. 1985]. fremder Hand – wohl einem amanuensis – der Übergang zum nächsten Bogen, der vorerst bei Luther verblieb, hergestellt worden und der vorangegangene Schluss gekürzt worden. Ich gehe davon aus, dass der erste Teil des Manuskriptes nun in die Druckerei wanderte, während Luther an dem übrigen Traktat weiterschrieb. Dass er die Zahl 17 zwei Mal verwendete, war auch eine Folge dessen, dass ihm der erste Teil des Manuskriptes nicht mehr zuhanden war. Vielleicht darf ich an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass ich ähnliche Vorgänge für die literarischen Uneinheitlichkeiten der gleichfalls bei Lotter gedruckten ‚Adelsschrift‘ verantwortlich mache. Die Auflagenhöhen der jeweiligen Erstdrucke von „Von dem Papsttum zu Rom“ und „Von den guten Werken“ waren deutlich hinter den Absatzmöglichkeiten zurückgeblieben; dies zeigte sich daran, dass Lotter von der erstgenannten Schrift eine25 Neuausgabe herstellte, von „Von den guten Werken“ sogar drei, wobei zwei Neuausgaben auf vollständigem Neusatz basierten.26 Dass 25 Vgl. Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 79, Nr. 656 (VD16 L 7132); die beiden Drucke, vgl. ebd., S. 79, Nr. 655 f., unterscheiden sich signifikant; insofern ist von einem vollständigen Neusatz auszugehen. 26 Vgl. ebd., S. 76, Nr. 634–636 (VD16 L 7141, 7142, 7143); die Nr. 633 und 634 unterscheiden Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 91 Melchior Lotter ein knappes Vierteljahr später bei der Erstausgabe der ‚Adelsschrift‘ gleich mit einer Auflage von 4.000 Exemplaren startete,27 war das Ergebnis eines Lernprozesses, den er vor allem an den beiden unmittelbar vorangehenden umfänglicheren deutschen Schriften Luthers durchlaufen hatte. Was lässt sich hinsichtlich der Umsetzung von Luthers Manuskript von „Von den guten Werken“ im Lotter’schen Druck feststellen? Grundsätzlich ist klar, dass der Setzer Luthers Orthografie nicht folgt. Dabei sind einige allgemeinere Tendenzen festzustellen:28 Die Menge der Doppelkonsonanten wird im Druck tendenziell eher verringert (z. B. und für unnd/t; werden für werdenn; halt für hallt; gebot für gepott), die Varietäten einer Schreibweise, gegen Luther, reduziert (z. B. glaube für glawbe; werk für werg oder werck), von dem Wittenberger Reformator getrennt geschriebene Infinitive (zu thun; zu wissen) häufiger zusammengeschrieben (zuthun; zuwissen) und dialektale Lautbildungen standardisiert (arbeyten statt erbeyten). Die Schreibweisen sind noch deutlich von den Standardisierungstendenzen, die sich seit der Mitte der 1520er Jahre in den Wittenberger Drucken nachweisen lassen, entfernt. Möglicherweise sind Abweichungen in der Orthographie auch dadurch zu erklären, dass dem Setzer ein Lektor zuarbeitete, der Satz also primär nach dem Gehör erfolgte. Gelegentlich wurde im Druck ein kleinerer Fehler des Manuskripts bereinigt;29 bisweilen führte ein wegen nachträglicher Korrekturen Luthers schwer lesbarer Passus zu einem Lesefehler und daher zu einem sinnentstellten Text.30 In einigen 27 28 29 30 sich durch eine Variante in der Titulatur des sächsischen Kurfürsten Friedrich – reychs Ertz­ marschalh Curfurst / reychs Curfurst; ebd., Bd. 2 (wie Anm. 10), S. 65, Nr. 633 und 634; M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 202 –, sonst in nichts; während: Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 76, Nr. 635 und 636, zwar in Titel, Umfang und Signatur etc. übereinstimmen, „im Innern“, M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 197, aber sehr voneinander abweichen. Mag man die Variante in: Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 76, zwischen Nr. 633 und 634, also als Korrektur des bestehenden Satzes deuten; die Unterschiede ebd., zwischen Nr. 635 und 636, weisen aber auf einen vollständigen Neusatz hin. „Von den guten Werken“ ist in der Lotter’schen Offizin im Jahre 1520 also drei Mal vollständig neu gesetzt worden. Vgl. WA BR, Bd. 2 (1520–1522), Weimar 1931, S. 167,9–11, Nr. 327 (Luther an Lang; 18.8.1520); vgl. zum Kontext T. Kaufmann, An den christlichen Adel (wie Anm. 23), S. 6–9. Vgl. dazu auch Ders., Von der Handschrift (wie Anm. 19). Z. B. falsches thüt in thun geändert; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 51v; M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 231,9; Ders., Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 206,4; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. A4r. Vgl. Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 52r,7 f.; Luther schreibt, vgl. M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 231,18 f.: Von dem glawen [und keinem andern werck, am Rande, Anm. T. K.] haben wyr den namen. Der Druck bietet: on dem glauben und keinem andern Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 92 Thomas Kaufmann kleineren Zusätzen des Druckes gegenüber dem Manuskript dürfte sich Luthers Hand als Korrektor zeigen.31 Allerdings ist damit zu rechnen, dass Korrekturen – nicht zuletzt wegen des typografischen Kreislaufs32 – bogenweise ausgeführt wurden; wenn eine falsche Zählung – etwa das doppelte Czum Sibent­zehenden33 – kurz hintereinander, aber auf zwei unterschiedlichen Bogen auftrat, konnte sie leicht übersehen werden. Insofern verraten die falschen Zählungen, die auch sonst bei werck haben namen; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. A4r f.; vgl. auch M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 206,14 f.; emendiert nach den späteren Drucken. Luther fügt in: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 52v,6 von unten, nachträglich den Gliederungspunkt ‚Zum Sechsten‘ am Rande ein und markiert die entsprechende Stelle mit einem Doppelstrich und einer Linie. Der Setzer hat dies fälschlicherweise als Fragezeichen gelesen und bringt: Czum sechsten / Das mugen wir bey einem groben fleischlichenn exempel sehen?; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. B1r; vgl. auch M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 207,15 f. 31 Vgl. folgende Beispiele in: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 106v/K1v: Wenn es dürch eyn unweys­ zheytt bey ettlichen vorsehen würd. Aber das ßo frey ungestrafft unvorschampt unnd unürhindertt getrieben wirtt; vgl. auch M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 287,13–15; im Druck: […] we[n] es durch ein unweißheit bey etlichen vorsehe[n] wurd / w e r e e s l e i d l i c h e r / aber das szo frey / ungestrafft / unvorschampt / und unvorhindert getrieben wirt […]; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. M2v; vgl. auch M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 262,4–6 (gesperrte Worte: Textzusatz im Druck); vgl. weiter Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 108r/K3r: Auch dann damit machen sie der lere Christi unnd unßerem glawben. eyn gutten namen; vgl. auch M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 288,19 f.; im Druck: Auch d a r u m b / dann damit machen sie der lere Christi und unserm glaubenn / ein guttenn namenn […]; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. M3v; vgl. auch M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 263,9 f. (gesperrtes Wort: Textzusatz im Druck); vgl. weiter Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 108v/K3v: Denn es mag nit alle ding alle zeyt. schnür gleych zcugahn davon sagt S. Paül Colos. 4.; vgl. auch M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 289,4 f.; im Druck: […] dan es mag nit alle ding alle zeit / schnurgleich zugan in keinem standt / die weyl wir auf erdenn in unvolkommenheit leben. Davon sagt sanct Paul Colossen. iii.; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. M4r; vgl. auch M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 263,32–34 (gesperrte Worte: Textzusatz im Druck). 32 Vgl. M. Boghardt, Der Buchdruck und das Prinzip des typographischen Kreislaufs. Modell einer Erfindung, in: P. Raabe (Red.), Gutenberg. 550 Jahre Buchdruck in Europa (Ausstellungskat. HAB 62), Weinheim 1990, S. 24–44; sowie den postum herausgegebenen Band: P. Needham (Hg.) / J. Boghardt (Mitarb.), Martin Boghardt. Archäologie des gedruckten Buches (WSGB 42), Wiesbaden 2008. 33 Sie begegnet am Schluss von Bogen H, vgl. VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. H4v; und zu Beginn von Bogen I, ebd., fol. I1v. Der Erstdruck folgt hier dem Manuskript genauestens: Zum Sibenzehendt. Die geystliche feyr; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 88v/G1v; vgl. auch M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 269,27; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. I1v; textkritisch ungenau in: M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 244,27 (mit Apparat). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 93 Luther gelegentlich begegnen34, möglicherweise mehr über die Textgenese als gemeinhin angenommen wurde. Der Setzer hat in Luthers Manuskript die jeweiligen Seitenumbrüche exakt mit Rötelstift und unter Angabe der von eins bis acht durchgezählten Einzelseiten des Quartbogens (z. B. B1–8) markiert. Diese Umbruchmarkierungen stimmen zum allergrößten Teil mit den Seitenumbrüchen des Erstdrucks überein. Gelegentlich freilich divergieren sie, zumeist exakt um eine Zeile,35 was darauf zurückführen ist, dass auf einigen Seiten bei der endgültigen Erstellung des Drucksatzes eine Leerzeile eingefügt und der Text mit dem Winkelhaken um eine Zeile auf die nächste Seite verschoben wurde. Seine Umbruchmarkierungen mit Rötelkreide fügte der Setzer also Luthers Manuskript zu jenem Zeitpunkt bei, als die Textaufnahme im Umfang einer Seite abgeschlossen, der definitive Drucksatz aber noch nicht fertiggestellt war. Diese Markierungen waren eine Hilfe, um Doppelungen oder Lücken bei der Texterfassung zu vermeiden. Aufgrund des großzügigeren Satzes ab dem vorletzten Bogen kann als sicher gelten, dass Luthers vollständiges Manuskript spätestens zu diesem Zeitpunkt in der Druckerei vorlag.36 34 Vgl. Ders., An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. 1520, in: WA, Bd. 6 (wie Anm. 21), S. 380–469, hier S. 437,1, mit: ebd., S. 440,15; vgl. dazu T. Kaufmann, An den christlichen Adel (wie Anm. 23), S. 279; vgl. auch: M. Luther, Werke in Auswahl, edd. O. Clemen / A. Leitzmann (Mitarb.), Bd. 1: Schriften von 1517 bis 1520, Berlin 51959, S. 317,31, mit: M. Luther, Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe. 1520, in: WA, Bd. 6 (wie Anm. 21), S. 349–378, hier S. 373,9 und textkritischem Apparat. 35 Weitere Beispiele dieser Abweichung um je eine Zeile sind: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 55r zu VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. B3r/v; weiter: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 58r zu VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. C1v/2r; weiter: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 60v zu VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. C4r/v; vgl. auch Ms. 1985, fol. 63r, der Beginn der Auslegung des zweiten Gebotes, war von Luther mit einer deutlich exponierten Überschrift (Rubrum; Druckbuchstaben, Unterstreichung) versehen; offenbar wollte der Setzer ursprünglich den ersten Satz des fortlaufend gezählten Paragraph 18 – vgl. M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 217,2 f. – noch auf den vorangehenden Bogen C bringen, vgl. Setzermarkierung in: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 63r, am Rande: D1; im Druck ist aber dann mit einer neuen Seite (und einer größeren Type für die Überschrift) begonnen worden: ebd., fol. 63r/B6r; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. C4v/D1r. Die Umbruchkennzeichnung fügte der Setzer demnach umgehend nach der Aufnahme des Textes auf den Winkelhaken ein; die exakte Seitengestaltung erfolgt erst in einem nächsten Schritt bei der Montage des Schriftsatzes im Druckbrett. 36 Im Fortgang des Satzes verzichtet der Setzer zusehends auf Leerzeilen zwischen den einzelnen Paragraphen, sodass die Koinzidenz zwischen den Umbruchmarkierungen und dem tatsächlichen Umbruch im Laufe des Satzprozesses tendenziell zunimmt; offenbar lag dem Setzer daran, möglichst platz- und papiersparend vorzugehen. Gegen Ende hin, d. h. auf dem vorletzten Bogen (O), werden wieder vermehrt Leerzeilen gesetzt, weil der Setzer gemerkt hat, dass Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 94 Thomas Kaufmann Die unterschiedlichen Beobachtungen, die sich zum Erstdruck und zum Manuskript von „Von den guten Werken“ machen lassen, koinzidieren darin, dass der Autor Luther und sein Drucker Lotter Hand in Hand arbeiteten, um eine beschleunigte, möglichst effektive Arbeitsweise umzusetzen. Die Professionalisierung der Druckproduktion hatte folgende Momente: Luther schrieb von vornherein so, dass von der Erstfassung des Textes gesetzt werden konnte. Der Drucker begann mit dem Satz, sobald er Kapazitäten frei hatte, auch wenn das Manuskript noch nicht abgeschlossen war. Korrekturen erfolgten in Intervallen und nicht erst bei Abschluss des Gesamtwerks; inwiefern der Autor für einzelne Bogenkorrekturen immer zur Verfügung stand, ist ungewiss. Die Beschleunigungsdynamik der Produktion, die sich daraus ergab, dass fertig gesetzte und korrigierte Bogen in der Regel in der Höhe der Auflage auszudrucken waren, da das Typenmaterial für den Satz neuer Bogen benötigt wurde, war eine Folge dessen, dass eine ökonomischen Handlungslogiken folgende Offizin wie die Lotter’sche an einem kontinuierlichen Arbeitsfluss und einer entsprechenden Auslastung aller am Produktionsprozess beteiligten Spezialisten interessiert und dass Luther auf ein zügiges Erscheinen seiner Texte aus war. Die im ersten Wittenberger Jahr der Lotter’schen Filiale gesammelten Erfahrungen bildeten eine entscheidende Grundlage für die Reformation als publizistisches Phänomen, für die Evolution Wittenbergs zu einer Druckmetropole von europäischem Rang und dafür, ambitioniertere Großprojekte zu planen. 1520, im Entscheidungsjahr der Reformation, war jene typografische Infrastruktur etabliert, an der sich alles Weitere entschied. 3. Dass die sog. Akzidenz- oder Brotdrucke des 15. Jahrhunderts, die vielfach in engstem Zusammenhang mit der ‚Türkengefahr‘ und den aus diesem Anlass angebotenen Ablässen standen, den Ausbau der einschlägigen typografischen Infrastruktur in weiten Teilen Europas befördert und vielfach Gewinne ermöglicht haben, ohne die die Herstellung aufwändiger Großprojekte wie der Gutenberg-Bibel ökonomisch unvorstellbar gewesen wäre, kann als unstrittiges Ergebnis dieser ohnehin für den verbleibenden Text nicht reicht. Spätestens also bei der Herstellung des vorletzten Bogens lag Luthers abgeschlossenes Manuskript in der Druckerei vor. Auf den Schlussbogen (P) ist eine Kreuzigungsdarstellung Cranachs gedruckt: fol. P2r, die Rückseite ist leer geblieben; man hatte also reichlich Platz übrigbehalten. Das Bildelement ist im Falle dieses Druckes also nichts anderes als eine ‚Verlegenheitslösung‘ angesichts irreversiblen Papiergebrauchs. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 95 der einschlägigen buch- bzw. mediengeschichtlichen Forschung gelten.37 Evident ist sodann, dass Luthers ‚Attraktivität‘ aus der Perspektive vieler Drucker der frühen Reformationsepoche darin bestand, dass er relativ kurze, prägnante Texte zu bieten hatte, die schnell nachzudrucken waren und mit denen sich entsprechend zügige Renditen erzielen ließen.38 In gewisser Weise trat Luther als publizistisches Phänomen in eine quasi funktionsanaloge Position zu der des Türken bzw. der Ablässe; sein literarisches Wirken trug entscheidend dazu bei, dass eine gewisse Baisse im Druckgewerbe des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts überwunden werden konnte. Was berechtigt angesichts dieser analogisierenden Beobachtungen dazu, Luther und der Reformation eine buchdruck- und mediengeschichtlich innovative Bedeutung zuzuerkennen? Im vorliegenden Rahmen kann die Antwort nur thetisch knapp und pointiert ausfallen. Die innovative und – in der Langzeitperspektive geurteilt – bahnbrechende buchdruck- und publikationsgeschichtliche Bedeutung der Reformation für die lateineuropäische Zivilisation ist, auch unter Einschluss der rückwirkenden Konsequenzen auf die römisch-katholische Konfession, in folgenden Aspekten zu sehen:39 1. Die Reformation war die erste ‚Ketzerei‘ in der Geschichte der westlichen Christenheit, die sich der Erfindung Johannes Gutenbergs (ca. 1400–1468) frühzeitig und in offensiver Weise annahm; in den sich ihr öffnenden Städten und Ländern bediente sie sich des Buchdrucks ohne substantielle Einschränkungen. Dadurch erreichte die Reformation eine weitreichende Verbreitung von Auffassungen, die durch die römische Kirche rechtmäßig verurteilt worden waren. Dass sich die traditionellen Mittel der Ketzerbekämpfung – neben der physischen Vernichtung des Verurteilten insbesondere die Verbrennung seiner geistigen Erzeugnisse in Gestalt 37 Vgl. nur M. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991; K. D. Döring, Türkenkrieg und Medienwandel im 15. Jahrhundert. Mit einem Katalog der europäischen Türkendrucke bis 1500 (HistStud 503), Husum 2013; zu den gedruckten Ablassmedien vgl. F. Eisermann, Der Ablass als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert, in: B. Hamm / V. Leppin / G. Schneider-Ludorff (Hgg.), Media salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (SMHR 58), Tübingen 2011, S. 121–143. 38 Vgl. zuletzt A. Pettegree, Brand Luther. 1517, Printing, and the Making of the Reformation, New York 2015. 39 Die folgenden Thesen finden sich z. T. in wörtlicher Übereinstimmung auch in T. Kaufmann, Der Buchdruck der Reformation und seine Weltwirkungen, in: ARG 108 (2017), S. 115–125. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 96 Thomas Kaufmann der materiellen, schriftlichen Überlieferungsträger40 – im Falle der Reformation als definitiv wirkungslos erwiesen, hing entscheidend auch damit zusammen, dass die typografisch reproduzierten ‚Ketzertexte‘ wegen ihrer schieren Menge nicht kontrolliert, geschweige denn eliminiert werden konnten. Da die reformatorische ‚Häresie‘ nicht zu unterdrücken war, hatte die lateineuropäische Zivilisation auf Dauer zu lernen, mit ihr ebenso wie auch mit anderen dissonanten geistigen Traditionen, die durch den Buchdruck bekannt geworden waren, umzugehen. 2. Die reformationszeitliche Buchproduktion war unter anderem durch eine immense Beschleunigung gekennzeichnet; diese zielte darauf ab, in möglichst großer Geschwindigkeit viele Texte, vor allem aber höhere Auflagen zu produzieren.41 Während des Jahres 1520 wurden maßgeblich durch Luthers enge Zusammenarbeit mit dem eine neu eröffnete Wittenberger Filiale leitenden Leipziger Drucker Melchior Lotter d. J. Beschleunigungsmomente erprobt und perfektioniert,42 die – wie dargestellt – für den frühreformatorischen Kommunikationsprozess im Ganzen entscheidend waren. Durch die zügige Druckproduktion wurde erreicht, dass Luther und seine Anliegen innerhalb kürzester Zeit bekannt waren, er bereits zum Zeitpunkt des Wormser Verhörs im Frühjahr 1521 ‚berühmt‘ geworden war und sich eines entsprechenden Rückhaltes breiter Bevölkerungskreise sicher sein konnte. Diese Resonanz beim ‚gemeinen Mann‘ wirkte auf die Haltung der politischen Obrigkeiten zurück und trug entscheidend dazu bei, dass der Wittenberger und seine Anhänger durch diese geduldet oder gar unterstützt wurden. 3. In der frühreformatorischen Publizistik traten aktualitätsbezogene Druckerzeugnisse, die auch in der älteren Geschichte des Buchdrucks immer wieder eine auch ökonomisch wichtige Rolle gespielt hatten, mit einer neuartigen Intensität und Einseitigkeit in den Vordergrund. Dies trug zum einen dem Umstand Rechnung, dass ‚um 1500‘ eine gewisse Stagnation des Buchmarktes eingetreten war, da der Bedarf an voluminösen, ‚klassischen‘ und teuren Büchern vorerst gedeckt schien. Dies ging zum anderen damit einher, dass in der Frühzeit der 40 Vgl. T. Werner, Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennungen im Mittelalter (VMPIG 225), Göttingen 2007. 41 Vgl. E. Weyrauch, Reformation durch Bücher: Druckstadt Wittenberg, in: P. Raabe (Red.), Gutenberg (wie Anm. 32), S. 53–59; J. Luther, Aus der Druckerpraxis der Reformationszeit, in: ZfB 27 (1910), S. 237–264; Ders., Die Schnellarbeit der Wittenberger Buchdruckerpressen in der Reformationszeit (Aus der Druckerpraxis der Reformationszeit II.), in: ebd. 31 (1914), S. 244–264; T. Kaufmann, „Ohne Buchdruck keine Reformation“?, in: S. Oehmig (Hg.), Buchdruck (wie Anm. 8), S. 13–34. 42 Vgl. T. Kaufmann, Von der Handschrift (wie Anm. 19). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 97 Reformation Personengruppen in größerer Zahl zu Autoren wurden bzw. als reformatorische Schriftsteller auftraten, die in der vorangegangenen Geschichte des gedruckten Buches keine entsprechende Rolle gespielt hatten: Frauen aus Adel und Bürgertum, Handwerker, vermeintliche oder gar tatsächliche Bauern, entlaufene Mönche und Nonnen usw. ergriffen das Wort und publizierten sog. Flugschriften gegenwartsbezogenen Inhalts. Auch wenn dieser partizipatorische Impuls des Sich-Einmischens und Mitteilens theologisch aus dem von Luther erstmals 1520 konzipierten ‚Allgemeinen Priestertum der Glaubenden und Getauften‘ gespeist war,43 wurde er infolge des Bauernkriegs doch deutlich zurückgedrängt. Allerdings blieb die Vorstellung, dass Laien, die mit der Heiligen Schrift argumentierten, grundsätzlich dazu berechtigt seien, über die ‚Lehre‘ zu urteilen und sich ‚einzumischen‘, auch in der Geschichte des frühneuzeitlichen Protestantismus präsent. 4. Bereits vor der Reformation waren volkssprachliche Bibeln, insbesondere in Deutschland, verbreitet gewesen. Doch erst infolge der auch in dieser Hinsicht an den Humanismus – insbesondere Erasmus (1466/69–1536)44 – anknüpfenden Reformation erreichte die Forderung, die Laien sollten die Bibel lesen können, eine entsprechende Dynamik, die dauerhafte gesellschaftsgeschichtliche Wirkungen zeitigte. Im Ganzen trugen die in der Reformationszeit unternommenen Anstrengungen zugunsten einer Verbreitung der Laienbibel – nicht zuletzt in Gestalt von Luthers Übersetzung – entscheidend dazu bei, dass die maßgebliche religiöse Ressource der Christenheit bekannter wurde denn je. Die reformatorische Legitimierung der laikalen Bibellektüre implizierte, dass prinzipiell jeder Christ zu einer eigenständigen religiösen Urteilsbildung befähigt und berechtigt war. Obschon auch katholische volkssprachliche Bibeln insbesondere im deutschsprachigen Raum nach der Reformation einen erheblichen Verbreitungsradius erreichten,45 blieb der grundsätzliche religiöse Status derselben im Katholizismus aber umstritten bzw. wurde durch die sog. Indices der verbotenen Bücher faktisch negiert. Gleichwohl bildete die Bibel in der Volkssprache seit dem 16. Jahrhundert ein integrales Moment der lateineuropäischen Kultur und ein Stimulans für 43 Vgl. dazu meinen Kommentar zu Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ in: T. Kaufmann, An den christlichen Adel (wie Anm. 23), bes. S. 80 ff. 44 Vgl. Ders., Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), Tübingen 22018, S. 68–101. 45 Vgl. U. Köster, Studien zu den katholischen deutschen Bibelübersetzungen im 16., 17. und 18. Jahrhundert (RGST 134), Münster 1995. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 98 Thomas Kaufmann Bildungs- und Alphabetisierungsprozesse – in allen Konfessionen; sie sind zu einem Charakteristikum der westlichen Zivilisation geworden. 5. Im Zuge reformatorischer Prozesse kam es in verschiedenen Ländern Europas dazu, dass die Bibel, aber auch andere religiöse Basistexte wie die Katechismen Luthers, jeweils zügig in die entsprechenden Nationalsprachen übersetzt wurden. In einer Reihe von Ländern bzw. Regionen – etwa Estland, Slowenien, Kroatien, Finnland oder Preußen – hatte die religiöse Aufwertung der Volkssprache im Zuge der Reformation zur Folge, dass Texte in diesen Sprachen erstmals schriftlich fixiert und typografisch reproduziert wurden. Die reformatorischen Übersetzungs- und Aneignungsprozesse gingen in der Regel damit einher, dass die Liturgien in der Volkssprache abgefasst, die Gottesdienste in einer allen Teilnehmern verständlichen Sprache gefeiert und Medien der religiösen Partizipation wie Katechismen oder Gemeindelieder durch den Buchdruck verbreitet wurden. Insofern eröffnete die Reformation überall dort, wo sie erfolgreich war, Möglichkeiten der Partizipation und des Ausbaus von Bildungsangeboten. 6. Schon während der Inkunabelzeit hatten sich einzelne politische und kirchliche Obrigkeiten der Möglichkeiten des Buchdrucks zu bedienen begonnen; sie nutzten die neue Reproduktionstechnologie, um liturgische Formulare zu vereinheitlichen, Mandate zu veröffentlichen, zu Kreuzzügen etc. zu mobilisieren oder Heilsangebote wie den Ablass weithin bekannt zu machen. Bei den üblichen Maßnahmen der Einführung der Reformation bzw. der konfessionskulturellen Umformung von Kirche und Gesellschaft46 spielte auch der Buchdruck eine wichtige Rolle. Die jeweils geltenden Kirchenordnungen wurden in gedruckter Form verbreitet; auch die liturgischen Texte, verbindlichen Gesangbücher, Bibeln mit entsprechenden Vorreden der führenden Theologen und Beigaben der landesherrlichen ‚Notbischöfe‘, katechetischen Blätter und anderes mehr wurde typografisch reproduziert und verbindlich publiziert. Die infolge der Reformation einsetzenden Prozesse herrschaftlicher ‚Verdichtung‘ konnten mit Hilfe des Buchdrucks konsequenter und effizienter umgesetzt werden. 7. Bereits im späten Mittelalter hatte sich der religiöse Buchmarkt explosionsartig vergrößert. Die Vorstellung, dass ein Mensch auch durch die Lektüre entsprechender Bücher einen substantiellen Beitrag zu seinem Heil leisten könne, war in 46 Vgl. zuletzt T. Kaufmann, What is Lutheran Confessional Culture?, in: P. Ingesman (Hg.), Religion as an Agent of Change. Crusades – Reformation – Pietism (BSCH 72), Leiden/Boston 2016, S. 127–148. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Buchdruck und Reformation 99 Mystik und Devotio moderna präsent. Die individuelle Heilsaneignung mittels entsprechender Lektüre bildete ein frömmigkeitsgeschichtliches Motiv, das die Reformation mit ihrer spätmittelalterlichen Vorgeschichte verband. Allerdings erhielt sie durch die reformatorische Zuspitzung, dass allein die als ‚Glauben‘ verstandene Relation des einzelnen Menschen zu Gott vermittels des Wortes von Christus das Heil verbürge, eine Radikalität und Einseitigkeit, die die Bedeutung der kirchlichen Heilsanstalt prinzipiell in Frage stellte. Die emsige Produktion durch den Buchdruck massenhaft verbreiteten reformatorischen Schrifttums trug wesentlich zu jener individualisierenden Religionskultur bei. 8. Indem die Reformation dem gedruckten Buch im religiösen Vollzug des einzelnen Christen und des ‚ganzen‘ christlichen ‚Hauses‘ eine wichtige und dauerhafte Bedeutung beimaß,47 förderte sie mittelbar die Alphabetisierung weiterer Bevölkerungskreise. Das gedruckte Buch spielte nicht nur in der Inaugurations- und Etablierungsphase der Reformation eine wichtige Rolle; es begleitete die sich bildenden Konfessionskulturen fortan stetig und unablässig. Die politischen und kulturellen Entwicklungsdynamiken, die die Reformation in Bezug auf die lateineuropäische Zivilisation vor allem mittels der konsequenten Nutzung des Buchdrucks auslöste oder verstärkte, sind unübersehbar. 47 Vgl. die materialreiche Studie von W. Behrendt, Lehr-, Wehr- und Nährstand. Haustafelliteratur und Dreiständelehre im 16. Jahrhundert, Diss. FU Berlin 2009, digitale Publikation: https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/10734/Behrendt_Walter_Diss.pdf ?sequence=1&isAllowed=y (letzter Zugriff am 11.3.2020); zu den politischen Dimensionen der Drei-Stände-Lehre vgl. L. Schorn-Schütte, Gottes Wort und Menschenherrschaft. Politisch-Theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit, München 2015, bes. S. 48 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Pavel Soukup Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck* Die Wortverbindung ‚böhmische‘ oder gar ‚hussitische Reformation‘ ist nicht unproblematisch. Manchmal deutet sie möglicherweise mehr an, als Autoren beabsichtigen, und in der Forschung findet sie keineswegs eine allgemeine Akzeptanz. Deshalb gilt es, konzeptionelle Inhalte, die mit der ‚böhmischen Reformation‘ verbunden werden, stets aufs Neue zu hinterfragen. Dieser Beitrag bietet eine knappe kritische Zusammenschau der Auffassungen zum Begriff ‚hussitische Reformation‘. Er hebt das Thema der öffentlichen Kommunikation in der Hussitenzeit hervor, vermittelt einen Überblick zur mediengeschichtlichen Problematik und zeigt neueste Ergebnisse sowie offene Forschungsperspektiven auf.1 Die Anwendung des Terminus ‚böhmische Reformation‘ ist besonders in der tschechischen evangelischen Geschichtsschreibung längst geläufig.2 Seine internationale Popularisierung in den letzten 25 Jahren wird durch regelmäßige Tagungen und die daraus resultierende Sammelbandreihe „The Bohemian Reformation and Religious Practice“ getragen.3 Chronologisch reicht das Phänomen ‚böhmische Reformation‘ von den 1360er Jahren und den Anfängen der Reformpredigt über Jan Hus (ca. 1370–1415) und Hussitismus samt der nach der Mitte des 15. Jahrhunderts etablierten Brüderunität weiter über den von der europäischen Reformation * 1 2 3 Diese Studie entstand im Rahmen des Projektes der GAČR, Nr. 19-28415X, am Philosophischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Mit der für die böhmische (hussitische) Reformbewegung benutzten Begrifflichkeit habe ich mich in einer früheren Studie auseinandergesetzt, vgl. P. Soukup, Kauza reformace. Husitství v konkurenci reformních projektů [Die Causa der Reformation. Das Hussitentum in der Konkurrenz der Reformprojekte], in: P. Rychterová / Ders. (Hgg.), Heresis seminaria. Pojmy a koncepty v bádání o husitství [… Begriffe und Konzepte in der Hussitenforschung], Praha 2013, S. 171–217; im vorliegenden Artikel wird vornehmlich auf die seitdem erschienenen Arbeiten eingegangen. Einen umfassenden begriffsgeschichtlichen Überblick legte neulich vor M. Wernisch, Co je ona reformace, jejíž výročí si připomínáme? [Was ist jene Reformation, deren Jubiläum wir gedenken?], in: Ders., Evropská reformace, čeští evangelíci a jejich jubilea [Europäische Reformation, tschechische Protestanten und ihre Jubiläen], Praha 2018, S. 13–48. Vgl. Z. V. David / D. R. Holeton (Hgg.), BRRP, 11 Bde., Prague 1996–2018, die letzten zwei Bände mitherausgegeben von M. Dekarli / P. Haberkern. Die Tagungen führen Historiker und Theologen vornehmlich aus englischsprachigen Ländern und aus Tschechien zusammen und sorgen für regelmäßigen fachlichen Austausch. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 102 Pavel Soukup beeinflussten böhmisch-mährischen ‚Nicht-Katholizismus‘ des 16. Jahrhunderts bis zum Ende der reformatorischen Konfessionen in der habsburgischen Rekatholisierung der 1620er Jahre (sofern es nicht auch die Fortsetzung der böhmischen Reformation im europäischen und amerikanischen Kontext einschließt). Dieser zeitliche Rahmen der böhmischen Reformation scheint in der mit Böhmen befassten Forschung weit anerkannt zu sein. Es fällt besonders auf, dass die Zeitspanne den Anfang der Wittenberger Reformation einschließt. Obwohl die Reformationsforschung längst auf den konstruierten Charakter der Epochengrenze 1517 hinweist, bedeuten doch die religiösen, gesellschaftlichen und politischen Wandlungen, die mit der Ausbreitung des Luthertums und weiterer nicht-katholischer Konfessionen zusammenhängen, für die Verhältnisse in Böhmen eine bedeutende Zäsur. Die einheimische (hussitische) Reformtradition wurde durch protestantische und reformierte Impulse bereichert, überdeckt und sogar ersetzt.4 Man muss von daher fragen, inwieweit die ‚böhmische Reformation‘ eine von nationalen, konfessionellen und kulturellen Motiven getragene Konstruktion ist. Es scheint nämlich, dass das Konzept einer böhmischen Reformation von Milíč bis Johann Amos Comenius (1592–1670) nicht viel mehr als eben Böhmen (bzw. Mähren) als Schauplatz religiöser Ereignisse umfasst. Als Alternative zum undifferenzierten Begriff der langen böhmischen Reformation erfreut sich die Unterscheidung zwischen ‚erster‘ und ‚zweiter Reformation‘ einer neuerlichen Popularität. Das vom tschechischen evangelischen Kirchenhistoriker Amedeo Molnár (1923–1990) seit Ende der 1950er Jahren ausgearbeitete Konzept der ‚ersten Reformation‘ umfasst die Waldenser, Lollarden und Hussiten und hebt sich von der klassischen, ‚zweiten‘ Reformation nicht nur chronologisch, sondern auch theologisch ab. Nach Molnár ist die ‚erste Reformation‘ durch das Prinzip des Gesetzes und durch revolutionäre Ausrichtung gekennzeichnet, während die ‚zweite Reformation‘ theologisch auf dem Gnadengedanken aufbaute und in der Gesellschaftslehre eher versöhnlich erscheint.5 Wenn der Terminus ‚erste Reformation‘ in heutiger Forschung benutzt wird, dann meistens nur für die Hussiten, während die Waldenser und Wycliffisten nunmehr fehlen. Das ist etwa bei Thomas Fudge der Fall, der damit betonen will, dass die Hussiten keine 4 5 F. Šmahel, Was there a Bohemian Reformation?, in: K. Horníčková / M. Šroněk (Hgg.), From Hus to Luther. Visual Culture in the Bohemian Reformation (1380–1620) (MCS 33), Turnhout 2016, S. 7–16, hier S. 12, spricht wohl deshalb von der Hussitenzeit als einer ‚Phase der böhmischen Reformation‘. Diese lässt er, vgl. ebd., S. 8, mit dem symbolischen Datum 1378 anfangen, sodass die beiden, oft als ‚Vorläufer‘ angesehenen Konrad Waldhauser (ca. 1325–1369) und Milíč von Kremsier/Kroměříž (ca. 1325–1374) unberücksichtigt bleiben. Vgl. A. Molnár, Husovo místo v evropské reformaci [Hussens Stellung in der europäischen Reformation], in: ČsČH 14 (1965), S. 1–14, hier S. 6 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 103 Proto-Protestanten waren und Hus kein Vorläufer von Luther war. Warum der Autor den Hussitismus doch eine Reformation nennt, wenn er so unterschiedlich vom Luthertum ist, wird nicht explizit artikuliert.6 Einer der zum Hus-Jahrestag 2015 erschienenen Sammelbände bemühte sich, mit der Bezeichnung ‚erste Reformation‘ den in der deutschen Gedächtniskultur vergessenen Jan Hus wieder in den Fokus zu rücken. Der Inhalt des Begriffes wird jedoch auch dort nicht thematisiert.7 Diesen terminologischen Wirrwarr könnte man sich allerdings ersparen, wenn eine Sichtweise Oberhand gewinnen würde, die die Zeitspanne vom Hochmittelalter bis weit in die Frühe Neuzeit als ein Zeitalter der Reformen versteht.8 Ein solcher Zugang, der in den 1970er Jahren von Pierre Chaunu (1923–2009) oder Steven Ozment (1939–2019) eingeführt wurde, hat jedenfalls den Vorteil, die fatale Epochengrenze um 1500 auszublenden.9 Die oft kritisierte Teleologie, die vor allem den Konzepten wie ‚Vorreformation‘ sowie ‚Vorläufern‘ aller Art zu eigen ist,10 wird aber auch bei der Verwendung von ‚temps des réformes‘ nicht automatisch beseitigt. Zusammenhänge zwischen den damit verbundenen Phänomenen sowie eventuelle Kontinuitäten bleiben zu erörtern. Weiterhin muss man also einzelne Strömungen und Bewegungen untersuchen, sie vergleichen und nicht zuletzt kategorisieren. Im Französischen unterscheidet sich Reform und Reformation höchsten um die Majuskel; die deutsche wie auch tschechische Sprache verfügen über zwei verschiedene Ausdrücke und können sich dem Definitionsbedarf schlechter entziehen. Das Paradigma Molnárs wurde neulich von Wolf-Friedrich Schäufele unter anderem mit dem Hinweis abgelehnt, damit drohe ein ‚Verlust eines einheitlichen 6 Vgl. T. A. Fudge, Magnificent Ride. The First Reformation in Hussite Bohemia (SASRH), Aldershot 1998, S. 1 und 283. 7 Vgl. A. Strübind / T. Weger, Jan Hus. 600 Jahre Erste Reformation. Eine Einführung, in: Diess. (Hgg.), Jan Hus. 600 Jahre Erste Reformation (SBKGE 60), Berlin/München 2015, S. 9–14, hier S. 10. 8 Vgl. H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012, S. 614; Ders., Reformation. Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: B. Moeller (Hg.) / S. E. Buckwalter (Mitarb.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch (SVRG 199), Gütersloh 1998, S. 13–34. 9 Vgl. P. Chaunu, Le temps des Réformes. Histoire religieuse et système de civilisation. La Crise de la chrétienté. L’Éclatement (1250–1550) (Le monde sans frontière), Paris 1975; S. E. Ozment, The Age of Reform 1250–1550. An Intellectual and Religious History of Late Medieval and Reformation Europe, New Haven 1980. 10 Vgl. dazu übersichtlich und kritisch W.-F. Schäufele, ‚Vorreformation‘ und ‚erste Reformation‘ als historiographische Konzepte, in: A. Strübind / T. Weger (Hgg.), Jan Hus (wie Anm. 7), S. 209–231. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 104 Pavel Soukup Reformationsbegriffs‘.11 Während international die ‚Pluralisten‘ zu überwiegen scheinen, die sich bemühen, dem oft fragmentarischen, unplanmäßigen Charakter der Reformationsversuche im Europa durch den Plural ‚Reformationen‘ gerecht zu werden,12 betont die deutsche Reformationsforschung stärker die Integrität des Begriffs. In der Debatte der 1990er Jahre über die Einheit und Vielfalt der Reformation einigten sich Dorothea Wendebourg und Berndt Hamm im Grunde darauf, dass kennzeichnend für die Reformation sei, dass sie die Grundprinzipien der mittelalterlichen Kirche und Kirchlichkeit angreift und dadurch im System der Kirche nicht tolerierbar ist. Diese systemsprengende Qualität erlaube es, trotz der frühen Ausdifferenzierung einzelner Strömungen und trotz der Vielfalt der reformatorischen Lösungen in Theologie und Kirchenorganisation doch von einer Reformation zu sprechen.13 Die Frage des Singulars oder Plurals besitzt m. E. eine sehr begrenzte Relevanz. Wenn man innerhalb der Reformation geographisch-dogmatische Einheiten wie eine deutsche, englische, schweizerische oder radikale Reformation unterscheidet, dann erscheint es durchaus zulässig, von ‚Reformationen‘ zu reden. Die Frage ist vielmehr, was diese Reformationen gemeinsam hatten. Denn es darf kein Zufall sein, dass wir gewisse Phänomene eben Reformation nennen und nicht etwa Reformbewegung oder Ketzerei. Das ‚Reformatorische‘ wird nach wie vor überwiegend von der lutherischen Reformation abgeleitet; das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass es keine ältere Reformation geben darf, wenn diese den gewählten Kriterien entspricht. Auch die mittelalterlichen religiösen Bewegungen wie die der Lollarden, Waldenser und andere sollten dieser Überprüfung unterzogen werden. Für uns stellt sich die Frage, inwieweit der angeführte – und meiner Meinung nach plausible – Definitionskern der Reformation auf den Hussitismus übertragbar ist. *** In der letzten Zeit kann man auch außerhalb der engeren bohemikalen Forschung die Tendenz beobachten, das Hussitentum als Reformation zu etikettieren. Dies dürfte mit dem Bestreben zusammenhängen, Martin Luthers (1483–1546) 11 Vgl. ebd., S. 227. 12 Z. B. C. Haigh, English Reformations. Religion, Politics, and Society under the Tudors, Oxford 1993, S. 12–21, spricht dezidiert und programmatisch über ‚englische Reformationen‘. 13 Vgl. D. Wendebourg, Die Einheit der Reformation als historisches Problem, in: B. Hamm / B. Moeller / Dies., Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 31–51, hier S. 38 und 50 f.; B. Hamm, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: ebd., S. 57–127, hier S. 64–66 und 126 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 105 Auftreten jenseits streng gezogener Epochengrenze zu betrachten.14 Zum Mainstream in Geschichtsschreibung und Theologie ist eine solche Perspektive indessen nicht geworden. Die Einwände gegen die reformatorische Qualität des Hussitismus lassen sich in drei Hauptkategorien aufteilen. Erstens weisen einige auf dem Feld des Hussitentums führende tschechische Historiker darauf hin, dass die Utraquisten die katholische Kirche nie ganz verlassen haben, indem sie auf der apostolischen Sukzession der Priesterweihe beharrten.15 Nach Autoren wie František Šmahel und Petr Čornej sei die erste wirkliche Reformationskirche der Weltgeschichte erst die 1467 abgespaltete Brüderunität gewesen.16 Besonders Čornej ist der Meinung, die Entwicklung in Böhmen sei ‚auf dem halben Wege stehen geblieben‘, indem die Kompaktaten zwar das Monopol der römischen Kirche brachen, zugleich aber die Entstehung einer neuen Kirchenorganisation verhinderten.17 Den Terminus ‚böhmische Reformation‘ benutzen die beiden Autoren wohl als Synekdoche – eine Bezeichnung für die ganze Bewegung, die die Brüderunität hervorgebracht hat. Deshalb bezeichnete auch Šmahel den Hussitismus als die „erste Etappe, und damit als integralen Bestandteil des europäischen Reformationszyklusses“.18 Der zweite Vorbehalt stützt sich auf die Ansicht, der Hussitismus sei theologisch nicht genug ausgereift gewesen, um als Reformation zu gelten. Es werden besonders die Beibehaltung des Priesterstandes und das Festhalten an den Sakramenten als Gnadenmittel erwähnt. Unlängst hat Wolf-Friedrich Schäufele aufgrund der fehlenden Rechtfertigungslehre und unzulänglicher Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium sowohl die Bezeichnungen ‚Vorreformation‘ als 14 Vgl. B. Hamm, Abschied vom Epochendenken in der Reformationsforschung. Ein Plädoyer, in: ZHF 39 (2012), S. 373–411, hier S. 399, wo der Verfasser von hussitischer Reformation spricht. 15 Dazu jetzt übersichtlich B. Zilynská, The Utraquist Church after the Compactata, in: M. Van Dussen / P. Soukup (Hgg.), A Companion to the Hussites (BCCT 90), Leiden/Boston 2020, S. 219–257, hier S. 240–244. 16 Vgl. F. Šmahel, Die Hussitische Revolution, aus dem Tschechischen übersetzt von Thomas Krzenck, 3 Bde. (MGH Schriften 43), Hannover 2002, Bd. 3, S. 1909, der von der „erste[n] selbständige[n] Kirche der europäischen Reformation“ spricht; Petr Čornej von einer „selbstständigen Kirche reformatorischer Art“; P. Čornej / M. Bartlová, Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone], Bd. 6: 1437–1526, Praha/ Litomyšl 2007, S. 195. 17 Vgl. P. Čornej, Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone], Bd. 5: 1402–1437, Praha/Litomyšl 2000, S. 665; ebd., S. 70, sagt jedoch derselbe Verfasser, „der erste Akt der Reformation“ sei mit der böhmischen Verbesserungsbestrebung verknüpft. 18 F. Šmahel, Hussitische Revolution (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 2014. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 106 Pavel Soukup auch die ‚erste Reformation‘ für das Hussitentum abgelehnt.19 In der vollendeten doktrinären Erneuerung erblickt auch Martin Wernisch in einem der neuesten Beiträge zu diesem Thema das Wesen der Reformation.20 Nur in der mit Luther einsetzenden Reformation des 16. Jahrhunderts erkennt er den „Anspruch, die göttliche Erneuerung des Evangeliums zu repräsentieren“ und damit als Reformation zu gelten.21 Die kirchengeschichtlichen Phänomene des 15. Jahrhunderts in Böhmen möchte er als ‚hussitische‘ bzw. ‚Brüderreform‘ auffassen und sie als ‚Vorspiel‘ oder ‚Anlauf ‘ zur Reformation verstehen. Allerdings lässt er – auch hier synekdochal – den traditionellen Terminus ‚böhmische Reformation‘ zu, insofern sich der klassische Protestantismus in den böhmischen Ländern auf einem Boden ausbreitete, der von einheimischer Reformbewegung vorbereitet war, und den Utraquismus sowie Brüderunität letzten Endes gerettet habe.22 Meiner Meinung nach ist es aber fraglich, inwieweit die Luther’sche Rechtfertigungslehre allein als ein Kriterium für den Reformationscharakter dienen kann.23 Nicht nur die Vielfalt der protestantischen und reformierten Konfessionsgruppen, die sich schon früh im 16. Jahrhundert auf dem Kontinent etablierten, spricht gegen die Hervorhebung einiger Lehrsätze als Maßstab. Besonders die englische Reformation, bei welcher wohl niemand die Bezeichnung Reformation in Frage stellt, zeigt die Breite der möglichen reformatorischen Lösungen im Bereich der Theologie. Drittens wird auch darauf kritisch hingewiesen, dass das Hussitentum auf Böhmen und Mähren beschränkt blieb. Euan Cameron hat den Hussitismus 19 Vgl. W.-F. Schäufele, ‚Vorreformation‘ (wie Anm. 10), S. 226; hinter den Gründen für diese Ablehnung steht auch die Tatsache, dass die Begriffe ‚erste und zweite Reformation‘ bereits für zwei Phasen der Reformation des 16. Jahrhunderts, d. h. für die lutherische und reformierte Konfessionalisierung, reserviert wurden, vgl. dazu auch M. Wernisch, Co je ona reformace (wie Anm. 2), S. 43. 20 Vgl. ebd., S. 22 f. 21 Aus dieser Sicht erscheint die Reformation als eine „theologische Kategorie des gegenwärtigen Selbstverständnisses“. Historisch gesehen ist sie dadurch charakterisiert, dass sie umfassende gesellschaftliche Auswirkungen sowie hinlängliche geographische und sachliche Tragweite hat. Ebd., S. 23 und 44. 22 Vgl. ebd., S. 46–48. Es ist in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten Zdeněk V. Davids hinzuwiesen, der im Gegenteil die Lebendigkeit und ekklesiologische Brisanz der utraquistischen Tradition bis zur Rekatholisierung verteidigt. Vgl. Z. V. David, Finding the Middle Way. The Utraquists’ Liberal Challenge to Rome and Luther, Washington/Baltimore/London 2003. 23 Vgl. die Beobachtungen von T. Kaufmann, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), Tübingen 2012, S. 5–24, wo auf die untrennbare Verwobenheit der Rechtfertigungslehre und Kirchenkritik sowie auf die weit über die Rechtfertigungslehre hinausgehende Vielfalt der frühreformatorischen Religionskultur hingewiesen wird. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 107 als jene Bewegung beschrieben, die „am meisten die protestantische Reformation vorwegnahm“.24 Ihre geografische Begrenzung beraubte sie aber des reformatorischen Charakters. Zugegeben blieb das Hussitentum im großen Ganzen sprachlich-national begrenzt – trotz einzelner erfolgreicher Versuche, in die deutsch- und slawischsprachigen Gebiete vorzudringen. Im Anspruch jedoch erlegten sich die Hussiten keine Grenzen auf, sie wollten das gesamte Christentum reformieren. Auf der ideologischen Ebene könnte dies wohl für mehrere Ketzerbewegungen des Mittelalters gegolten haben. Praktisch sind aber jene als häretisch verworfene und verfolgte Gruppen in der Regel in den Untergrund gezwungen worden, sodass die Reichweite ihrer klandestinen Agitation sehr begrenzt blieb. Die Utraquisten konnten sich dagegen als eine öffentlich wirkende religiöse Institution durchsetzen. Das geographische Kriterium erscheint dabei folglich wenig brauchbar. Wie soll man entscheiden, ob das Königreich Böhmen groß genug war, um eine Reformation hervorzubringen? Für eine systematische Unterscheidung zwischen Ketzerbewegungen und Reformation zeigt sich eben die öffentliche Ausübung von Religion besser geeignet. Dann muss man feststellen, dass die Hussiten in zwei Ländern Mitteleuropas (Böhmen und Mähren) einen von Rom nicht genehmigten Kult über zwei Jahrhunderte ausgeübt haben. M. E. lässt sich das Begriffsproblem am besten über die Betrachtung der historischen Auswirkungen der hussitischen Revolte lösen. Auf dieser Grundlage argumentierte Winfried Eberhard für die reformatorische Qualität des nachrevolutionären Hussitismus. Dazu untersuchte er eingehend die Wege der Konfessionsbildung im utraquistischen Böhmen.25 Die ostmitteleuropäische Variante der Konfessionalisierung spielte sich demnach nicht unter der Leitung des frühmodernen Fürstenstaates ab, sondern wurde weitgehend von den Ständen getragen. Die Kompaktaten von 1436 und der Kuttenberger/Kutná Hora Religionsfrieden von 1485 garantierten jedem Erwachsenen die freie Wahl zwischen den beiden legalen Konfessionen. Damit beförderten sie keine religiöse Disziplinierung – mit Ausnahme von Prag, wo dieser Drang eine Tatsache war. Eine Konfessionsbildung 24 E. Cameron, The European Reformation, Oxford/New York 22012, S. 73 f.; vgl. auch P. Chaunu, Temps des Réformes (wie Anm. 9), S. 384; und M. Wernisch, Co je ona reformace (wie Anm. 2), S. 45, der die böhmische Reformation des 15. Jahrhunderts als „halbfertig“ sieht, und zwar sowohl theologisch als auch durch ihre geographische Tragweite sowie schließlich wegen ihrer Verbindung zu Rom. 25 Vgl. W. Eberhard, Zur reformatorischen Qualität und Konfessionalisierung des nachrevolutionären Hussitismus, in: F. Šmahel (Hg.) / E. Müller-Luckner (Mitarb.), Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter (SHK Kolloquien 39), München 1998, S. 213–238; Ders., Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530 (VCC 38), München/Wien 1981. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 108 Pavel Soukup kann man aber sehr wohl beobachten; diese brachte eine vertikale Spaltung der sonst hierarchisch organisierten, ständisch geprägten Gesellschaft mit sich.26 In Böhmen setzte die Konfessionsbildung jedenfalls mit dem Hussitismus, also im 15. Jahrhundert an, nicht erst mit dem Vordringen der lutherischen Reformation. Die arme, ihrer Machtbasis beraubte utraquistische Kirche stützte sich auf dem Beistand der Obrigkeiten – des nichtkatholischen Adels und städtischer Magistrate. Obwohl sie durch die apostolische Sukzession mit Rom verbunden blieb und sich als ein Glied der Universalkirche verstand, wurde sie von der katholischen Kirche abgelehnt. Der 27 Jahre dauernde Kompromiss mit der damals noch vom Konziliarismus geprägten Kirche ändert daran nichts. Praktisch lebte die böhmische utraquistische Gemeinschaft als eine unabhängige Kirche. Päpstliche Erlässe hatten im utraquistischen Böhmen keine Geltung, das Kirchenrecht wurde dem göttlichen Gesetz gegenübergestellt. In den Polemiken mit herausragenden katholischen Persönlichkeiten wie Johannes Capistranus (1386–1456) oder Papst Pius II. (1458–1464) wurde die hussitische Ekklesiologie immer wieder belebt, die die Identität der utraquistischen Gemeinde festigte. Die autonome Normenbildung der Hussiten wurzelte bereits in der Kirchenlehre von Jan Hus, die die Souveränität des Gesetzes Christi gegenüber dem menschlichen Recht betonte. Bedient man sich der von Berndt Hamm formulierten Definition der Reformation, hat Jan Hus durch seine Ekklesiologie und Gehorsamslehre die mittelalterliche Kirche erschüttert – obwohl er selbst die systemsprengenden Konsequenzen nicht gewollt hatte. Die Hussiten sind in vieler Hinsicht den mittelalterlichen Denkmustern verpflichtet geblieben, zugleich aber schafften sie in ihrem Einflussbereich die mittelalterlichen Schlüsselinstitutionen ab.27 Die praktische jurisdiktionelle Unabhängigkeit der utraquistischen Kirche von Rom, ihre eigentümliche Identität und ihre Lebensfähigkeit als ein öffentlich wirkendes religiöses Gebilde erlauben es m. E., von einer hussitischen Reformation zu sprechen. Als ihren Begründer verstehe ich Jan Hus (also nicht schon die Reform- und Bußprediger des 14. Jahrhunderts), als ihren Träger dann vor 26 Vgl. dazu auch die knappen, aber anregenden Bemerkungen von M. Nodl / F. Šmahel, Čechy a české země ve 14. a 15. století [Böhmen und böhmische Länder im 14. und 15. Jahrhundert], in: J. Klápště / I. Šedivý (Hgg.), Dějiny Česka [Die Geschichte Tschechiens] (Dějiny států [Die Geschichte der Staaten]), Praha 2019, S. 70–99, hier S. 91–99; sowie die Studie von M. Nodl, Konfessionalisierung und religiöse (In)Toleranz in Prag in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Bohemia 58 (2018), S. 286–309. 27 Wie Heinz Schilling bemerkte, hat auch Luther die Einführung der meisten mit der Neuzeit verbundenen Phänomene nicht beabsichtigt; und trotzdem wurden sie durch sein Wirken und seine Ideen hervorgerufen oder in Gang gesetzt. Vgl. H. Schilling, Martin Luther (wie Anm. 8), S. 618–621. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 109 allem die böhmische utraquistische Mehrheitskirche (also nicht ausschließlich die Brüderunität). Selbstverständlich ist die Begrifflichkeit von der jeweiligen Definition abhängig. Das Entscheidende ist, ob die Begriffsklärung und Reflexion der benutzten Terminologie über ein analytisches Potenzial verfügen und damit erkenntnisbringend sind.28 Die Klassifizierung der religiösen Strömungen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit nach ihrer Verbreitung und ihrem Einfluss richtet die Aufmerksamkeit auf die Kommunikation, Medien und Öffentlichkeit. Die Bewertung der Tragweite des Hussitismus als reformatorisch ist zugleich eine Einschätzung im Hinblick auf seine Leistung im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Denn nur eine gelungene Kommunikation konnte der Bewegung genug Anhänger verschaffen, die dafür sorgten, dass der Ansatz nicht marginalisiert wurde, sondern in die Bildung einer reformierten Nationalkirche mündete. Das Thema der öffentlichen Kommunikation in der Hussitenzeit wäre sicher einer umfassenderen Untersuchung wert als es hier möglich ist – und zwar einer, die verschiedene Medienarten in einem chronologisch weiten Blick fasst. Im Folgenden werden nur einige Forschungsperspektiven und -desiderata der hussitischen Mediengeschichte skizziert. *** Die Kommunikationskanäle, durch welche eine hussitische Anhängerschaft kreiert und somit der Utraquismus als Konfession in Böhmen und Mähren etabliert wurde, lassen sich m. E. in vier Hauptbereiche einteilen: oral vorzutragende Literatur- und Musikformen (Lieder, Gedichte), Predigt, schriftliche Textverbreitung und visuelle Medien (Bilder). Zu allen diesen thematischen Bereichen liegen Vorarbeiten vor – es sei hier auf die bahnbrechenden Studien von František Šmahel sowie auf Ansätze einer Synthese von Thomas Fudge hinzuweisen.29 28 Im Gegenteil zu M. Wernisch, Co je ona reformace (wie Anm. 2), S. 27 und 46, halte ich die Suche nach einer qualitativen Definition der Reformation weiterhin für sinnvoll. Sie kann wohl ein ‚Phantom‘ sein, und zwar in dem Sinne, dass sie von den jeweils bevorzugten Kriterien abhängt und insofern subjektiv ist. Die Legitimierung des Wortgebrauchs, auch wenn dabei die Zäsur des 16. Jahrhunderts überschritten würde, ist in meiner Auffassung ein Ergebnis jener terminologischen Selbstreflexion, die in eine Kennzeichnung des ‚gemeinsamen Nenners‘ der Reformation münden kann und nach der auch Wernisch ruft, vgl. ebd., S. 35–37. 29 Vgl. F. Šmahel, Reformatio und Receptio. Publikum, Massenmedien und Kommunikationshindernisse zu Beginn der hussitischen Reformbewegung, in: J. Miethke (Hg.) / A. Bühler (Mitarb.), Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert (SHK Kolloquien 21), München 1992, S. 255–268; Ders., Literacy and Heresy in Hussite Bohemia, in: P. Biller / A. Hudson (Hgg.), Heresy and Literacy, 1000–1530 (CSML 23), Cambridge 1994, S. 237–254; T. Fudge, Magnificent Ride (wie Anm. 6), S. 178–266. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 110 Pavel Soukup Eine umfassende Untersuchung, die alle sprachlichen und medialen Formen der öffentlichen politischen und religiösen Kommunikation der Hussitenzeit in Betracht ziehen und auswerten würde, bleibt ein Desiderat. 1. Die orale Verbreitung von meinungsbildenden Inhalten spielte im Mittelalter eine nicht zu unterschätzende Rolle, die mit der schriftlichen Vervielfältigung mindestens vergleichbar war. In der Hussitenforschung finden besonders die vernakularen Verskompositionen, also Lieder und Gedichte, das Interesse der Historiker. Auf ihre Funktionsmerkmale und Vorteile in der persuasiven Kommunikation wurde mehrmals hingewiesen.30 Sie waren leicht zu merken, die Form erhöhte ihre Suggestivität und ihre Verbreitung wurde dadurch gefördert, dass sie auf keine materiellen Träger angewiesen waren. Bereits von 1410 bis 1412 tauchten erste satirische und agitative Lieder auf, und zwar im Kontext des Kampfes der Anhänger von Hus gegen die päpstlichen Bullen zum Predigtverbot und Kreuzablass. Wenig später, während des Konstanzer Konzils und danach, waren es Protestlieder gegen Hus’ Verbrennung und gegen das Dekret, mit dem der Laienkelch verurteilt wurde. Am Anfang der hussitischen Revolution reagierten vernakulare Kompositionen auf neue Probleme wie Chiliasmus und Kriegsausbruch. In den 1420er Jahren entstanden dann umfangreiche gereimte Dispute. Auch in der Nachkriegszeit wurde diese Art von Produktion nicht abgestellt, ist jedoch deutlich weniger bekannt. Die ältere Forschung, besonders die marxistische Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erkannte sehr gut das Potenzial dieser Quellengruppe. Auf eine fokussierte Analyse musste man jedoch bis unlängst warten. Nach den Arbeiten von Thomas Fugde und Petr Čornej31 legte Marcela Perett eine Monografie zu diesem Thema vor. Sie widmet sich kürzeren Liedern und längeren Gedichten sowie einigen vernakularen Traktaten. Die alttschechische Überlieferung betrachtet sie als ein Genre, das Unterweisung mit Polemik verband, was die Radikalisierung der Religion unterstützte und den Parteigeist innerhalb des Hussitismus steigerte. Die vernakularen Traktate und Gedichte reagierten auf die Bedürfnisse der Laien, die durchaus fähig waren, eigene Fragen über Religion zu stellen. Die Textproduktion blieb jedoch laut der Verfasserin von lateinisch 30 Vgl. z. B. T. Fudge, The Memory and Motivation of Jan Hus, Medieval Priest and Martyr (ES 11), Turnhout 2013, S. 148 f. 31 Vgl. Ders., Magnificent Ride (wie Anm. 6), S. 186–216; Ders., Memory (wie Anm. 30), S. 135–183; P. Čornej, Husitské skladby Budyšínského rukopisu: funkce – adresát – kulturní rámec [Hussitische Poesie der sog. Bautzener Handschrift. Funktionen – Adressat – kultureller Rahmen], in: ČL 56 (2008), S. 301–344. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 111 gebildeten Klerikern beherrscht; die nötige Vereinfachung des theologischen Inhalts führte zu Einseitigkeit der Argumente und Verleumdung der Gegenpartei.32 Das zugespitzte Bild der vernakularen Dichtung und Polemik stützt sich auf eine Analyse der rhetorischen Strategien. Die Berücksichtigung des breiteren Rahmens könnte es künftig ergänzen bzw. modifizieren. Man ist sich bisher weder über die Autoren33 noch über das Publikum dieser Werke im Klaren. Die Rezeption und Rezipienten kann man nur aufgrund der handschriftlichen Überlieferung und von weiteren indirekten, kaum aber intratextuellen Anhaltspunkten studieren. Auch die an der Verbreitung der Werke beteiligten Individuen und Gruppen möchte man besser kennen. In den Vordergrund sollten dabei m. E. die damals neuen Universitätsabsolventen treten.34 Jedenfalls müsste man bei der Untersuchung der volkssprachlichen Propaganda mehrere Genres berücksichtigen – ein weiteres Spektrum von prosaischen Traktaten, Geschichtsschreibung (sog. Alte tschechische Annalen/Staré letopisy české), aber auch Kleinformen wie Sprüche und Schimpfwörter.35 Chronologisch wird der Fokus jedenfalls bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts erweitert werden müssen. Des Weiteren wird es nötig sein, sich beim Studium der literarischen und oralen Propaganda nicht auf eine Quellensprache zu begrenzen: Erstens war das vernakulare Schrifttum mit dem Lateinischen inhaltlich und argumentativ verwandt. Zweitens sind in der lateinischen Literatur dieselben Formen und Gattungen wie in der vernakularen zu finden, deren Funktion noch erforscht werden muss – etwa mit Blick auf zeitgenössische satirische und polemische Lieder und Gedichte.36 Diese sind auf beiden Seiten zu suchen – etwa bei antihussitischen deutschen volkssprachigen sowie bei lateinsprachigen Autoren.37 Drittens konnten sich eben bei oraler Darbietung die 32 Vgl. M. K. Perett, Preachers, Partisans, and Rebellious Religion. Vernacular Writing and the Hussite Movement (The Middle Ages Series), Philadelphia 2018, S. 168 f., 222 ff. und passim. 33 T. Fudge, Memory (wie Anm. 30), S. 181 f., verteidigt die Vorstellung von Laien als Autoren der hussitischen Gesänge und Gedichte. 34 Vgl. die vorläufigen Erwägungen in P. Soukup, Jan Hus. The Life and Death of a Preacher (Central European Studies), West Lafayette 2020, S. 79 und 89 f.; zur Rolle der Studenten in der lutherischen Reformation vgl. T. Kaufmann, Anfang (wie Anm. 23), S. 185–265. 35 Vgl. T. Fudge, Magnificent Ride (wie Anm. 6), S. 216–226; P. Soukup, ‚Pars Machometica‘ in Early Hussite Polemics. The Use and Background of an Invective, in: M. Van Dussen / Ders., (Hgg.), Religious Controversy in Europe, 1378–1536. Textual Transmission and Networks of Readership (MCS 27), Turnhout 2013, S. 251–287. 36 Vgl. L. Doležalová, Usquoque tu, Domine, obdormis gravi sopore? A Newly Found Topical Song from Late Medieval Bohemia (Fragment Prague, Library of the National Museum, 1 K 618), in: MJb 53 (2018), S. 443–460. 37 Vgl. P. Spunar, Antihussitische Verse aus Schlesien, in: BZGA 74 (1974), S. 189–200; F. Fuchs, Der Malleus Hussonis des Johannes Lange von Wetzlar, in: G. Annas / J. Nowak (Hgg.), Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 112 Pavel Soukup lateinisch fixierten Texte in vernakulare Ansprachen verwandeln. In den lateinisch überlieferten Predigten, die auf Deutsch oder Tschechisch vorgetragen wurden, sollte man dieselben Strategien suchen wie in volkssprachlichen Liedern. Nur durch den Vergleich sprachlich unterschiedlicher Schöpfungen können charakteristische Züge der Vernakularisierung zu Tage treten.38 2. Die Predigt nahm im Hussitismus, um den Ausdruck Amedeo Molnárs zu benutzen, eine ‚Vormachtstellung‘ ein.39 Die Anzahl der erhaltenen Predigtsammlungen böhmischer Provenienz aus dem Spätmittelalter (ca. 1350–1500) kann man auf etwa 150 schätzen. Diese dürften rund 10.000 Predigten erhalten – eine Zahl, die mit Überlieferungen aus Ländern mit viel längerer Predigttradition wie Frankreich oder Italien vergleichbar ist.40 Die Erforschung der bohemikalen Predigten ist weitgehend eine Aufgabe für die Zukunft. Relativ gut bekannt ist die Predigertätigkeit von Jan Hus. Vieles davon ist ediert worden; auch den Predigten seines Nachfolgers Jakoubek von Mies/Stříbro (ca. 1375–1429) wurden neulich zwei Monografien gewidmet.41 Die späteren Postillen und Predigthandschriften sind nur in Umrissen oder gar nicht bekannt, obwohl die Bedeutung der Predigt im Hussitismus allgemein anerkannt wird. 38 39 40 41 Et l’homme dans tout cela? Von Menschen, Mächten und Motiven. FS Heribert Müller zum 70. Geburtstag (FHAb 48), Stuttgart 2017, S. 111–119. Vgl. P. Rychterová (Hg.) / J. Ecker (Mitarb.), Pursuing a New Order, Bd. 1: Religious Education in Late Medieval Central and Eastern Central Europe (TMT 17/1), Turnhout 2018; Diess. (Hgg.), Pursuing a New Order, Bd. 2: Late Medieval Vernacularization and the Bohemian Reformation (TMT 17/2), Turnhout 2019; zur Transformation der Predigt vgl. bes. P. Soukup, The ‚Puncta‘ of Jan Hus: The Latin Transmission of Vernacular Preaching, ebd., Bd. 2, S. 91–126. Vgl. A. Molnár, K otázce reformační iniciativy lidu. Svědectví husitského kázání [Zur Frage der reformatorischen Initiative des Volkes. Zeugnisse der hussitischen Predigt], in: Ders. (Hg.), Příspěvky k dějinám utrakvismu [Beiträge zur Geschichte des Utraquismus] (ARBI 1), Praha 1978, S. 5–44, hier S. 17. Dazu P. Soukup, Jan Hus as a Preacher, in: F. Šmahel / O. Pavlíček (Hgg.), A Companion to Jan Hus (BCCT 54), Leiden/Boston 2015, S. 96–129, hier S. 97. Den neuesten Stand der Hus-Forschung reflektiert F. Machilek, Jan Hus (um 1372–1415). Prediger, Theologe, Reformator (KLK 78/79), Münster 2019, mit einem Verzeichnis der Postillen ebd., S. 76 f. und umfangreicher Bibliografie; zu Jakoubek vgl. J. Marek, Jakoubek ze Stříbra a počátky utrakvistického kazatelství v českých zemích. Studie o Jakoubkově postile z let 1413–1414 [ Jacobellus von Mies und die Anfänge des utraquistischen Predigtwesens in den böhmischen Ländern. Studien zu Jacobellus’ Postille aus den Jahren 1413/14], Praha 2011; und P. Soukup, Reformní kazatelství a Jakoubek ze Stříbra [Das reformerische Predigtwesen und Jacobellus von Mies], Praha 2011. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 113 Wir können wohl sicher sein, dass sehr häufig gepredigt wurde, wissen aber nur wenig über Umstände, Publikum und Wirkung dieser Reden. Eine Erforschung der Predigten als Massenkommunikation, wie sie David d’Avray vorgeschlagen hat,42 steht noch aus. Es stellt sich die Frage, ob dies für hussitische Predigten überhaupt möglich sein wird, da sie doch anders als die klassischen Modellsammlungen des 13. Jahrhunderts überliefert sind. Statt massenhaft verbreiteten Modellsermones, bei denen wir auch eine breite Umsetzung in mündliche Predigten und somit eine weitreichende und langfristige Wirkung voraussetzen können, gibt es für die Hussitenzeit nur einzelne überlieferte Sammlungen in einzelnen Abschriften. Ihr Ursprung in einem geographisch und chronologisch relativ begrenzten Raum und ihre Einbettung in die abwechslungsreiche und oft dramatische Geschichte des Hussitentums ermöglicht jedoch eine engere Verknüpfung mit der Ereignisund Geistesgeschichte, als es üblicherweise mit Modellsammlungen der Fall sein kann. Für eine künftige Untersuchung des Inhalts hussitischer Predigten und der etwaigen Entwicklung der thematischen Schwerpunkte muss eine passende Methodologie gefunden werden. Vorläufig scheint es sinnvoll, stichprobenartig und quer durch die erhaltenen Sammlungen vorzugehen. Eine der Voraussetzungen dafür ist die massive Erfassung des erhaltenen Materials, wie sie für böhmische Predigten im Verzeichnis von Quellen zum heiligen Wenzel (ca. 907–935) durch Zdeněk Uhlíř exemplifiziert wurde.43 Für die Hussitenzeit konnten auf diese Weise die Predigten für die Feste der böhmischen Patrone genauer ausgewertet werden.44 Ähnlich wurden in letzter Zeit einige kirchenpolitisch brisante Perikopen in verschiedenen Postillen aus dem 15. Jahrhundert untersucht.45 Hier zeigt sich einerseits die relativ große 42 Vgl. D. L. d’Avray, Method in the Study of Medieval Sermons, in: N. Bériou / Ders. (Hgg.), Modern Questions about Medieval Sermons. Essays on Marriage, Death, History and Sanctity (Bibliotheca di Medioevo Latino 11), Spoleto 1994, S. 3–30, hier S. 8–17. 43 Vgl. Z. Uhlíř, Literární prameny svatováclavského kultu a úcty ve vrcholném a pozdním středověku [Literarische Quellen des St.-Wenzel-Kultes und seiner Verehrung im Hoch- und Spätmittelalter] (Edice oddělení rukopisů a starých tisků. Miscellanea monographica [Editionen der Abt. der Handschriften und der alten Drucke. Miscellanea monographica] 5), Praha 1996. 44 Vgl. J. Marek, Medieval Utraquist Sermons on Czech Patron Saints, in: GLB 24 (2019), S. 105–127; P. Soukup, Úsvit křesťanství v Čechách očima husitských kazatelů [Die Dämmerung des Christentums in Böhmen in den Augen der hussitischen Prediger], in: M. Nodl / F. Šmahel (Hgg.), Pohané a křesťané. Christianizace českých zemí ve středověku [Heiden und Christen. Die Christianisierung der böhmischen Länder im Mittelalter], Praha 2019, S. 151–170. 45 Vgl. P. Soukup, Výklad biblických norem v postilách husitské doby [Die Auslegung der biblischen Normen in den Postillen des hussitischen Zeitalters], in: P. Cermanová / Ders. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 114 Pavel Soukup Trägheit des Genres, die das Eindringen gewisser (auch für das Hussitentum sehr wichtiger) Themen in die erhaltenen Predigttexte erschwert. Andererseits hat sich gezeigt, dass einige zentrale und für die Hussiten kennzeichnende Denkfiguren auf Dauer, also von Jan Hus bis zu den Utraquisten der Jagiellonenzeit, immer wieder in Predigten auftauchen. 3. Über die schriftliche Textverbreitung ist man dank der erhaltenen Handschriften relativ gut informiert, ob es sich um theologische Polemik oder auf ein breiteres Publikum zielende hussitische Propaganda handelt. Die Erschließung der bohemikalen Quellen des 15. Jahrhunderts läuft seit mehr als einhundert Jahren. Die ältere Phase ist vor allem mit dem Namen František Michálek Bartoš’ (1889– 1972) verbunden, in der neueren Zeit machte sich Pavel Spunar mit seinen unschätzbaren Repertorien um die Quellenerschließung verdient.46 Die Arbeit auf diesem Feld ist jedoch bei weitem nicht abgeschlossen, weshalb auch eine zusammenfassende Auswertung fehlt. Neuerdings läuft auch die Erforschung der antihussitischen Werke an, welche seit 2009 in der Online-Datenbank „Repertorium operum antihussiticorum“ zur Verfügung stehen.47 In jüngster Zeit ergab das Studium antihussitischer Polemik monografische Bearbeitungen einiger wichtiger Teilbereiche, so etwa zur Tätigkeit von Theologen in Österreich (Christina Traxler) und Frankreich (Olivier Marin).48 Gerade die schriftlichen Reaktionen der Gegner belegen die Wirkung der hussitischen Propaganda. Ein hervorragendes Beispiel bietet das Taboritenmanifest von 1430. Das offene Schreiben wurde nachweislich in deutscher Sprache an mehrere Adressaten gerichtet, wozu vor allem Reichsstädte zählten. Die Empfänger haben in manchen Fällen eine Übersetzung ins Lateinische besorgt, die als Grundlage (Hgg.), Husitské re-formace. Proměna kulturního kódu v 15. století [Die hussitischen Re-formationen. Der Wandel des kulturellen Codes im 15. Jahrhundert] (Edice Středověk [Edition Mittelalter] 4), Praha 2019, S. 69–100. 46 Vgl. P. Spunar (Hg.), Repertorium auctorum Bohemorum provectum idearum post universitatem Pragensem conditam illustrans, 2 Bde., Bd. 1 (SC 25), Wratislaviae/Varsaviae/ Cracoviae/Gedani/Lodziae 1985; Bd. 2 (SC 35), Warszawa/Praga 1995; Ders., Literární činnost utrakvistů doby poděbradské a jagellonské [Literarische Tätigkeit der Utraquisten im Poděbrad’schen und Jagiellonischen Zeitalter], in: A. Molnár (Hg.), Příspěvky k dějinám utrakvismu (wie Anm. 39), S. 165–269. 47 Vgl. P. Soukup (Hg.), Repertorium operum antihussiticorum, Online-Datenbank, www. antihus.eu (letzter Zugriff am 10.2.2020). 48 Vgl. C. Traxler, Firmiter velitis resistere. Die Auseinandersetzung der Wiener Universität mit dem Hussitismus vom Konstanzer Konzil (1414–1418) bis zum Beginn des Basler Konzils (1431–1449) (SAUW 27), Göttingen/Wien 2019; O. Marin, La patience ou le zèle. Les Français devant la révolution hussite (années 1400–années 1510) (EAMA 56), Turnhout 2020. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 115 für gelehrte Widerlegungen diente. Es sind zehn verschiedene Antworten auf das Manifest bekannt, die in Form von umfangreichen theologischen Abhandlungen von Universitäts-, Ordens- und Privatgelehrten im Reich und in England, Frankreich oder Spanien verfasst wurden.49 Allgemein sind antihussitische Schriften besser als die hussitischen überliefert. So ist etwa das Hauptwerk von Jan Hus „De ecclesia“ in 20 Handschriften erhalten, der antihussitische Traktat „Eloquenti viro“ des Andreas von Brod († 1427) in mehr als 100 Exemplaren, das antiutraquistische Werk Jean Gersons (1363–1429) in knapp 70 Abschriften.50 In der Datenbank der antihussitischen Polemik sind zurzeit über 250 entsprechende Traktate verzeichnet, die in mehr als 1.700 Handschriften überliefert sind. Auch wenn man die größere Überlieferungschance der katholischen Werke während der Gegenreformation mit einbezieht, muss man von einer zahlenmäßigen Überlegenheit der antihussitischen Literatur ausgehen. Dies ist durchaus als ein Indikator für die Bekanntheit der hussitischen Schriften und Lehren weit über die böhmische Grenze hinaus zu deuten und damit als Beleg für eine effektive Kommunikation der Hussiten. Inwieweit dieses Schrifttum auf die illiterati wirken könnte, steht noch weitgehend offen. Hinweise auf einen pastoralen Gebrauch lateinischer Traktate gegen die Hussiten gibt es hier und da, sie müssten jedoch im Einzelnen überprüft und zusammenfassend ausgewertet werden. Die Ausrichtung der hussitischen Propaganda auf die Laien (und zudem eine starke antiklerikale Note sowohl aus reformerischer Überzeugung wie aus taktischen Gründen) ist offensichtlich. Näher zu erörtern wäre ebenso die Frage der Teilnahme von Laien an theologischen Disputationen, die von den Hussiten nicht nur im internen Forum praktiziert, 49 Eine dieser Reaktionen hat Jiří Petrášek in einer Monografie bearbeitet, wo auch die erste Information zu anderen Antworten zu finden ist, vgl. J. Petrášek, „Meide die Häretiker.“ Die antihussitische Reaktion des Heidelberger Professors Nikolaus von Jauer (1355–1435) auf das taboritische Manifest aus dem Jahr 1430 (BGPhThMA NF 82), Münster 2018; ein weiteres Hussitenmanifest, das Aufsehen auf dem Basler Konzil erweckte, behandelt J. Helmrath, Kommunikation auf den spätmittelalterlichen Konzilien, in: H. Pohl (Hg.), Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft (VSWG Beiheft 87), Stuttgart 1989, S. 116–172, hier S. 138–140. 50 Vgl. I. Hlaváček, Husův traktát De ecclesia a jeho dochování v 15. a 16. století. Z osudů rukopisů Husových děl [Hussens Traktat De ecclesia und seine Überlieferung im 15. und 16. Jahrhundert. Aus den Schicksalen von Hussens handschriftlichen Werken], in: J. Smrčka / Z. Vybíral (Hgg.), Jan Hus 1415 a 600 let poté [ Jan Hus 1415 und 600 Jahre danach] (HT – Supplementum 4), Tábor 2015, S. 213–232; C. Traxler, Früher Antihussitismus. Der Traktat Eloquenti viro und sein Verfasser Andreas von Brod, in: AV 12 (2015), S. 130–177; P. Soukup (Hg.), Repertorium (wie Anm. 47). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 116 Pavel Soukup sondern auch für eventuelle Glaubensgespräche mit der römischen Kirche gefordert wurden.51 Klar ist dagegen, dass man den hussitischen und antihussitischen Werken nur ausnahmsweise in den frühen Drucken begegnet. Die böhmischen Wiegendrucke sind überwiegend katholischer Provenienz. Die Utraquisten haben sich des neuen Mediums selten bedient und blieben ‚mit den Massenmedien des Spätmittelalters verbunden‘.52 Für die literarische Kommunikation, wie sie die hussitischen Intellektuellen bis ins 16. Jahrhundert hinein praktiziert haben, reichte wohl die handschriftliche Vervielfältigung aus. Die utraquistische Universität und Kirchenverwaltung nutzten den Buchdruck nur in sehr begrenztem Maße. Erst in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden einige wenige Werke der Protagonisten der ersten zwei Generationen hussitischer Autoren gedruckt.53 Die Brüderunität veröffentlichte Anfang des 16. Jahrhunderts einige Schriften von Jan Hus im Druck, die Auflage seiner tschechischen Postille von 1563/64 mussten die Utraquisten jedoch in Nürnberg veranlassen. Den Druck von Hus’ Traktat „De ecclesia“ und seinen Briefen hat Martin Luther besorgt und die Herausgabe der epochalen Hus’schen „Monumenta“ von 1558 verdankt man dem Lutheraner Matthias Flacius Illyricus (1520–1574).54 Mehrere Faktoren dürften sich hier überschnitten haben: Neben dem Konservativismus des böhmischen Milieus gegenüber Buchdruck und Humanismus war es wohl auch die für die Verleger unattraktive hussitische Kontroverse, auf welche die Tatsache hindeutet, dass auch die antihussitischen Schriften von namhaften Autoren nur ausnahmsweise im 51 Mittlerweile vgl. O. Marin, Pourquoi débattre avec les hussites: le tournant stratégique bâlois à la lumière du Tractatus de iustificatione vocationis Bohemorum (1432), in: C. Maurer / C. Vincent (Hgg.), La coexistence confessionnelle en France et en Europe germanique et orientale. Du Moyen Âge à nos jours (Chrétiens et sociétés 27), Lyon 2015, S. 107–129; B. Zilynská, From Learned Disputation to the Happening. The Propagation of Faith through Word and Image, in: M. Bartlová / M. Šroněk (Hgg.), Public Communication in European Reformation. Artistic and other Media in Central Europe 1380–1620, Prague 2007, S. 55–67. 52 Vgl. J. Hrdina / K. Boldan, Úvodem [Zur Einführung], in: Diess. (Hgg.), Knihtisk, zbožnost, konfese v zemích Koruny české doby poděbradské a jagellonské [Buchdruck, Frömmigkeit, Konfession in den Ländern der Böhmischen Krone des Poděbrad’schen und Jagiellonischen Zeitalters] (CMP 19), Praha 2018, S. 7–9, hier S. 7. 53 Vgl. P. Voit, Utrakvisté a knihtisk [Die Utraquisten und der Buchdruck], in: ebd., S. 11–27; sowie den Aufsatz von Dems. im vorliegenden Band; vgl. auch B. Zilynská, Tištěná média a synodální praxe utrakvistů do poloviny 16. století [Druckmedien und Synodalpraxis der Utraquisten bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts], in: J. Hrdina / K. Boldan (Hgg.), Knihtisk (wie Anm. 52), S. 29–40. 54 Übersichtlich in: P. Soukup, Jan Hus (wie Anm. 34), S. 9. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 117 Druck erschienen. Auch hier muss man aber künftige Untersuchungen abwarten, denn – wie unlängst in einem von Kamil Boldan und Jan Hrdina herausgegebenen Band betont – ‚Arbeiten, die die Rolle der frühen Drucke im strukturellen Wandel der Kommunikationsprozesse in den böhmischen Ländern auswerten würden, fehlen deutlich‘.55 4. Der visuellen Kommunikation, wie auch den bildenden Künsten der Hussitenzeit allgemein, wurde jüngst relativ große Aufmerksamkeit gewidmet. Der Katalog der Ausstellung von 2010 zur „Kunst der böhmischen Reformation 1380–1620“, herausgegeben von Kateřina Horníčková und Michal Šroněk, bedeutete einen Quantensprung in der Erschließung der bildlichen Quellen aus der Umgebung des Utraquismus.56 Im Jahr 2015 legte Milena Bartlová die erste umfassende und konzeptuelle Bearbeitung der hussitischen Kunst vor.57 Die grundlegende Errungenschaft dieser neueren Forschung ist der Nachweis der simplen Tatsache, dass es eine hussitische Kunst überhaupt gab. Die Quellenlage ist nicht besonders gut und die ältere Forschungstradition neigte zur These einer wenig ausgeprägten Kunstfreundlichkeit des Hussitismus. Die Arbeiten der letzten Zeit wiesen nicht nur auf die unaufhörliche künstlerische Produktion hin, sondern auch auf ihre identitätsstiftende Rolle. Ikonografische Besonderheiten der utraquistischen Kunst – die Abbildung des heiligen Jan Hus sowie des Abendmahls unter beiderlei Gestalt – dienten zugleich als Hauptmerkmale, um die sich die hussitische Gemeinde zusammenschloss. Die vereinzelten erhaltenen Belege aus dem Bereich der monumentalen Kunst deuten in diese Richtung. Die heute bekannten, als hussitisch identifizierbaren Werke der Tafel- bzw. Wandmalerei stammen in der Regel frühestens aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, und somit aus der Zeit der politischen und religiösen Stabilisierung sowie Etablierung der kalixtinischen Kirche. Sie richteten sich auf das Innere des utraquistischen Konfessionslagers und sollten eher seine Identität stärken als die konfessionellen Opponenten überzeugen. Eine agitative Wirkung erwartete man von bildlichen Darstellungen wohl eher in der Frühphase der Bewegung. Aus den 55 Vgl. K. Boldan / J. Hrdina, Úvodem (wie Anm. 52), S. 8. 56 Vgl. K. Horníčková / M. Šroněk (Hgg.), Umění české reformace (1380–1620) [Die Kunst der böhmischen Reformation (1380–1620)], Praha 2010; die englische Übersetzung der darin erhaltenen Essays (ohne Katalogeinträge) erschien als Diess. (Hgg.), From Hus to Luther (wie Anm. 4). 57 Vgl. M. Bartlová, Pravda zvítězila. Výtvarné umění a husitství 1380–1490 [Die Wahrheit hat gesiegt. Die bildende Kunst und das Hussitentum 1380–1490], Praha 2015. Speziell dem Thema Kommunikation wurde bereits 2006 eine Tagung gewidmet. Vgl. Dies. / M. Šroněk (Hgg.), Public Communication (wie Anm. 51). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 118 Pavel Soukup 1410er Jahren liegen Nachrichten von satirischen Bildern vor, die in öffentlichen Veranstaltungen eingesetzt wurden. Einen prominenten Platz in der Erforschung der hussitischen Propaganda erlangt ein Quellenkomplex in Form zweier Bilderhandschriften und zweier Sprachversionen (lateinisch und alttschechisch) der Schrift „Tabulae veteris et novi coloris“ des Nikolaus von Dresden († 1417). Nikolaus’ Traktat von 1412 verweist auf biblische und andere Autoritäten im Hinblick auf einige Antithesen, in denen der zeitgenössischen verdorbenen Kirche die apostolische Kirche gegenübergestellt wird. Die beiden Handschriften, der sog. Göttinger Kodex aus den 1470er Jahren und der sog. Jenaer Kodex vom Ende desselben Jahrhunderts (1495–1500), enthalten neben den Illustrationen zur tschechischen Übersetzung der „Tabulae“ auch weitere antithetische Illuminationen, die umfangreich auf Tschechisch beschriftet sind. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Text und Bild; in Betracht kommt darüber hinaus auch das gesprochene Wort, da die Antithese mit dem reitenden Papst und Christus in einigen homiletischen Werken von Jan Hus benutzt wird.58 Aufgrund eines Zeugnisses über antithetische Bilder, die man eben in der Zeit der Abfassung der lateinischen „Tabulae“ auf den Straßen Prags getragen haben könnte, vermuten die Historiker seit längerem, der Traktat und die erhaltenen Buchmalereien könnten Belege sein für die auf Demonstrationen getragenen Transparente oder sogar für agitatorische Wandgemälde, etwa in der Bethlehemskapelle oder in der Prager Universitätsburse „Zur Schwarzen Rose“. In der Forschung wurden diesbezüglich mehrere Hypothesen formuliert, in letzter Zeit besonders in den anregenden Beiträgen von František Šmahel, Petra Mutlová und Milena Bartlová.59 Neulich gipfelten die Bemühungen auf diesem Feld in einer kollektiven, breit interdisziplinär angelegten Edition und Untersuchung der alttschechischen Übersetzung der „Tabulae“.60 (Abb. 1 und 2) 58 Dazu jetzt L. Mazalová, „Non sedit super equum fervidum, sed super asinam“: Concerning One of Jan Hus’s Antitheses in His Czech Postilla, in: BRRP 11 (2018), S. 37–49. 59 Vgl. F. Šmahel, Die Tabule veteris et novi coloris als audiovisuelles Medium hussitischer Agitation, in: Studie o rukopisech [Studien über Handschriften] 29 (1992), S. 95–105; P. Mutlová, Communicating Texts through Images: Nicholas of Dresden’s Tabule, in: M. Bartlová / M. Šroněk (Hgg.), Public Communication (wie Anm. 51), S. 29–37; M. Bartlová, Prout lucide apparet in tabulis et picturis ipsorum. Komunikační úloha obrazů a textů v počátcích husitismu [… Die kommunikative Rolle der Bilder und Texte in den Anfängen des Hussitismus], in: SMB 3 (2011), S. 249–274. 60 P. Čornej / M. Dragoun / M. Homolková / P. Mutlová / M. Pytlíková / M. Studničková / K. Voleková, Tabule staré a nové barvy Mikuláše z Drážďan ve staročeském překladu [Die Tafeln der alten und neuen Farbe des Nikolaus von Dresden in der alttschechischen Übersetzung], Praha 2016. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 119 Abb. 1 und 2: Antithesis Christi et Antichristi, in: sog. Jenaer Kodex, fol. 12v f. Die „Tabulae veteris et novi coloris“ von Nikolaus von Dresden enthalten u. a. eine antithetische Gegenüberstellung des Kreuz tragenden Christi und des reitenden Papstes. Die alttschechische Übersetzung im sog. Jenaer Kodex von ca. 1495 bis 1500 wurde reich illuminiert [KNM Praha, Sign. IV B 24]. Nicht alle Fragen wurden gelöst, besonders bleiben die Abweichungen in der Reihenfolge der Kapitel zwischen einzelnen Abschriften sowohl der lateinischen als auch der tschechischen „Tabulae“ enigmatisch. Was die öffentliche Kommunikation betrifft, verfügt man trotzdem über eine Reihe neuer Erkenntnisse: So wurde bereits der lateinische Text von Anfang an mit Bildern versehen; die erhaltenen Illustrationen der „Tabulae“ sind für Straßentransparente wenig geeignet und ihre Thematik stimmt mit dem schriftlichen Zeugnis über Demonstrationen nicht ganz überein; nichtsdestoweniger konnte der Traktat Inspiration für tragbare Agitationsbilder geliefert haben.61 Die Hypothese von Milena Bartlová, dass solche Transparente in der Bethlehemskapelle aufbewahrt wurden, bleibt 61 Vgl. P. Mutlová, Mikuláš z Drážďan a jeho Tabule veteris et novi coloris [Nikolaus von Dresden und seine Tabule veteris et novi coloris], in: P. Čor­nej / M. Dragoun / M. Homolková / Dies. / M. Pytlíková / M. Studničková / K. Voleková, Tabule Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 120 Pavel Soukup weiterhin zulässig; die Annahme über propagandistische Wandmalereien daselbst oder in der „Schwarzen Rose“ (František Šmahel) erscheint hingegen weniger plausibel. (Abb. 3 und 4) Den schriftlichen Quellen zufolge erlebten satirische Bilder und Karikaturen nach der Mitte des 15. Jahrhunderts eine erneute Konjunktur, besonders im Kampf der Utraquisten gegen die Mission des Johannes Capistranus. Zusammen mit den typisch hussitischen ikonografischen Motiven stellen sie die Innovation im Bereich der visuellen Kommunikation dar. Auf der theoretischen Ebene veränderte sich im Hussitismus die Rolle des religiösen Bildes: Es sollte nicht mehr der Verehrung und Kommunikation mit Gott dienen, sondern vornehmlich der Kommunikation in dieser Welt.62 Wegen der Absenz des Buchdrucks in der hussitischen Kommunikationspraxis – weitgehend auch noch nach seiner Erfindung – blieben aber Bilder ein wichtiges Medium. Da die Hussiten auf Bilder nicht verzichten und diese durch den typografisch fixierten Bibeltext nicht ersetzen konnten, entwickelten sie nach Milena Bartlová keine der lutherischen Lehre ähnlichen Prinzipien, sondern blieben in ihrer Gnadentheologie auf die (gereinigte) Kirchengemeinschaft fixiert. Ihr Ansatz müsse so als eine „mittelalterliche Reformation“ gelten, d. h. eine „Reformation vor dem Buchdruck“.63 *** Das bringt uns zur Einordnung des Hussitentums in den konzeptuellen Rahmen und die Begrifflichkeit des Reform- und Reformationszeitalters zurück. In der Auffassung von Milena Bartlová fehlen der hussitischen Reformation neuzeitliche Elemente: im Bereich der Theologie die Betonung des individuellen Gewissens und im Bereich der Kommunikation der Buchdruck. M. E. scheint dagegen das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit in Glaubenssachen fest in den Fundamenten der hussitischen Ekklesiologie eingebettet zu sein und war somit eines der wichtigsten Merkmale der hussitischen Reformation.64 Wenn hier von der Reformation ohne Buchdruck die Rede ist, stellt dies ein Urteil über die Leistung der Hussiten in der Öffentlichkeitsarbeit dar: Auch ohne gedruckte Bücher und Flugschriften vermochten sie ihre Botschaft so weit zu verbreiten und so tief (wie Anm. 60), S. 33–46; M. Studničková, Obrazová složka staročeského zpracování Ta­ bulí [Die bildliche Komponente der alttschechischen Bearbeitung der Tafeln], ebd., S. 59–84. 62 Ich gebe in diesem Absatz weitgehend die Schlussfolgerungen von Milena Bartlová wieder. Vgl. M. Bartlová, Pravda zvítězila (wie Anm. 57), S. 276 f. 63 Dies., Komunikační úloha (wie Anm. 59), S. 273 f. 64 Vgl. dazu auch P. Soukup, Jan Hus (wie Anm. 34), S. 164. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 121 Abb. 3 und 4: O. Brunfels, Processus consistorialis martyrii Johannis Huss […], Straßburg: Johann Schott 1525 (VD16 P 4945), fol. D3r f. Legende: Die schriftlichen Zeugnisse über die Unruhen in Prag um 1412 sprechen von einer bildlichen Antithese, die dem reitenden Papst den bescheidenen Christus auf einem Esel gegenüberstellte. Dieses Thema, obwohl in mehreren Predigten von Jan Hus benutzt, findet sich nicht in den „Tabulae“; es wurde aber in Holzschnitten eines Druckes von 1525 dargestellt [KNM Praha, Sign. 60 C 10]. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 122 Pavel Soukup zu pflanzen, dass sie ihre Existenz als religiöse Gruppe langfristig sicherten.65 Die von den Hussiten angewandten Kommunikationsmittel erwiesen sich in ihrer Gesamtheit und Kombination als hoch effizient. Zu allen einzelnen Bereichen der hussitischen Kommunikation ließen sich sicher in der mittelalterlichen Geschichte Parallelen finden – und darin besteht auch eine der wichtigsten Aufgaben künftiger Forschung. Der konzentrierte Einsatz dieser Kommunikationsmittel durch eine von außen ständig bedrohte religiöse Gruppe hatte jedoch Folgen, die über die Grenzen der mittelalterlichen Kirchlichkeit hinauswiesen. Die Aufzählung der wichtigsten Bestandteile des frühneuzeitlichen ‚reformatorischen Medienbundes‘ (Flugschrift/Flugblatt, Bild, Predigt, Lied, Gespräch) zeigt,66 dass den Hussiten eben nur das Druckmedium fehlte. Nach Johannes Burkhardt profitierte die Reformation des 16. Jahrhunderts vom Druck auf mehrfacher Weise. Eine druckgestützte Berichterstattung, die sogar zur ‚Pressepolitik‘ werden konnte, blieb den Hussiten unzugänglich. Die faktische sowie symbolische Rolle der Schriftlichkeit in religiösen Kontroversen ist dagegen schon im Spätmittelalter vorstellbar und nachweisbar, obwohl damals als ‚Handlungsträger‘ natürlich handgeschriebene Bücher auftraten.67 Ob im Hussitismus Schriften selbst als Reformationsereignisse angesehen werden können, ist eine Frage; der Anschlag der Appellation an Christus durch Jan Hus 1412 deutet auf eine positive Antwort hin. Das Schriftprinzip, das die Textvervielfältigung am Laufen gehalten haben sollte, finden wir letztlich mit gewissen Modifizierungen auch bei den Hussiten; seine mediengeschichtliche Auswirkung bedarf aber mehr Aufmerksamkeit, als ihr bisher gewidmet wurde.68 Das unmittelbare Verhältnis zu Gott, dessen sich jeder über einen Text vergewissern kann, ist nach Johannes Burkhardt nur im typografischen Zeitalter möglich.69 Im Hussitismus blieb die vermittelnde Rolle des Priesterstandes erhalten, und in diesem Sinne ist den Ausführungen Milena Bartlovás von 65 Zur Frage, inwieweit die hussitische Reformation erfolgreich war, vgl. neuerdings die Beiträge von P. N. Haberkern, Was the Bohemian Reformation a Failure?, in: BRRP 11 (2018), S. 217– 237; und M. Nodl, Husitská reformace mezi zrozením nové zbožnosti, (ne)reformovatelností staré víry a „dechristianizací“ [Die hussitische Reformation zwischen der Geburt der neuen Frömmigkeit, der (Un)reformierbarkeit des alten Glaubens und der „Dechristianisierung“], in: Ders. / F. Šmahel (Hgg.), Pohané a křesťané (wie Anm. 44), S. 191–216. 66 Vgl. J. Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002, S. 56–60. 67 Für das Spätmittelalter vgl. M. Van Dussen / P. Soukup (Hgg.), Religious Controversy (wie Anm. 35). 68 Vgl. J. Burkhardt, Reformationsjahrhundert (wie Anm. 66), S. 35–48. 69 Vgl. ebd., S. 47 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 123 ‚der mittelalterlichen Reformation‘ der Hussiten zuzustimmen. Die Aufgabe des Priesters war es, den Gläubigen heilbringendes Gotteswort und Sakramente zu vermitteln. Das Schriftprinzip der Hussiten wirkte sich jedoch anders aus: Der utraquistische Gläubige behalf sich zwar nicht ohne Priester (der sogar vom katholischen Bischof geweiht sein sollte!), doch wurde ihm die korrekte Bibelauslegung durch keine kirchliche Institution (ja nicht einmal einen einzelnen Geistlichen) garantiert. Theoretisch sollte ein besseres Bibelverständnis, ungeachtet wer es vermittelt, Oberhand gewinnen. Wie in der lutherischen Reformation steht der Text über der Amtsautorität. Die praktischen Probleme der Textverbreitung löste das Hussitentum vorrangig durch eine zweistufige Kommunikation, die noch im 16. Jahrhundert unverzichtbar war: Die Kerninhalte wurden zunächst im engeren Kreis der Meinungsführer verbreitet, die sie dann mündlich an die illiterati weitergaben. Wenn man von einer ‚reformatorischen Öffentlichkeit‘ sprechen kann, die sich von der modernen, mit politischen Debatten der Aufklärung ansetzenden Öffentlichkeit unterscheidet, dann kann man wohl auch eine ‚hussitische Öffentlichkeit‘ voraussetzen.70 M. E. lässt sich festhalten, dass das durch die Absenz des Druckmediums verursachte Defizit des Hussitentums quantitativ, nicht aber qualitativ war. Es wurde durch die autonome Schriftauslegung und den intensiven Einsatz aller anderen Kommunikationsarten ausgeglichen. Aus dieser multimedialen Kampagne in den Anfängen der Bewegung resultierte der beträchtliche Einfluss der Hussiten in Böhmen. Die Agitation in dieser Zeit wandte sich nach außen, außerhalb des Reformzirkels, zugleich blieb sie aber auf Böhmen und Mähren begrenzt. Die ins Ausland gerichtete Propaganda seit den 1420er Jahren kann als ein Übergang von der ersten zur zweiten Phase der hussitischen Agitation verstanden werden: Sie wurde persuasiv gedacht und formuliert, konnte aber kaum jemanden außerhalb Böhmens überzeugen und führte eher zur Erstarrung beider Parteien in ihren theologischen Kämpfen. Nach den Kompaktaten wandten sich die Utraquisten polemisch gegen den Katholizismus sowohl in als auch außerhalb von Böhmen. Obwohl die für die Frühphase typischen Medien eine Renaissance erlebten (Manifeste, Bilder, Satiren), kann man mit Recht vermuten, dass diese Kommunikation eigentlich nicht auf Konversion der Gegner und Anwerbung neuer Anhänger zielte, sondern eher pro foro interno gemeint war und zur Identitätsbekräftigung und Konsolidierung der eigenen Konfession diente. 70 Vgl. ebd., S. 56–59; für den Hussitismus vgl. ansatzweise P. Rychterová, Die Verbrennung von Johannes Hus als europäisches Ereignis. Öffentlichkeit und Öffentlichkeiten am Vorabend der hussitischen Revolution, in: M. Kintzinger / B. Schneidmüller (Hgg.), Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter (VuF 75), Ostfildern 2011, S. 361–383. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 124 Pavel Soukup Außerhalb des Landes vermochten sich die Hussiten dauerhaft nicht durchzusetzen. Lag dies an der Sprachbarriere und an einer misslungenen Kommunikation nach außen? M. E. nicht. Die Sprache konnte höchstens bei direkter Wirkung auf die illiterati ein Problem darstellen; die vereinzelten Berichte über hussitische Emissäre im heutigen Deutschland und Österreich deuten aber an, dass nicht einmal dies der Fall war. Bei schriftlicher Kommunikation war die Sprache kein Problem, da diese überwiegend auf Lateinisch verlief, wobei die Inhalte gegebenenfalls den Laien in der jeweiligen Volkssprache vermittelt wurden. Auf diese Weise verbreiteten sich Kenntnisse über die Hussiten bereits vor der Erfindung des Buchdrucks. Obwohl sie im Ausland fast niemanden überzeugen konnten, war man dort über ihre Lehren hinreichend informiert. Als der Buchdruck eingeführt wurde, ignorierten ihn die Hussiten weitgehend: Zu Hause war keine Agitation mehr nötig, im Ausland konnten sie kaum etwas erreichen. Die Ablehnung ihres Reformprojektes außerhalb der tschechischsprachigen Länder war also keine Folge der Sprach- oder Kommunikationsbarriere. Vielmehr war sie durch Vorurteile verursacht, die teilweise den Charakter einer nationalen Abgrenzung hatten, noch mehr aber beruhten sie auf allgemeinen antihäretischen Klischees. Auf internationaler Ebene begann sich der Hussitismus um Verbreitung zu bemühen, als er schon durch das Konstanzer Konzil verurteilt worden war. Dazu bekannten sich die Hussiten von Anfang an zu einem anderen verurteilten Ketzer, nämlich John Wyclif (ca. 1320–1384), so dass sie lange als Wycliffisten etikettiert wurden.71 Zusammenfassend kann man feststellen, dass es die gut beherrschte politische Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit war, die den hussitischen Geistlichen und Intellektuellen dazu verhalfen, die utraquistische Landeskirche in Böhmen aufzubauen – eine Leistung, die den Hussiten auch das Etikett ‚Reformation‘ sichern könnte. Ob man dieser Begrifflichkeit zustimmt oder nicht, ist letzten Endes nebensächlich. Das Wichtige ist, ob die terminologische Diskussion neue Erkenntnisse über das Hussitentum bringen bzw. weiterführende Forschung stimulieren kann. In diesem Sinne bedarf es weiterer Arbeiten zu Fragen wie etwa nach dem Verhältnis der Konfessionen in Böhmen zueinander, der Einstellung einzelner ekklesialer Gruppen zu den Obrigkeiten, der Kirchenlehre des späteren Utraquismus oder den Diskrepanzen zwischen den Idealen der hussitischen Reformation und den praktischen Lösungen. Nicht zuletzt wäre ein umfassender Blick auf die Gesamtwirkung von verschiedenen in der Hussitenzeit eingesetzten 71 Vgl. P. Soukup, The Waning of the ‚Wycliffites‘: Giving Names to Hussite Heresy, in: J. P. Hornbeck II / M. Van Dussen (Hgg.), Europe after Wyclif (FSMS), New York 2017, S. 196–226. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck 125 Medien und Kommunikationsformen wünschenswert, der die Grenzen einzelner Disziplinen überschreiten und unterschiedlich (sprachlich, medial usw.) codierte Quellen integrieren würde. Nur ein so entstandenes Bild der öffentlichen Kommunikation im Hussitismus kann als Vergleich mit der Wittenberger Reformation und anderen Reformationen dienen. Und nur so wiederum ließe sich der Hussitismus als ein frühes Kapitel in die Kommunikationsgeschichte der Reformationszeit einbinden. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Petr Voit Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)*1 Eingangs ist es notwendig, das komplizierte Sprachproblem in der Druckproduktion der böhmischen und mährischen Offizinen zu umreißen, vor allem was die Stellung des Deutschen anbelangt. Das Tschechische hatte in solchen Publikationen bis in die 1540er Jahre eine Monopolstellung inne, zumal aufgrund des hussitischen Erbes vom 15. Jahrhundert die Sorge um die religiöse Erziehung des sprachlich nicht kundigen Lesers überwog, womit dann auch der rezeptive, d. h. ‚translatorische‘ Charakter der einheimischen Literatur zusammenhing. Wohl noch intensiver wurde diese Sprachsituation durch den Buchimport der biblischen, homiletischen sowie ‚rechtswissenschaftlichen‘ ( Jura, Jurisprudenz usw.) Literatur aus den deutschsprachigen Ländern und weniger aus Italien beeinflusst. Dieser Import der lateinischen Drucke, dessen Anfänge man in die 1480er Jahre datieren kann, überflutete die Bibliotheken der gebildeteren Bürger, Aristokraten und Intellektuellen permanent. Die böhmischen Buchdrucker waren nicht konkurrenzfähig und deshalb mussten sie sich gegenüber diesem Import derart profilieren, dass sie nur tschechischsprachige Texte herstellten. Ein weiterer nicht minder wichtiger Grund für eine solche sprachliche Differenzierung der in den böhmischen Ländern produzierten gedruckten Literatur lag in der reservierten und bisweilen auch distanzierten ‚gesamtnationalen‘ Haltung allem Ausländischen gegenüber – im Fall des Deutschen noch verstärkt durch die Aversion gegen den politisch, wirtschaftlich sowie kulturell stärkeren Nachbarn. * Dieser Text, der im Rahmen des an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität duchgeführten Dachprojektes SVV – Specifický vysokoškolský výzkum [Spezifische universitäre Forschung] 2018-260483 – publiziert wird, stellt eine deutsche Fassung des Aufsatzes dar: P. Voit, Utrakvisté a knihtisk [Utraquisten und Buchdruck], in: J. Hrdina / K. Boldan (Hgg.), Knihtisk, zbožnost, konfese v zemích Koruny české doby poděbradské a jagellonské [Buchdruck, Frömmigkeit, Konfession in den Ländern der Böhmischen Krone des Poděbrad’schen und Jagiellonischen Zeitalters] (CMP 19), Praha 2018, S. 11–27. Der Text ist im Unterschied zu seiner älteren Fassung vom Jahr 2018 nur im Fußnotenapparat modifiziert. Einige Passagen sind übernommen aus P. Voit, Český knihtisk mezi pozdní gotikou a renesancí II. Tiskaři pro víru i tiskaři pro obrození národa 1498–1547 [Der böhmische Buchdruck zwischen der Spätgotik und der Renaissance II. Die Drucker für den Glauben sowie die Drucker für die Wiedergeburt des Volkes 1498–1547], Praha 2017, S. 143–211; vgl. dazu auch K. Boldan / B. Neškudla / Ders., The Reception of Antiquity in Bohemian Book Culture from the Beginning of Printing until 1547 (EH 12; BOH 1), Turnhout 2014. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 128 Petr Voit Während man also unter den in der ‚Inkunabelzeit‘ in Böhmen hergestellten Wiegendrucken keinen deutschsprachigen Text kennt, erschien zumindest 1495 ein einziger in Mähren in Brünn/Brno.1 Es gab lediglich zwei Buchdruckereien in den böhmischen Ländern, welche ausschließlich auf Deutsch publizierten. Über erstere im westböhmischen Eger/Cheb weiß man jedoch nichts und die andere, die nur von 1526 bis 1527 für den Täuferführer Balthasar Hubmaier (ca. 1485–1528) im südmährischen Nikolsburg/Mikulov arbeitete, diente allein den Bedürfnissen innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft. Den Bedarf an deutschsprachigen Texten – z. B. in den Herrschaften der Grafen von Schlik ( Joachimsthal/ Jáchymov) – befriedigten die deutschen Offizinen. Im Allgemeinen tauchte das Deutsche in den böhmischen Buchdruckereien zuerst allein als eine der drei Sprachen der praktischen Wörterbücher bzw. der Konversationshandbücher für die Kaufleute auf, wie es von 1509 bis 1510 die Lage im katholischen Pilsen/Plzeň in Westböhmen am prägnantesten belegt. Den ältesten deutschen Druck, der 1538 im mährischen Olmütz/Olomouc herausgegeben wurde, stellt ein biblisches Apokryph mit der Jahreszahl ‚1538‘ dar. In Prag wurden ‚gesamtdeutsche‘ Publikationen erst seit 1541 gedruckt, allerdings vorerst nur selten. Es ging meistens um amtliche Drucke und ‚Zeitungen‘. Der Umfang der deutschsprachigen Publikation nahm erst unter Rudolf II. (1576–1611/12), der 1583 mit seinem Hof nach Prag übersiedelte, quantitativ zu. Ein solch sprunghafter Anstieg betraf auch lateinische Drucke, allein mit dem Unterschied, dass dieser bereits in den 1550er Jahren mit der humanistischen Poesie und ‚wissenschaftlichen‘ Prosa begonnen hatte.2 (Vgl. Grafik 1 und 2) In heutiger Zeit, sofern wir über ausreichende Forschungskapazitäten zur Buchkultur verfügen, können wir in Anknüpfung an ältere Forschungsergebnisse wenigstens den Buchdruck tiefergehend analysieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die im 20. Jahrhundert angewandte Methodologie auch weiterhin relevant sein muss und dass jedes beliebige Thema aus der Geschichte des Buchdrucks nur 1 2 Vgl. ISTC ic00740200; sowie GW 10115. Es stehen bisher keine statistischen Daten zur Verfügung, welche das gesamte Territorium der böhmischen Länder im Laufe des 16. Jahrhunderts betreffen. Doch wie neuerdings die Studie von V. Šícha, Jazyková skladba pražské tiskařské produkce 16. století – přehledová studie [Die sprachliche Zusammensetzung der Prager Druckproduktion des 16. Jahrhunderts. Eine Übersichtsstudie], in: Knihy a dějiny [Bücher und Geschichte] 25 (2018), S. 47–67, belegt, wurden in Prag zwischen 1501 und 1600 2.764 bibliografische Einheiten herausgegeben, von welchen sich 51 Prozent auf das Lateinische, 45 Prozent auf das Tschechische, acht Prozent auf das Deutsche, zwei Prozent auf das Griechische und 0,3 Prozent auf das Hebräische belaufen (andere Sprachen wie das Polnische, Italienische oder Ungarische tauchen erst am Ende des 16. Jahrhunderts auf und beschränken sich nur auf vernachlässigbare Einzelheiten). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 129 Jährliche Anzahl der bibliografischen Einheiten und ihr prozentualer Anteil an der Gesamtproduktion zwischen 1501 und 1550 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 Grafik 1: Chronologische Entwicklung der heute überlieferten böhmischen und mährischen Druckproduktion (1501–1550) – 628 bibliografische Einheiten insgesamt – davon 234 zwischen 1501 und 1526. Jährliche Anzahl der bibliografischen Einheiten und ihr prozentualer Anteil an der Gesamtproduktion zwischen 1501 und 1550 60 50 40 30 20 10 0 Grafik 2: Chronologische Entwicklung der heute überlieferten böhmischen und mährischen Druckproduktion (1501–1550) – 628 bibliografische Einheiten insgesamt – davon 394 zwischen 1527 und 1550. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 130 Petr Voit synchron ohne Kontextualisierung erfasst werden sollte. Wenn ich mich wiederholt für eine Revision der älteren Interpretationen einsetze, ist es schlüssig, sich zuerst den Anfängen des Buchdrucks zuzuwenden. Die folgende Skizze wird zeigen – ohne die Darlegung in bibliografischer oder historiografischer Hinsicht unnötig auszudehnen –, wie die utraquistische Mehrheitsgesellschaft an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in der literarische Szene wirksam wurde, wie sie ihre Beziehung zu diesem neuen Publikationsmedium entwickelte und unter welchen Umständen die frühneuzeitliche Lesergemeinde in Böhmen geformt wurde, die dem neuen Handwerk wahrlich große existenzielle Hindernisse in den Weg legte.3 Utraquistischer Buchdruck vornehmlich in Prag Nach Bořek Neškudla gibt es allein in der Nationalbibliothek sowie in der Bibliothek des Nationalmuseums in Prag etwa 600 zwischen 1450 und 1550 entstandene handschriftliche Codices.4 Die meisten von ihnen sind Sammelwerke, sodass es sich zusammengenommen um etwa 2.500 bibliografische Einheiten handelt, von denen der größte Teil auf Latein verfasst ist. Am häufigsten sind dies mittelalterliche Werke, die sich hauptsächlich mit subtilen theologischen Fragen, dem Predigtwesen oder der religiösen und sittlichen Bildung auseinandersetzen. Zahlenmäßig bedeutend ist auch eine Handschriftengruppe zur Rechtspraxis und zur Gesundheitsaufklärung. Belletristische Schriften oder Texte der Unterhaltungsliteratur, die darauf hinweisen würden, was marxistische Literaturhistoriker als ‚volkstümlich‘ bezeichnet hatten, sind dagegen kaum vorhanden. Ebenso sind Abschriften der antiken Literatur oder von Werken ausländischer Humanisten nur in verblüffend geringer Zahl zu finden. Von böhmischen Autoren stammen lediglich einige eucharistische Traktate, sog. ‚medizinische Kerne‘ (tschech. „lékařská jádra“), sowie natürlich Einzelstudien, die laut der älteren Literaturhistoriker eine wichtige Stelle im ‚Demokratisierungsprozess‘ eingenommen haben sollen. 3 4 Vgl. P. Voit, Nesnadná cesta knihovědy k dějinám knižní kultury [Der schwierige Weg der Buchwissenschaft zur Geschichte der Buchkultur], in: ČL 60 (2012), S. 586–602; Ders., Úvahy nad pohybem a periodizací českého předbělohorského knihtisku [Überlegungen zur Entwicklung und Periodisierung des böhmischen Buchdrucks vor der Schlacht am Weißen Berg], in: Knihy a dějiny [Bücher und Geschichte] 18/19 (2013), S. 55–67. Vgl. B. Neškudla, Knihovny a čtenářská recepce v období raného humanismu v Čechách [Die Bibliotheken und die Leserrezeption während des frühen Humanismus in Böhmen], phil. Diss. am Institut für Tschechische Geschichte der Philosophischen Fakultät der Karls­ universität Prag 2014, https://is.cuni.cz/webapps/zzp/download/140035991 (letzter Zugriff am 8.2.2020). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 131 Auch wenn nur ein Ausschnitt der einstigen literarischen Aktivitäten sowie der Lektüre in Prediger-, Gelehrten- und Beamtenkreisen überliefert sein dürfte, war die skriptografische Produktion der heimischen Kleriker und Beamtenschaft trotz des Buchimports und der inländischen Herstellung überraschend hoch. Erst ab dem beginnenden 16. Jahrhundert ist dann ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Die Probesondierungen in den Untersuchungen Bořek Neškudlas bestärken die Vermutung, dass der Übergang vom handgeschriebenen zum gedruckten Buch entgegen der bislang vorherrschenden Meinung in Böhmen nicht sehr schnell und keineswegs automatisch und geradlinig verlief. Der handgeschriebene Text blieb aus Zeit- und Kostengründen sowie angesichts der Tradition und privater Bedürfnisse noch relativ lange ein ernstzunehmender Konkurrent für den Buchdruck. Zum Beweis muss nur auf die reiche literarische Tätigkeit jener etwa 40 Utraquisten an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert verwiesen werden, die meistens im Priesterdienst oder an der Prager Universität wirkten.5 Die lateinischen eucharistischen Traktate oder die Kommentare etwa eines Aristoteles (384–322) oder eines Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) konnten sich außerhalb eines engen Gebildetenkreises bei der laikalen Leserschaft kaum durchsetzen. Wohl auch deshalb gelangte – nach heutigem Kenntnisstand – im Jahr 1493 lediglich ein einziges tschechischsprachiges, eher kleineres Werk Václav (Wenzel) Korandas d. J. (ca. 1425–1519) in die Druckerpresse.6 Exemplarisch für diese zeitgenössische Herangehensweise stehen etwa die handschriftlichen Sammelbände der Übersetzungen von Řehoř (Gregor) Hrubý von Jelení (ca. 1460–1514), dem Vater des Baseler Gelehrten Zikmund Hrubý von Jelení (Sigismund Gelenius; 1497–1554), die sich eher nicht an ein breites Lesepublikum richteten. So wie einige Jahrzehnte vor ihm Tomáš Štítný ze Štítného (Thomas von Štítné; ca. 1331–1401/09) speziell für den Landadel und die Geistlichkeit geschrieben hatte, damit diese seine theologischen und philosophischen Anschauungen den niederen gesellschaftlichen Schichten übermittelten, widmete Hrubý seine Übersetzungen von 1509 bis 1513 explizit einzelnen Mitgliedern aus der Staatsverwaltung, damit diese nach dem Vorbild der heidnischen und humanistischen Autoritäten aufklärerisch in die Gesellschaft hinein wirken 5 6 Vgl. P. Spunar, Literární činnost utrakvistů doby poděbradské a jagellonské [Die literarische Tätigkeit der Utraquisten im Poděbrad’schen und Jagiellonischen Zeitalter], in: A. Molnár (Hg.), Příspěvky k dějinám utrakvismu [Beiträge zur Geschichte des Utraquismus] (ARBI 1), Praha 1978, S. 165–269. Dazu neuerdings J. Marek, Václav Koranda mladší. Utrakvistický administrátor a literát [Václav Koranda der Jüngere. Der utraquistische Administrator und Literat] (Edice Středověk [Edition Mittelalter] 3), Praha 2017, S. 142 f., 220, Nr. 41. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 132 Petr Voit würden. Diese Intention spiegelt noch die mittelalterlichen Vorstellungen wider und bezeugt zugleich das Misstrauen gegenüber dem Bildungsniveau des bürgerlichen Lesers sowie der technischen Möglichkeiten des Buchdrucks, dessen noch begrenzter Schriftsatzfundus außerstande war, den Unterschied zwischen dem Haupttext und den Marginalien auch optisch hervorzuheben. Auch wenn Funde aus der jüngsten Zeit nahelegen, dass der quantitative wie qualitative Ausstoß der Drucker weitaus umfassender war als die heute überlieferten Exemplare prima vista glauben machen,7 muss man dennoch gegenüber einer massiven Transmission der Privathandschriften in den öffentlichen Raum vermittels des Buchdrucks eine zurückhaltende Haltung einnehmen. Als Beispiel dafür kann die allgemein bekannte Erkenntnis von Emil Pražák herangezogen werden, dass die „Boloňské hádání“ (‚Bolognesische Disputation‘) von Václav (Wenzel) Písecký (1482–1511) vor 1513 in der tschechischen Übersetzung Řehoř Hrubýs im Druck erschien.8 Pražák bezog sich auf eine Stelle in der handschriflichen Vorrede Hrubýs, welche lautet: toto Hádánie sepsáno jest od toho našeho mistra 7 8 Vgl. P. Voit, Nálezová zpráva o fragmentech tří pozdně antických próz tištěných česky počátkem 16. století (Gesta Romanorum, Asenech, Kronika o Apolloniovi) [Fundbericht über drei prosaische Fragmente aus der Spätantike (Gesta Romanorum, Asenech, Buch über Apollonios)], in: ČL 60 (2012), S. 55–75; Ders., Otazníky nad dosud neznámým prvotiskem českého překladu Petrarkovy encyklopedie 1494 [Fragezeichen zu einem bisher unbekannten Wiegendruck der tschechischen Übersetzung von Petrarcas Enzyklopädie 1494], in: E. G. Šidlovský / V. Valeš / J. Polesný (Hgg.), Melior est aquisitio scientiae negatione argenti. Pocta Prof. Ignácovi Antonínovi Hrdinovi, O. Praem., k šedesátým narozeninám [FS für Prof. Ignác Antonín Hrdina, O. Praem., zum 60. Geburtstag], Praha 2013, S. 347–352. Vgl. E. Pražák, Řehoř Hrubý z Jelení. Studie s ukázkami z díla [Řehoř Hrubý von Jelení. Eine Studie mit Proben aus seinem Werk] (Odkazy pokrokových osobností naší minulosti [Das Vermächtnis der fortschrittlichen Persönlichkeiten unserer Vergangenheit]), Praha 1964, S. 59, dies übernimmt J. Kolár, Dva světy humanistického dialogu [Zwei Welten des humanistischen Dialogs], in: Slavia 65 (1996), S. 347–351, besonders S. 350. Ebenso lässt sich die Behauptung über den Druck des „Lobes der Torheit“ des Erasmus von Rotterdam (ca. 1466–1536) in der Übersetzung Hrubýs (gedruckt angeblich bei Mikuláš Konáč im Jahr 1512) nicht nachweisen, die J. V. Šimák publizierte: Kronika pražská Bartoše Písaře [Die Prager Chronik des Schreibers Bartoš], ed. J. V. Šimák (FRB 6), Praha 1907, S. IX, woher dies E. Pražák, Řehoř Hrubý (wie oben in dieser Anm.), S. 45, übernommen hat und nach ihm noch Z. Tichá, Cesta starší české literatury [Der Weg der älteren tschechischen Literatur] (Edice Pyramida – encyklopedie [Edition Pyramide – Enzyklopädie]), Praha 1983, S. 173, während M. Kopecký, Literární dílo Mikuláše Konáče z Hodiškova. Příspěvky k poznání české literatury v období renesance [Das literarische Werk Mikuláš Konáčs von Hodiškov. Beiträge zur Erforschung der tschechischen Literatur im Zeitalter der Renaissance] (Spisy Univerzity J. E. Purkyně v Brně. Filosofická fakulta [Schriften der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität Brünn. Philosophische Fakultät] 74), Praha 1962, sowie M. Bohatcová, Zpráva o českých překladech z Erasma vytištěných v 16. a 17. století [Bericht über die im 16. und 17. Jahrhundert Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 133 nejviece pro učené Římany, kteříž – když je bohdá budú čísti tištěné – budúť mieti nač mysliti [‚diese Disputation wurde von jenem unserer Magister vor allem für die gelehrten Römer (d. h. die Anhänger der römischen Kirche in Böhmen – Anm. P. V.) verfasst, welche – wenn sie es, will’s Gott, gedruckt lesen – darüber werden nachdenken können‘].9 Dieser Einschub mit dem Adverb bohdá (‚will’s Gott‘) ist zweideutig und deshalb weiß man nicht, ob diese „Hádání“ (‚Disputation‘) später gedruckt worden sein könnte oder ob es vielleicht als Druckwerk gelesen wurde. M. E. ist dies eher skeptisch zu betrachten, denn die Herausgabe dieses Werkes wird weder von Antonín Koniáš (1691–1760) noch von Václav Hanka (1791–1861) oder Josef Jungmann (1773–1847) registriert. Unsere Zweifel bekräftigt übrigens auch die Bilanz der anderen Drucke Řehoř Hrubýs: Von mehr als 20 in zwei handschriftlichen Sammelbänden überlieferten Übersetzungen weiß man heute nur von zwei Stücken, die bei Jan ( Johann) Moravus († nach 1541) sowie Jan Šmerhovský (um 1519) im Druck publiziert wurden.10 Die handschriftlichen Texte entwickelten sich also in Böhmen wahrscheinlich bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts im Vergleich zum Buchdruck nicht nur anders als es weiter westlich davon üblich war, sondern sie überwogen sogar den Buchdruck, der außerdem mit kleinen Auflagen auskommen musste. Die üblichen Gebrauchshandschriften sowie die aufwändig illuminierten Codices verdanken ihre Entstehung allein der privaten Initiative und sie beeinflussten – wenn überhaupt – die breitere Gesellschaft nur mittelbar. Die Bildung sowie das religiöse Leben des aufkommenden Bürgertums hing deshalb nicht wenig von gedruckten tschechischen Übersetzungen des Erasmus’], in: SCetH 18, Nr. 35 (1988), S. 8–15, zu dieser äußerst dubiösen Information gar keine Stellung beziehen. 9 NK Praha, Sign. XVII D 38 (sog. Velký sborník [Großer Sammelband]), fol. 92r. 10 Vgl. KPS K01410 (Gianantonio Campano in der Übersetzung Řehoř Hrubýs, gedruckt vor 1513 bei Jan Šmerhovský) und KPS K03395 (Pseudo-Isokrates in der Übersetzung Václav Píseckýs, die von Hrubý in den Größeren sowie den Kleineren Sammelband übernommen wurde, gedruckt 1512 bei Jan Moravus). E. Pražák, Řehoř Hrubý (wie Anm. 8), S. 59, hält irrtümlich den Geschäftsgenossen Konáčs Johann Wolff (um 1507) für den Drucker. Vgl. dazu auch E. Urbánková, Neznámé dílo neznámého tiskaře [Ein unbekanntes Werk eines unbekannten Druckers], in: Miscellanea oddělení rukopisů a vzácných tisků Státní knihovny ČSR [Miscellanea der Abt. der Handschriften und der seltenen Drucke der Staatsbibliothek der ČSR] 1, Nr. 1 (1971), S. 1–46, besonders S. 17 f., 43 ff.; J. Martínek, O tiskaři Píseckého překladu řeči k Démonikovi [Über den Drucker der Písecký-Übersetzung der Rede an Demonikos], in: LF 96 (1973), S. 47; und K. Boldan, Život a dílo tiskaře Jana Morava [Das Leben und Werk des Druckers Johann Moravus], in: ČNM ŘH 174 (2005), S. 137–149, wo überall die Ansicht der älteren Forschung widerlegt wurde, dass Johann Wolff, Jan Moravus bzw. Jan Šmerhovský die gleiche Person darstellen würden. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 134 Petr Voit dem fremdsprachigen (d. h. vor allem lateinischen, griechischen und deutschen) Buch aus dem Ausland ab, welches in sachlicher, künstlerischer und handwerklicher Hinsicht wesentlich hochwertiger als die heimischen Druckerzeugnisse war. Ein Bild über die importierte Literatur vermitteln die Bibliotheken der zeitgenössischen Gelehrten, wobei sich jedoch unser Wissen angesichts des Überlieferungszustandes lediglich auf einzelne Exemplare stützen kann. Die Relevanz des Imports lässt sich vermittels einer neuen Forschungsrichtung abschätzen. Zu denken ist dabei an die Anzahl der heimischen Buchbinderwerkstätten der jagiellonischen Ära. Man kann zur Zeit allenfalls vermuten, dass etwa 20 von ihnen für Klöster gearbeitet haben könnten und weitere – vielleicht bis zu 50 – sich an den Bedürfnissen der Aristokratie, des Klerus und der städtischen Intelligenz orientierten.11 Parallel zu diesen Werkstätten gab es nur etwa zehn heimische funktionierende Druckereien, die zudem zahlreiche Unterbrechungen hinsichtlich ihrer Produktion aufwiesen, sodass sie den Buchbindern eigentlich keine Existenzsicherheit gewähren konnten. Zieht man in Erwägung, dass der Arbeitsaufwand der Buchbinder unter Anwendung des Blinddrucks mit jenem der Setzer und der Drucker gleichwertig war, kommt man zur einzigen logischen Erklärung der zahlenmäßigen Überlegenheit der Buchbindereien, die also nicht nur der regen handschriftlichen Produktion dienten, sondern vor allem auch den Importen in crudo, d. h. im Rohzustand, aus fremden Druckereien. Unser heutiger Kenntnisstand ermöglicht den vorläufigen Schluss, dass die Literatur der Antike und des Humanismus Stück für Stück nach Böhmen vermittels der Privateinkäufe in Deutschland, Polen und Italien vordrang, während auf dem quasi-öffentlichen Buchmarkt mit Bibeln, mittelalterlichen Postillen, juristischen Texten und Wörterbüchern gehandelt wurde, welche die kommerzielle Übersättigung in Deutschland minderten.12 Es bleibt zu fragen, ob ein dermaßen 11 Das Einbanddatenbank EBDB: https://www.hist-einband.de (letzter Zugriff am 8.2.2020) ermöglicht es bisher nicht, ohne größere Anstrengung genauere quantitative Angaben zu gewinnen. Zurzeit kann man mit Sicherheit nur feststellen, dass die Werkstätten der jagiellonischen Ära in Böhmen und Mähren über 2.922 Stück Werkzeug (Blindpressstempel, Rollen und Platten) verfügten. Unsere Einschätzung zur Anzahl der Werkstätten geht von der Prämisse aus, dass jede Werkstatt im Durchschnitt 30 verschiedene Werkzeuge besaß und dass die Datenbank in der Hälfte aller eruierten Fälle eigentlich nur ein und dieselbe Werkstatt erfasst, die mit dem ausgewechselten Werkzeug arbeitete. 12 Vgl. I. Hlaváček, Pronikání cizích prvotisků do českých knihoven v 15. století [Das Vordringen fremder Wiegendrucke in die böhmischen Bibliotheken im 15. Jahrhundert], in: L. Vebr (Hg.), Knihtisk a Univerzita Karlova. Sborník k 500. výročí knihtisku v českých zemích [Der Buchdruck und die Karlsuniversität. Sammelband anlässlich des 500. Jahrestages des Buchdrucks in den böhmischen Ländern], Praha 1972, S. 67–95; später noch Ders., Poznámky k italským tiskům v českých knihovnách na konci středověku a počátkem 16. století [Notizen Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 135 dirigierter Buchmarkt – unter Voraussetzung, dass etwa bis zur ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts der dominante Lesertyp immer noch der städtische Beamte oder Geistliche war – unter den meisten Laien wenigstens zum Teil deren stille Lektüre und schließlich den Wandel von der intensiven zur extensiven Lektüre befriedigen konnte. Der erste Typ der Leserezeption bestand in der Lektüre der biblischen und homiletischen Texte, der Traktate über die moralische Erziehung und der Gebete, durch welche sich der Leser der zuvor erkannten Wahrheit vergewisserte. Der andere, modernere Typ des Lesers widmete sich der Belletristik, worin er Unterhaltung und Informationen suchte. Die Belletristik verbreitete sich jedoch in Böhmen vor allem durch fremdsprachliche und aus dem Ausland importierte Literatur, die eher die Nachfrage der höheren gesellschaftlichen Schichten befriedigte. Mittlere und niedere Schichten des Bürgertums – von der Landbevölkerung ganz zu schweigen – waren das Hören des tschechischen Textes gewohnt, und deshalb blieben sie noch lange Zeit von dieser Veränderung in der Textrezeption unberührt.13 Wie schon erwähnt, waren die Buchdrucker einer starken Konkurrenz der heimischen skriptografischen Tradition sowie durch den Buchimport ausgesetzt, dessen Sprache Latein oder Deutsch war. Das Buchdruckerhandwerk in Böhmen behauptete sich also sprachlich auch in Bezug auf die Gattung der herausgegebenen Texte und es ignorierte somit die (wenn auch höchst seltenen) Bemühungen der heimischen lateinischen Humanisten. Dadurch war die Massenwirksamkeit des Buchdrucks als gesamtgesellschaftliches Medium wie nirgendwo anders im Ausland unterbunden. Ohne jede Ironie kann m. E. festgestellt werden, dass eine derart zurückhaltende Ausprägung des böhmischen Buchdrucks mit den technischen Möglichkeiten, den eher dilettantischen Fähigkeiten der Handwerker, dem unbeweglichen literarischen Betrieb sowie der (vor allem sprachlich mangelhaften) Bildung des Bürgertums konform ging. Die marxistischen Forscher sahen im sprachlichen Monopol des Tschechischen ausschließlich einen Beleg für die laizisierenden Bemühungen des Hussitentums,14 doch weiß man zu italienischen Drucken in böhmischen Bibliotheken am Ende des Mittelalters und zu Beginn des 16. Jahrhunderts], in: Miscellanea oddělení rukopisů a starých tisků [Miscellanea der Abt. der Handschriften und der alten Drucke] 13 (1996), S. 39–52, wo eine allzu optimistische Ansicht über den Anteil des italienischen Buchimports in Böhmen zu finden ist. 13 Vgl. J. Pokorný, Poznámky k dějinám čtení v pobělohorském období [Notizen zur Geschichte des Lesens nach der Schlacht am Weißen Berg], in: J. Pánek (Hg.), Česká města v 16.–18. století [Böhmische Städte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert] (PHÚAVČR, Reihe C: Mis­ cellanea 5), S. 227–235. 14 Vgl. M. Kopecký, Literárněhistorický význam našich prvotisků [Die literarhistorische Bedeutung unserer Wiegendrucke], in: J. Kubíček (Hg.), Knihtisk v Brně a na Moravě [Der Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 136 Petr Voit sehr gut, dass der Buchdruck der Utraquisten sowie der Brüderunität gegenüber dem Vermächtnis der älteren Generationen geradezu gleichgültig war. Die utraquistischen Drucker reflektierten die Vergangenheit erstmals im Jahr 1495 mit der Herausgabe der erweiterten illustrierten Version des Passionals, welche unter anderem die Beschreibung der Passion des Jan Hus (ca. 1370–1415) und des Hieronymus von Prag (ca. 1379–1416) beinhaltete. Das durch Viktorin Kornel von Všehrd (Victorinus Cornelius; 1460–1520) und Mikuláš (Nikolaus) Konáč von Hodiškov (ca. 1480–1546) vertretene linguozentrische Prinzip besaß zwar ein pronationales Potenzial, doch angesichts der Tatsache, dass der erste wiederholt in dieser Richtung auftretende und literarisch sehr begabte Utraquist Pavel (Paul) Bydžovský (1496–1559) erst seit 1537 wirksam war, musste man auf die Wiederbelebung der älteren Reformtexte zurückgreifen. Doch dies geschah nur beiläufig und mit einer zeitlichen Verzögerung: Das erste Werk von Jan Hus wurde erst 1510 im Druck publiziert, das erste Werk von Petr Chelčický (Peter von Cheltschitz; ca. 1390–1460) erschien erst 1520, die Werke von Jan Příbram (Johann von Příbram; † 1448) 1542 und von Jakobellus von Mies (Jakoubek ze Stříbra; ca. 1375–1429) erst 1545. An dem Schlüsselthema der europäischen religiösen Polemik, der zusammenfassend genannten causa Bohemica, nahm der heimische Buchdruck überhaupt nicht teil und die Erschließung der Texte des Jan Hus seit 1520 wurde eher zu einer Angelegenheit der deutschen anstatt der böhmischen Druckereien. Die Utraquisten ließen die nationale Vergangenheit mehr oder weniger ruhen und sie waren nicht imstande, die Öffentlichkeit mit dem gedruckten Text, geschweige denn mit dem Buchdekor und Buchillustrationen anzusprechen, auf ihrer Suche nach der eigenen Identität gegenüber der römischen Kirche. Vielversprechend, aber letzten Endes wirkungslos war der 1539 im Druck erschienene Text des mährischen Magnaten Ctibor Tovačovský (zu Tobistschau) von Cimburg (ca. 1437/38–1483) „Hádání Pravdy a Lži“ (‚Der Streit zwischen Wahrheit und Lüge‘), dessen Illustrationszyklus in Bezug auf eine mögliche öffentlich wirksame Präsentation des Utraquismus in zahnloser Theatralität endete.15 Und es muss noch eine andere Schwäche des heimischen Buchdrucks erwähnt werden. Es mangelte an (institutionellem) Patronat für das Handwerk, welches Buchdruck in Brünn und in Mähren], S. 83–91; näher dazu P. Voit, Koncept humanismu v marxisticky orientované paleobohemistice (1956–1996) [Das Konzept des Humanismus in der marxistisch ausgerichteten Paläobohemistik (1956–1996)], in: ČL 66 (2018), Nr. 6, S. 777–812. 15 Vgl. P. Voit, Český knihtisk mezi pozdní gotikou a renesancí I. Severinsko-kosořská dynastie 1488–1557 [Der böhmische Buchdruck zwischen der Spätgotik und der Renaissance I. Die Severin-Kosoř’sche Dynastie 1488–1557], Praha 2013, S. 263, 326 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 137 im Ausland die Bildungs- oder Verwaltungsinstitutionen (Universitäten, Bistümer) gewährten. Das in Pilsen residierende (Prager) Metropolitankapitel verzichtete bereits an der Wende der 1470er zu den 1480er Jahren auf sein Bündnis mit dem Buchdruck, wobei Konrad Baumgarten (ca. 1470–1514) in Olmütz die Unterstützung des dortigen Bistums nur bis 1502 genoss. Die Gründe dafür waren unterschiedlich. Die Pilsner liturgischen Drucke wurden in der heimischen Bastarda-Schrift gedruckt, welche den formalen Anforderungen an diesen literarischen ‚Typ‘ nicht genügte. Deshalb wurden seit 1488 weitere Aufträge an die ausländischen Offizinen vergeben, die über die Rotunda oder Antiqua verfügten. Der Olmützer humanistische, durch das Bistum und später noch durch die städtische St.-Moritz-Schule geförderte Buchdruck scheiterte wohl am geringen Absatz und 1504 wurde seine Tätigkeit für lange Zeit eingestellt. Die Tatsache, dass die Prager Universität als das faktische Zentrum des Utraquismus im Lande lange Zeit die notwendigen Veränderungen im herkömmlichen Zugang zur Bildung verhinderte, nötigte die literarisch tätigen Universitätsmagister, sich lediglich in die Zusammenstellung und Abschrift lateinischer Apologien des Kelches zu vertiefen. Abgesehen von einzelnen Persönlichkeiten, die den Druckereien die Aderlasskalender lieferten, kannten diese Intellektuellen höchstens den Weg auf die Kanzel, jedoch keineswegs in die Offizinen. Deswegen verfügt man über keine bedeutenden oder langfristigen Beweise für die Teilnahme Prager Druckereien der jagiellonischen Ära am pädagogischen Programm der Universität, wie es demgegenüber in Krakau/Kraków, 2, Leipzig, Venedig/Venezia, Padua/Padova und anderen, insbesondere zentraleuropäischen Metropolen üblich war. Es ist nicht beabsichtigt, hiesige literarische und editorische Möglichkeiten mit Gelehrten vom Format eines Thomas Anshelms († 1524), Josse Bades, gen. Ascensius (1462–1535), Johann Frobens (ca. 1460–1527), Johann Singrieners d. Ä. († 1545) oder Johann Winterburgers (ca. 1460–1519) zu vergleichen. Dennoch muss man an dieser Stelle betonen, dass alle Genannten ihr Handwerk vor allem dank der intellektuellen Unterstützung von Universitätsangehörigen entfalten konnten. Somit blieben die humanistisch geprägten Editionen der Klassiker der Antike sowie die zeitgenössischen lateinischen Werke nicht wie in Böhmen von der Peripherie des literarischen Lebens abgeriegelt, sondern sie folgten wie die volkssprachliche Literatur gleichrangig den zeitgenössischen editorischen Modellen. In Prag lässt sich eine eindeutige Unterstützung seitens der Universität nicht belegen. Ihre Magister erstellten zwar die sicher gut vergüteten Berechnungen der Wandaderlasskalender, deren ältestes überliefertes Exemplar von Vavřinec von Rokycany (Lorenz von Rokitzan) für das Jahr 1485 stammt. Da damals die Prager Altstadt/Staré Město pražské noch über keine Offizin verfügte, wurde sie von dem sich zeitweilig in Winterberg/Vimperk im Böhmerwald aufhaltenden Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 138 Petr Voit Passauer Wanderdrucker Johann Alacraw gedruckt. Im Laufe der 1490er Jahre übernahm Matěj z Vilémova (Matthias von Wilimow) die Stelle des Universitäts­ astronomen. Damit kam es bis zum Auftreten von Václav Žatecký (Wenzel von Saaz; ca. 1475–1520) zu einer Zäsur, die nur kurz mit der Amtsübernahme durch den deutschen Gelehrten Konrad Tockler (ca. 1470–1530) von der Leipziger Universität, durch Georg Tannstetter (1482–1535) von der Wiener Universität sowie durch Sebald Busch († 1536) und Erhard Etzlaub (ca. 1460–1530/31), beide aus Nürnberg, unterbrochen wurde. In einem bedeutenderen Ausmaß engagierte sich erst seit 1524 Magister Mikuláš Šúd ze Semanína (Nikolaus Šúd von Semanín; ca. 1490–1557) in der Produktion der Aderlass- und Buchkalender. Über die Mehrzahl der an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert im Umkreis der Prager Universität verfassten lateinischen theologischen Traktate geht eigentlich nur eine tschechische Abhandlung Václav Korandas d. J. über das Abendmahl von 1493 hinaus, und zwar nicht nur in Bezug auf die Sprache, sondern auch vermittels ihrer gedruckten Form. Unverzichtbar war jedoch die Beteiligung der Universitätsmagister an der redaktionellen Bearbeitung der Prager Bibel (Bible pražská) von 1488 und der Venezianischen Bibel (Bible benátská) von 1506. In zwei Auflagen (1500 und 1513) wurden die sog. Basler Kompaktaten von 1433 gedruckt. Es war deshalb wohl kein Zufall, dass ihre zweite Auflage eben in jenem Jahr erschien, als der Prager Drucker Jan Moravus die einzige utraquistische Konfession „O vieře svaté“ (‚Über den heiligen Glauben‘) im Druck verbreitete. Die zweite Auflage der Kompaktaten eröffnet eine deutschfeindliche Vorrede, als deren Verfasser der Rektor der Prager Universität und der Administrator des Unteren (utraquistischen) Konsistoriums Pavel Žatecký (Paul von Saaz; † 1517) – ohne eindeutige Belege – gilt.16 Sein Name kommt auch in der gedruckten Ausgabe des „Traktats über die Kommunion der kleinen Kinder“ (‚Traktát o přijímání malých dítek‘) vor. Die tschechische Version dieser ursprünglich lateinischen Schrift soll auch 1513 erschienen sein, doch schon Josef Jungmann und Václav Hanka konnten sich nur auf sekundäre Angaben beziehen.17 Der erste bekannte Beleg über die Verwendung des Buchdrucks innerhalb der Prager Universität für die Popularisierung der Lehre Martin Luthers (1483–1546) hängt mit dem dortigen Astronomen Pavel (Paul) Příbram (ca. 1486–1520) zusammen. Für die Offizin des Pavel (Paul) Severins von Kapí Hora (Paulus Severinus a Monte cuculli; 16 Vgl. J. Macek, Víra a zbožnost jagellonského věku [Glaube und Frömmigkeit im jagiellonischen Zeitalter] (Každodenní život [Alltagsleben] 9), Praha 2001, S. 111. 17 Vgl. V. Hanka, České prvotisky [Böhmische Wiegendrucke], in: ČČM 26, Nr. 3 (1852), S. 109–126; sowie ebd., 26, Nr. 4 (1852), S. 62–111, besonders S. 75, Nr. 60; zur lateinischen Version vgl. P. Spunar, Literární činnost (wie Anm. 5), S. 191. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 139 † 1553/54) übersetzte er Luthers kleines Werk „Eine kurze Erklärung der zehn Gebote“ („Kázání na Desatero přikázání Boží“) von 1518. Doch bevor er den kompletten Text abschließen konnte, starb er am 5. Oktober 1520.18 Alle oben erwähnten Beziehungen zwischen der Prager Universität und der Druckkunst waren jedoch nur vereinzelte Phänomene. Sie belegen im Unterschied zu den zeitgleichen vom Humanismus beeinflussten Aktivitäten im Ausland, deren Zweck unter anderem die Wiederbelebung des Wissens der Antike war, dass die utraquistischen Führungspersonen der Prager Universität bis in die 1520er Jahre die gesellschaftliche Rolle dieses neuen Mediums in ihrer Tragweite nicht erkannten. Wie noch unten dargelegt wird, litt der handwerkliche Aspekt des Buchdrucks unter der Abgeschlossenheit gegenüber dem Ausland und paradoxerweise auch unter dem eigenen Publikum, wo er auf intellektuelle Vorurteile und Misstrauen gegenüber Neuerungen stieß. Es bleibt zu fragen, ob diese Missachtung der Universitätsmagister gegenüber dem neuen Medium vielleicht sogar auf einen Boykott des katholischen Pilsens, der Wiege des Buchdrucks in Böhmen, hindeuten könnte. Eine weitsichtigere Haltung zeigten kleinere Laiengruppen aus den Reihen des Prager Altstadtpatriziats, die sich 1488 um den Krämer Severin († 1519/20) und 1506 um Václav (Wenzel) Sova von Liboslav (z Liboslavi; † 1542) gebildet hatten. Ein größeres Verständnis für die erzieherische Wirkung des Buchdrucks offenbarten auch die utraquistischen Pfarrer Jíra (Georg) und Jan ( Johann) Honsa, beide in der Kirche der Jungfrau Maria in der Pfützen (Na Louži) in der Prager Altstadt, oder Mikuláš (Nikolaus) in der Kirche des hl. Peter in Poříčí in der Prager Neustadt.19 Ihre noch nicht durch die Renaissance beeinflussten Präferenzen wiesen noch eine ganz spätmittelalterliche Prägung auf. Vermittels der Wünsche 18 V. V. Tomek, Dějepis města Prahy [Geschichte der Stadt Prag], Bd. 9, Praha 1893, S. 360 f. Noch vor der Herausgabe der „Erklärung“ Luthers in der Übersetzung des Příbram (Februar bis März 1520) ließ der Propst des Collegium Carolinum Václav (Wenzel) Rožďalovský (ca. 1490–1520) auf seine eigenen Kosten wahrscheinlich bei Pavel Severin zwei heute nicht mehr überlieferte kleine Traktate von Jan ( Johann) Miroš/Miruš († ca. 1531), des lutherischen Pfarrers in der Hl.-Kreuz-Kirche in der Prager Neustadt/Nové Město pražské, veröffentlichen, vgl. KPS K05614 f. Demgegenüber lässt unser Kenntnisstand über den tschechischen Druck der 20 Artikel aus der Tagung der utraquistischen Stände im Januar 1524 zu wünschen übrig, wo sich die sog. Neuutraquisten durchsetzten. Diese sog. Lichtmess-Artikel erschienen jedoch 1524 auf Deutsch in Nürnberg bei Hieronymus Höltzel (ca. 1499–1527), vgl. VD16 U 152, mit irrtümlich ergänztem Drucker Hans Hergot († 1527). 19 Vgl. V. V. Tomek, Dějepis, Bd. 9 (wie Anm. 18), S. 342 (mit der Erwähnung des Priesters Jíra im Jahr 1495). E. Pražák, Tři všehrdovské příspěvky [Drei Beiträge über Všehrd], in: Právněhistorické studie [Rechtshistorische Studien] 8 (1962), S. 213–225, versuchte, Jíra mit Jiří (Georg) Heremita zu identifizieren. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 140 Petr Voit und Gebote förderten sie bei ihren literarisch potenten Zeitgenossen das Interesse an kleinen Traktaten der Kirchenväter, deren tschechische Fassungen die Sehnsucht nach einer gesellschaftlichen sowie religiösen Reform unterstützten. Diese jüngere Strömung der zweiten böhmischen Reformation trat also nicht erst mit der Verbreitung der Ideen Martin Luthers in den Jahren 1519/20 hervor, sondern man begegnet ihr schon wesentlich früher, nämlich seit spätestens 1495 (1501). Sie beruhte eher nicht auf Luthers Anschauungen, sondern auf den Forderungen Viktorin Kornels von Všehrd, die dann im Laufe des 20. Jahrhunderts tendenziell zum Manifest des sog. nationalen Humanismus erklärt wurden. In der Praxis verbreitete sich der sich aus dem philosophischen und theologischen Vermächtnis der Antike speisende Humanismus über andere Wege, und zwar nur am Rande der uns hier interessierenden Literatur. Dagegen beruhte diese ‚nationale‘ Dimension der überwiegenden Strömung der zeitgenössischen Literatur auf der reformutraquistischen Betonung der Volkssprache und der Sorge um den Gemeinen Nutzen.20 An dieser Stelle kann nicht weiter darauf eingegangen werden, dass die Inspiratoren und Initiatoren dieses Programms seit den 1520er Jahren aus den Reihen des niederen Adels stammten. Wirft man einen Blick auf die dünngesäte Karte des böhmischen Buchdrucks, dann ist unschwer zu erkennen, dass für die Utraquisten nur in Prag produziert wurde.21 Die moderne Forschung zu den tschechischen Wiegendrucken hat anhand einer Analyse der Druckschriften und angesichts des Mangels an relevanten schriftlichen Quellen am Ende des 15. Jahrhunderts in der Prager Altstadt 20 Vgl. J. Macek, Hlavní problémy renesance v Čechách a na Moravě [Die Hauptprobleme der Renaissance in Böhmen und Mähren], in: SCetH 18, Nr. 35 (1988), S. 8–43; dazu polemisch M. Kopecký, Humanismus, renesance a reformace v českých zemích [Humanismus, Reformation und Renaissance in den böhmischen Ländern], in: ebd., 20, Nr. 41 (1990), S. 29–40. 21 Den Problemen zur Erhaltung des Buchdrucks mussten sich auch die Zentren außerhalb Prags stellen, wobei feststeht, dass, nachdem 1537 dieses Handwerk vom König Ferdinand I. (1526–1564) in allen königlichen Städten mit Ausnahme Prags verboten worden war, der (nichtkatholische) Buchdruck in den sog. untertänigen Städten besser gedieh. In Pilsen konnte sich der Buchdruck von 1476 bis 1533 mit Unterbrechungen halten, in Winterberg (1484) und in Kuttenberg/Kutná Hora (1489) arbeitete man nur sporadisch. Brünn bot im Laufe des gesamten 16. Jahrhunderts (abgesehen von der kurzen Episode der Druckproduktion von 1486 bis 1499 in der Stadt, also noch in der ‚Inkunabelzeit‘) keine geeigneten Bedingungen für eine Entfaltung des Druckerhandwerks und Olmütz (1499–1504) musste bis 1538 ohne dieses Handwerk auskommen. Die erste Etappe des Buchdrucks aus dem Umkreis der Brüderunität war mit Leitomischl/Litomyšl (1506–1531) und Jungbunzlau/Mladá Boleslav (1518–1547, mit Unterbrechungen) verbunden. Vom letztgenannten Ort hing technisch Weißwasser/Bělá pod Bezdězem (1519–1521) ab. In Mähren gab es bis 1537 kurzlebige Offizinen in Nikolsburg, Lultsch/Luleč und Namiest an der Oslawa/Náměšť nad Oslavou. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 141 in gewisser zeitlicher Folge drei Offizinen identifiziert.22 Die namentlich nicht bekannten Vertreter dieser selbstständigen Gewerbe erhielten zu ihrer Unterscheidung spezielle Namen: Tiskař Žaltáře (‚Psalterdrucker‘), Tiskař Korandy (‚Drucker des Koranda‘) und Tiskař Pražské bible (‚Drucker der Prager Bibel‘). Doch kann man aufgrund neuer Indizien und anhand logischer Rückschlüsse auch zu der Ansicht gelangen, dass es in Prag lediglich eine einzige Werkstatt gab, wie es bereits Emma Urbánková (1909–1992) vermutet hatte.23 Unsere Inkunabelkunde stößt hier jedoch auf Sprachbarrieren, die sie sich selbst seit dem 18. Jahrhundert wegen der Betonung des nationalsprachlichen Charakters der böhmischen Wiegendrucke setzte, wodurch aus ihrer Perspektive der fremdsprachliche Buchdruck aus Brünn verschwand. Erst nach dem Erscheinen des bibliografischen Standardwerks von Emma Urbánková bemerkte nämlich Jaroslav Vobr (1939–2013), dass die ‚kleinere‘ Brünner Rotunda auch in der Prager Werkstatt des sog. Psalterdruckers zur Anwendung kam und dass nachfolgend in der ‚größeren‘ Brünner Rotunda die Druckerei Martins von Tischnowitz (z Tišnova) ihre „Kuttenberger Bibel“ (Bible kutnohorská) druckte.24 Diese Feststellung ermöglichte Jaroslav Vobr, den sog. Psalterdrucker mit Martin von Tischnowitz hypothetisch gleichzusetzen sowie – wie von Kamil Boldan schlüssig angedeutet – vorauszusetzen, dass der künftige Prager Prototypograf sein Handwerk in Brünn bei Konrad Stahel (ca. 1450–1499) erlernt haben könnte,25 und – was noch nachzutragen wäre – dass er angesichts des zeit22 Vgl. E. Urbánková, Soupis prvotisků českého původu [Verzeichnis der Wiegendrucke tschechischer Herkunft] (Publikace SSSO [Publikationen des SSSO] 19/1985), Praha 1986. 23 Vgl. ebd., S. 218. 24 Vgl. J. Vobr, Kdo byl prvním pražským tiskařem v roce 1487? [Wer war der erste Prager Buchdrucker im Jahr 1487?], in: Miscellanea oddělení rukopisů a starých tisků Národní knihovny v Praze [Miscellanea der Abt. der Handschriften und der alten Drucke der Nationalbibliothek Prag] 13 (1996), S. 24–38; Ders., Bible kutnohorská [Die Kuttenberger Bibel], in: J. Vaněčková / Ders. / J. Kremla (Hgg.), Faksimile Bible kutnohorské Martina z Tišnova. Doprovodná publikace k faksimile inkunábule Bible kutnohorské [Das Faksimile der Kuttenberger Bibel Martins von Tischnowitz. Ein Begleitband zum Faksimile der Inkunabel der Kuttenberger Bibel], Praha 2010, S. 20–51, besonders S. 39 f.; vgl. auch den zweibändigen deutschen Nachdruck dieser Bibel: Kuttenberger Bibel/Kutnohorská bible bei Martin von Tišnov, Hauptband, edd. R. Olesch / H. Rothe (Biblia slavica. Serie 1: Tschechische Bibeln, Bd. 2), Paderborn/München/Wien/Zürich 1989; sowie Kuttenberger Bibel/Kutnohorská bible bei Martin von Tišnov, Kommentare, edd. V. Kyas / R. Olesch / H. Rothe (Biblia slavica. Serie 1: Tschechische Bibeln, Bd. 2), Paderborn/München/Wien/Zürich 1989. 25 Vgl. K. Boldan, Písař a tiskař Martin z Tišnova [Der Schreiber und Drucker Martin von Tischnowitz], in: Studie o rukopisech [Studien über Handschriften] 42 (2012), S. 7–31, besonders S. 24 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 142 Petr Voit lichen Ablaufs (Herbst 1486) auch bei den Anfängen des dortigen Buchdrucks anwesend gewesen sein mag. Das hypothetische Szenario der Entstehung des Prager Buchdrucks legt also nahe, dass sich der mährische Kleriker Martin von Tischnowitz um 1487 in Prag niederließ und mit dem in der Fachliteratur bezeichneten sog. Psalterdrucker identisch ist. In Prag blieb er freilich nicht lange. Bislang ist aus seiner Werkstatt nur der undatierte Psalter (Žaltář) und die zweite, sog. Weihnachtsedition der „Trojanischen Chronik“ („Kronika Trojánská“) von 1487 bekannt. Irgendwann vor Februar 1489 siedelte er nach Kuttenberg über, wo er sein Handwerk weiter betrieb. Auch wenn diese Vermutung mangels Quellen nur hypothetisch bleibt, ist sicher, dass die in Prag und Kuttenberg benutzten Rotundae aus den Brünner Patrizen oder Matrizen dupliziert wurden. Einen interessanten Aspekt stellt übrigens die Tatsache dar, dass Martin von Tischnowitz sich das Druckerhandwerk als wohl bereits Sechzigjähriger selbst aneignete, womit er dem englischen Wiegendrucker William Caxton (ca. 1422–1491) gleicht, dessen editorische Aktivitäten sowie Druckwerke überraschenderweise jenen in Böhmen sehr ähneln.26 Beide Protagonisten verdingten sich unter anderem auch als Schreiber. Und schließlich entfällt mit der Identifizierung des ersten Prager Druckers (vorausgesetzt, es handelt sich um Tischnowitz) die bislang herrschende Meinung, wonach das Druckerhandwerk in der Prager Altstadt von einem Utraquisten eingeführt worden wäre. Der andere Prager Drucker, der sog. Drucker der Prager Bibel, trat allerdings nicht mit der Herausgabe der Bibel, wonach er benannt wurde, erstmals ins Erscheinung, sondern schon zu Beginn des Jahres 1488 oder kurz zuvor mit Äsops Fabeln.27 Wenn man die Spekulationen über seine mögliche Ausbildung im Aus26 Vgl. P. Voit, Encyklopedie knihy. Starší knihtisk a příbuzné obory mezi polovinou 15. a počátkem 19. století. Papír, písmo a písmolijectví, knihtisk a jiné grafické techniky, tiskaři, nakladatelé, knihkupci, ilustrátoři a kartografové, literární typologie, textové a výtvarné prvky knihy, knižní vazba, knižní obchod [Enzyklopädie des Buches. Der ältere Buchdruck und die verwandten Zweige von der Mitte des 15. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Papier, Schrift und Schriftguss, Buchdruck und andere graphische Techniken, Drucker, Verleger, Buchhändler, Illustratoren und Kartographen, literarische Typologie, textuelle und bildkünstlerische Aspekte des Buches, Buchbindung, Buchhandlung], 2 Bde., Praha 22008, Bd. 1, S. 151 f.; vgl. nun das betreffende Stichwort auch in der Online-Version dieser Enzyklopädie: https://www.encyklopedieknihy.cz/index.php/William_Caxton (letzter Zugriff am 8.2.2020); K. Boldan, České a anglické prvotisky a jejich čtenáři. Srovnání produkce prvních tiskařů [Die böhmischen und englischen Wiegendrucke und ihre Leser. Ein Vergleich der Produktion der Wiegendrucker], in: J. Radimská (Hg.), K výzkumu zámeckých, měšťanských a církevních knihoven. Jazyk a řeč knihy [Zur Erforschung der Schloss-, Bürger- und Kirchenbibliotheken. Die Sprache und die Rede des Buches] (Opera Romanica 11), České Budějovice 2009, S. 9–20. 27 Vgl. P. Voit, Český knihtisk I (wie Anm. 15), S. 9–16. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 143 land außer Acht lässt, kann man auch eine Lehre in der Prager Altstadt bei Martin von Tischnowitz annehmen. Doch als dann der ausgebildete Geselle seine eigene Offizin eröffnen wollte, mag es zu Konkurrenzstreitigkeiten gekommen sein, die möglicherweise dazu geführt haben, dass zwei Werkstätten in einer Umgebung, wo es immer noch an genügend lesefähigen Kunden mangelte, wirtschaftlich nicht funktionieren würde. Es ist auch möglich, dass dieser Streit noch durch die sich um den Krämer Severin gruppierenden Patrizier aus der Prager Altstadt befördert wurde, die die erste tschechische Auflage der sog. Prager Bibel (1488) finanziell unterstützen wollten. Demnach hätte Martin von Tischnowitz in diesem Konflikt kapituliert und wäre nach Kuttenberg gegangen, wo die zweite Bibel mit ihrem Illustrationszyklus erschien (1489), welche m. E. die kurz davor herausgegebene bildlose Prager Bibel (1488) übertrumpfen sollte. Nach dem Abschluss dieser mühseligen und von stetem Geldmangel begleiteten Arbeit gab Tischnowitz sein Handwerk auf. Was aus der Ausstattung seiner Werkstatt wurde, weiß man nicht; einige Lettern kehrten wohl nach Prag zum sog. Drucker der Prager Bibel zurück. Richtet man jetzt die Aufmerksamkeit auf den dritten Anonymus, den Emma Urbánková als „Drucker des Koranda“ bezeichnete, fällt auf, dass seine nachweisliche Tätigkeit in den Jahren 1492/93, 1495/96 und 1502 auffällig mit den Jahren korrespondiert, als der sog. Drucker der Prager Bibel scheinbar nicht gearbeitet hatte (1491–1494, 1496, 1502). Deswegen wage ich die Behauptung, dass der Krämer Severin, dessen Familie dieses Handwerk bis 1545 ausübte, gewissermaßen ein ähnlicher Initiator der Buchkultur war wie beispielweise sein deutscher, in Krakau angesiedelter Zeitgenosse und Kaufmann Johann Haller (ca. 1467–1525).28 Abgesehen von der sog. Prager Bibel verfügt man zwar über keine weiteren Indizien für das kulturelle Engagement des Krämers Severin, doch wie sich einem im März 1499 durch König Wladislaw II. (1471–1516) erteilten Privileg über Bergwerksförderung im Riesengebirge entnehmen lässt, arbeitete er mit einem nicht näher bekannten Drucker namens Jan ( Johann) Kamp mindestens auf einem weiteren geschäftlichen Gebiet zusammen.29 Auch dieser Fakt stellt unsere Hypothese nicht infrage, dass der Krämer Severin die Werkstatt in der Prager Altstadt finanzierte (bzw. mitfinanzierte), wobei er, um sie als einzige in Prag am Leben zu erhalten, aus geschäftlichen Gründen oder wegen des Prestiges den zeitweiligen Einstieg eines Mieters in der Werkstatt erlaubte. 28 Vgl. Ders., Encyklopedie knihy I (wie Anm. 26), S. 339 f.; sowie https://www.encyklopedieknihy.cz/index.php/Johann_Haller (letzter Zugriff am 8.2.2020). 29 Vgl. Registra krále Vladislava II. z let 1498–1502 [Die Register des Königs Wladislaw II. von 1498 bis 1502], ed. J. Teige, in: J. Kalousek (Hg.), AČ, Bd. 18, Praha 1900, S. 1–289, hier S. 105, Nr. 141. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 144 Petr Voit Schon vor geraumer Zeit erkannte Emma Urbánková nämlich nicht nur die morphologischen Übereinstimmungen der Initialen beider Drucker, sondern sie machte auch auf die Identität zweier Initialdruckstöcke aufmerksam, welche vom sog. Drucker der Prager Bibel zum sog. Drucker des Koranda wechselten.30 Diese Hypothese über eine Mietwerkstatt bestätigt auch die „Migration“ der Schrift zwischen beiden Handwerkern, welche die ältere Forschung noch nicht bemerkt hatte, denn sie befassten sich meist mit beiden Druckern in personeller Hinsicht und zeitlich unabhängig voneinander, indem sie entweder vor dem Dezember 1500 oder danach ansetzten, doch nie in einer ununterbrochenen zeitlichen Folge. Deswegen entging ihnen auch, dass die Schwabacher Schrift des sog. Druckers des Koranda in den Jahren 1513 und 1515 gelegentlich auch vom sog. Drucker der Prager Bibel verwendet wurde. Derselbe Handwerker benutzte übrigens zeitgleich, wenn auch selten die Textura zur Ergänzung seiner Werkstatt-Bastarda, deren Komplett parallel in den Jahren 1512/13 auch der Drucker Jan Moravus besaß.31 Diese Übereinstimmung und die zeitlichen Unterbrechungen der Arbeit des sog. Druckers der Prager Bibel (1511/12) (zumindest der überlieferten Inku­ nabeln) könnten ein weiteres Indiz für eine Werkstatteinheit sein, was auch durch das Impressum der utraquistischen Konfession vom 22. Dezember 1512 nicht infrage gestellt würde, das den Drucker Moravus als selbstständigen Handwerker erwähnt.32 (Abb. 1 und 2) Man kann jedoch noch weitergehende Überlegungen anstellen, denn das Holzschnittwappen der Prager Altstadt wurde wenige Tage vor dem Erscheinen der utraquistischen Konfession auch im Siddur abgedruckt, einem aschkenasischen Gebetbuch, hinter dessen Druck ein Konsortium hebräischer Herausgeber stand. Anhand einer jüngst erschienen Studie zum hebräischen Buchdruck Böhmens und Mährens ergeben sich einige weitere kulturell interessante Überschneidungen.33 Aufgrund der „Migration“ der Druckstöcke und der lange Zeit enormen 30 Vgl. E. Urbánková, Soupis prvotisků (wie Anm. 22), S. 219. 31 Vor der utraquistischen Konfession, die oben schon behandelt wurde (Anm. 16), druckte Jan Moravus 1512 eine heute nicht mehr überlieferte Schrift des Pseudo-Isokrates, vgl. KPS K03395, sowie einen Aderlasskalender Konrad Tocklers, vgl. NK Praha, Sign. Yd 50 (ein unvollständiges Unikat), vgl. dazu KPS K19204. 32 Vgl. J. Vobr, Kutnohorská bible – problém 1. a 2. vydání [Die Kuttenberger Bibel – das Problem der ersten und der zweiten Auflage], in: Miscellanea oddělení rukopisů a starých tisků [Miscellanea der Abt. der Handschriften und der alten Drucke] 10 (1993), S. 209–224, besonders S. 215, der angibt, dass Jan Moravus 1513 in der Offizin in der Prager Altstadt gewirkt haben könnte, wobei K. Boldan, Život a dílo (wie Anm. 10), S. 147, Anm. 61, gegenüber dieser Hypothese zurückhaltender ist. 33 Vgl. O. Sixtová, Počátky pražské hebrejské typografie 1512–1569 [Die Anfänge der Prager Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 145 Abb. 1: Anonym, Siddur (= hebräische Gebete für das ganze Jahr), Prag: Konsortium der Herausgeber, 3.12.1512, hier fol. 112v mit dem Wappen der Prager Altstadt (60 × 51 mm) auf der letzten Seite separat abgedruckt, Bildschnitzer: Meister der Burleigh’s Bordüre [Uni­ versity of Oxford, Bodleian Library, Sign. Opp. 4°. 1188, für die Ausleihe dieses Fotos danke ich meiner Kollegin Olga Sixtová herzlichst.]. Abb. 2: Anonym, O vieře svaté [Über den heiligen Glauben] (= utraquistische Konfession), Prag: Jan Moravus, 22.12.1513, hier fol. C3v mit demselben Druckstock des Wappens der Prager Altstadt [KNM Praha, Sign. 25 F 12/5]. konfessionellen Flexibilität der Prager Illustratoren bei den Aufträgen für die Prager christlichen Typografen sowie für das Ghetto (Meister der Burleigh’s Bordüre, Meister von Kohens Haggada) lässt sich zugleich ein weiteres Teilchen in unser Mosaik einfügen. So könnten die ersten Mieter der Werkstatt in der Prager Altstadt im Dezember 1512 Juden gewesen sein, die dann Jan Moravus mit dem hebräischen Typografie 1512–1569], in: Dies. (Hg.), Hebrejský knihtisk v Čechách a na Moravě [Der hebräische Buchdruck in Böhmen und Mähren], Praha 2012, S. 75–122; P. Voit, Výzdoba pražských hebrejských tisků první poloviny 16. století jako součást české knižní grafiky [Die Verzierung der Prager hebräischen Drucke der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als ein Bestandteil der böhmischen Buchgrafik], in: ebd., S. 123–151, besonders S. 123 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 146 Petr Voit technisch unproblematischen und zeitlich nicht aufwändigen Druck (zwölf Blätter) der utraquistischen Konfession ablöste. Schließlich geben die in geflügelten Wörtern bis 1540 herausgegebenen Hebraica die gesamten Prager Städte (sowie vermittels ihrer nur wenig voneinander abweichenden Druckstöcke die Prager Altstadt) als Druckort an, ohne jedoch eine nähere Lokalisierung im Impressum.34 Zwischen Sommer 1515, als der sog. Drucker der Prager Bibel wohl wiederum „verstummte“, und Dezember 1515 mag in der Werkstatt in der Prager Altstadt eine neue Auflage des hebräischen Siddurs enstanden sein. Es muss derzeit dennoch offen bleiben, wie sich diese Vermietung weiter entwickelte. Gerschom Kohen († 1545) könnte hier von 1514 bis 1518 mit mehreren Unterbrechungen den hebräischen Pentateuch zum Abschluss gebracht haben. Des Weiteren mögen in dieser Werkstatt Ende 1516 zwei andere unbekannte und von der Buchwissenschaft bisher nicht identifizierte Handwerker eine vorübergehende Heimstatt gefunden haben. Die Tätigkeit eines dieser beiden35 sowie des anderen36 belegen 34 Vgl. P. Sládek, Tištěná kniha v židovské kultuře 15. a 16. století [Das gedruckte Buch in der jüdischen Kultur des 15. und 16. Jahrhunderts], in: O. Sixtová (Hg.), Hebrejský knihtisk (wie Anm. 33), S. 9–32, besonders S. 11, Abb. 2, mit einer Reproduktion eines Prager Drucks, der „durch Gerschom Kohen in seinem Haus 1540“ hergestellt wurde, d. h. nicht in der Prager Altstadt, sondern in der Jüdischen Stadt. 35 Vgl. K. Boldan, Minuce Václava Žateckého na rok 1517 [Der Aderlasskalender des Václav Žatecký (Wenzel von Saaz) für das Jahr 1517], in: J. Šouša / I. Ebelová (Hgg.), Inter laurum et olivam. Miscellanea Mariae Bláhová Professorissae dedicata (AUC. Phil. et Hist. 1-2/2002. Z pomocných věd historických [Aus den Historischen Hilfswissenschaften] 16), Praha 2007, S. 133–148, besonders S. 139 f., der die Herstellung des ersten Einblattdrucks, vgl. NK Praha, Sign. Sz 18, Mikuláš Konáč zusprach. Dazu stützt er sich auf die Schwabacher, die tatsächlich mit jener des Konáč übereinstimmte, doch mit Ausnahme der diakritischen Zeichen, die auf den Matrizen unterschiedliche Gestalt aufweisen. Dieser Zuschreibung widerspricht jedoch die Auszeichnungs-Textura, die allein vom sog. Drucker der Prager Bibel und Jan Moravus benutzt wurde, deswegen benenne ich diesen Drucker als „Drucker I des Aderlasskalenders Žateckýs für das Jahr 1517“ („Tiskař I Žateckého minuce na rok 1517“). 36 Vgl. K. Boldan, Minuce Václava Žateckého (wie Anm. 35), S. 140 f., der die Herstellung des anderen Einblattdruckes, vgl. KNM Praha, Sign. 25 A 5, in Anlehnung an die ältere Literatur dem utraquistischen Drucker Mikuláš (Nikolaus) zuschreibt, welcher sich 1524 als Krämer betätigt haben soll. Zu dieser Attribuierung trug maßgeblich der spätgotische Fries mit einem heraldischen Schild bei, in dessen Mitte sich die Initiale M[ikuláš] befindet. Diese Auszeichnungs-Textura benutzten noch Jan Moravus (1512), der sog. Drucker der Prager Bibel (1512 und 1515), der sog. Drucker I des Aderlasskalenders Žateckýs für das Jahr 1517. Der Drucker Mikuláš hatte jedoch sein Textura-Minuskelalphabet mit einem anderen, ein wenig divergierenden Schriftschnitt verknüpft. Seine Textschrift stellt eine im böhmischen Buchdruck bisher unbekannte sonderbare Vermischung der Bastarda und der Schwabacher dar. Da wir die Aderlasskalender aus dem Prager Nationalmuseum mit keiner anderen Produktion des Mikuláš vergleichen können, wo darüber hinaus sein Name angeführt worden wäre (wobei wir auf das Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 147 lediglich zwei Versionen der Wandaderlasskalender Václav Žateckýs für das Jahr 1517. Die Text- sowie die Auszeichnungsschrift dieser Einblattdrucke sind ein Gemisch unbekannter Mittel und dessen, was auch bei dem sog. Drucker der Prager Bibel sowie bei Jan Moravus und Mikuláš Konáč anzutreffen ist.37 Der nächste bekannte tschechische Druck nach der Schrift des sog. Druckers der Prager Bibel von 1515 fällt erst in den Spätherbst 1517. (Abb. 3 und 4) Die zeitliche Lücke kann mit weiteren hypothetischen Mosaiksteinen geschlossen werden. So fällt die Pause genau in die Zeit der Ankunft des weißrussischen Übersetzers, Arztes und Herausgebers Francisk Heorhij Skoryna (ca. 1486/90– 1541).38 Dessen erster Teil seiner „Russischen Bibel“, der sog. Psalter (Psaltyr), erschien im August 1517. In der Folge wurden schrittweise 22 Bücher des Alten Testaments gedruckt, wobei das zeitlich letzte auf Dezember 1519 datiert ist. Die Arbeit des sog. Druckers der Prager Bibel endete wahrscheinlich 1517 für immer. Zur zeitlichen Abfolge kann man noch die Aktivitäten von Gerschom Kohen heranziehen, der sich chronologisch vor Skorynas’ Auftreten im August 1519 einordnet, als er den Druck des Gebetes Tefillot (Tfilot) zum Abschluss brachte. Die kirchenslawischen Editionen Skorynas’ werden von den die Prager Altstadt typografische Material dieses Einblattdrucks sonst nirgendwo mehr stießen), bezeichnen wir diesen Drucker mit dem geeigneteren Namen „Drucker II des Aderlasskalenders Žateckýs für das Jahr 1517“ („Tiskař II Žateckého minuce na rok 1517“). 37 Vgl. P. Voit, Tiskové písmo Čech a Moravy první poloviny 16. století [Die Druckschrift in Böhmen und Mähren in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts], in: BS 10 (2011), S. 105–202. Obwohl Mikuláš Konáč die Werkstatt des Krämers Severin in der Prager Altstadt nicht nutzen musste – seit dem Beginn seines Gewerbes im Jahr 1507 arbeitete er gemeinsam mit Johann Wolff in seinem durch Heirat erworbenen Haus „Zur Fortune/U Štěstěny“ am heutigen Marienplatz/Mariánské náměstí in der Prager Altstadt –, sind die Verbindungen zwischen seinem typografischen Fundus und den beiden anonymen Druckern (der Aderlasskalender Žateckýs) in den lokal begrenzten Bedingungen der Prager Altstadt nicht überraschend. Die älteste Erwähnung Konáčs stammt nämlich aus der Zeit (1505–1516), als er als Schreiber des städtischen Amtes der Weinberge wirkte. Kurz davor (1502–1504, 1506) war ein geschworener Beisitzer dieses Amtes der Krämer Severin. Dieser Zusammenhang muss natürlich nicht der einzige Beleg der wechselseitigen Kontakte sein. Vgl. dazu V. V. Tomek, Dějepis, Bd. 9 (wie Anm. 18), S. 324 (Konáč) und 273, 275, 323 (Krämer Severin); sowie J. Teige, Základy místopisu Pražského (1437–1620). Oddíl I. Staré Město pražské, Díl I. [Die Grundlagen der alten Prager Topografie (1437–1620). Abt. 1. Prager Altstadt, T. 1], Praha 1910, S. 758. 38 Vgl. P. Voit, Encyklopedie knihy II (wie Anm. 26), S. 816–818; sowie https://www.encyklopedieknihy.cz/index.php/Francisk_Heorhij_Skoryna (letzter Zugriff am 8.2.2020); Ders., Výtvarná složka Skorynovy Bible ruské jako součást české knižní grafiky [Das bildkünstlerische Element der sog. Russischen Bibel Skorynas als ein Bestandteil der böhmischen Buchgrafik], in: Umění [Kunst] 62, Nr. 4 (2014), S. 334–353. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 148 Petr Voit verherrlichenden Kolophonen (Nachschriften) begleitet, welchen man auch in der hebräischen Produktion begegnet. Eine bloße zeitliche Koinzidenz reicht jedoch noch nicht für die Erhärtung der These, dass die Herstellung der sog. Russischen Bibel in denselben Räumlichkeiten wie die utraquistischen und hebräischen Aktivitäten erfolgte. Sie wird allerdings von einigen belegten „Migrationen“ der Druckstöcke gestützt, die mit der Tatsache des gleichen Arbeitsortes erklärt werden können, der bei jeder neuen Vermietung nur zum Teil bzw. eher nachlässig ausgeräumt wurde. Das andere unterstützende Argument kann man im Wirken des sog. Meisters des Skoryna Dekors (Mistr Skorynova dekoru) sehen, der bereits 1514 für die bildliche Verzierung des hebräischen Pentateuchs verantwortlich war und der dann nach ein oder zwei Jahren begann, den Verzierungsapparat der sog. Russischen Bibel vorzubereiten. Als Skoryna 1520 Prag wieder verließ, schloss sich der sog. Meister des Skoryna Dekors den Druckern der Brüderunität Pavel (Paul) Olivetský von Olivet (z Olivetu; † 1534) und Jiřík Štyrsa (zu Deutsch Georg Wylmschwerer; † nach 1531) an. Das dritte stützende Argument für unsere Hypothese über Skorynas Tätigkeit in der Werkstatt des Krämers Severin in der Prager Altstadt stellt schließlich Severins Sohn Pavel (Paul) dar, welcher nach dem Tod seines Vaters um 1519/20 Anspruch auf sein rechtmäßiges Erbe erhob und das Mietverhältnis der Werkstatt mit Skoryna beendete. Skoryna ging daraufhin nach Wilna/Vilnius. Der Umzug beruhte also nicht, wie bisher angenommen, auf der damals in Prag grassierenden Pestepidemie, sondern auf den eben aufgezeigten Umständen.39 Unter Pavel Severin als Eigentümer begann dann im November 1520 eine neue Epoche dieser Druckerei. Die hier vorgestellte Hypothese einer solchen ‚multikulturellen‘ Wirkung der einzigen Druckerei in der Prager Altstadt wird sich wohl kaum durch einen Fund im relevanten urkundlichen Material bestätigen lassen. Das ist jedoch kein Hindernis dafür, die bisher formulierten Überlegungen mit unserer zuletzt ausgeführten Vermutung zur Lokalisierung der Werkstatt in der Prager Altstadt zu unterstützen. Falls man nämlich annimmt, dass Skoryna wegen der Übernahme des väterlichen Erbes durch Pavel Severin abgelöst wurde, dann könnte es sich um das Haus Nr. 24 auf dem Altstädter Ring, zwischen dem Rathaus und der St.-Nikolaus-Kirche gelegen, handeln. Dieses Haus hatte der Krämer Severin bereits 1484 gekauft, das dann sofort nach dem Tod seines Sohnes Pavel 1554 veräußert wurde. Diese Lokalisierung ist bislang keineswegs gesichert, da der Krämer Severin später noch zwei weitere Häuser besaß. Auch diese vermutlichen Adressen hängen mit den 39 Vgl. I. P. Šamjakin (Hg.), Francisk Skorina i jego vremja. Enciklopedičeskij spravočnik [Francisk Skoryna und seine Zeit. Enzyklopädisches Wörterbuch], Minsk 1990. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) Abb. 3: Nový zákon [Neues Testament], Prag: sog. Drucker der Prager Bibel, 5.8.1513, hier fol. A4r mit der sog. Wurzel Jesse (124 × 112 mm), Bildschnitzer: sog. Meister des Neuen Testaments [KNM Praha, Sign. 205 D 9]. 149 Abb 4: Übersetzer: Francisk Heorhij Skorina, Biblia ruska [Russische Bibel], 1. Teil: Psaltyr [Psalter], Prag: sog. Drucker der Russischen Bibel, 8.8.1517, hier fol. 1r mit einem teilweise veränderten Druckstock der sog. Wurzel Jesse [in: L. C. Barazny (Hg.), Gravjury Franciska Skaryny (Die Gravüren Francisk Skorynas), Minsk 1972, Anhang Nr. 2]. Wohnorten seiner Geschäftspartner in der Prager Altstadt zusammen, mit denen er 1488 die Bibel gemeinsam verlegte, wie die des Arztes Jan Bílý ( Johannes Albus a Ciconiis; † vor 1515), Jan Pytlíks († 1518) und des Kaufmanns Matějs od Bílého Lva (Matthias „Zu dem Weißen Löwen“).40 Bei der plausiblen Zusammenstellung solcher Mosaiksteine ist man nicht allein auf die zeitliche Abfolge einzelner Druckeraktivitäten oder auf das erst kürzlich erkannte konfessionell flexible Engagement der Prager Holzschnitzerwerkstatt angewiesen; auch die Analyse der Druckschrift der tschechischsprachigen 40 Vgl. P. Voit, Český knihtisk I (wie Anm. 15), S. 9 f., 23. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 150 Petr Voit Abb. 5: Petr Chelčický, Kniha výkladuov spasitedlných [Buch der heilsamen Auslegungen] (= Postille), Prag: Pavel Severin von Kapí Hora, 30.5.1522, hier fol. A1r mit der Bordüre der Titelseite des ersten Teils (239 × 152 mm) mit zwei Wappen der Mäzene dieser Edition (die Familien Myška ze Žlunic/Myschka von Zlunitz und die Perknovský z Perknova), Bildschnitzer: sog. Meister des Skorynas Dekors [KNM Praha, Sign. 25 C 5a]. Abb. 6: Anonym, Machzor [Machsor] (= hebräisches Gebetbuch), Prag: Meir ben David / Chaim ben Schachor, 3.8.1525, hier fol. 1v mit demselben Druckstock der Bordüre der Titelseite [in: O. Sixtová (Hg.), Hebrejský knihtisk v Čechách a na Moravě (Der hebräische Buchdruck in Böhmen und Mähren), Praha 2012, S. 136]. Editionen ermöglicht ebenso anregende Rückschlüsse, wie vor allem die bis 1530 belegbare „Migration“ einiger Druckstöcke. (Abb. 5 und 6) Dem Einwand, dass die Übertragung und die Vermengung der Druckwerkzeuge für dieses Handwerk typisch waren, weshalb daraus keine grundsätzlichen Hypothesen aufgestellt werden können, lässt sich entgegenhalten, dass man diesem Phänomen bei den zeitgenössischen böhmischen Offizinen auch unter anderen Umständen begegnet. Die „Migration“ betrifft nämlich immer den größeren oder zumindest wesentlichen Teil der Ausstattung der Werkstatt, und der nachfolgende Besitzwechsel erfolgte Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) Abb. 7: Bible česká [Tschechische Bibel], Prag: Pavel Severin von Kapí Hora, 5.5.1529, hier fol. A1r mit der Titelseite und dem Holzschnitt mit dem Wappen der Prager Altstadt (275 × 172 mm), Bildschnitzer: sog. Severin’sche Werkstatt (Severinský ateliér) [NK Praha, Sign. 54 A 13]. 151 Abb. 8: Chamischa chumsche tora (= hebräischer Pentateuch), Prag: Gerschom Kohen, 5.12.1530, hier fol. 275r mit denselben Druckstöcken der Titelseite und dem Holzschnitt mit dem Wappen der Prager Altstadt [in: O. Sixtová (Hg.), Hebrejský knihtisk v Čechách a na Moravě (Der hebräische Buchdruck in Böhmen und Mähren), Praha 2012, S. 121]. zwischen zwei räumlich entfernten Subjekten.41 In der Prager Altstadt migrieren jedoch im Zeichen einer erstaunlichen konfessionellen Pluralität allein einzelne Druckstöcke: der hebräische Siddur 1512, die utraquistische Konfession „O vieře svaté“ (‚Über den heiligen Glauben‘) 1513, das Neue Testament 1513, Skorynas Psalter („Psaltyr“) 1517, Chelčických „Postilla“ 1522, der hebräische Machsor 41 1513/14 Pilsen: Mikuláš (Nikolaus) Bakalář bzw. Štětina († zwischen 1514 und 1520) > Prag: Mikuláš Konáč; 1519 Jungbunzlau: Mikuláš Klaudyán (Nicolaus Claudianus; † 1521/22) > Weißwasser Oldřich Velenský z Mnichova (Ulrich Velenus Minhoniensis; † nach 1531); 1531/40 Pilsen Jan (Hans) Pekk bzw. Ulbeck aus Schwabach († 1531) > Prag: Bartoloměj Netolický z Netolic (Bartholomäus Netholitzer von Netolitz; † nach 1562) usw. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 152 Petr Voit („Machzor“) 1525, die Bibel Severins 1529 sowie der hebräische Pentateuch 1530. Ihr Erzählpotenzial geht häufig über den Text hinaus, worin sie sekundär eingefügt wurden. Es ist also weniger Ausdruck einer originellen bildkünstlerischen Absicht, sondern vielmehr eine pragmatische Nutzung der lokalen Gegebenheiten. (Abb. 7 und 8) Letzten Endes muss hervorgehoben werden, dass die vermutete Werkstatt in der Prager Altstadt, die einigen Handwerkern eine kommerziell motivierte Grundlage gewährte, den Entstehungskontext des Prager Buchdrucks prägnant wiedergibt. Dieser war aber nicht nur einer starken Konkurrenz durch den Import von Büchern aus Deutschland und Italien ausgesetzt, sondern ihm fehlte zudem die Unterstützung durch die Prager Universität. Darüber hinaus fand er auch unter dem lesefähigen Bürgertum noch keine hinreichend große Lesergemeinde, die ein Überleben gesichert hätte. Diese instabile Lage wirkte sich auch auf die Ausbildung eines Druckernachwuchses aus. Die Typografie des Jan Moravus steht in keinem Widerspruch zur Hypothese, dass er sein Handwerk bei dem Pilsner Katholiken Mikuláš Bakalář erlernt hat, wohin er dank seiner Tätigkeit als Erzieher der Söhne der hochadligen Familie Švihovský von Riesenberg in Schwihau/ Švihov gezogen war.42 Darin war er keine Ausnahme, denn einige Jahre vor Moravus hatte höchstwahrscheinlich auch Pavel Olivetský, der spätere Exponent des Buchdrucks der Brüderunität in Leitomischl, das Druckerhandwerk bei Mikulář Bakalář erlernt, ebenso wie vielleicht der bereits mehrmals erwähnte Utraquist Mikuláš Konáč.43 Angesichts solcher Unsicherheiten im Gewerbebetrieb mag möglichen Druckern in spe eine mit den notwendigsten Werkzeugen (Druckerpresse, Setzkasten), einem Lagerort für Papier sowie eine für die Trocknung der Druckbögen usw. ausgestattete Mietwerkstatt besonders interessant gewesen sein. Einige Wegbereiter dieses neuen Handwerks stießen jedoch aus oben genannten Gründen alsbald auf Absatzprobleme und der wirtschaftliche Erfolg blieb aus, weshalb sie das Druckereigewerbe zugunsten eines sicheren Lebensunterhalts wieder aufgaben. 42 Vgl. K. Boldan, Život a dílo (wie Anm. 10), S. 147. 43 Vgl. P. Voit, Mikuláš Bakalář jinak [Mikuláš Bakalář anders], in: Kniha [Das Buch] 2012, S. 68–106. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) 153 Fazit Eingangs wurde die Vorgehensweise der älteren buchwissenschaftlichen Methodologie kritisiert, die das Druckereihandwerk mehr oder weniger nur statisch und nicht im Vergleich mit ausländischen Beispielen beschrieb und die zudem die gesellschaftlichen Aufgaben des Buchdrucks außer Acht ließ. Sobald man jedoch die von der Forschung bisher kaum berücksichtigten Widmungen und Vorreden in Drucken aus dem frühen 16. Jahrhundert mit einbezieht, wird man feststellen, dass es noch in den 1520er Jahren, also nach fünf Dekaden der Existenz dieses Handwerks, nur sehr wenige aufgeklärte und regelmäßige Leser der tschechischsprachigen Literatur unter den stadtbürgerlichen Schichten gab.44 Eine von den bisher nicht beachteten Ursachen dafür stellt eben das Druckerhandwerk selbst dar. Zur wenigstens halbwegs befriedigenden Erklärung dieses Befundes muss man den ausländischen Buchdruck berücksichtigen, welcher schon während der 1480er Jahre im Prozess der Visualisierung und Unifizierung auf die spätgotische Einfachheit massenhaft verzichtete. Während ausländische Drucker damals im Durchschnitt mit zehn Schriftgarnituren (manchmal sogar mit der doppelten Menge) arbeiteten, begnügten sich die heimischen Wiegendrucker beim Hauptext sowie Kommentar-Satz mit einem einzigen Schrifttyp, der Bastarda. Die heimische Typografie erfuhr bis in die 1530er und 1540er Jahre keine nennenswerte Modernisierung.45 Der Leser erhielt mithin ein fast ungegliedertes Korpus, das eine passive Kopie der handschriftlichen Codices darstellte, ohne jede Ambitionen, die Hierarchie des Textes optisch zu unterscheiden (durch Überschriften, Marginalien, Summarien, Texte unter oder neben dem Hauptsatz). Deswegen kann m. E. unterstellt werden, dass die einfache, spätgotische Prägung der Typografie der jagiellonischen Ära die Technik des stillen Lesens kaum befördern konnte, welche eine sich neu herausbildende Lesergemeinde des niederen und mittleren Bürgertums für den Übergang zu einer neuen Form der Leserezeption dringend gebraucht hätte.46 Obwohl Viktorin Kornel von Všehrd die Übersetzungen der 44 Vgl. Ders., Rozpaky nad českou literární a čtenářskou obcí přelomu 15. a 16. století [Bedenken über die tschechische Literatur- und Lesergemeinde an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert], in: A. Císařová Smítková / A. Jelínková / M. Svobodová (Hgg.), Libri magistri muti sunt. Pocta Jaroslavě Kašparové [FS für Jaroslava Kašparová], Praha 2013, S. 35–41; neuerdings dazu K. Boldan, Počátek českého knihtisku [Der Anfang des böhmischen Buchdrucks], Praha 2018, S. 248 f. 45 Vgl. P. Voit, Český knihtisk I (wie Anm. 15), S. 430. 46 Vgl. Ders., Vliv české pozdně gotické typografie na konstituování čtenářské obce [Der Einfluss der böhmischen spätgotischen Typografie auf die Herausbildung einer Lesergemeinde], in: Studia Bibliographica Posonensia 7 (2012), S. 42–51. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 154 Petr Voit fremdsprachlichen Texte ins Tschechische verlangte, blieb man ohne den notwendigen Aufbau der typografischen Architektur noch lange Zeit auf halbem Weg stehen. Die technisch hochentwickelten Zugänge in den lateinischen Drucken etwa eines Konrad Baumgartens in Olmütz gelangten nicht bis nach Böhmen. Folgerichtig kam der eigentliche Impuls, durch den das tschechischsprachige Buch allmählich die Hürde der spätgotischen Einfachheit überwand, erst 1506 von dem venezianischen Drucker deutscher Herkunft Peter Liechtenstein, der für drei verschiedene Text-Schichten der tschechischen Bibel dann zu drei unterschiedlichen Lettern griff.47 Dieser Prozess wurde jedoch bis zur Wende der 1520er/30er Jahre durch den Traditionalismus des potenziellen Publikums sowie den Mangel an Schriftstellern und Übersetzern verzögert, die in ihrem eigenen Interesse die neuen typo­ grafischen Standards hätten durchsetzen können. Die böhmischen Drucker verkannten lange Zeit die Bedeutung des Buchdrucks als donum Dei, womit man die kulturellen Werte der Antike und des Humanismus bewahren, verbreiten und aufgreifen konnte. Die Städte – einschließlich Prag, wo sich der Buchdruck im 15. und frühen 16. Jahrhundert trotz gewisser Schwierigkeiten am stärksten entfaltete – fassten das neue Medium zunächst noch ganz mittelalterlich auf. Die Polemik zur gängigen Vorstellung über Mikuláč Konáč als führenden tschechischen Humanisten würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Rückblickend muss man feststellen, dass Konáč bis zu seinem Tod im Jahr 1546 zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit, zwischen einem toleranten Humanismus und einem konservativen Utraquismus schwankte. Konáčs Wirken wurde bislang vor allem in Bezug auf seine originellen Schöpfungen sowie seine Übersetzungleistungen untersucht, jedoch nicht hinsichtlich der begleitenden Paratexte und der typo­ grafischen Gestaltung, welche die äußere Form seiner Publikationen prägen. Auch hier würde man auf Spuren des zeitgenössischen Zwiespalts stoßen: einerseits die bahnbrechende Achtung des humanistischen Stils in den Widmungen, Vorreden und der leserfreundlichen Nachreden und andererseits das Festhalten an der altertümlichen Oberrheinischen Bastarda oder der spätgotischen Illustration des sog. Meisters des Neuen Testaments (1497/98). 47 Vgl. Ders., České tištěné bible 1488–1715 v kontextu domácí knižní kultury [Die tschechischen gedruckten Bibeln 1488–1715 im Kontext der heimischen Buchkultur], in: ČL 61 (2013), S. 477–501, besonders S. 480–484. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Martin Holý Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium in den Ländern der Böhmischen Krone im 16. und frühen 17. Jahrhundert Im 16. und frühen 17. Jahrhundert existierten auf dem untersuchten Territorium, das Böhmen, Mähren, Schlesien und die Ober- und Niederlausitz umfasste, sowohl ein katholisches als auch ein protestantisches Schulwesen. Dabei dominierte bis zur Schlacht am Weißen Berg (1620) das letztgenannte, wobei dies wiederum konfessionell weit gefächert war. Neben Lateinschulen, die von der Tradition des heimischen Utraquismus ausgingen, entwickelten auch die Böhmischen Brüder sowie die Lutheraner und Calvinisten ihr eigenes Bildungssystem. Ein bemerkenswertes Phänomen stellen auch einige konfessionell offene bzw. gemischte Bildungsstätten dar.1 Mit Ausnahme der Prager Universität, die sich von Zeiten des Hussitentums an bis zu ihrer Überführung unter die Verwaltung der Societas Jesu 1622 zum Utraquismus bekannte und lediglich auf eine artistische Fakultät beschränkt war,2 sorgten vor allem präuniversitäre Lateinschulen im behandelten geographischen Raum für die Bildung der Bevölkerung. Diese ersetzten nicht selten auch das nur wenig entwickelte Elementarschulwesen. Besonders in Böhmen und in Mähren waren vor allem sog. städtische Partikularschulen das Rückgrat des Bildungssystems. Sie befanden sich nicht nur in mehreren Dutzenden sog. königlichen Städten, sondern auch anderswo, besonders in grundherrlichen Gebieten. Sie bildeten ein dichtes Netz mit über 150 Einheiten, das der Bildung des bedeutendsten Teils der städtischen und auch der ländlichen Bevölkerung diente. Angesichts der konfessionellen Situation in den böhmischen Ländern waren an den meisten dieser Schulen nichtkatholische Rektoren und Lehrer tätig.3 1 2 3 Vgl. dazu mit weiteren Literaturhinweisen M. Holý, Ähnlichkeit oder Differenz? Bildungssysteme in den Ländern der Böhmischen Krone im 16. und 17. Jahrhundert, in: C. Frey-tag / S. Salatowski (Hgg.), Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich. Inhalte – Infrastrukturen – Praktiken (GFFN 14), Stuttgart 2019, S. 39–51. Zur Geschichte der Karlsuniversität zu dieser Zeit vgl. vor allem M. Svatoš / I. Čornejová / J. Havránek / Z. Pousta (Red.), Dějiny Univerzity Karlovy [Geschichte der Karlsuniversität], 4 Bde., Praha 1995–1998, hier: M. Svatoš (Red.), Bd. 1: 1347/48–1622, Praha 1995; F. Kavka / J. Petráň, A History of Charles University, 2 Bde., Prague 2001, hier Bd. 1. Partikularschulen (studia particularia) waren solche Bildungseinrichtungen, die im Unterschied Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 156 Martin Holý Neben den genannten Schulen stiegen im Laufe des 16. Jahrhunderts auch die Anzahl und das Niveau der Bildungsstätten der Brüderunität.4 In einigen Städten entwickelten sich auch lutherische Schulen rasant – insbesondere in Gebieten, in denen die deutschsprachige Bevölkerung überwog bzw. in Städten mit einer großen deutschen Minderheit. Dies betrifft vor allem bedeutende königliche Städte (Prag, Joachimsthal/Jáchymov, Iglau/Jihlava, Znaim/Znojmo usw.).5 Daneben entstanden auch einige weitere Lateinschulen, die vor allem aus privaten Mitteln finanziert wurden (Sobieslau/Soběslav, Groß Meseritsch/Velké Meziřící, einige studia particularia in Prag).6 4 5 6 zu den Universitäten jener Zeit (studia generalia) lediglich eine Teilbildung (also die Partikularbildung) anboten. Auch wenn sie sich untereinander individuell unterscheiden konnten, war das Hauptziel aller Partikularschulen, den Schülern aktive Lateinkenntnisse beizubringen (also die lateinische Bildung) und daneben auch solchen Stoff, dessen Beherrschung eine Voraussetzung für das weitere Studium an Schulen vom universitären Typus war. Dabei handelte es sich vor allem um einen Teil der sog. septem artes liberales (vgl. Anm. 8). Vgl. Z. Winter, Život a učení na partikulárních školách v Čechách v XV. a XVI. století. Kulturně-historický obraz [Leben und Lehre an den Partikularschulen in Böhmen im 15. und 16. Jahrhundert. Ein kulturhistorisches Bild] (Spisy musejní [Museumsschriften] 168), Praha 1901, S. 24–29. Vgl. H. Ball, Das Schulwesen der böhmischen Brüder: mit einer Einleitung über ihre Geschichte, Berlin 1898; R. Urbánek, Jednota bratrská a vyšší vzdělání až do doby Blahoslavovy. Příspěvek ke 400. výročí narozenin Blahoslavových [Die Brüderunität und die höhere Bildung bis zu den Zeiten Jan Blahoslavs. Ein Beitrag zur 400. Jährung des Geburtstags von Jan Blahoslav] (Spisy FFMU [Schriften FF MU] 1), Brno 1923; Českobratrská výchova před Komenským [Die Erziehung der Böhmischen Brüder vor Comenius], ed. A. Molnár (EPP 1), Praha 1956; R. Říčan, Několik pohledů do českobratrského vyššího školství za mladých let Jana Amose Komenského [Einige Einblicke in das höhere Schulwesen der Böhmischen Brüder in den jungen Jahren von Johann Amos Comenius], in: AJAK 21 (1962), S. 114–151; M. Holý, Die Schulen der Brüderunität in Böhmen und Mähren als Objekt des Studieninteresses der Nobilität in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg, in: AC 24 (2010), S. 49–62; Ders., Vzdělanostní mecenát v zemích České koruny (1500–1700) [Bildungsmäzenatentum in den Ländern der Böhmischen Krone (1500–1700)], Praha 2016, S. 142–149. Vgl. dazu mit weiteren Quellen- und Literaturhinweisen M. Holý, Bildungsmäzenatentum und lutherisches Schulwesen in den böhmischen Ländern des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts, in: OH 18/2 (2017), S. 268–278. Vgl. zumindest H. Ball, Schulwesen (wie Anm. 4), S. 106–119; J. Lintner, Škola Rožmberská v Soběslavi [Die Rosenberger Schule in Sobieslau], in: SHK 8/1 (1899), S. 77–84; M. Holý, Soukromá škola Matouše Kollina z Chotěřiny v Praze a její šlechtičtí žáci [Die Privatschule des Matthäus Collinus von Chotěřina in Prag und ihre adligen Schüler], in: E. Semotanová (Hg.), Cestou dějin. K poctě prof. PhDr. Svatavy Rakové, CSc. [Durch den Weg der Geschichte. FS für Svatava Raková], Bd. 2 (PHUAVČR C 16/2), Praha 2007, S. 159–184; Ders., Bildungsmäzenatentum und Schulgründungen des Adels für Protestanten in Böhmen und Mähren (1526–1620), in: J. Bahlcke / T. Winkelbauer (Hgg.), Schulstiftungen und Studienfinanzierung. Bildungsmäzenatentum in den böhmischen, österreichischen Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium 157 In den Nebenländern der Böhmischen Krone bildeten bereits seit dem Mittelalter Pfarrschulen und städtische Lateinschulen das Rückgrat der Bildung. Im Vergleich zu den böhmischen Ländern war jedoch ihr Netz viel spärlicher. Trotz wiederholter Versuche gelang hier bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts keine erfolgreiche Universitätsgründung. Die erwähnten präuniversitären Bildungsstätten wurden nach und nach säkularisiert und in der Regel entweder dem Stadtrat oder der Aufsicht der jeweiligen Herzöge unterstellt. Daneben wurden auch viele neue Gymnasien gegründet, vor allem dem Vorbild der lutherischen Schulen im Reich folgend. Die überwiegende Mehrheit der städtischen und fürstlichen Schulen in den Lausitzen und in Schlesien wandte sich von den 1520er bis 1550er Jahren dem Luthertum zu. Daneben entstanden jedoch auch einige calvinistische Gymnasien. Von den bedeutendsten Lateinschulen in den Nebenländern der Böhmischen Krone seien zumindest die Gymnasien in Brieg/ Brzeg, Bautzen, Beuthen an der Oder/Bytom Odrzański, Goldberg/Złotoryja, Breslau/Wrocław, Görlitz und Zittau genannt.7 7 und ungarischen Ländern, 1500–1800 (VIÖG 58), Wien/München 2011, S. 93–107; Ders., Vzdělanostní mecenát (wie Anm. 4), S. 85–94, 149–152; Ders., Bildungsmäzenatentum und lutherisches Schulwesen (wie Anm. 5), S. 268–278; M. Štindl, V proměnách renesanční doby [Im Wandel des Renaissancezeitalters], in: Z. Fišer (Red.), Velké Meziříčí v zrcadle dějin [Groß Meseritsch im Spiegel der Geschichte] (VKM 92), Brno 2008, S. 101–137, hier S. 131–134. Von den wichtigsten Werken, die das lausitzische sowie schlesische Schulwesen behandeln und sich nicht nur auf eine konkrete Schule oder eine Persönlichkeit begrenzen, seien zumidest folgende angeführt L. Sturm, Das Volksschulwesen Schlesiens in seiner geschichtlichen Entwicklung: kurz dargestellt für Lehrer und Freunde der Schule, Breslau 1881; H. Oelrichs, Zur Geschichte des Schulwesens in Schlesien, in: ZfGKGÖS 16 (1882), S. 63–86; J. Soffner, Zur Geschichte des schlesischen Schulwesens im 16. Jahrhundert, in: ebd. 19 (1885), S. 271–294; H. Heyden, Beiträge zur Geschichte des höheren Schulwesens in der Oberlausitz, Zittau 1889; E. A. Seeliger, Schulen in den Landstädten und Dörfern der Oberlausitz vor der Reformation, in: NLM 92 (1916), S. 1–19; G. Bauch, Geschichte des Breslauer Schulwesens vor der Reformation (CDS 25), Breslau 1909; Ders., Geschichte des Breslauer Schulwesens in der Zeit der Reformation (CDS 26), Breslau 1911; G. Dippold, Der Humanismus im städtischen Schulwesen Schlesiens, in: W. Eberhard / A. A. Strnad (Hgg.), Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation (FQKKGOd 28), Köln/Wien/Weimar 1996, S. 229–244; B. Burda, Szkolnictwo średnie na Dolnym Śląsku w okresie wczesnonowożytnym (1526–1740) [Das mittlere Schulwesen in Niederschlesien während der Frühen Neuzeit (1526–1740)], Zielona Góra 2007; C. Absmeier, Schul- und Bildungsgeschichte, in: J. Bahlcke (Hg.), Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft (NFSG 11), Köln/Weimar/Wien 2005, S. 543–563; Dies., Herzog Georg II. von Brieg. Ein Bild von einem Mäzen. Funktion und Nutzen frühneuzeitlichen Bildungsmäzenatentums am Beispiel eines schlesischen Renaissancefürsten, in: J. Flöter / C. Ritzi (Hgg.), Bildungsmäzenatentum. Privates Handeln – Bürgersinn – kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 158 Martin Holý Ob es sich nun um präuniversitäre Bildungsstätten in Böhmen, Mähren, den Lausitzen oder Schlesien handelte, ihr aller Hauptziel war es, den Schülern aktive Kenntnisse des Lateinischen sowie solche Lehrinhalte, deren Beherrschung eine Voraussetzung für das Universitätsstudium bildete, zu vermitteln. Dies betraf insbesondere jenen Teil der septem artes liberales, der seit dem Mittelalter als trivium bezeichnet wurde (Grammatik, Rhetorik und Dialektik), daneben aber auch die Grundlagen des quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik).8 Im Laufe des 16. und frühen 17. Jahrhunderts wurden zudem Fächer in den Unterricht aufgenommen, die ursprünglich nicht zu diesem Pensum gehört hatten, wie beispielsweise Geographie, Geodäsie oder Geschichte.9 Der Erreichung der oben genannten Ziele dienten an allen erwähnten Schulen Lehrbücher, die damals schon sehr häufig gedruckt erschienen. Wie sie im Unterricht tatsächlich verwendet wurden, kann aber nur begrenzt nachvollzogen werden. Ihre Überlieferung sowie die Existenz weiterer Lehrmittel sind nur einer von mehreren Indikatoren. Zudem können Studienordnungen herangezogen werden, die für die einzelnen Schulen entstanden und in denen häufig konkrete Unterrichtstexte erwähnt werden. Ihr Überlieferungsstand ist wiederum nicht allzu gut, vor allem in Bezug auf die böhmischen Länder. Hier betreffen die zur Verfügung stehenden Vorschriften in der Regel Stadtschulen.10 (BHBF 33), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 107–123; Dies., Das schlesische Schulwesen im Jahrhundert der Reformation. Ständische Bildungsreformen im Geiste Philipp Melanchthons (Contubernium 74), Stuttgart 2011; M. Holý, Vzdělanostní mecenát (wie Anm. 4), vor allem S. 166–194. 8 Die sieben freien Künste (septem artes liberales) wurden bereits seit dem Mittelalter in das sog. trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) aufgeteilt. Zum damaligem Bildungssystem sowie zu den Freien Künsten vgl. mindestens O. Kádner, Dějiny pedagogiky [Geschichte der Pädagogik], 2 Bde., Praha 21923; J. Koch (Hg.), Artes Liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters (STGM 5), Leiden/Köln 1959; H. Schipperges, Artes liberales, in: LexMa, Bd 1: Aachen bis Bettelordenskirchen, München/Zürich 1980, Sp. 1058–1063; D. L. Wagner (Hg.), The Seven Liberal Arts in the Middle Ages, Bloomington 1983; W. Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1996; M. Stolz, Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter (BG 47), 2 Bde., Tübingen 2004. 9 Vgl. M. Holý, Schulbücher und Lektüren in der Unterrichtspraxis an böhmischen und mährischen Lateinschulen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: S. Hellekamps / J. L. L. Cam / A. Conrad (Hgg.), Schulbücher und Lektüren in der vormodernen Unterrichtspraxis [=ZfE (2012), Sonderheft 17], S. 105–119. 10 Vgl. zumindest J. Strabo, Schola Zatecensis Iacobi Strabonis Glatovini […], Praha: Jiří Černý z Černého Mostu [Georgius Nigrinus de Nigro Ponte] 1575 (BCBT37193); P. Codicillus, Ordo studiorum docendi atque discendi literas, in scholis civitatum Regni Boemiae […], Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium 159 Obwohl manche der genannten Schulordnungen auch an anderen partikularen Bildungseinrichtungen Verwendung fanden, ist unsere Kenntnis der Lehrbücher, die z. B. an den Schulen der Brüderunität oder an verschiedenen privaten Lateinschulen benutzt wurden, begrenzt. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die in die Analyse einbezogenen Schulordnungen den idealen Stand des Unterrichts und nicht die tatsächliche Praxis reflektieren. So mussten etwa die konkret empfohlenen Schulbücher nicht zwangsläufig an der jeweiligen Schule vorhanden sein und konnten durch andere Bücher ersetzt werden. In den Nebenländern der Böhmischen Krone ist zum Glück der Überlieferungsstand der Schulordnungen viel besser.11 Die Grundlage des Unterrichts an der untersten Stufe der Partikularschulen bildeten in den böhmischen Ländern Fibeln, die manchmal mit einfachen Katechismen verbunden waren oder mit Texten, mit deren Hilfe die Grundlagen der Arithmetik unterrichtet wurden. Dies galt nicht nur für das verbreitete und wiederholt aufgelegte Lehrbuch „Elementarius libellus in lingua Latina et Boiemica pro novellis scholasticis“ von Matthäus Collinus von Chotěřina/Matouš Kolin z Chotěřiny (1516–1566), einem bedeutenden tschechischen Humanisten und Absolventen der Universität Wittenberg, aus dem Jahr 1550, sondern auch für weitere Handbücher, die im untersuchten geographischen Raum entstanden. Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel Adam von Veleslavin] 1586 (BCBT36590); Classes quinque in Academia Pragensi pro pueris et adolescentibus cujusvis conditionis ac dignitatis, domesticis et peregrinis erectae, Praha: Pavel Sessius 1609 (BCBT39127), vgl. SK Praha, Sign. AG XIII 133, Nr. 25; im 18. Jahrhundert gedruckt von A. Voigt, Acta litteraria Bohemiae et Moraviae, Tom. 1, Praha: Wolfgang Gerle 1775, S. 321–336; später nur A. M. z Kaménka, Intimatio paedagogii academici, trilinguis, trivii […], Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel Adam von Veleslavin] (Erben) 1612 (BCBT38341), vgl. NK Praha, Sign. 45 A 11, Nr. 8; M. Petra Codicilla z Tulechova Řád školám městským v Čechách a na Moravě léta 1586 akademií pražskou vydaný: příspěvky k dějinám školství v Čechách [Die Ordnung für die städtischen Schulen in Böhmen und Mähren des Magister Peter Codicillus von Tulechov, herausgegeben 1586 durch die Prager Akademie: Beiträge zur Geschichte Schulwesens in Mähren], ed. F. J. Zoubek, Praha 1873; A. Truhlář, M. Vavřince Benedikta z Nudožer školní řád z r. 1607 [Die Schulordnung des Magister Laurentius Benedictus Nudozerinus von 1607], in: ČČM 65 (1891), S. 67–74; Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 608–658; J. V. Novák, Die Schulordnung des deutschen „Gymnasium illustre“ bei St. Salvator in Prag, in: JGPÖ 27 (1906), S. 123–150; M. Holý, Soukromá škola (wie Anm. 6), S. 159–184; Ders., Schulbücher (wie Anm. 9), S. 107, 111–113; Ders., Vzdělanostní mecenát (wie Anm. 4), S. 66. 11 Vgl. M. Holý, Vzdělanostní mecenát (wie Anm. 4), S. 166–194; Ders., Die lutherischen Schulordnungen in den Nebenländern der Böhmischen Krone im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: L. Harc / G. Wąs (Hgg.), Reformacja: między ideą a realizacją. Aspekty europejskie, polskie, śląskie [Reformation: zwischen Idee und ihrer Umsetzung. Die europäischen, polnischen und schlesischen Aspekte], Kraków 2019, S. 211–228. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 160 Martin Holý Ähnlich wie das Werk von Collinus gingen sie nicht nur von der einheimischen Tradition aus, sondern reflektierten auch einige ausländische Vorbilder.12 Von den weiteren ABC-Büchern, die in den böhmischen Ländern entstanden sind, sei zumindest „Isagogicon“ von Beneš Optát (ca. 1480–1559) genannt, das die Fibel mit einem Arithmetiklehrbuch kombiniert, sowie das Elementarbuch „Slabikář český“, das 1547 in Proßnitz/Prostějov erschienen ist.13 Die lateinische Grammatik wurde im 16. Jahrhundert an nichtkatholischen Schulen zum einen anhand einiger mittelalterlicher Autoren unterrichtet, deren Schulbücher jedoch stark im humanistischen Geiste angepasst wurden; beliebt war insbesondere Aelius Donatus (4. Jahrhundert n. Chr.). Zum anderen fanden zunehmend neue Hilfsmittel Verwendung. Gemeint sind hiermit besonders die Grammatiken Philipp Melanchthons (1497–1560), die aber unter verschiedenen Bezeichnungen und in verschiedenen Fassungen erschienen. Zu nennen sind hier beispielsweise diejenigen in der angepassten Fassung des berühmten Rektors des Goldberger Gymnasiums Valentin Trotzendorf (1490–1556), dessen Pädagogik in Schlesien zu einem anerkannten Vorbild avancierte, oder in der Fassung des späteren Vorstands des Görlitzer Gymnasiums Laurentius Ludovicus (1536–1594) sowie in der Fassung von Paulus Aquilinus, (vor 1520 bis etwa 1569), Rektor der Lateinschule Proßnitz.14 12 Vgl. M. Collinus, Elementarius libellus in lingua latina et boiemica pro novellis scholasticis […], Praha: Jan Kantor Had 1550 (K01572a), vgl. NK Praha, Sign. 65 E 1895. 13 Vgl. B. Optát, Isagogicon, jenž jest první uvedení každému počínajícímu se učiti, a to ku poznání dvojího každému velmi potřebného umění ortographii předkem, kdež se ukazuje české řeči pravé a mírné psaní i čtení […] aritmetiky potom, kdež se oznamuje umění mírného a snadného počítání [Isagogicon, das die erste Einführung für jeden lernenden Anfänger ist, und zwar zum Kennenlernen der beiden für jeden sehr nützlichen Künste, zunächst der Orthografie, wo das der tschechischen Sprache gerechte und gemäßigte Schreiben und Lesen dargestellt wird […] und danach der Arithmetik, wo die Kunst des gemäßigten und einfachen Rechnens bekanntgemacht wird], Náměšť nad Oslavou: Jan Pytlík z Dvořiště 1535 (K06640), vgl. SK Praha, Sign. AG XIII 133; Slabikář český a jiných náboženství počátkové, kterýmžto věcem dítky křesťanské hned zmladosti učeny býti mají [Tschechische Fibel und Grundlagen anderer Religionen, also Sachen, in denen christliche Kinder gleich in ihrer Jugend unterrichtet werden sollen], Prostějov: Jan Günther 1547 (K15441), vgl. ÖNB Wien, Sign. BE.2.R.62 /4. 14 Vgl. P. Aquilinas, Grammatica Philippi Melanchthonis latina. Iam denuo recognita et plerisque in locis locupletata, et autoris voluntate edita […] Nunc primum boiemico sermone illustrata […], Olomouc: Jan Günther 1560 (K05474), vgl. SK Praha, Sign. AC IV 57; V. Trotzendorf / L. Ludovicus (Hgg.), Compendium praeceptionum grammaticarum Philippi Melanchthonis in usum scholae Gorlicensis […], Görlitz: Ambrosius Fritsch 1593 (VD16 ZV 4906), vgl. RSB Zwickau, Sign. 9.8.19.(1); Diess. / J. Meister / M. Mylius (Hgg.), Compendium praeceptionum grammaticarum Phillipi Melanchthonis in usum scholae Gorlicensis […], Görlitz: Ambrosius Fritsch (Erben) 1594 (VD16 M 3413, VD16 M 4313), vgl. HAB Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium 161 1614 gab die Prager utraquistische Universität auch eine neue lateinische Grammatik heraus, die nicht nur auf Melanchthon, sondern auch auf Petrus Ramus (1515–1572) basierte. Daneben entstanden in den Ländern der Böhmischen Krone auch einige weitere ‚ursprüngliche‘ Grammatiken für Latein aus der Feder von nichtkatholischen Verfassern, z. B. „Elementa declinationum et conjugationum“ des bekannten Rektors der Karlsuniversität Petrus Codicillus von Tulechov/z Tulechova (1533–1589).15 Sobald die Schüler die lateinische Grammatik beherrschten, prägten sie sich auch einige grundlegende Texte des Christentums ein, vor allem „Decem precepta“ und „Symbolum Apostolicum“, die sie unter anderem anhand von Melanchthons Werk „Enchiridion elementorum puerilium“ lernten,16 und sie begannen ihre Kenntnisse mit Hilfe der sog. „Libri exegetici“ zu repetieren und zu vertiefen. Schon während des Mittelalters erfreuten sich vor allem Äsops Fabeln großer Beliebtheit. Sie erschienen auch während des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in vielen Auflagen. Neben solchen Editionen, die im Untersuchungsgebiet erschienen, wurden an den Schulen in den Ländern der Böhmischen Krone anscheinend auch im Reich herausgegebene, insbesondere lutherische, Editionen verwendet.17 Wolfenbüttel, Sign. H: P 871.8 Helmst.; vgl. auch Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 520–526; zu Trotzendorf vgl. L. Haupt, Valentin Friedland genannt Trotzendorf, in: NLM 41 (1864), S. 134–144; L. Sturm, Valentin Trotzendorf und die Lateinische Schule zu Goldberg. FS zur Feier des 400jährigen Geburtstages Trotzendorfs, geboren den 14. Februar 1490, Goldberg 1888; G. Mertz, Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1902, S. 152 f.; F. Meister, Trotzendorf, in: ADB, Bd. 38: Thienemann – Tunicius, Berlin 1894, S. 661–667; G. Bauch, Valentin Trotzendorf und die Goldberger Schule (MGP 57), Berlin 1921, S. 52–169; K. Weidel, Valentin Trozendorf, in: SLB, Bd. 4, Breslau 1931, S. 98–101; A. Lubos, Valentin Trozendorf. Ein Bild aus der schlesischen Kulturgeschichte, Ulm 1962; A. Michler, Valentin Trotzendorf – nauczyciel Śląska [Valentin Trotzendorf – der Lehrer Schlesiens], Złotoryja 1996; E. Axmacher, Trozendorf, Valentin, in: BBKL, Bd. 12: Tibboniden bis Volpe, Giovanni Antonio, Hamm 1997, Sp. 618–623. 15 Vgl. Elementa grammaticae latinae Philippo-Rameae, pro inferioribus classibus bohemicae pubis collecta […], Praha: Daniel Carolides a Carlsperg 1614, vgl. KNM Praha, Sign. 26 E 20; P. Codicillus, Elementa declinationum et coniugationum pro classe ultima […], Praha: Jan Schumann 1616 (K04162), vgl. NK Praha, Sign. 45 E 38. 16 Vgl. P. Melanchthon, Enchiridion elementorum puerilium, Wittenberg: Josef Klug 1525 (VD16 ZV 25688); später mehrmals nachgedruckt. 17 Aesops Fabeln wurden bereits 1480 in tschechischer Übersetzung in Kuttenberg/Kutná Hora herausgegeben. Vgl. Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 528; Neuauflagen der Fabeln erschienen dann 1488 und 1557 in Prag, vgl. Aesopus, Bajky [Fabeln] (Vita et fabulae secundum Henricum Steinhövel, boh), Praha: Tiskař Pražské bible [Drucker der Prager Bibel], o. J. [um 1488] (INC015), vgl. SK Praha, Sign. D O VI 9; Aesopus, Ezopa mudrce život s fabulemi Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 162 Martin Holý Neben Äsops Fabeln gebrauchte man im Lateinunterricht auch viele weitere Texte. Seit dem Mittelalter waren ebenfalls die „Disticha Catonis“ beliebt, ein Werk, das während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts viele Neuauflagen erfuhr.18 Bereits in den niederen Klassen griff man auch gerne zu verschiedenen Sammlungen von Sentenzen, wie z. B. zu den Sprüchen Salomos.19 Von den Werken humanistischer Autoren waren vor allem „De civilitate morum puerilium“ des Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) und seine „Colloquia“ verbreitet, ebenso wie die „Colloquia sive exercitatio Latinae linguae“ des spanischen Gelehrten Juan Luis Vives (1493–1540). Auch weitere Sammlungen von Phrasen und Wendungen sowie Konversationsbüchlein, insbesondere verschiedene Ausgaben von Melanchthons „Loci communes“ erfreuten sich großer Beliebtheit.20 Klassische Autoren wurden vor allem in höheren Klassen gelesen. Es handelte sich dabei vor allem um Vergil (70–19 v. Chr.), Ovid (43 v. Chr.–18/19 n. Chr.), Horaz (65–8 v. Chr.), Catull (84–54 v. Chr.), Caesar (100–44 v. Chr.), Sallust (86–35/34 v. Chr.) und Cicero (106–43 v. Chr.). Ihre Texte erfuhren verschiedene Ausgaben. Dabei wurden mit Sicherheit nicht nur im Untersuchungsgebiet entstandene Ausgaben verwendet, sondern auch solche, die anderswo erschienen. Zur allgemeinen Perfektionierung des lateinischen Stils bediente man sich vor allem der „Epistolae Ciceronis“. Sehr verbreitet waren dabei die Editionen des protestantischen Straßburger Rektors Johannes Sturm (1507–1589), darunter auch eine Edition des bekannten böhmischen Humanisten Jan Kocín von Kocinét/z Kocinétu (1543–1610) oder jene von Georg Fabricius (1516–1571), dem bekannten Rektor der St.-Afra-Schule in Meißen. Syntax und Etymologie übte man in den böhmischen, überwiegend nichtkatholischen Schulen mit Hilfe von Melanchthons Lehrbüchern („Syntaxis Philippi“, „Etymologia Latina“), die anebo s básněmi jeho [Das Leben des Gelehrten Aesop mit seinen Fabeln sowie Gedichten], Olomouc: Kašpar Aorg/Jan Günther 1557 (K00069), vgl. KNM Praha, Sign. 27 C 20, weitere Ausgaben (1567, 1579, 1584, 1613) vgl. in: KPS, hier K00070 bis K00075; für Dutzende Ausgaben im deutschen Sprachraum von 16. bis zum 17. Jahrhundert vgl. VD16. 18 Nur in den böhmischen Ländern wurden sie während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr als zwanzigmal neu aufgelegt, vgl. KPS, hier K01477 bis K01495. 19 Salomos Sprüche wurden auch in Böhmen herausgegeben. Vgl. V. Posthumius, Sententiae Salomonis generaliores de bonis moribus excerptae e libro proverbiorum, praenotatae titulis et ut proficiant multi in bonis studiis publicatae […], Praha: Jiří Jakubův Dačický 1570 (K14668), vgl. NK Praha, Sign. 52 F 64, Nr. 18. 20 Wegen der vielen Auflagen der genannten Werke ist es unmöglich, auf sie einzeln zu verweisen. Für die Situation in den böhmischen Ländern vgl. Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3); M. Holý, Schulbücher (wie Anm. 9), S. 109. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium 163 ebenfalls in den Lausitzen und in Schlesien erschienen (Laurentius Ludovicus, Valentin Trotzendorf ).21 Im Lateinunterricht kamen in allen Klassen auch verschiedene Wörterbücher zum Einsatz. Viele davon sind ebenfalls mehrsprachig erschienen. Sie dienten den Schülern nicht nur beim Übersetzen oder bei der Interpretation, sondern auch zum Memorieren. Die Schüler sollten auch eigene Vokabelhefte führen. Die Lateinkenntnisse wurden aber nicht nur direkt, sondern auch indirekt, während des Unterrichts in weiteren Fächern, vertieft, beispielsweise im Religionsunterricht, auf den in der Regel großer Wert gelegt wurde. An protestantischen Schulen war vor allem der Kleine Katechismus Martin Luthers (1483–1546), und zwar in verschiedenen Ausgaben, weit verbreitet.22 Es wurden aber auch Werke weiterer Verfasser benutzt, beispielsweise der Katechismus von David Chytraeus (1530–1600), Professor an der Universität Rostock, oder „De summa Christianae religionis“ des lutherischen Theologen Hieronymus Nopp (1495–1551). Auch die Brüderunität hatte ihre eigenen Katechismen, die sie ebenfalls im Schulunterricht verwendete. In der Ober- und Niederlausitz sowie in Schlesien wurden neben den oben genannten Katechismen auch die wiederholt erscheinenden Katechismen Valentin Trotzendorfs, die mit einem Vorwort Melanchthons versehen waren, eingesetzt.23 Dem Griechischen wurde an den Lateinschulen der Länder der Böhmischen Krone viel geringere Aufmerksamkeit geschenkt. Meistens ging es lediglich um die Beherrschung des griechischen Alphabets und der Grundlagen der Grammatik. Für den Griechischunterricht, der unter Zuhilfenahme der lateinischen Sprache erteilt wurde, verwendete man Melanchthons griechische Grammatik, 21 Vgl. zumindest Compendium etymologiae et syntaxis, in usum Gymnasii Gorlicensis. Editum opera Laurentii Ludovici Leoberg. Adiecta sunt Gnorismata regularum in Syntaxi, usurpata à Valentino Trocedorfio, in schola Goldbergensi, Görlitz: Ambrosius Fritsch 1572 (VD16 L 3138), vgl. BSB München, Sign. L. lat. 486; G. Fabricius, Elegantiarum puerilium, ex M. Tullii Ciceronis epistolis libri tres […], Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel Adam von Veleslavin] 1589 (K02405), vgl. NK Praha, Sign. 45 F 40, Nr. 2; Ders., Elegantiarum e Plauto et Terentio libri duo. Collecti a Georgio Fabricio Chemn. […], Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel Adam von Veleslavin] 1589 (K02406), vgl. NK Praha, Sign. 45 F 40, Nr. 1. 22 Wegen der vielen Editionen kann hier nicht auf einzelne Auflagen hingewiesen werden. Vgl. dazu VD16 sowie VD17; sowie Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 542–547. 23 Vgl. De summa Christianae religionis brevia quaedam axiomata olim ab Hieronymo Noppo tradita ac eadem nunc versibus illigata a Mathaeo Collino Gurimeno […], Nürnberg: Johann Petreius 1564 (VD16 N 1843); D. Chytraeus, Catechesis recens recognita, Leipzig: Hans Rambau d. Ä. 1558 (VD16 C 2520); beide Katechismem sind später noch vielmals erschienen, vgl. dazu: VD16 sowie VD17; vgl. auch V. Trotzendorf, Catechesis scholae Goltpergensis […], Wittenberg: Johann Krafft d. Ä. 1558 (VD16 F 2803). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 164 Martin Holý die in zahlreichen Auflagen erschien. Man nahm jedoch auch die Grammatiken anderer Autoren zu Hilfe.24 Von den griechischen Klassikern wurden insbesondere Homer (ca. 9. Jahrhundert v. Chr.), Aristophanes (ca. 450/444–380 v. Chr.), Euripides (ca. 485/84/80–406 v. Chr.), Thukydides (ca. 454–399/96 v. Chr.) und Demosthenes (384–322 v. Chr.), und zwar in verschiedenen Ausgaben, gelesen. In welchem Maße direkt der griechische Text der Heiligen Schrift verwendet wurde, steht nicht eindeutig fest. Im Falle der Episteln kann dies jedoch angenommen werden.25 Vernakularsprachen, für die auch im protestantischen Milieu der Länder der Böhmischen Krone zahlreiche Handbücher erschienen, waren kein direkter Bestandteil des Unterrichts und erfüllten nur eine unterstützende Rolle, besonders zu Beginn des Schulunterrichts. Inwiefern man in den Schulen handschriftliche Abschriften bzw. bereits in Druck erschienene tschechische und deutsche Grammatiken bzw. auch weitere Lehrbücher für Volkssprachen verwendete, ist nicht ganz klar. Einige von ihnen wurden dennoch direkt für diesen Zweck konzipiert.26 Mit dem Lateinunterricht war die von den Humanisten stark hervorgehobene Rhetorik eng verbunden. Sie wurde in den höheren Klassen unterrichtet – dabei wurden die Rhetorik von Aristoteles (384–322 v. Chr.) und die Reden Ciceros verwendet, aber auch neue Lehrbücher, die erst im 16. Jahrhundert entstanden. Beliebt waren die Rhetorikbücher des französischen Humanisten Omer Talon (ca. 1510–1562) sowie einige Rhetorikwerke Melanchthons. Um die Entwicklung dieses Bereiches machten sich aber auch einheimische Verfasser verdient, besonders Jan Kocín, der nicht nur die „Rhetoricorum libri tres“ von Aristoteles, sondern auch einige Rhetorikwerke des Hermogenes von Tarsos (2. Jahrhundert 24 Vgl. P. Melanchthon, Institutiones graecae grammaticae […], Hagenau/Haguenau: Thomas Anshelm 1518 (VD16 M 3491), vgl. BSB München, Sign. Res/4 L.gr. 80; N. Clenardus, Institutiones linguae graecae […], Köln: Jakob Soter 1557 (VD16 ZV 3696), vgl. UB Freiburg, Sign. D 522,c. Beide Lehrbücher wurden später mehrmals nachgedruckt. Vgl. dazu: VD16 sowie VD17. 25 Vgl. Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 548 f.; zur Bibellektüre und den Bibelkenntnissen der Schüler vgl. M. Holý / K. Bobková Valentová, Jak důkladně znali gymnazisté Bibli? K užívání biblických textů ve školní výuce v českých zemích 16. až 18. století [Wie gründlich kannten Gymnasiasten die Bibel? Zur Verwendung biblischer Texte im Schulunterricht in den böhmischen Ländern im 16. bis 18. Jahrhundert], in: HOP 5, H. 2: Česká bible. Kulturní, ideový a politický fenomén v proměnách staletí [Tschechische Bibel. Ein kulturelles, gedankliches und politisches Phänomen im Wandel der Jahrhunderte], (2013), S. 63–72. 26 Vgl. dazu mit weiteren Quellen- und Literaturhinweisen M. Holý / K. Bobková Valentová, Vernacular languages in teaching at schools in the Czech lands in the Early Modern period, in: J. L. L. Cam (Hg.), L’école et les langues dans les espaces en situation de partage linguistique à travers l’histoire [im Druck]. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium 165 n. Chr.) herausgab. Im untersuchten Raum wurden jedoch auch weitere Rhetorikbücher verwendet, beispielsweise jene des Leipziger Humanisten Matthäus Dresser (1536–1607) sowie die des berühmten protestantischen Dramatikers Nicodemus Frischlin (1547–1590).27 Mit dem Sprachunterricht waren auch einige weitere Fächer verbunden, beispielsweise die klassische Geschichte – Thukydides, Herodot (ca. 490/80–430/20 v. Chr.), Caesar, Livius (ca. 58 v. Chr.–17 n. Chr.), Sallust, Tacitus (ca. 58–120 n. Chr.) – sowie die mittelalterliche und die zeitgenössische Geschichte. Der Unterricht erfolgte anhand von verschiedenen Weltchroniken, beispielsweise jener des deutschen Mathematikers und Astronomen Johann Carion (1499–1537), oder anhand der in Latein und in den Volkssprachen erschienenen historischen Kalender und Chronologien, beispielsweise des lutherischen Theologen und Historikers Abraham Buchholzer (1529–1584) oder des bedeutenden tschechischen Humanisten Daniel Adam von Veleslavin/z Veleslavína (1546–1599) und weiterer Schriften.28 Von den anderen sieben freien Künsten wurde an den Lateinschulen auch der Dialektik, Arithmetik und Astronomie Aufmerksamkeit gewidmet. Als Grundlage diente weiterhin Aristoteles’ Logik. Zur Verfügung standen zahlreiche Lehrbücher, 27 Vgl. A. Talaeus, Institutiones oratoriae […], Paris: Jacques Bogard 1545, vgl. BNF Paris, Sign. FRBNF31430880; Ders., Rhetorica […], Paris: Matthieu David 1552 (beides später vielmals nachgedruckt); Hermogenis Tarsensis, Rhetoris acutissimi De ratione inveniendi oratoria libri IIII […], Straßburg: Josias Rihel 1570 (VD16 H 2473), vgl. KNM Praha, Sign. 59 E 106; Ders., Rhetoris acutissimi partitionum rhetoricarum liber unus […], Straßburg: Josias Rihel 1570 (VD16 H 2472), vgl. KNM Praha, Sign. 59 E 10a; Ders., Rhetoris acutissimi De dicendi generibus sive formis orationum libri II […], Straßburg: Josias Rihel 1571 (VD16 H 2474), vgl. NK Praha, Sign. 5 J 110; M. Dresser, Rhetorica, inventionis, dispositionis et elocutionis illustrata […], Wittenberg: Clemens Schleich / Anton Schöne 1575 (VD16 D 2765), vgl. BSB München, Sign. L.lat. 310; N. Frischlinus, Rhetorica: seu Institutionum Oratoriarum Libri Duo, Leipzig: Michael Lantzenberger 1604 (VD17 23:286273T), vgl. WLB Stuttgart, Sign. Phil. oct. 814; zu Kocín vgl. auch M. Holý, Johannes Sturm, das Straßburger Gymnasium (Akademie) und die Böhmischen Länder in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: M. Arnold (Hg.), Johannes Sturm (1507–1589). Rhetor, Pädagoge und Diplomat (SMHR 46), Tübingen 2009, S. 303–319, hier S. 308–311. 28 Vgl. J. Carion, Chronica […], Wittenberg: Georg Rhau 1532 (VD16 C 995), vgl. BSB München, Sign. Astr. P32; später wiederholt erschienen, vgl. dazu: VD16; A. Buchholzer, Chronologia […], Görlitz: Ambrosius Fritsch 1584/85 (VD16 B 9030), vgl. BSB München, Sign. 4 Chrlg. 205; Ders., Rejstřík historický […] [Historisches Register …], Praha: Anna Šumanová 1596 (K01366), vgl. NK Praha, Sign. 54 A 3614; D. Adam z Veleslavína, Kalendář historický […] [Historischer Kalender …], Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel Adam von Veleslavin]/Jiří Melantrich z Aventina [Georg Melantrich von Aventin] d. Ä. 1578 (K00058), vgl. NK Praha, Sign. 54. C. 25. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 166 Martin Holý die im 16. Jahrhundert herausgegeben wurden, beispielsweise Melanchthons „Dialectica“ oder die „Rudimenta dialecticae“ von Petrus Ramus. Auch einige Werke tschechischer Verfasser – Petrus Codicillus und Sigismund Gelenius/Zikmund Hrubý z Jelení (1497–1554) – standen zur Verfügung.29 Für die Arithmetik wurden zahlreiche Handbücher verwendet, beispielsweise dasjenige des niederländischen Mathematikers Gemma Frisius (1508–1555) oder des aus Lüneburg stammenden Lucas Lossius (1508–1582). Bestandteil des Unterrichts war auch der Kalender. Als praktisches Hilfsmittel lernten die Schüler den „Cisiojanus“, und zwar nicht nur in Latein, sondern auch in den Volkssprachen.30 Die musica wurde unter anderem anhand vom „Enchiridion musicae“ des lutherischen Komponisten und Musiktheoretikers Georg Rhau (1488–1548) unterrichtet. Von grundlegender Bedeutung sind zudem die „Musica“ (1558) des Bischofs der Brüderunität Jan Blahoslav (1523–1571) sowie einige weitere musiktheoretische Abhandlungen.31 Ein selbstständiges, sehr wichtiges Kapitel des theoretischen sowie praktischen Unterrichts stellt das frühneuzeitliche Schultheater dar, das sowohl an den präuniversitären Bildungsstätten des Lateinschulwesens als auch an der Prager Universität 29 Vgl. P. Melanchthon, Dialectica […], Hagenau: Johann Setzer 1527 (VD16 ZV 10662), vgl. ULB Halle, Sign. AB 137444; Ders., De dialectica libri quatuor […], Wittenberg: Josef Klug 1529 (VD16 M 2997), vgl. BSB München, Sign. Phil. 1397; P. Ramus, Rudimenta dialecticae […], Herborn: Christoph Rab 1599 (VD16 L 503), vgl. ULB Halle, Sign. L503; beide letztgenannte Drucke später mehrmals nachgedruckt, vgl. VD16 sowie VD17; P. Codicillus, Praecepta dialectices, pro eius studiosis et tyronibus, diligenti studio M. Petri Codicilli a Tulechova, Pragae recognita, Praha: Jiří Jakubův Dačický 1590 (BCBT36940), vgl. KNM Praha, Sign. 49 E 6; vgl. auch Šimon Gelenius Sušický [Simon Gelenius von Schüttenhofen], Logika [Logik], edd. Č. Stehlík / J. Král (FB 1/7), Praha 1926; Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 588. 30 Vgl. G. Frisius, Arithmeticae practicae methodus facilis […], Wittenberg: Georg Rhau 1544 (VD16 G 1113), vgl. BSB München, Sign. Math. P160; L. Lossius, Arithmetices erotemata puerilia […], Frankfurt a. M.: Christian d. Ä. Egenolff (Erben) 1582 (VD16 L 2715), vgl. BSB München, Sign. Math. p. 745; G. Rhau, Enchiridion utriusque musicę practicę […], Leipzig: Valentin Schumann 1520 (VD16 R 1671, VD16 G 227, VD16 R 1677); für weitere Ausgaben vgl. VD16 sowie VD17. 31 Vgl. Rhau, Enchiridion (wie Anm. 30), später mehrfach erneut veröffentlicht; J. Blahoslav, Musica, to jest knížka zpěvákům náležité zprávy v sobě zavírající [Musica, dies ist ein Büchlein, das in sich entsprechende Lehren für Sänger einschließt], Olomouc: Jan Günther 1558 (K01160), vgl. KNM Praha, Sign. 18 F 7; vgl. auch Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 573–576; M. Holý, Musik in der Erziehung und Ausbildung des Adels aus den böhmischen Ländern im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: A. Hultsch (Hg.), Musica in Litteris. Musikalische Geburtstagsgabe für Ludger Udolph, Dresden 2018, S. 21–29. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium 167 häufig gespielt wurde. In dem von uns untersuchten Zeitraum erschienen bereits viele Konspekte und Volltexte der Stücke im Druck.32 *** Abschließend kann festgestellt werden, dass die meisten der erwähnten Lehrbücher in mehrfacher Hinsicht als Kommunikationsmedium angesehen werden können. Sie vermittelten nämlich nicht nur, ihrer primären Funktion gemäß, entlang der Achse Verfasser – Lehrer – Schüler ihren edukativen Inhalt, sondern sie waren zugleich ein bedeutendes Medium der Verbreitung und Stärkung des wahren Glaubens, gleich um welche Konfession es sich auf dem Gebiet der böhmischen Länder, der Ober- und Niederlausitz und Schlesiens auch immer handelte. Dies galt bei weitem nicht nur für solche Texte, die im katechetischen Unterricht verwendet wurden, sondern auch für Lehrbücher, die primär auf andere Unterrichtsfächer ausgerichtet waren. Obwohl die Länder der Böhmischen Krone multikonfessionell waren und einige protestantische Kirchen hier ein eigenes System des Schulwesens schufen, hatten die meisten Bildungsstätten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in diesem Raum keine eindeutige religiöse Ausprägung. Dies gilt vor allem für die Schulen in Böhmen und in Mähren. Sowohl die Lehrer als auch die Schüler stammten aus verschiedenen Konfessionsgruppen, besonders aus den Reihen der Utraquisten. Ein Teil von ihnen näherte sich allmählich – zum Teil bewusst, zum Teil 32 Dazu vgl. Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 727–756; J. Máchal, Z dějin akademického divadla v Praze [Aus der Geschichte des Akademietheaters in Prag], in: ČMKČ 89 (1915), S. 15–24, 156–166; Ders., Dějiny českého dramata [Geschichte des tschechischen Dramas] (Sbírka souvislé četby školní [Sammlung der zusammenhängenden Schullektüre] 37), Praha 1917; M. Cesnaková-Michalcová, Humanistické a reformační divadlo v období znovuupevnění feudalismu [Humanistisches und reformatorisches Theater im Zeitalter der erneuten Festigung des Feudalismus], in: A. Scherl (Red.), Dějiny českého divadla [Geschichte des böhmischen Theaters], Bd. 1: Od počátků do sklonku osmnáctého století [Seit seinem Beginn bis zum Ende des 18. Jahrhunderts], Praha 1968, S. 99–152, hier S. 101–139; A. Jakubcová u. a. (Hgg.), Starší divadlo v českých zemích do konce 18. století. Osobnosti a díla [Das ältere Theater in den böhmischen Ländern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Persönlichkeiten und Werke] (Česká divadelní encyklopedie [Tschechische Theaterenzyklopädie]), Praha 2007; M. Holá / M. Holý, „Pro ornamento facultatis et utilitate juventutis scholasticae“: divadelní představení pražské karolínské akademie na počátku 17. století [… Theateraufführungen der Prager karolinischen Akademie zu Beginn des 17. Jahrhunderts], in: I. Ebelová u. a. (Hgg.), Mezi kulturou a uměním: věnováno Zdeňku Hojdovi k životnímu jubileu [Zwischen Kultur und Kunst. FS für Zdeněk Hojda], Praha 2013, S. 96–108. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 168 Martin Holý unbewusst – der europäischen Reformation an, insbesondere dem Luthertum. Dieses überwog später völlig in den Lausitzen und in Schlesien.33 Der Grund für die bedeutende Position lutherischer Schulbücher in den Ländern der Böhmischen Krone des 16. und frühen 17. Jahrhunderts lag aber auch schlicht in der geographischen Nähe zu den evangelischen Gebieten des Heiligen Römischen Reichs, die häufig eine Bildungs- und Berufsmigration der Einwohner des böhmischen Staates nach sich zog. Weitere Faktoren waren die nichtkatholische Kirchenverwaltung dieser Länder sowie die relativ beschränkte Lehrbuchproduktion einheimischer Verfasser. In vielen Fällen erschienen Lehrbücher von ursprünglich lutherischen Verfassern aus dem Reich, die auf die Bedürfnisse der Schulen in den Ländern der Böhmischen Krone angepasst wurden. Auch der eigentliche Inhalt muss in Betracht gezogen werden. Er war stets nur in begrenztem Maße ‚konfessionell‘; mithin war es dann nicht störend, wenn die meisten Lehrkräfte einem anderen Glauben angehörten. Damit möchte ich aber nicht sagen, dass Lehrbücher nicht zu zentralen Instrumenten der Konfessionalisierung gehört hätten. Im Gegenteil, und dessen waren sich zeitgenössische pädagogische Autoritäten wie Philipp Melanchthon, Valentin Trotzendorf und andere beim Verfassen ihrer Lehrbücher sehr wohl bewusst. 33 Vgl. auch mit weiteren Literaturhinweisen M. Holý, Ähnlichkeit (wie Anm. 1), S. 39–51. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 DIE POLITISCHEN AKTEURE: STÄNDE – ADEL – FÜRSTINNEN Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Jiří Just Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation des 16. Jahrhunderts Einleitung Ein Erfolg der Reformation in den Ländern der Böhmischen Krone wäre im 15. und im 16. Jahrhundert ohne die Teilnahme des Adels kaum denkbar gewesen.1 Der Adel in Böhmen und Mähren stellte in dieser Zeit im politischen System beider Länder eine bedeutende Kraft dar und wurde allmählich zum realen Gegenpol der Herrschermacht, des böhmischen Königs. Dies führte zur politischen Konstellation, die man in beiden Ländern als einen Dualismus der Stände- und Herrschermacht bezeichnet.2 1 2 Im böhmisch-mährischen Milieu hat der Begriff ‚Reformation‘ – vor allem aus chronologischer und teilweise auch inhaltlicher Sicht – eine viel breitere Bedeutung als im Reich. Der reformatorische Prozess begann hier 100 Jahre früher und er führte zu einer weitreichenden kirchlichen Reform, bei der die Autorität der römischen Kirche erschüttert wurde, neue kirchliche Institutionen entstanden, es zur Säkularisation der kirchlichen Güter in einem erheblichen Ausmaß kam und die Individualisierung der Suche nach dem Heil einen neuen Horizont erlangte. Vgl. W. Eberhard, Zur reformatorischen Qualität und Konfessionalisierung des nachrevolutionären Hussitismus, in: F. Šmahel (Hg.) / E. Müller-Luckner (Mitarb.), Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter (SHK Kolloquien 39), München 1998, S. 213–238; T. A. Fudge, Magnificent Ride. The First Reformation in Hussite Bohemia (SASRH), Aldershot 1998; K. Richter, Die böhmischen Länder von 1471–1740, in: K. Bosl (Hg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 2: Die böhmischen Länder von der Hochblüte der Ständeherrschaft bis zum Erwachen eines modernen Nationalbewußtseins, Stuttgart 1974, S. 97–412; K. Oberdorffer, Die Reformation in Böhmen und das späte Hussitentum, in: Bohemia 6 (1966), S. 123–145. Vgl. W. Eberhard, Zur Religionsproblematik in der böhmischen Landesverfassung der Reformationsepoche, in: K. Malý / J. Pánek (Hgg.), Vladislavské zřízení zemské a počátky ústavního zřízení v českých zemích (1500–1619) [Die Wladislaw’sche Landesordnung und die Anfänge der Verfassungsordnung in den Böhmischen Ländern (1500–1619)], Praha 2001, S. 249–266; J. Macek, Jagellonský věk v českých zemích (1471–1526) [Das jagiellonische Zeitalter in den Böhmischen Ländern (1471–1526)], Bd. 2: Šlechta [Adel], Praha 1994; J. Pánek, The Religious Question and the Political System of Bohemia before and after the Battle of the White Mountain, in: R. J. W. Evans / T. V. Thomas (Hgg.), Crown, Church and Estates. Central European Politics in the Sixteenth and Seventeenth Centuries (Studies in Russia and East Europe), New York 1991, S. 121–148; J. Válka, Moravia and the Crisis of Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 172 Jiří Just Seine Stellung befestigte der Adel gerade in der Zeit der hussitischen Bewegung (1419–1434) neben der politischen auch auf der wirtschaftlichen Ebene – auf dieser vor allem zu Lasten der katholischen Kirche.3 Sowohl die Herren als auch die Ritter profitierten von der Säkularisation der Kirchengüter, die zu den bedeutendsten Ergebnissen der hussitischen Revolution gehört. In der späteren Zeit, im 16. Jahrhundert, wies der Adel relativ erfolgreich alle Restitutionsversuche des Herrschers und der katholischen Institutionen zurück. Die Vermögensbasis des Adels war imposant. Im 16. Jahrhundert beliefen sich die Herrschaften der beiden adligen Stände auf ca. zwei Drittel der Landesfläche; die Kammer des böhmischen Königs, die königlichen Städte und die Kircheninstitutionen mussten sich mit nur einem Drittel begnügen.4 Der utraquistische Adel wurde nach der Durchsetzung der hussitischen Reformation im 15. Jahrhundert zum Garanten der neuen kirchlichen Verhältnisse sowie zum Beschützer der utraquistischen Kirche.5 Eine wichtige Rolle spielte der Adel in Böhmen auch bei der Vereinbarung des sog. Kuttenberger Religionsfriedens im Jahr 1485, und Jahrzehnte danach beaufsichtigten die beiden adligen Stände die Tätigkeit des sog. unteren Konsistoriums in Prag, der obersten kirchlichen Behörde der utraquistischen Kirche.6 In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam es dann zur weiteren Stärkung der Adelsmacht – nun zu Lasten der Städte. Die Rivalität zwischen den königlichen Städten und dem Adel, die in den 1510er Jahren zu eskalieren drohte, hatte zwar keinen eindeutigen Sieger, aber letztlich ging der Adel im Vergleich zu den Städten 3 4 5 6 the Estates’ System in the Lands of the Bohemian Crown, in: ebd., S. 149–157; K. J. Dillon, King and Estates in the Bohemian Lands 1526–1564 (SPICHRPI 57), Bruxelles 1976. Vgl. F. Šmahel, Die Hussitische Revolution. Aus dem Tschechischen übersetzt von Thomas Krzenck, 3 Bde. (MGH Schriften 43), Hannover 2002, Bd. 3, S. 1782–1818. Vgl. ebd., S. 1807–1818; J. Macek, Jagellonský věk (wie Anm. 2), S. 90–119; J. Janáček, České dějiny [Tschechische Geschichte], Buch 1: Doba předbělohorská [Die vorweißenbergische Zeit], T. 1: 1526–1547, Praha 1968, S. 132–134; A. Míka, Majetkové rozvrstvení české šlechty v předbělohorském období [Die Vermögensschichtung des böhmischen Adels im Zeitalter vor der Schlacht am Weißen Berg], in: Sborník historický [Historischer Sammelband] 15 (1967), S. 45–75. Vgl. W. Eberhard, Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530 (VCC 38), München/Wien 1981. Vgl. J. Just, Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1485, in: J. Bahlcke / S. Rohdewald / T. Wünsch (Hgg.) / M. Arens / K. Boeckh / M. Fata / N. Kersken / S. Samerski / D. Ursprung / E. Wetter (Mitarb.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013, S. 838–850; W. Eberhard, Entstehungsbedingungen für öffentliche Toleranz am Beispiel des Kuttenberger Religionsfriedens, in: CV 29 (1986), S. 129–154. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation 173 aus diesem Kampf wirtschaftlich gestärkt heraus.7 Die Macht des Adels kulminierte nach 1547, als die Städte infolge der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg und der Unterdrückung des (ersten) böhmischen nichtkatholischen Ständeaufstandes ihren Einfluss auf der politischen Ebene spürbar verloren.8 Die Interessen des Adels an der Reformation und ihr Realisierungsraum Der böhmische und mährische Adel war ein wichtiger Akteur im Prozess der Reformation vor allem dank des relativ großen Ausmaßes der obrigkeitlichen Macht, die der Adel in seinen eigenen Herrschaften ausübte. Das galt auch für die Organisationsebene des kirchlichen Lebens. Ein wichtiges Instrument, mit dem der Adel die kirchlichen Verhältnisse auf seinen Gütern markant beeinflusste, war das Patronatsrecht für die Pfarreien.9 Dieses Privileg schuf – gemeinsam mit 7 8 9 Vgl. J. Pešek / B. Zilynský, Městský stav v boji se šlechtou na počátku 16. století [Der Städtestand im Kampf mit dem Adel am Anfang des 16. Jahrhunderts], in: FHB 6 (1984), S. 137– 161; J. Tomas, Některé problémy ekonomických a mocenských vztahů mezi stavy v českých zemích v 15. a 16. století [Einige Probleme der ökonomischen und Machtbeziehungen unter den Ständen in den böhmischen Ländern im 15. und 16. Jahrhundert], in: ebd., S. 109–136. Vgl. P. Vorel, Sankce vůči českým královským městům roku 1547 v kontextu habsburské politiky první poloviny 16. století („Gentský ortel“ v politické propagandě stavovského odboje). Ediční příloha: Český překlad rozsudku Karla V. nad městem Gent z května 1540 [Sanktionen gegenüber den böhmischen königlichen Städten im Jahr 1547 im Kontext der habsburgischen Politik der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (der „Genter Urteilsspruch“ in der politischen Propaganda des Ständeaufstands). Editionsanhang: Tschechische Übersetzung des Urteils Karls V. über die Stadt Gent vom Mai 1540], in: TH 16 (2015), S. 41–60; Ders., Die Außenbeziehungen der böhmischen Stände um die Mitte des 16. Jahrhunderts und das Problem der Konfessionalisierung, in: J. Bahlcke / A. Strohmeyer (Hgg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur (FGKÖM 7), Stuttgart 1999, S. 169–178; W. Eberhard, Monarchie und Widerstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystem Ferdinands I. in Böhmen (VCC 54), München 1985; Ders., Reformatorische Gegensätze – reformatorischer Konsens – reformatorische Formierung in Böhmen, Mähren und Polen, in: J. Bahlcke / H.-J. Bömelburg / N. Kersken (Hgg.), Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.–18. Jahrhundert (FGKÖM 4), Leipzig 1996, S. 187–215; J. Janáček, České dějiny [Tschechische Geschichte], Buch 1: Doba předbělohorská [Die vorweißenbergische Zeit], T. 2, Praha 1984. Eine neuere komplexe Studie zum Thema des Patronatsrechts in Böhmen und Mähren fehlt. Eine solide Betrachtung stellt immer noch dar J. Schlenz, Das Kirchenpatronat in Böhmen. Beiträge zu seiner Geschichte und Rechtsentwicklung (QFG 4), Prag 1928; das Thema berühren teilweise P. Maťa, Vorkonfessionelles, überkonfessionelles, transkonfessionelles Christentum. Prolegomena zu einer Untersuchung der Konfessionalität des böhmischen und Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 174 Jiří Just der von äußeren Einflüssen kaum gestörten Unabhängigkeit der obrigkeitlichen Verwaltung – auf den Adelsherrschaften im ganzen 16. Jahrhundert gute Bedingungen für die Durchsetzung und Verbreitung der Ideen der europäischen Reformation, falls die Obrigkeit mit diesen sympathisierte. Andererseits konnte der Adel auf dieser Grundlage eventuelle Eingriffe des Landesherrn in die religiösen Angelegenheiten effektiv verhindern. Die Potenz des Adels, Prozesse aktiv zu gestalten oder sogar die Initiative zu übernehmen, zeigt sich markant bei der Verbreitung der lutherischen Reformation in Nordwestböhmen.10 Die Hinwendung ganzer Gebieten zur neuen Lehre war ohne die massive Unterstützung der Grafen von Schlik, der Herren von Salhausen, der Ritter von Bünau und der Herren von Biberstein kaum möglich.11 Die Berufung der im Reich gebildeten und ordinierten lutherischen Geistlichen auf die Pfarreien der adligen Herrschaften, und die Unterstützung der lokalen mährischen Hochadels zwischen Hussitismus und Zwangskatholisierung, in: J. Bahlcke / K. Lambrecht / H.-Ch. Maner (Hgg.), Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag, Leipzig 2006, S. 307–331, hier S. 328–331; A. Skýbová, K politickým otázkám dvojvěří v Českém království doby předbělohorské [Zu den politischen Fragen der Bikonfessionalität im Königreich Böhmen im Zeitalter vor der Schlacht am Weißen Berg], in: HT 4 (1981), S. 145–157; die Situation in Österreich, die der in den Ländern der Böhmischen Krone ähnlich war, behandelt H. Feigl, Entwicklung und Auswirkungen des Patronatsrechtes in Niederösterreich, in: JbLKNÖ NF 43 (1977), S. 81–114. 10 Die Durchsetzung der lutherischen Reformation betraf in Böhmen vor allem die Gebiete, die bisher unter katholischer Verwaltung standen. In den Gebieten, die von den utraquistischen Geistlichen betreut wurden, kam es im Zusammenhang mit der Verbreitung der Ideen der europäischen Reformation häufig zum Synkretismus verschiedener Einflüsse der älteren hussitischen Traditionen sowie der neuen Lehre. Eine eindeutige Entscheidung für eine bestimmte Konfession war eher selten und erst seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts bemerkbar. Vgl. W. Eberhard, Die deutsche Reformation in Böhmen 1520–1620, in: H. Rothe (Hg.), Deutsche in den böhmischen Ländern (StDtO 25/1), Bd. 1, Köln/Weimar/ Wien 1992, S. 103–123. 11 Vgl. T. Šimková, „Hrad přepevný je Pán Bůh náš.“ Saská luterská šlechta severozápadních Čech ve světle raněnovověké sakrální architektury [„Ein feste Burg ist unser Gott.“ Der sächsische lutherische Adel Nordwestböhmens im Licht der frühneuzeitlichen Sakralarchitektur] (AUP FP SH 19), Ústí nad Labem/Praha 2018; J. Just, Luteráni v našich zemích do Bílé hory [Die Lutheraner in unseren Ländern bis zur Schlacht am Weißen Berg], in: Ders. / Z. R. Nešpor / O. Matějka u. a., Luteráni v českých zemích v proměnách staletí [Die Lutheraner in den Böhmischen Ländern im Wandel der Jahrhunderte], Praha 2009, S. 23–126, hier S. 50–65; A. Dietrich / B. Finger / L. Hennig, Adel ohne Grenze. Die Herren von Bünau in Sachsen und Böhmen, Müglitztal 2006; A. Horčička, Das geistige Leben in Elbogen zur Zeit der Reformation, in: Jahresbericht des k. k. Neustädter deutschen Staats-Ober-Gymnasiums in Prag am Graben, Jg. 1895, S. 3–46. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation 175 Bildungsinstitutionen, oft gefördert durch die direkte Kommunikation mit deutschen Reformatoren, was z. B. bei Sebastian Schlik († 1528) zu beobachten ist, halfen erheblich bei der Etablierung der lutherischen Konfessionskultur in Böhmen.12 Eine interessante Einsicht in die Problematik des adligen Engagements für die Reform der kirchlichen Verhältnisse bietet auch die Erforschung der großen Kommunität der böhmischen und mährischen Utraquisten. Der utraquistische Adel hatte einen unmittelbaren Einfluss auf die Leitung der gesamten Kirche, weil er bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts das Konsistorium in Prag beaufsichtigte. Das Selbstbewusstsein dieser Laienführer der Kirche zeigte sich unter anderem in der gelegentlichen öffentlichen Kritik am utraquistischen Klerus. Nach dem Vorbild des böhmischen Unterkämmerers Vaněk Valečovskýs von Fürstenbruck/z Kněžmostu († 1472), der nach der Mitte des 15. Jahrhunderts die Priesterschaft des hussitischen Erzbischofs Jan Rokycana (ca. 1390/96–1471) einer scharfen Kritik unterzogen hatte,13 ließ im Jahr 1521 der Ritter Jan (Myška) Přemyšlenský von Zlunitz/ze Žlunic einen offenen Brief drucken, in dem er die Missstände im utraquistischen Klerus erbarmungslos anprangerte.14 Die Schrift enthält – bezeichnenderweise – keine tiefergehende theologische Argumentation. Die Kritik von Přemyšlenský zielte vor allem auf die schlechten 12 Vgl. J. Just, Luteráni v našich zemích (wie Anm. 11), S. 51 f.; J. Hejnic, Philipp Melanchthon und die Schule in H. Slavkov, in: LF 105 (1982), S. 236–239; S. Sieber, Geistige Beziehungen zwischen Böhmen und Sachsen zur Zeit der Reformation, T. 1: Pfarrer und Lehrer im 16. Jahrhundert, in: Bohemia 6 (1965), S. 146–172. 13 Vgl. Acta Unitatis Fratrum. Dokumente zur Geschichte der Böhmischen Brüder im 15. und 16. Jahrhundert, edd. J. Bahlcke / J. Halama / M. Holý / J. Just / M. Rothkegel / L. Udolph, Bd. 1: Regesten der in den Handschriftenbänden Acta Unitatis Fratrum i–IV überlieferten Texte, Wiesbaden 2018, S. 263–267, Nr. 55; J. Čelakovský, Traktát podkomořího Vaňka Valečovského proti panování kněžstva [Traktat des Unterkämmerers Vaněk Valečovskýs gegen die Regierung des Klerus], in: Zprávy o zasedání Královské české společnosti nauk v Praze [Sitzungsberichte der königl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag], Jg. 1881, Praha 1882, S. 325–345. 14 Vgl. J. Myška Přemyšlenský ze Žlunic, List pana Jana Přemyšlenského, kterýž jest napsal ke všem stavuom […] [Ein Brief Herrn Jan Přemyšlenskýs, den er an alle Stände schrieb …], Praha 1521 (K14490); die gedruckte Schrift ist als Unikat erhalten in: NK ČR Praha, Sign. 54 G 64086, Bbd. 3; vgl. P. Voit, Český knihtisk mezi pozdní gotikou a renesancí I. Severinsko-kosořská dynastie 1488–1557 [Der böhmische Buchdruck zwischen der Spätgotik und der Renaissance I. Die Severin-Kosoř’sche Dynastie 1488–1557], Praha 2013, S. 26, Nr. 3. Die Schrift wurde von Pavel Severin († 1553/54) gedruckt, der von 1520 bis 1523 fast ausschließlich die Werke (in der tschechischen Übersetzung) Martin Luthers (1483–1546) und die Traktate des südböhmischen Nonkonformisten Petr Chelčický (Peter von Cheltschitz, ca. 1390–1460) publizierte. Auf die Kleruskritik Přemyšlenskýs machte aufmerksam W. Eberhard, Konfessionsbildung (wie Anm. 5), S. 130. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 176 Jiří Just sittlichen Verhältnisse. Seiner Meinung nach praktizierten die utraquistischen Priester nun genau das, was sie früher an den römischen Geistlichen kritisiert hatten: Sie strebten nach weltlichen Gütern und nach dem Lob der Welt. Gute Priester fände man selten, sie würden verachtet und oft würden Gauner (lotrzi) zu den geistlichen Ämtern eingesegnet.15 Solche Pastoren seien, so der Autor, höchstens zum Hüten einer Herde geeignet.16 Bei den Geistlichen blühe überall Simonie, Sauferei und Unflätigkeit. Mit armen Leuten wolle keiner die Zeit verlieren.17 Manche Priester verfügten kaum über Bildung und sie könnten nur mit Schwierigkeiten lesen.18 Das Konsistorium solle besser darauf achten, wer zum geistlichen Amt zu bestellen sei. Manche Adlige, obwohl sie formal Katholiken oder Utraquisten waren, weigerten sich nicht, noch weiter zu gehen, denn sie unterstützten auf ihren Herrschaften die Gruppen der sog. radikalen Reformation. Hinlänglich bekannt ist die schnelle Verbreitung der Gemeinden der Brüderunität an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, wobei sich allerdings praktisch in keinem Ort konfessionelle Homogenität herausbildete.19 Die Brüder lebten als Minderheitengruppe innerhalb der utraquistischen Bevölkerung mancher unter adeliger Obrigkeit stehenden Städte Mittel- und Ostböhmens und Mährens, weil nur die Adligen die Brüderunität effektiv vor der Verfolgung schützen konnten.20 Noch in der ersten 15 J. Myška Přemyšlenský ze Žlunic, List pana Jana Přemyšlenského (wie Anm. 14), fol. A2r. 16 Vgl. ebd., fol. A3v. 17 Vgl. ebd., fol. A3v–B1r. 18 Vgl. ebd., fol. B1r–B2r. 19 Die Brüderunität erschien nach der Mitte des 15. Jahrhunderts auf der Bühne der Geschichte und stand von Anfang an außerhalb der Landesgesetze. Die Gemeinden der Brüder konnten nur in den adligen Herrschaften entstehen. Aus den königlichen Städten wurden sie schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ausgewiesen. Zur Geschichte der Brüderunität vgl. J. T. Müller, Geschichte der Böhmischen Brüder, Bd. 1: 1400–1528, Herrnhut 1922, Bd. 2: 1528–1576, Herrnhut 1931, Bd. 3: Die polnische Unität 1548–1793. Die böhmisch-mährische Unität 1575–1781, Herrnhut 1931. 20 Die Verfolgungen durch die königliche Macht betrafen die Unität seit dem Anfang ihrer Existenz fast periodisch, aber zu einem dauerhaften Erfolg dieser Maßnahmen konnte es nur auf den Gebieten kommen, wo die königlichen Behörden einen unmittelbaren Einfluss hatten, also z. B. gerade in den königlichen Städten. Vgl. J. Just, Die Schrift Weshalb die Menschen nicht durch Gewalt zum Glauben gezwungen werden sollen des Prokop aus Neuhaus. Ein Plädoyer der Böhmischen Brüder für die Glaubensfreiheit von 1474/1508, in: J. Bahlcke / K. Bobková-Valentová / J. Mikulec (Hgg.), Religious Violence, Confessional Conflicts and Models for Violence Prevention in Central Europe (15th–18th Centuries) / Religiöse Gewalt, konfessionelle Konflikte und Modelle von Gewaltprävention in Mitteleuropa (15.– 18. Jahrhundert), Praha/Stuttgart 2017, S. 325–334; M. Thomsen, „Wider die Picarder“. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation 177 Hälfte des 16. Jahrhunderts etablierten sich die Herren Kostka von Postupitz auf Leitomischl/Litomyšl und die Krajíř von Krajek auf Jungbunzlau/Mladá Boleslav als die wichtigsten Unterstützer der Brüderunität. Doch kann man diese Gönner der Unität kaum als einen ‚brüderischen Adel‘ im engeren Sinn des Wortes bezeichnen. Es ist gut belegt, dass diese Obrigkeiten in den eigenen Herrschaften die Mehrheitskonfession, also die utraquistische Kirchenverwaltung, nicht weniger unterstützten. Gerade die Herren Krajíř von Krajek sind ein gutes Beispiel dafür, dass die Interessen der adeligen Obrigkeit ein viel breiteres Spektrum hatten, als sich die Theologen einer bestimmten Konfession – in diesem Fall der Brüderunität, die sich gerne in der Rolle der geistlichen Verwalter der Krajíř von Krajek sah – vorstellen konnten.21 Konrad (ca. 1471–1542) und sein Sohn Ernst/Arnošt Krajíř von Krajek († 1555) beobachteten auch mit großer Sympathie die literarische Tätigkeit der führenden Köpfe der schweizerischen Reformation, beide lasen und verbreiteten die Werke Heinrich Bullingers (1504–1575). Die Residenz der Herren Krajíř von Krajek, die Stadt Jungbunzlau, wurde in dieser Zeit zum wichtigen Knotenpunkt der Kommunikation zwischen der Schweiz und den Anhängern Bullingers in Zittau.22 Die Quellen belegen ein Netz ähnlich interessierter PerDiskriminierung und Vertreibung der Böhmischen Brüder im 16. und 17. Jahrhundert, in: J. Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (Religions- und Kirchengeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4), Berlin/Münster 2008, S. 145–164. 21 In der Brüderunität selbst bildete sich ein interessantes Modell der Kompetenzbegrenzung zwischen der weltlichen und der geistlichen Macht heraus. Die Brüderpriester schlossen den Adel von jedem Eingriff in die religiösen Verhältnisse aus, die Obrigkeiten sollten nur für die weltlichen Dinge sorgen, weil die Angelegenheiten der Kirche nur von den Geistlichen zu verwalten seien. Vgl. J. Halama, Die Soziallehre der Böhmischen Brüder 1464‒1618. Zum unerledigten Dialog der böhmischen Reformation mit der lutherischen und calvinistischen. Aus dem Tschechischen übersetzt [durch] Karl-Eugen Langerfeld (UF Beiheft 27), Herrnhut 2017; Ders., The Crisis of the Union of Czech Brethren in the Years Prior to the Thirty Years War or On the Usefulness of Persecution, in: CV 44 (2002), S. 51–68; E. Peschke, Kirche und Welt in der Theologie der Böhmischen Brüder. Vom Mittelalter zur Reformation, Berlin 1981. 22 Zum ersten Mal machte auf diesen interessanten Aspekt aufmerksam E. A. Seeliger, Zittauer Freunde der Züricher Reformatoren und der Böhmischen Brüder, in: ZG 9 (1932), S. 37–44; im Zusammenhang mit dem Kontext der geistlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Zittau und Jungbunzlau zuletzt auch P. Hrachovec, Von feindlichen Ketzern zu Glaubensgenossen und wieder zurück. Das Bild der böhmischen Reformation in Zittauer Quellen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, in: M. Winzeler (Hg.), Jan Hus. Die Wege der Wahrheit. Das Erbe des böhmischen Reformators in der Oberlausitz und in Nordböhmen (ZG 52), Zittau/Görlitz 2015, S. 131–156. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 178 Jiří Just sonen aus dem Umkreis des mittelböhmischen Adels, die im engeren Kontakt zu den Herren Krajíř von Krajek standen. Der Fall von Konrad und Ernst Krajíř von Krajek zeigt gleichzeitig, wie eindimensional oftmals – vor allem im Milieu der konfessionellen Geschichtsschreibung – die konfessionelle ‚Einordnung‘ einer bestimmten Person ist.23 Nur selten erreichten bei einem Adligen die individuellen Interessen an den Ideen der Reformation eine solche Tiefe, dass dieser in seiner eigenen Herrschaft eine grundlegende Reform der kirchlichen Verhältnisse in Angriff nahm und selbst die Rolle eines ‚Reformators‘, des Führers einer religiösen Gruppe, übernahm, der Ambitionen zur Durchsetzung einer eigenen Konfession hatte. Eine solche Person war der mährischer Ritter Jan Dubčanský von Zdenín/ze Zdenína († 1543), der auf seiner Herrschaft Habrowan/Habrovany bei Wischau/Vyškov, die sich zwischen Brünn/Brno und Kremsier/Kroměříž erstreckte, versuchte, eine lokale zwinglianische Gemeinschaft zu bilden, wobei er selbst zum Leiter dieser Gruppe wurde.24 Obwohl die sog. Habrovaner nur kurze Zeit von äußeren Einflüssen ungestört existierten, zeigt dieses Beispiel, wie weitreichend die religiöse Toleranz in Mähren im 16. Jahrhundert war.25 23 Im Werk von A. Molnár, Boleslavští bratří [Die ( Jung-)Bunzlauer Brüder] (Spisy Komenského evangelické fakulty bohoslovecké [Schriften der evangelisch-theologischen Comenius-Fakultät] A 21), Praha 1952, werden die Herren Krajíř von Krajek als eine fast ideale brüderische Obrigkeit präsentiert, obwohl der Autor gleichzeitig die komplizierten Beziehungen einiger Personen dieses Geschlechts zur Brüderunität nicht verschweigt. Stark beeinflusst von dieser traditionellen Sicht ist immer noch die neue Monografie über die Herren Krajíř von Krajek von S. Nováková, Krajířové z Krajku. Z Korutan do zemí České koruny [Die Herren Krajíř von Krajek. Von Kärnten in die Länder der Böhmischen Krone] (Šlechta zemí České koruny [Der Adel der Länder der Böhmischen Krone] 7), České Budějovice 2010, wo nicht einmal die Kontakte der Jungbunzlauer Herren mit dem Züricher Reformator Heinrich Bullinger reflektiert sind. 24 Den Fall des mährischen Adligen Jan Dubčanskýs von Zdenín beschrieb M. Rothkegel, Mährische Sakramentierer des zweiten Viertels des 16. Jahrhunderts: Matěj Poustevník, Beneš Optát, Johann Zeising ( Jan Čížek), Jan Dubčanský ze Zdenína und die Habrovaner (Lulčer) Brüder (BBA 208; BD 24), Baden-Baden 2005, S. 123–226. 25 Vgl. J. Válka, Tolerance or Co-Existence? Relations between Religious Groups from the Fifteenth to Seventeenth Centuries, in: J. R. Palmitessa (Hg.), Between Lipany and White Mountain. Essays in Late Medieval and Early Modern Bohemian History in Modern Czech Scholarship (SCEH 58), Leiden/Boston 2014, S. 182–196; W. Eberhard, Toleranz und Religionsfreiheit im 15.–17. Jahrhundert in Mitteleuropa. Probleme und Prozesse, in: P. Hlaváček (Hg.), Bruncvík a víla. Přemýšlení o kulturní a politické identitě Evropy / Bruncwik und die Nymphe. Die Überlegungen zur kulturellen und politischen Identität Europas (Europaeana Pragensia 2), Praha 2010, S. 55–72; J. Mezník, Religious Toleration in Moravia in the 16th Century, in: Kosmas 3/4 (1984/85), S. 109–123; F. Seibt, Das Toleranzproblem im alten böhmischen Staat, in: Bohemia 16 (1975), S. 39–50. Das Ausmaß der religiösen Toleranz in Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation 179 Die adligen Kirchenordnungen als Instrument der Reform Es sind eben die inneren Beziehungen in den adligen Herrschaften, in denen sich die verschiedenen Vorstellungen über eine lokale kirchliche Reform manifestierten. Noch in der Mitte des 16. Jahrhunderts kam es zur Erschütterung der Position des Adels in seiner Rolle als Garant der utraquistischen Kirche. Aufgrund der Unterdrückung des (ersten) böhmischen Ständeaufstandes im Jahr 1547 versuchte König Ferdinand I. (1526–1564), eine Regelung der religiösen Verhältnisse in Böhmen durchzusetzen.26 Nur zeitweilig erfolgreich waren die Ausweisungen der lutherischen Geistlichen, von denen mehrere Orte betroffen waren, und die Erneuerung des Mandats gegen die Brüderunität. Die Leitung der Unität verschob einfach den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit nach Mähren, und an Stelle der ausgewiesenen lutherischen Pastoren wurden nach einer gewissen Zeit neue gleichgesinnte Personen berufen.27 Von einer wesentlichen Änderung war die utraquistische Kirche aber betroffen. Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts verlor der böhmische Adel schrittweise den Einfluss auf das sog. untere Konsistorium. Die Behörde wurde dem König unterstellt, was man zu den Teilerfolgen des Herrschers bei seinen Rekatholisierungsbemühungen zählen kann.28 Der Adel hatte keinen direkten Einfluss mehr auf die Verwaltung der religiösen Angelegenheiten auf der Landesebene und er hatte jetzt Mähren bestätigt die Existenz zahlreicher Täufergruppen, vor allem im Südosten des Landes, sowie ein Strom der Nonkonformisten, die im 16. Jahrhundert in Mähren Zuflucht suchten. 26 Vgl. M. Thomsen, Diskriminierung (wie Anm. 20), S. 149–156; J. Janáček, České dějiny, T. 2 (wie Anm. 8), S. 299–335; J. Pánek, Stavovská opozice a její zápas s Habsburky. K politické krizi feudální třídy v předbělohorském českém státě [Die Ständeopposition und ihr Kampf mit den Habsburgern. Zur politischen Krise der Feudalklasse im böhmischen Staat vor der Schlacht am Weißen Berg] (Studie ČSAV 2/1982), Praha 1982, S. 18–35. 27 Vgl. J. Just, Luteráni v našich zemích (wie Anm. 11), S. 69–77; A. Molnár, Boleslavští bratří (wie Anm. 23), S. 160–199; J. T. Müller, Geschichte, Bd. 2 (wie Anm. 19), S. 199–290. 28 Vgl. Z. V. David, A Brief Honeymoon in 1564–1566. The Utraquist Consistory and the Arch­ bishop of Prague, in: Bohemia 39 (1998), S. 265–284; J. Rak, Vývoj utrakvistické správní organizace v době předbělohorské [Die Entwicklung der utraquistischen Verwaltungsorganisation in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg], in: SAP 31 (1981), S. 179–206; J. Matoušek, Kurie a boj o konsistoř pod obojí za administratora Rezka. Příspěvek k dějinám katolické obnovy v Čechách [Die Kurie und der Kampf um das utraquistische Konsistorium in der Zeit des Administrators Rezek. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Erneuerung in Böhmen], in: ČČH 37 (1931), S. 16–41, 252–292; K. Krofta, Boj o konsistoř podobojí v letech 1562 až 1575 a jeho historický základ [Der Kampf um das utraquistische Konsistorium von 1562 bis 1575 und seine historische Basis], in: ebd. 17 (1911), S. 28–57, 178–199, 283–303, 383–420. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 180 Jiří Just nur noch beschränkte Möglichkeiten, die religiösen Verhältnisse allgemein zu beeinflussen. Diesen Verlust konnte der Adel jedoch in einem bestimmten Maß auf der regionalen Ebene ausgleichen, wobei sich seine Aktivitäten weiterhin auf den Bereich der regionalen und lokalen kirchlichen Verwaltung konzentrierten. Die adligen Obrigkeiten nutzen ihre Rolle als Träger der Patronatsrechte für die Regelung der religiösen Verhältnisse auf ihren Herrschaften breit aus. Dies erfolgte nicht nur durch die ungestörte Besetzung der Pfarreien nach eigener Wahl,29 sondern – unter anderem – auch durch die Herausgabe und Einführung der Kirchenordnungen, die das religiöse Leben auf dem Gebiet der Herrschaft regeln sollten. Die Ideen der verschiedenen Strömungen der europäischen Reformation, die für den Adel nach der Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend attraktiv wurden, setzten sich mit Hilfe dieser Instrumente (auch im Milieu des utraquistischen Adels) allmählich durch. Bisher haben sich mehr als 20 evangelische Kirchenordnungen aus beiden Ländern (Böhmen und Mähren) erhalten, die sowohl Gemeinsamkeiten als auch wesentliche Unterschiede aufweisen.30 Charakteristisch für manche der Texte, die bis in die 1570er Jahre entstanden, ist, dass sie keiner klaren oder eindeutigen konfessionellen Linie folgen. Wir sind eher Zeugen einer Tendenz zum Synkretismus verschiedener konfessioneller Einflüsse. Die Kirchenordnung, die im Jahr 1558 Adalbert/Vojtěch II . von Pernstein/z Pernštejna (1532–1561) für seine mährische Herrschaft Prostějov/Proßnitz herausgab, enthält 15 knappe Artikel, die von theologischen Kontroversen nur wenig beeinflusst sind.31 Aus anderen 29 Anstatt der meistens konfessionell unproblematischen Geistlichen, die vom utraquistischen – nun aber der königlichen Macht unterstellten – Konsistorium gestellt werden konnten, zielte die Wahl der adligen Herren oft auf die im Ausland an den protestantischen Institutionen ausgebildeten und dort ordinierten Geistlichen, die sich oft aus den Reihen der Untertanen ihrer eigenen Herrschaften rekrutierten. Zu den Orten, wo die Adepten des geistlichen Amtes ordiniert wurden, zählten vor allem Wittenberg, aber auch Leipzig, Brieg/Brzeg und Zerbst. Vgl. P. Dedic, Zur Frage der kirchlichen Organisation des Luthertums in Mähren im Reformationsjahrhundert, in: JGPÖ 60 (1939), S. 7–48; I. Hübel, Beziehungen Mährens zu den deutschen Universitäten im 16. Jahrhundert, in: ZDVGMS 29 (1927), S. 157–198, 30 (1928), S. 1–40; H. Becker, Böhmische Pastoren, in Anhalt ordiniert 1583–1609, in: JGPÖ 17 (1896), S. 72–95, 129–156, 18 (1897), S. 73–87. 30 Vgl. Evangelické církevní řády pro šlechtická panství v Čechách a na Moravě 1520–1620 [Protestantische Kirchenordnungen für adlige Herrschaften in Böhmen und Mähren zwischen 1520 und 1620], edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (DRGBI B/8), České Budějovice 2017; A. Eckert, Fünf evangelische (vor allem lutherische) Kirchenordnungen in Böhmen zwischen 1522 und 1609, in: Bohemia 18 (1977), S. 35–50. 31 Vgl. Evangelické církevní řády, edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (wie Anm. 30), S. 139– 144, Nr. 4. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation 181 Quellen geht deutlich hervor, dass es die Absicht Pernsteins war, einen konfessionellen Rahmen zu schaffen, der für alle Nichtkatholiken seiner Herrschaft akzeptabel war. Adalbert von Pernstein respektierte dabei die konfessionelle Vielfalt in seiner Herrschaft, in der die Utraquisten, orientiert an verschiedenen Strömungen der europäischen Reformation, die Mitglieder der Brüderunität sowie die Anhänger weiterer Gruppen der radikalen Reformation nebeneinander lebten.32 Eine ähnliche Tendenz tritt bei der Herausgabe der sog. Mährischen Konfession im Jahr 1566 zutage, die in der südostmährischen Stadt Ungarisch Brod/ Uherský Brod verfasst wurde.33 Die ursprüngliche Fassung der Konfession wurde in den folgenden Jahrzehnten mehrmals revidiert, erweitert und an anderen Orten wieder verwendet, aber die allgemeine Tendenz blieb dieselbe: Es sollte sich um einen einzigen verbindlichen Ausdruck des Glaubens aller mährischen Protestanten handeln. Erst seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts entstanden eine Reihe von Kirchenordnungen, die einer bestimmten konfessionellen Linie folgen. Deutlich lutherisch geprägt waren die Ordnungen für Friedland/Frýdlant (1584) und Rokitnitz im Adlergebirge/Rokytnice v Orlických horách (1601) in Böhmen oder Freudenthal/Bruntál (1584) in Schlesien.34 In Südostmähren erschienen an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert dagegen Kirchenordnungen, die mit der reformierten Lehre sympathisierten.35 In diesen Texten tritt bereits eine Tendenz zum Verzicht auf die Einhaltung des Kuttenberger Religionsfriedens zutage, die für das katholisch-utraquistische Milieu in Böhmen typisch war. Die Kirchenordnung von Rokitnitz im Adlergebirge droht denjenigen mit Sanktionen, welche die (lutherischen) Gottesdienste in der Pfarrkirche der Herrschaft nicht besuchen wollen (obwohl eine freie Wahl der – utraquistischen 32 Vgl. G. A. Skalský, Spor Bratří s Vojtěchem z Pernšteina r. 1557 [Der Streit der Böhmischen Brüder mit Adalbert von Pernstein im Jahr 1557], in: ČMKČ 83 (1909), S. 16–25; J. V. Novák, Spor Bratří s p. Vojtěchem z Pernšteina v Prostějově r. 1557 a 1558 [Der Streit der Böhmischen Brüder mit dem Herrn Adalbert von Pernstein in Proßnitz im Jahr 1557/58], in: ebd. 65 (1891), S. 43–56, 197–208. 33 Vgl. Evangelické církevní řády, edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (wie Anm. 30), S. 145– 151, Nr. 5. 34 Vgl. ebd., S. 341–343, Nr. 14, S. 344–355, Nr. 15, S. 361–364, Nr. 17. 35 Es geht um die Kirchenordnungen der Herrschaften Ungarisch Brod (1582–1584), Neu-Swietlau/Nový Světlov, Slawitschin/Slavičín, Straßnitz/Strážnice und Wessely an der March/Veselí nad Moravou (1584), und besonders Ungarisch Ostra(u)/Uherský Ostroh (1603), wo die Tendenz zum Calvinismus schon deutlich erkennbar ist. Vgl. ebd., S. 268–335, Nr. 12, S. 336–340, Nr. 13, S. 365–385, Nr. 18. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 182 Jiří Just oder katholischen – Kirche nach dem Kuttenberger Frieden zum Recht jedes Untertanen gehörte).36 Bei der Formulierung der Texte sowie beim ganzen Prozess dieser örtlichen ‚Reformationen‘ arbeiteten die Obrigkeiten mit den lokalen Geistlichen so eng zusammen, dass es praktisch unmöglich ist, zu einem klaren Urteil über die Autorschaft dieser Ordnungen zu gelangen. Für eine adlige Obrigkeit war die Kirchenordnung nicht nur ein Instrument, wie der lokale institutionelle Aufbau der Kirchenorganisation gesichert werden konnte, sondern auch Ausdruck ihrer Herrschaftsverantwortung. Die Obrigkeit, das Haupt der weltlichen Macht im Rahmen der Herrschaft, betrachtete die religiöse Frage unter einem anderen Horizont als ein Theologe oder Geistlicher. Wo der Geistliche eine Gemeinde Gottes vor Augen hatte, welche der wahren Lehre zum Erlangen des Heils folgen sollte, sah die Obrigkeit eine irdische Gemeinde, die man mit verschiedenen Instrumenten betreuen und ausrichten musste, damit eine gute Ordnung und Frieden herrschen konnten. Die Stelle, wo die Anschauungen und Erwartungen im Kommunikationsprozess beider Seiten eine Schnittmenge hatten, stellte die Hoffnung dar, dass sich die sozialen sowie religiösen Verhältnisse innerhalb der Herrschaft in eine ruhige und annehmbare Richtung entwickeln würden. Einige Kirchenordnungen hatten beinahe die Form eines Vertrages, wo sich beide Seiten gegeneinander verpflichteten: die Obrigkeit zur Unterstützung des Geistlichen, d. h. dass der Pfarrer eine solide Entlohnung bekomme und den Schutz der Obrigkeit genießen dürfe (dieser Schutz bezieht sich gewöhnlich auf die ganze Familie des Geistlichen, die Person des Geistlichen steht dabei nicht in einem Untertanenverhältnis zur Obrigkeit), und der Pfarrer, dass er die ganze Gemeinde mit dem kompletten geistlichen und seelsorgerlichen ‚Service‘ betreuen werde (d. h. mit Sakramentsspendung, Kasualien, Bildung der Kinder).37 Typisch ist, dass die Kirchenordnungen mit keiner oberen Instanz der geistlichen 36 Vgl. ebd., S. 361–364, Nr. 17. Bei Unterlassung einiger Zeremonien sind die Schuldigen zur Bezahlung einer Geldstrafe zu verurteilen. Bei Nichtbezahlung der Strafe drohte dem Schuldner Gefängnis bis zur vollen Begleichung der Summe. 37 Vgl. die Kirchenordnung für Groß Meseritsch/Velké Meziříčí (1576/1581), deren Text in enger Zusammenarbeit einer Gruppe der lokalen Obrigkeiten und der Geistlichen formuliert wurde. Hier im Text stehen explizit die Wörter: Formular und Beschreibung einer Christlichen berednüs und vergleichung wegen der Christlichen Religion unnd des heiligen Predigampts, gehalten und geschehen zu Meseritsch zwischen etlichen wolgebornen Graffen, Herrn und vom Ritterstandt in Mehrland, so der Augspurgischen confession verwant sein, und derselbigen predicanten. Ebd., S. 165–244, Nr. 8a–d, hier S. 209, Nr. 8d; vgl. auch ebd., S. 178, Nr. 8d. Danach folgen die Verpflichtungen der Geistlichen, der Lehrer und der Kollatoren; der Text ist in tschechischer, deutscher und lateinischer Fassung erhalten. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation 183 Jurisdiktion (die sich außerhalb der Herrschaftsgrenzen befand) rechneten. Das Konsistorium in Prag, das der königlichen Autorität unterlag, wurde völlig außer Acht gelassen. Die adligen Herrschaften blieben auf der Ebene der kirchlichen Verwaltung von den zentralen Landesinstitutionen weiter unabhängig. Nach der Schilderung dieses Hintergrunds verbleibt noch als ein wichtiges Merkmal zu betonen, dass in Böhmen und vor allem in Mähren bei mehreren Adligen die Tendenz zum sog. überkonfessionellen Christentum erkennbar war.38 Besonders in Mähren lebten oft auf dem Gebiet einer Herrschaft Anhänger verschiedener Konfessionen nebeneinander: Utraquisten (oder lutherisch/reformiert geprägte Utraquisten), Böhmische Brüder, Täufer. Die Protektion einer bestimmten Konfession zu Lasten einer anderen hätte zur Störung des Zusammenlebens aller dieser Gruppen führen können, was die Obrigkeit als eine gefährliche Bedrohung des lokalen Friedens betrachtete. Bevorzugt war nicht die konfessionelle Einheit, sondern eher eine Einheit in der Vielfältigkeit. Auf dieser Basis entfaltete sich in Mähren im gesamten 16. Jahrhundert ein starkes Bewusstsein für die konfessionelle Toleranz. Die Böhmische Konfession – der Höhepunkt der adligen Kirchenreform Einen Höhepunkt der adligen Aktivitäten im ganzen Reformationsprozess in Böhmen bilden die Bemühungen um die Durchsetzung der sog. Böhmischen Konfession (Confessio Bohemica) im Jahr 1575.39 Auf der einen Seite kann man 38 Vgl. T. Winkelbauer, Überkonfessionelles Christentum in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts in Mähren und seinen Nachbarländern, in: L. Jan / B. Chocholáč (Hgg.), Dějiny Moravy a Matice moravská. Problémy a perspektivy [Die Geschichte Mährens und Matice moravská. Probleme und Perspektiven] (Disputationes Moravicae 1), Brno 2000, S. 131–146; J. Válka, Die „Politiques“: Konfessionelle Orientierung und politische Landesinteressen in Böhmen und Mähren (bis 1630), in: J. Bahlcke / H.-J. Bömelburg / N. Kersken (Hgg.), Ständefreiheit (wie Anm. 8), S. 229–241. 39 Vgl. ihre neueste Edition in J. Just / M. Rothkegel, Confessio Bohemica 1575/1609, Reformierte Bekenntnisschriften, edd. A. Mühling / P. Opitz, Bd. 3/1: 1570–1599, Neukirchen-Vluyn 2012, S. 47–176, Nr. 67; eine Geschichte der Landtagsverhandlungen im Jahr 1575 skizzierte in einem breiteren Kontext J. Pánek, Stavovská opozice (wie Anm. 26); als Standardwerk zur Entstehungsgeschichte der Böhmischen Konfession gilt immer noch F. Hrejsa, Česká konfesse, její vznik, podstata a dějiny [Die Confessio Bohemica, ihre Entstehung, ihr Wesen und ihre Geschichte] (Rozpravy [Abhandlungen] ČAVU I/46), Praha 1912; die gekürzte deutsche Fassung Ders., Die Böhmische Konfession, ihre Entstehung, ihr Wesen und ihre Geschichte, in: JGPÖ 35 (1914), S. 81–123; 37 (1916), S. 33–54; 38 (1917), Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 184 Jiří Just dies für einen Versuch halten, die – für den Adel – ungünstige Lage in Bezug auf das utraquistische Konsistorium zu durchbrechen, andererseits für eine gezielte Initiative, in Böhmen einen neuen konfessionell-juristischen Rahmen zu schaffen, der allen Nichtkatholiken einen gesetzlichen Schutz hätte sichern können. Die Böhmische Konfession entstand vor dem Hintergrund des böhmischen Land­tages im Jahr 1575, als sich für die böhmischen Stände auf der politischen Bühne eine gute Konstellation zur Durchsetzung ihrer Forderungen ergab.40 Zur Abfassung des Bekenntnisses wurde im März 1575 eine ständische Kommission von 18 Personen einberufen, in der alle drei Stände (Herrenstand, Ritterstand und königliche Städte) gleichmäßig vertreten waren. Die Gruppe wurde zwar bald um zwei oder drei Professoren der Prager utraquistischen Universität ergänzt, aber die entscheidende Rolle bei der Entstehung des Textes, der am 18. Mai 1575 von einer Ständedeputation dem König vorgelegt wurde, und vor allem beim Versuch seiner Durchsetzung spielte der Adel. Den adligen Autoritäten ist auch zu verdanken, dass die Verhandlungen über die Konfession in einem realistischen Rahmen blieben, als die zu unterschiedlichen Vorstellungen der Theologen und engagierten Geistlichen in unproduktive Auseinandersetzungen zu führen drohten. König Maximilian II . (1564–1576) lehnte jedoch die Konfession Anfang September 1575 ab und erlaubte keine Veränderung der religiösen Verhältnisse im Land.41 Die Entscheidung des Königs war logisch, eine solche Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse hätte effektiv seine Bemühungen um die Durchsetzung der Kirchenreform im katholischen Sinne verhindern können und unabwendbar zur Schwächung der Katholiken führen müssen. Das Ziel der nichtkatholischen Adligen war nicht nur eine Restauration ihrer Macht über das utraquistische Konsistorium, denn die Wahl des Administrators und der Vorsitzenden des Konsistoriums hätte jetzt den Ständen zufallen sollen (das Konsistorium selbst sollte dann die gesamte Verwaltung des nichtkatholischen Klerus, die geistliche Gerichtsbarkeit und die Druckzensur übernehmen), S. 96–174. Es ist wohl nicht uninteressant, dass Ferdinand Hrejsa (1867–1953) mit dieser Arbeit über die Böhmische Konfession die Idee der Schaffung einer unierten evangelischen Kirche in Böhmen und Mähren stärken wollte. 40 Die Stände setzten in der ersten Phase der Landtagsverhandlungen gegenüber dem König durch, dass zuerst ihre Forderungen verhandeln werden mussten, und erst danach standen die königlichen Landtagspropositionen zur Diskussion. Vgl. J. Just / M. Rothkegel, Confessio Bohemica (wie Anm. 39), S. 49; J. Pánek, Stavovská opozice (wie Anm. 26), S. 104 ff. 41 Schon am 5.10.1575 ließ Maximilian II. ein neues Mandat gegen die Brüderunität veröffentlichen, wobei er auch den Druck der Böhmischen Konfession untersagte. Vgl. J. Just / M. Rothkegel, Confessio Bohemica (wie Anm. 39), S. 53; J. Pánek, Stavovská opozice (wie Anm. 26), S. 116. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation 185 sondern auch eine Neuordnung der nichtkatholischen Verwaltung auf allen Ebenen. Neben dem Text der Konfession entstand nämlich auch eine neue Kirchenordnung, welche die einzelnen Angelegenheiten der Verwaltung und des religiösen Lebens regeln sollte.42 Den Ständen sollte daneben auch die Aufsicht über die Prager Universität übergeben werden, damit den evangelischen Geistlichen eine Ausbildungsinstitution zur Verfügung stehen könnte.43 Die Kirchenordnung von 1575 war als Grundlage für eine Neuordnung der nichtkatholischen Kirchenverwaltung gedacht. Ihre oberste Instanz sollte das utraquistische Konsistorium mit einem Administrator an der Spitze sein. Das Konsistorium sollte die gesamte Priesterschaft beaufsichtigen und für die Bewahrung der wahren und reinen Lehre sorgen, damit für die Bevölkerung eine ordentliche Predigt des Wortes Gottes und Spendung der Sakramente gesichert würden. Dem Amt selbst unterlagen die Ordinierung sowie die Installation der Geistlichen (die auch gegen die Forderungen eines Patronatsherrn erfolgen durfte). Auf der regionalen Ebene sollte die Autorität des Konsistoriums die Kreisdekane und Kreiskonsistorien unterstützen, damit eine funktionierende Kommunikation mit lokalen Geistlichen gesichert würde. Bei jeder Pfarrgemeinde sollten zwei bis sechs Laienkuratoren dem Priester zur Seite stehen, die ihm bei der Durchsetzung der Disziplin helfen sollten. Dem Konsistorium unterlag auch die Jurisdiktion in Eherechtsangelegenheiten. Die Existenz des Konsistoriums sollten die Defensoren sichern, die von allen drei Ständen gewählt würden. Dem Adel wäre also ein beträchtlicher Einfluss auf die religiösen Verhältnisse in Böhmen eingeräumt worden. Obwohl die Realisierung der gesamten evangelischen Reform – infolge der Ablehnung der Böhmischen Konfession – vom Herrscher verhindert wurde, diente diese Kirchenordnung als ein Muster für manche ähnliche Texte, die nach 1575 entstanden. 42 Diesen Text edierte J. Just, Církevní řád konzistoře podobojí z roku 1575 v kontextu dobové konfesní situace předbělohorských Čech [Die Kirchenordnung des utraquistischen Konsistoriums vom Jahr 1575 im Kontext der konfessionellen Situation in Böhmen vor der Schlacht am Weißen Berg], in: FHB 31 (2016), S. 5–23; nach der handschriftlichen Überlieferung der Kirchenordnung in der Sammlung der Quellen zur Geschichte der Böhmischen Brüder in: KNM Praha, Sign. II D 8, AUF, Bd. 14, fol. 100r–104v. 43 Eine nichtkatholische theologische Ausbildung auf universitärem Niveau gab es in Böhmen oder Mähren in der Zeit vor 1609 nicht, die Bemühungen, eine theologische Fakultät an der Prager Universität zu eröffnen, wurden jedoch von den Ständen auch nach 1609 nicht realisiert. Vor 1620 mussten die Protestanten aus Böhmen und Mähren für eine akademische theologische Ausbildung ausländische Institutionen aufsuchen. Zur Geschichte der Prager Universität unter der direkten ständischen Verwaltung nach 1609 vgl. J. Rak, Karlova univerzita v pravomoci defenzorů (1609–1622) [Die Karlsuniversität in der Machtbefugnis der Defensoren (1609–1622)], in: AUC – HUCP 17 (1977), S. 33–46. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 186 Jiří Just Zur Legalisierung der Böhmischen Konfession kam es in Böhmen unter ganz anderen Bedingungen erst 1609 während der Regierung Rudolfs II . (1576– 1611/12). Der böhmische König wurde infolge des beharrlichen Druckes der nichtkatholischen Stände zur Herausgabe des sog. Majestätsbriefes zur Gewährung der religiösen Freiheit gezwungen. Diese wurde formal mit der Anerkennung der Confessio Bohemica verbunden und die kirchlichen Verhältnisse sollten nach der Kirchenordnung von 1575 geregelt werden.44 Der Erfolg der Stände war aber nur von kurzer Dauer. Nach der Niederlage der Stände am Weißen Berg 1620 wurde die Gültigkeit des Majestätsbriefes von 1609 aufgrund der flächendeckend eingeführten Rekatholisierungsmaßnahmen in Böhmen aufgehoben und die Protestanten sollten sich für die Konversion entscheiden oder (falls es um die freien Schichten der Bevölkerung ging) das Land verlassen. Damit ging auch die ganze nichtkatholische Verwaltung in Böhmen und Mähren unter. Schlussbetrachtung Das Engagement des böhmischen und mährischen Adels im Reformationsprozess während des 16. Jahrhunderts regt zu der Frage an, inwieweit man für Böhmen und Mähren im 16. Jahrhundert von einer ‚Adelsreformation‘ sprechen kann.45 Solche Überlegungen sind sicher berechtigt. Es besteht kein Zweifel, dass der Adel in beiden Ländern einen erheblichen Einfluss auf den Reformationsprozess hatte, sowohl bei der Verbreitung der reformatorischen Ideen als auch bei der Etablierung der Institutionen der kirchlichen Verwaltung. Es war auch der Adel, der die Rekatholisierungsaktivitäten des Herrschers in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts relativ effektiv verhindern konnte und wenigstens in seinen eigenen Herrschaften Raum für eine relativ freie Existenz der reformatorischen Konfessionen schuf. In diesem Sinn kann man, auf einer regionalen und lokalen 44 Vgl. J. Just, Die Neuordnung der nichtkatholischen Kirchenverwaltung in Böhmen nach dem Majestätsbrief: Ziele und Probleme, in: J. Hausenblasová / J. Mikulec / M. Thomsen (Hgg.), Religion und Politik im frühneuzeitlichen Böhmen. Der Majestätsbrief Kaiser Rudolfs II. von 1609 (FGKÖM 46), Stuttgart 2014, S. 143–154. 45 Inspiration zu dieser Überlegung bietet E. Schubert, Fürstenreformation. Die Realität hinter einem Vereinbarungsbegriff, in: E. Bünz / S. Rhein / G. Wartenberg (Hgg.), Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation (SLSA 5), Leipzig 2005, S. 23–47, hier S. 24: „Warum aber fehlt der Begriff der Adelsreformation? Schließlich hatte der Adel über die Besetzung von Patronatspfarreien einen ganz erheblichen Einfluss auf die Konfessionsbildung in ländlichen Gebieten.“ Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation 187 Ebene, sogar von einer ‚Adelskonfessionalisierung‘ sprechen.46 Die Landschaft Böhmens und vor allem Mährens stellte im 16. Jahrhundert ein buntes Mosaik dar, ein Gebiet, wo staatsrechtlich nur zwei religiöse Gemeinschaften (Katholiken und Utraquisten) erlaubt waren, wo aber nicht nur die Einflüsse, sondern sogar verschiedene Existenzformen der nichtkatholischen Konfessionen ziemlich deutlich zum Vorschein kamen. Obwohl dieses Phänomen nur einen lokalen oder regionalen Charakter hatte und – zumindest in Böhmen – nicht das gesamte Territorium erfasste, sind beide Länder interessante Beispiele für die Geschichte der Konfessionalisierung im frühneuzeitlichen Europa. 46 Vgl. J. Hrdlička, Konfesijní politika šlechtických vrchností a šlechtická konfesionalizace v Čechách a na Moravě v 16. a 17. století [Die Konfessionspolitik der adligen Obrigkeiten und die Adelskonfessionalisierung in Böhmen und in Mähren im 16. und 17. Jahrhundert], in: ČČH 108 (2010), S. 406–442. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Martina Schattkowsky Adel und Reformation Adliges Engagement zur Konfessionsbildung im ländlichen Raum Reformation und Konfessionalisierung gehören zu den fundamentalen Heraus­ forderungen, denen sich im 16. und frühen 17. Jahrhundert auch der sächsische Adel zu stellen hatte.1 Diese Ereignisse griffen tief in adlige Lebens- und Verhaltensweisen ein. Sie brachten nicht nur Einschnitte bei der Ausübung der Patronatsrechte in den lokalen Kirchen, sondern zeigten sich auch im Wegfall von Versorgungsmöglichkeiten für jüngere Söhne durch geistliche Pfründen und sie tangierten die Unterbringung unverheirateter Töchter in Klöstern. Darüber hinaus betreffen sie Fragen der persönlichen Frömmigkeit sowie der Norm- und Wertvorstellungen des Adels – stellten doch die neuen Forderungen nach religiöser Konformität und nach einem sittlichen Verhalten im Sinne der Kirche das althergebrachte Ethos des Adels durchaus in Frage.2 Eng damit verbunden war ein neues Verständnis von Herrschaft. Das Bild des Hausvaters, der sich um die eigene Haushaltsführung ebenso fürsorglich kümmerte wie um das Seelenheil seiner Untergebenen, prägte nicht allein den Typus des evangelischen Landesvaters, sondern auch das normative Bild des patriarchalischen Grundherrn. In Sachsen stehen dafür idealtypisch Beispiele wie Heinrich Hildebrand von Einsiedel (1497–1557), der zwischen 1539 und 1549 seine religiös motivierten Bedenken gegenüber bäuerlichen Fronforderungen mit Martin Luther (1483–1546) und Philipp Melanchthon (1497–1560) erörterte,3 oder ein patriarchalischer und 1 2 3 Vgl. dazu bereits M. Schattkowsky, Adel und Reformation. Grundherrschaftliches Engagement zur Konfessionsbildung im ländlichen Raum, in: W. Müller (Hg.), Perspektiven der Reformationsforschung in Sachsen. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Karlheinz Blaschke (Bausteine ISGV 12), Dresden 2008 [2009], S. 125–133; generell zum Thema „Adel und Reformation“ vgl. jüngst Dies. (Hg.), Adel – Macht – Reformation. Konzepte, Praxis und Vergleich (SSGV 60), Leipzig 2020. Vgl. R. G. Asch, Zwischen defensiver Legitimation und kultureller Hegemonie: Strategien adliger Selbstbehauptung in der frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 2, http://www. zeitenblicke.de/2005/2/Asch, URN: urn:nbn:de0009-9-1219 (letzter Zugriff am 22.3.2020). Vgl. J. L. Hauschild, Juristische Abhandlungen von Bauern und deren Frohndiensten, auch der in Rechten gegründeten Vermuthung ihrer natürlichen Freyheit, Dresden/Leipzig 1771, S. 16 ff.; sowie I. Höss, Georg Spalatin. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation, Weimar 21989, S. 428 f.; H. Reich, Frühbürgerliche Revolution in unserem Territorium. Luther/Einsiedel. Gedanken über die Frondienste, Geithain 1983. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 190 Martina Schattkowsky konsensorientierter Grundherr wie Christoph von Loß auf Schleinitz (1574– 1620), auf die noch zurückzukommen sein wird. (Abb. 1) Jenseits solcher Einzelbeispiele sind übergreifende Arbeiten jedoch rar. Mit Blick auf die Alltagspraxis und die Haltung des Adels zu Reformation und Konfessionalisierung in der Zeit zwischen Augsburger Religionsfrieden und Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges stößt man – und zwar nicht nur für Kursachsen – auf erhebliche Forschungsdefizite.4 Ein fundiertes und differenziertes Urteil über die reformatorischen Aktivitäten des Adels in den einzelnen Territorien ist bis heute jedenfalls kaum möglich.5 Volker Press (1939–1993) verwies vor nunmehr fast 40 Jahren auf die zu­nächst eher abwartende Haltung des reichsritterlichen wie des landsässigen Adels gegenüber einer konfessionellen Festlegung.6 Konkret unterschied Press für das 16. Jahrhundert drei Phasen: – spontane Einzelaktionen des Adels bis etwa 1530 – anschließend die Orientierung im territorialen und reichspolitischen Rahmen und schließlich erst – ab 1555 die adlige Konfessionsbildung unter den Bedingungen des Religions­ friedens.7 Das Bild des passiven, zögerlichen Adels, der insbesondere in der Kirchengüterfrage in Konkurrenz zur landesherrlichen Kirchenpolitik geriet, ist vielfach bis heute prägend und wird zumeist polarisierend dem Fürstenengagement gegenübergestellt. Dies zeigt sich vor allem im Fall von Kursachsen, wo man der landesherrlichen Initiative ein erhebliches Gewicht für die kirchlichen Veränderungen im Reformationsjahrhundert zubilligt. Nicht umsonst gilt Kursachsen geradezu als Paradebeispiel für die klassische territoriale Fürstenreformation.8 4 5 6 7 8 Vgl. neuerdings C. Volkmar, Die Reformation der Junker. Landadel und lutherische Konfessionsbildung im Mittelelberaum (QFRG 92), Gütersloh 2019. So auch F. Göse, Adlige Führungsgruppen in nordostdeutschen Territorialstaaten des 16. Jahrhunderts, in: P.-M. Hahn / H. Lorenz (Hgg.), Formen der Visualisierung von Herrschaft: Studien zu Adel, Fürst und Schloßbau vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (QSGKBPAR 6), Potsdam 1998, S. 139–210, hier S. 178; zu einer vergleichenden Sicht auf das Thema „Adel und Reformation“ vgl. M. Schattkowsky (Hg.), Adel – Macht – Reformation (wie Anm. 1). Vgl. V. Press, Adel, Reich und Reformation, in: W. J. Mommsen (Hg.) / P. Alter / R. W. Scribner (Mitarb.), Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland (VDHIL 5), Stuttgart 1979, S. 330–383, hier S. 342. Vgl. ebd., S. 341. Vgl. etwa M. Rudersdorf, Die Generation der lutherischen Landesväter im Reich. Bausteine Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Adel und Reformation 191 Abb. 1: Epitaph für Heinrich Hildebrand von Einsiedel (1497–1557), um 1640, Dorfkirche Gnandstein [Staatliche Schlösser, Burgen und Gärten Sachsen gemeinnützige GmbH, Burg Gnandstein]. Tatsächlich war das Reformationsgeschehen ganz wesentlich vom Einsatz des fürstlichen Landesherrn abhängig, so wie der Territorialstaat im Gegenzug durch Säkularisation und Sequestration an Raum und Macht gewann.9 Außerdem drang der frühmoderne Staat zunehmend in Verantwortungsbereiche wie Bildung, Sozialfürsorge oder Sittenaufsicht vor, die bisher vorrangig der Kirche unterstanden. Gleichwohl rückten gerade im Umfeld des Reformationsjubiläums 9 zu einer Typologie der deutschen Reformationsfürsten, in: A. Schindling / W. Ziegler (Hgg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 2: Der Nordosten (KLK 50), Münster 1990, S. 137–170, hier S. 139; zu den Grenzen des Begriffs ‚Fürstenreformation‘ vgl. E. Schubert, Fürstenreformation. Die Realität hinter einem Vereinbarungsbegriff, in: E. Bünz / S. Rhein / G. Wartenberg (Hgg.), Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation (SLSA 5), Leipzig 2005, S. 23–47. Vgl. dazu: K. Blaschke, Wechselwirkung zwischen der Reformation und dem Aufbau des Territorialstaates, in: Der Staat 9 (1970), S. 347–364; hier zitiert nach ND in: U. Schirmer / A. Thieme (Hgg.), Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Sachsen. Ausgewählte Aufsätze von Karlheinz Blaschke aus Anlaß seines 75. Geburtstages (SSGV 5), Leipzig 2002, S. 435–452. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 192 Martina Schattkowsky von 2017 jenseits der Fürsten – und neuerdings auch der Fürstinnen10 – verstärkt die Handlungsmotive und Interessenlagen weiterer Akteure in den Fokus. Kritische Stimmen fördern die Einsicht, dass sich die Reformation eben nicht einfach so von oben, von den Fürsten, verordnen ließ. Vielmehr vollzog sie sich unter tätiger Mitwirkung von Bürgern, Bauern, Klerikern sowie eben von Niederadligen. Erst ganz allmählich gelangen damit auch ländliche Akteure ins Rampenlicht der Forschung und erinnern daran, dass es sich bei der Reformation eben keineswegs nur um ein städtisches Ereignis handelte, sondern eine Gesellschaft erfasste, die überwiegend in den Ackerbürgerstädten und Dörfern lebte. Die Rezeption, Durchsetzung (oder Verhinderung) der Reformation im ländlichen Raum spielte in der Forschung bislang allerdings kaum eine Rolle.11 Spätestens an dieser Stelle muss auch der Adel ins Spiel gebracht werden.12 Noch immer steht die Anregung von Ernst Schubert (1941–2006) weithin unreflektiert im Raum, ob nicht angesichts des prägenden Einflusses des Adels auf die Konfessionsbildung in ländlichen Gebieten neben einer Fürsten-, Stadt- oder Gemeindereformation auch die Adelsreformation in Betracht gezogen werden muss.13 Sofern es überhaupt solcher Klassifikationen bedarf, verdient auch der Adel ein solches Label: War es doch nicht zuletzt der adlige Grundherr, der auf lokaler Ebene Sozialdisziplinierung und Frömmigkeitsformen propagierte und implementierte bzw. implementieren konnte – so zumindest in Territorien wie Kursachsen, wo der landsässige Adel, bedingt durch Ständemacht und patrimoniale Ortsobrigkeit mit weitreichenden Herrschaftsrechten, auch in Glaubensfragen Einfluss ausüben konnte.14 Dabei steht fest, dass adlige Grundherren das Anliegen der Reformation zugleich machtpolitisch für eigene Interessen genutzt haben. 10 Vgl. dazu: M. Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement (SSGV 55), Leipzig 2016; KES, Bd. 1: Die Jahre 1505 bis 1532, ed. A. Thieme (QMSGV III/1), Leipzig 2010; ebd., Bd. 2: Die Jahre 1533 und 1534, ed. J. Klingner (QMSGV III/2), Leipzig 2016. 11 Vgl. E. Bünz, Adel in Sachsen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Stand, Aufgaben und Perspektiven der Forschung, in: B. Richter (Red.), Die Familie von Einsiedel. Stand, Aufgaben und Perspektiven der Adelsforschung in Sachsen, Leipzig 2007, S. 7–41. 12 Vgl. etwa K. Andermann, Ritterschaft und Konfession. Beobachtungen zu einem alten Thema, in: Ders. / S. Lorenz (Hgg.), Zwischen Stagnation und Innovation. Landsässiger Adel und Reichsritterschaft im 17. und 18. Jahrhundert (SSWDL 56), Ostfildern 2005, S. 93–104. 13 Vgl. E. Schubert, Fürstenreformation (wie Anm. 8), S. 24. 14 Im Gegensatz dazu blieben religiöse Einflussmöglichkeiten des Adels mangels Privilegien – wie höhere Gerichtsbarkeit und Patronatsrecht – in anderen Territorien eher begrenzt. Vgl. z. B. H. Wunder / A. Jendorff / C. Schmidt (Hgg.), Reformation – Konfession – Konversion. Adel und Religion zwischen Rheingau und Siegerland (VHKN 88), Wiesbaden 2017. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Adel und Reformation 193 Will man dem Hinweis von Ernst Schubert speziell für Kursachsen nachgehen und das konfessionelle Verhalten des Adels, genauer gesagt: des albertinisch-sächsischen Adels, näher bestimmen, stößt man schnell an Grenzen. Noch weitgehend unbearbeitet ist die Religionspolitik des Landadels im eigenen Herrschaftsbereich.15 Welchen Einfluss nahm er auf die religiöse Erziehung seiner Untertanen? Wie erfüllte er die Aufgaben als Patronatsherr, bei der Beaufsichtigung seines Kirchenbezirks oder bei der Kontrolle der Pfarrer und deren Amtsausübung? Solche Themen harren ebenso einer genaueren Untersuchung wie die Verinnerlichung religiöser Werte und Normen sowie die Aneignung veränderter Handlungsmaßstäbe. Erst zögerlich wendet sich die sächsische Adelsforschung der Quellenvielfalt von Gutsarchiven zu, die neben Gerichts- und Verwaltungsakten auch Briefe, Testamente, Leichenpredigten oder Geschlechtsordnungen enthalten, die eine Annäherung an individuelle Denk- und Verhaltensweisen ermöglichen. In diesen Zusammenhang gehören auch kunstgeschichtliche Studien zu ländlichen Kirchenbauten sowie zu Grabmälern und Epitaphien, aber auch zu Kanzeln, Taufsteinen, Patronatslogen oder zu liturgischem Gerät, die vielfach im Auftrag adliger Familien entstanden sind. Beispielhaft sind hier die Studien von Marius Winzeler zur sächsischen Familie von Einsiedel auf Gnandstein, die Einblicke in das adlige Stiftungs- und Donationswesen ermöglichen und die zugleich Wandlungsprozesse in der Adelsfrömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit herausarbeiten.16 Unübersehbar ist demnach auf vielen Adelssitzen ein genereller Trend von der Privatfrömmigkeit hin zum Bekenntnis im öffentlichen Kirchenraum. Auch im Gnandsteiner Beispiel verlor die private Glaubensmanifestation im Bereich privater Räume nach der Reformation an Bedeutung, während die herrschaftliche Präsenz in der 1518 vollendeten Dorfkirche umso wichtiger wurde. (Abb. 2) Es war der Ort, an dem die Familie von Einsiedel nicht nur ihr eigenes Glaubensbekenntnis öffentlich bildhaft in Szene setzte,17 sondern wo sie Herrschaftsverhältnisse auch optisch sichtbar machte – abzulesen in der Architektur mit ihren Vorlieben für Emporen ebenso wie anhand der Sitzordnung in der Kirche. 15 Vgl. dazu M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut, Residenz und Reich. Die Lebenswelt des sächsischen Landadligen Christoph von Loß (1574–1620) (SSGV 20), Leipzig 2007, S. 138–150. 16 Vgl. M. Winzeler, Burgkapelle, Patronatskirche, Familiengrablege. Tradition und Wandel der Adelsfrömmigkeit und ihres künstlerischen Ausdrucks im 16. und 17. Jahrhundert. Das Beispiel der Familie von Einsiedel, in: K. Keller / J. Matzerath (Hgg.) / C. Klecker / K.-D. Wintermann (Mitarb.), Geschichte des sächsischen Adels, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 207–224; M. Winzeler / J. Stekovics, Burg und Kirche. Christliche Kunst in Gnandstein, Halle/Saale 1994. 17 Vgl. M. Winzeler, Burgkapelle (wie Anm. 16), S. 218. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 194 Martina Schattkowsky Kombiniert man Zeugnisse der Bau- und Kunstgeschichte mit Schriftquellen verschiedenster Art, zeichnet sich ab, wie sehr sich die Einstellung des albertinisch-sächsischen Adels zur evangelischen Konfession im Lauf eines Menschenalters verändert hat.18 Noch für die 1540er Jahre geht die Forschung von einer eher distanzierten Haltung einer Mehrzahl adliger Familien zu der 1539 eingeführten Reformation aus. Ganz anders beurteilt man die Situation in den 1570er Jahren: Der Adel bekannte sich jetzt mehrheitlich zur neuen Lehre und unterstützte die lutherische Landespolitik eines Territorialstaates, der unter den Kurfürsten Moritz (1541/47–1553) und August (1553–1586) auch auf der Grundlage der Säkularisation von Kirchengut innerlich gefestigt war. Trotz dieses insgesamt sicherlich zutreffenden Trends wird sich jedoch das ganze Ausmaß der konfessionellen Mobilität des sächsischen Adels erst zuverlässig quantifizieren lassen, wenn wir über einen breiteren Fundus an biografischen Studien und Darstellungen über einzelne Orte, Familien und Landschaften verfügen. Erst dann wird man wissen, was dran ist an der passiven Haltung des Adels in der Frühphase der Reformation, ob speziell in Sachsen tatsächlich nur von spontanen proreformatorischen Einzelaktionen die Rede sein kann, ob sich also – wie behauptet – mecklenburgische oder brandenburgische Adlige im Vergleich dazu früher und stärker für Luthers Kirchenreform engagiert haben.19 Schon bei flüchtigem Hinsehen lassen sich jedoch auch im albertinischen Landesteil Geschlechter oder einzelne Adlige ausmachen, die sich früh dem Luthertum zuwandten. Von der Familie von Einsiedel war bereits die Rede.20 Sie wurde vom altgläubigen sächsischen Herzog Georg (1500–1539) vor die Wahl gestellt: Entweder sollte sie beim Meißner Bischof um Absolution bitten oder ihre Güter auf albertinischem Gebiet verkaufen.21 Immerhin gelang es, die ganze Sache bis zum Tod Georgs hinauszuzögern. Erinnert sei in diesem Zusammenhang 18 Zur Problematik ‚sächsischer Adel und Reformation‘ vgl. unter anderem G. Wartenberg, Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546 (AKG 10), Weimar 1988, S. 139 f.; S. Hoyer, Die sächsischen Stände unter Christian I., in: DH 29 (1992), H. 1: Um die Vormacht im Reich. Christian I., Sächsischer Kurfürst 1586–1591, S. 14–21, hier S. 14; sowie zuletzt die Beiträge in: M. Schattkowsky (Hg.), Adel – Macht – Reformation (wie Anm. 1). 19 So etwa bei: F. Göse, Adlige Führungsgruppen (wie Anm. 5), S. 178 ff. 20 Vgl. H. Reich, Die Familie von Einsiedel auf Gnandstein im Reformationszeitalter, Markkleeberg 2017. 21 So bei S. Hoyer, Staat und Stände und Konfessionen in Kursachsen Ende des 16. Jahrhunderts. Das Experiment Christians I., in: H. Timmermann (Hg.), Die Bildung des frühmodernen Staates. Stände und Konfessionen (Forum: Politik 6), Saarbrücken/Scheidt 1989, S. 175–192, hier S. 177; sowie M. Winzeler, Burgkapelle (wie Anm. 16), S. 214 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Adel und Reformation 195 Abb. 2: Die 1518 neu erbaute Pfarrkirche in Gnandstein, Luftbild 2017 [Institut für Sächsi­ sche Geschichte und Volkskunde, Foto: Michael Schmidt]. auch an den lutherischen Hofprediger Johannes Albinus (eigentlich Weiß) (ca. 1498–1561), der in den 1540er Jahren, als er beim Landesherrn in Ungnade gefallen war, Rückhalt gerade bei Adligen fand, nämlich bei den Familien von Schleinitz und Schönberg.22 Ähnlich frühe reformatorische Aktivitäten lassen sich auch bei der Familie von Lindenau finden.23 Mag sein, dass es sich hierbei um Einzelbeispiele einer frühen Adelsreformation handelt, doch immerhin deuten sie an, wie förderlich es ist, sich mit diesen Fragen systematischer zu befassen und Archivbestände in großem Stil auszuwerten. Um dies zu veranschaulichen, sollen die reichen Quellenbestände einer adligen Grundherrschaft herangezogen werden. Gemeint ist das Rittergut Schleinitz in der Gegend zwischen Meißen und Döbeln – ein Adelsgut mit hohem repräsentativen 22 So der Hinweis bei F. Göse, Adlige Führungsgruppen (wie Anm. 5), S. 180, Anm. 133. 23 Vgl. A. Kohnle, Die Herren von Lindenau und die frühe Reformation, in: M. Schatt­ kowsky (Hg.), Adlige Lebenswelten in Sachsen. Kommentierte Bild- und Schriftquellen, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 320–326. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 196 Martina Schattkowsky und ökonomischen Potenzial.24 Schleinitz war eines der bedeutendsten Rittergüter im Meißner Kreis und noch 1823 wurde es als eines der stärksten und nutzbarsten hiesiger Gegend bezeichnet.25 Die fruchtbaren Lößböden und gute Absatzmöglichkeiten für Agrarprodukte brachten in dieser Gegend nicht nur ertragreiche Rittergüter, sondern auch leistungsfähige Bauernwirtschaften hervor. Zu den ökonomischen Vorzügen kam die beachtliche adlige Repräsentativität des Schleinitzer Schlosses. Das monumentale Wasserschloss symbolisierte Rang und Herrschaft nach außen hin auf eindrucksvolle Weise. Aus dieser Gegend und vor allem in dem zu Schleinitz gehörenden Kirchspiel Leuben lassen sich bei intensiver Quellensuche zahlreiche reformatorische Zeugnisse ausmachen.26 Schon vor 1539, also noch vor der offiziellen Einführung der Reformation im albertinischen Sachsen, zeichnete sich hier ein Netzwerk lutherischer Adelsfamilien ab. Neben dem Geschlecht von Schleinitz selbst war es beispielsweise die Familie von Rechenberg, die frühzeitig Sympathien für den lutherischen Glauben entwickelte. So zählte der 1555 verstorbene Rudolf von Rechenberg (1495–1555), einer der Leubener Patronatsherren, zu jenem Personenkreis, der von Herzog Heinrich (1539–1541) im Juli und August 1539 mit der ersten Visitation im albertinischen Herzogtum betraut wurde. Noch heute findet man sein Grabmal in der Kirche von Leuben. Zu Rechenbergs verwandtschaftlichem Netzwerk gehörte auch die Familie von Schleinitz. Mosaiksteinartig wird ihre Annäherung an die lutherische Lehre greifbar. Fündig wird man bereits bei Hugold IV., der zwischen 1519 und 1545 Herr auf Schleinitz war. Dieser Hugold hinterließ z. B. ein Erbregister aus dem Jahr 1519, dessen Ledereinband die Bildnisse bedeutender Männer der Reformationszeit zeigt.27 Überliefert ist auch, dass Hugolds älteste Tochter Caspar von Schönberg (1504–1562) geheiratet hatte, der als treuer Anhänger des Luthertums galt und der ebenso wie Rudolf von Rechenberg als Visitator des meißnischen Gebiets tätig war. Nicht unerwähnt bleiben soll außerdem der Hinweis von Cornelius Gurlitt (1850–1938), wonach sich im Schleinitzer Schloss ein Gobelin aus 24 Vgl. M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut (wie Anm. 15), S. 69–96. 25 A. Schumann, Vollständiges Staats-, Post- und Zeitungs-Lexikon von Sachsen, Bd. 10, Zwickau 1823, S. 335. 26 Vgl. zum Folgenden G. W. Segnitz, Einige geschichtliche Nachrichten über die Kirche und Kirchfahrt zu Leuben, Meißen 1839, S. 7 ff. 27 Dazu zählen unter anderem Kaiser Karl V. (1519–1558), Kurfürst Friedrich der Weise (1486– 1525), Herzog Georg, Martin Luther, Philipp Melanchthon und Jan Hus (ca. 1370–1415). Gustav Wilhelm Segnitz (1807–1876) schloss auch aus der Anordnung dieses höchst unterschiedlichen Personenkreises auf dem Einband des nicht mehr vorhandenen Erbbuches auf den hohen Stellenwert des reformatorischen Gedankenguts. Vgl. ebd., S. 12. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Adel und Reformation 197 der Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Bildnis Martin Luthers befand.28 Auch entdeckte Georg Buchwald (1859–1947) 1916 in der Schleinitzer Schlossbibliothek ein Blatt aus einem eigenhändig von Luther verfassten Manuskript der Schrift „Die Epistel des Propheten Jesaia“ von 1526.29 Soweit eine erste Spurensuche aus der Reformationszeit. Herausforderungen ganz anderer Art erwarteten die nachfolgenden Generationen Schleinitzer Rittergutsbesitzer in den konfessionspolitisch aufgeladenen Zeiten der sog. Zweiten Reformation und dann nach 1591, als sich die lutherisch-orthodoxe Glaubensrichtung endgültig gegen das reformierte Gedankengut durchsetzen sollte. Christoph von Loß (1574–1620), Hofmarschall, Geheimer Rat, Reichspfennigmeister und seit 1608 durch Heirat Erb- und Gerichtsherr auf Schleinitz, steht geradezu exemplarisch für einen adligen Grundherrn des konfessionellen Zeitalters. Herausragend sind seine explizite Hinwendung zum orthodoxen Luthertum und sein Engagement sowohl für die Rittergutsökonomie als auch für die religiöse Disziplinierung seiner Untertanen.30 Das Christ-Sein hat den Alltag des in die 1570er Jahre hineingeborenen Christoph von Loß stark beeinflusst. Wie die Quellen berichten, galt er als sonderbarer liebhaber der Musica, deren Er wohl kündig, und hat sogar christliche Gesenge sel­ ber gemacht.31 Außerdem hat er die Bibel 23. mal außgelesen, die denkwürdigsten Sprüche aus allen Kapiteln exzerpiert und sogar Bibelauslegungen ins Deutsche übertragen.32 Doch nicht nur das eigene konfessionelle Bekenntnis lag Christoph von Loß am Herzen. Geprägt von seinem Selbstverständnis als patriarchalischer lutherischer Grundherr nahm für ihn auch die christliche Fürsorgepflicht für die Familie wie für die Untertanen einen hohen Stellenwert ein. Tatsächlich belegen die Quellen den Anspruch, eigenes Wirken mit dem Maßstab einer ‚christlichen Obrigkeit‘ zu messen.33 Dies entsprach durchaus dem Zeitgeist. Nicht umsonst 28 Vgl. C. Gurlitt, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler in Sachsen, H. 41: Amtshauptmannschaft Meißen-Land, Dresden 1923, ND: Neustadt/Aisch 2003, S. 468. 29 Vgl. PfA Leuben, Die Schleinitzer Bibliothek betr., 1916. 30 Vgl. HStA Dresden, Gh. Schleinitz, Nr. 1748. 31 A. Strauch, Christliche Leichpredigt / bey dem Begräbnüß / Des […] Christoffen von Loß […], Dresden 1620 (VD17 14:051820K), unpag. 32 Tatsächlich ist ein ca. 700-seitiges Manuskript des Christoph von Loß aus dem Jahr 1616 erhalten geblieben, das die für ihn wichtigsten Bibelstellen in einer Art ‚Hausbibel‘ zusammenfasst. Vgl. HStA Dresden, Gh. Schleinitz, Nr. 1387. 33 Vgl. ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 198 Martina Schattkowsky wurde gerade um 1600 die gute Behandlung von Untergebenen zu einem Topos adliger Leichenpredigten.34 Bereits 1609 etwa wurde in Erinnerung an Christophs gleichnamigen Vater (1548–1609) herausgestellt, dass dieser seine Unterthanen bey Recht und Gerechtig­ keit geschützet, ihnen das Getreyde […] vorgesetzet, und damit keinen übermäßigen Wucher getrieben hätte.35 Auch das Seelenheil der Untertanen spielte dabei eine Rolle. So wäre Christoph d. Ä. aller Unzucht und Üppigkeit herzlich Feind gewe­ sen und hätte entsprechende Verstöße seiner Untergebenen gestrafft, und […] die Nachttäntze, die […] nur Anleitung seyn zu aller Unzucht, unter seinen Gebiethe gäntzlich verbothen und abgeschafft.36 Über seinen Sohn Christoph wiederum heißt es in der Leichenpredigt, er hätte seinen Glauben in den Werken der Liebe gegen den Nehesten gezeigt, seine Unterthanen mit sanfftmuth regieret, […] und ganz ungern gestraffet.37 Dieses Selbstverständnis eines gerechten, in der Not helfenden, sich um die christliche Erziehung der Untertanen sorgenden Hausvaters zieht sich wie ein roter Faden durch die Quellenüberlieferung.38 Dass der hohe obrigkeitliche Anspruch und die Alltagspraxis auf dem Gutshof mitunter auseinanderklafften, steht fest. Dennoch erhärten die Quellen einen konsensorientierten Herrschaftsstil, verbunden mit einem ausgeprägten Engagement des adligen Grundherrn für Glaubensfragen und religiöse Erziehung seiner Untertanen. Auf Christoph von Loß geht etwa ein Collegium musicum zurück, das in der Kirche zu Leuben bei währendem Gottesdienste aufwarten sollte.39 Die Musikan34 Vgl. B. Bei der Wieden, Außenwelt und Anschauungen Ludolf von Münchhausens (1570– 1640) (VHKNS 32; Niedersächsische Biographien 5), Hannover 1993, S. 200. 35 SLUB, Handschriftenabteilung, F. L. Zacharias, Sammlung historisch-topographisch u. genealogischer Nachrichten über das Königl. Sächs. Cammerguth und Lust Schloß Pillnitz, 1826, fol. 62 f. 36 Ebd., fol. 63. 37 A. Strauch, Christliche Leichpredigt (wie Anm. 31). 38 Zwar ist der Aussagewert dieser positiven Bewertung z. B. in der Leichenpredigt bekanntlich quellenkritisch zu hinterfragen, dennoch war es wohl für den Verfasser der Predigt kaum möglich, Tatsachen vor versammelter Trauergemeinde bewusst zu verfälschen, sondern höchstens zu verschweigen. Außerdem zeigen sich beim Vergleich von Leichenpredigten durchaus Nuancen bei der Darstellung von Herrenverhalten. Über Christian von Münchhausen hieß es beispielsweise, er hätte alle in löblicher Furcht gehalten. Zitiert nach B. Bei der Wieden, Ludolf von Münchhausen (wie Anm. 34), S. 202. 39 Zitiert nach F. Nagler, Das klingende Land. Musikalische Wanderungen und Wallfahrten in Sachsen, Leipzig 1936, S. 235. Auch G. W. Segnitz gibt Christoph von Loß als Gründer des Collegiums an, ohne allerdings auf Quellen zu verweisen. Vgl. G. W. Segnitz, Kirche und Kirchfahrt zu Leuben (wie Anm. 26), S. 42. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Adel und Reformation 199 ten waren Rittergutsuntertanen, wohlgemerkt Bauern, Gärtner und Häusler, die sich regelmäßig im Haus des Schulmeisters trafen, um hier „feine Kunstmusik“ zu üben.40 In der Musik sah der Grundherr – in Anlehnung an Martin Luther – eine halbe Disciplin und Zuchtmeisterin, die die Leute gelinder, sanftmüthiger, sittsamer und vernünftiger machet.41 Vor allem jedoch sollte die Musiksozietät zur Hebung der Kirchenzucht der Schleinitzer Rittergutsuntertanen beitragen. In eine ähnliche Richtung gehen weitere obrigkeitliche Maßnahmen, die der Kontrolle des christlichen Lebenswandels und insbesondere des Sexual- und Eheverhaltens der Dorfbewohner dienen.42 Parallel zur regelrechten Reglementierungswut auf landesherrlicher Ebene in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hat Christoph von Loß auch für seinen lokalen Herrschaftsbereich zahlreiche Ordnungen und Mandate erlassen.43 Hervorzuheben sind hier die 1607 aufgestellten Regeln für den Kirchenbesuch der Rittergutsbewohner44 sowie die Schleinitzer Gerichtsrügen von 1616, wo Regelungsbereiche wie Vergehen gegen die kirchlich-religiöse Ordnung (Sonn- und Feiertagsheiligung, Fluchen, Gotteslästerung) sowie Delikte im Bereich der Sittlichkeit, Ehe und Familie (Tanzvergehen, Trunkenheit, Wirtshaussitzen, Spielen, uneinige Eheleute, Unzucht) eine zentrale Rolle spielen.45 Nicht nur anhand des Schleinitzer Beispiels erhärtet sich der Eindruck, dass für adlige Grundherren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts religiös motivierte Handlungsmaßstäbe erheblich an Bedeutung gewannen. Seinen Niederschlag fand dies nicht zuletzt in der adligen Stiftungspraxis, die bekanntlich auch nach der Reformation keineswegs erlosch. Zu denken ist etwa an die nach der Jahrhundertmitte zunehmenden Kirch- und Schulstiftungen oder an Stiftungen für das Armen- und Hospitalwesen.46 Gerade hier ergaben sich nach der Reformation 40 Vgl. M. Schattkowsky, Musik als „Disciplin und Zuchtmeisterin“ ländlicher Untertanen in Sachsen (17./18. Jahrhundert), in: NASG 88 (2017), S. 131–149. 41 HStA Dresden, Gh. Schleinitz, Nr. 1300; die folgenden Zitate beziehen sich ebenfalls auf diese Quelle. 42 Vgl. H. Smolinsky, Albertinisches Sachsen, in: A. Schindling / W. Ziegler (Hgg.), Territorien des Reichs (wie Anm. 8), S. 8–32, hier S. 25 f. 43 Vgl. dazu W. Müller / M. Schattkowsky / D. Syndram (Hgg.), Kurfürst August von Sachsen. Ein nachreformatorischer „Friedensfürst“ zwischen Territorium und Reich, Dresden 2017. 44 Vgl. HStA Dresden, Gh. Schleinitz, Nr. 1298. 45 Vgl. PfA Leuben, Gerichts Rügen derer Undterthanen, so zum Rittergutte Schleinitz, undt uff jeden Gerichts Stuehl, dorzu sie vor langer alter zeithero gehörigk, undt itzo bey gehenkten Bericht vor mir Martin Weimern dieser Zeit Schößern des orts von newen wieder einbrachtt wordenn, Anno 1616. 46 Dies bestätigen Studien von Peter Wiegand zur Familie von Schönberg. Vgl. P. Wiegand, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 200 Martina Schattkowsky neue obrigkeitliche Handlungsfelder, die zunehmend auch der Landadel besetzte. Zwar besteht zur Fürsorgepraxis des landsässigen Adels wie überhaupt zum ländlichen Armenwesen noch enormer Forschungsbedarf,47 doch wird man generell wohl davon auszugehen haben, dass neben privater Wohltätigkeit und Gemeindearmenfürsorge vor allem die Familien eine große Rolle spielten.48 Für Kursachsen liegen punktuelle Beobachtungen vor, wonach adlige Grundherren gelegentlich bedürftige Untertanen in städtische Spitäler ‚abschoben‘.49 Im Herrschaftsbereich des Schleinitzer Ritterguts allerdings wird grundherrliches Engagement für die Armenfürsorge direkt greifbar, und zwar in Form eines Armenhospitals in Leuben.50 Dieses Hospital wurde bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts durch Hans von Schleinitz (ca. 1543–1597) gestiftet und von dessen Nachfolger Abraham (1545–1594) weiter ausgebaut. Anschließend verfiel es zwischenzeitlich, bevor es durch Christoph von Loß wieder errichtet und 1613 mit einer Hospitalordnung versehen wurde. Diese Ordnung, die der Schleinitzer Grundherr eigenhändig verfasste, regelte bis ins Kleinste sowohl die finanzielle Basis als auch das Zusammenleben der Hospitalbewohner. Wie es hieß, sollten die Regeln uff eine Taffel getzogen, in der Eßstube aufgehengt und den Insassen im vierteljährlichen Abstand verlesen werden.51 Ein Blick in die Hospitalordnung mit nicht weniger als 45 Paragrafen lässt keinen Zweifel am Bemühen des Erb- und Gerichtsherrn, normative Verhaltensstrukturen und effiziente Kontrollmechanismen zu etablieren.52 Gleich die ersten 47 48 49 50 51 52 Zur Stiftertätigkeit der Familie von Schönberg in der Neuzeit im Spiegel der Bestände des Hauptstaatsarchivs Dresden (16.–20. Jahrhundert), in: B. Richter (Red.), Die Adelsfamilie von Schönberg in Sachsen, Leipzig 2011, S. 76–98, hier S. 82 f. Zum Dresdner Spitalwesen vgl. A.-K. Stanislaw-Kemenah, Spitäler in Dresden. Vom Wandel einer Institution (13. bis 16. Jahrhundert) (SSGV 24), Leipzig 2008; zu Problemen von Armut und Armenwesen in sächsischen Städten des 18. und 19. Jahrhunderts vgl. vor allem die Quellensammlung: Armut und Armutsbekämpfung. Schriftliche und bildliche Quellen bis um 1800 aus Chemnitz, Dresden, Freiberg, Leipzig und Zwickau. Ein sachthematisches Inventar, edd. H. Bräuer / E. Schlenkrich, 2 Bde., Leipzig 2002. Vgl. M. Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: GG 17 (1991), S. 5–29, hier S. 11. Darauf verweist etwa ein Visitationsprotokoll von 1555 zum Dresdner Jacobspital, worin bemängelt wurde, dass in diesem Spital Leute vom Lande von ihren Edelleuten eingeschoben wür­ den. Zitiert nach A.-K. Stanislaw-Kemenah, Spitäler in Dresden (wie Anm. 47), S. 488. Vgl. M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut (wie Anm. 15), S. 147 f. Diese Hospitalordnung des Christoph von Loß wird heute im PfA Leuben aufbewahrt und befindet sich als Abschrift in: M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut (wie Anm. 15), S. 445–450, hier S. 450. Vgl. analog dazu A.-K. Stanislaw-Kemenah, Spitäler in Dresden (wie Anm. 47), S. 60–69. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Adel und Reformation 201 fünf Artikel beziehen sich auf die christliche Lebensführung sowie die regelmäßige Glaubensunterweisung der Hospitalleute.53 Sollte sich bei ihrer Befragung herausstellen, dass es um ihr Christenthum oder Catechißmen schlecht bestellt war, wurde Nachhilfe angeordnet, und zwar entweder in der Kirche selbst oder in der kinderlehre.54 Und auch das gehört noch in den Bereich der obrigkeitlichen Armenfürsorge: In seinem Testament hinterließ Christoph von Loß dem Leubener Hospital 100 Gulden.55 ‚Adel und Reformation‘ – zumindest für Kursachsen deutet sich an: Auch wenn es zweifellos des lenkenden Eingriffs der Landesherren bedurfte, hätte sich die evangelische Lehre weder im ernestinischen noch im albertinischen Landesteil ohne den gut vernetzten Adel nicht so schnell durchsetzen können. So dürfte letztlich an dem von Ernst Schubert in die Diskussion eingebrachten Phänomen der Adelsreformation kein Weg vorbeiführen. 53 Anders als in der Leubener Ordnung spielte beispielsweise in der von Martin Dinges untersuchten Bordelaiser Armenfürsorge des 16. und 17. Jahrhunderts die Erziehung zu christlicher Lebensführung nur eine marginale Rolle, vgl. M. Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge (wie Anm. 48), S. 18. 54 Vgl. die Abschrift im Anhang von M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut (wie Anm. 15), S. 447. 55 Vgl. PfA Leuben, Testament des Christoph von Loß vom 28.8.1613. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Jens Klingner Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) Eine reformationsgeschichtliche Quelle Am 30. August 1532 schrieb Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen (1503–1554): […] F[reundlicher] h[erz] a[ller] l[iebster] b[ruder], ych geb e[uer] l[ieben] auch tzu vorstend, das man heyr sagett, e[uer] l[ieben] und m[ein] b[ruder] sollen auff tzoffych seyn; ych byt e[uer] l[ieben] last mich es wissen, dan meyn bruder hatt mir yetz geschriben und schrib mir dar von gar nichst, das mich es wunder glich. Ych bytt e[uer] l[ieben] wolt sych est nich yeren lassen umb meyn willen, dan e[uer] l[ieben] west seyn gebrechen wol, das romorychst yst; e[uer] l[ieben] sey am klougesten und wert weyder eins mit einnander, dan es sen vel leut gern und lachen sen. E[uer] l[ieben] dut dach auch wast umb meyn willen, ych wil weyder wast umb e[uer] l[ieben] willen dunt. […] Dat[um] freytag nach Barttelmest anno xxxii.1 Die Herzogin berichtete also, dass man am Dresdner Hof behaupte, Kurfürst Johann Friedrich und Landgraf Philipp von Hessen (1504–1567) lägen im Streit miteinander. Im Brief verwendet Herzogin Elisabeth die Redewendung auff tzoffych seyn. Im übertragenen Sinn bedeutet „auf Zoff sein“, umgangssprachlich heute noch geläufiger als „zoffen“, im Streit miteinander liegen.2 Elisabeth zeigte sich darüber sehr verwundert, denn ihr Bruder, der Landgraf, habe in seinem Brief an sie wiederum nichts über einen Konflikt verlauten lassen. Nun, so forderte sie den Kurfürsten auf, möge er sie wissen lassen, welchen Wahrheitsgehalt sie den Gerüchten beimessen solle. Unabhängig von seiner Antwort gab die Herzogin dem Kurfürsten den Ratschlag mit auf den Weg, sich mit ihrem Bruder nicht zu entzweien. Johann Friedrich kenne Philipps Schwäche, dass er romorychst yst – also Rumoren oder Geschrei machen würde. Johann Friedrich solle sich klug verhalten und sich mit ihm versöhnen. 1 2 KES, Bd. 1: Die Jahre 1505 bis 1532, ed. A. Thieme (QMSGV III/1), Leipzig 2010, S. 312 f., Nr. 175. Vgl. das Wort „zoffen“ in Duden online: https://www.duden.de/rechtschreibung/zoffen (letzter Zugriff am 21.2.2020). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 204 Jens Klingner Diese kurze Passage und das – zugegebenermaßen – auf den ersten Blick etwas unspektakuläre Exempel offenbart gleich mehrere Facetten der mit etwa 2.000 bekannten Briefen doch ziemlich umfangreichen Korrespondenz Herzogin Elisabeths, die am Dresdner Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde ediert werden.3 Einerseits deutet es die für Fürstinnen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit üblichen Schreib- und Sprachgewohnheiten an, nämlich dass sie unter anderem ihre Briefe eigenhändig und nach dem Hörensagen verfassten, während sich ihre Briefpartner an dem kanzleimäßigen Schriftgebrauch der Zeit orientierten.4 Ausdruck findet dies in ihrer eigenwilligen Orthografie, ihrer eigenen Grammatik sowie der von ihr angewendeten, speziellen Getrennt- und Zusammenschreibung. Besonders auffällig sind die griechischen und lateinischen Lehnwörter, beispielsweise bei Titeln und Ämtern, oder aber die schwer aufzulösenden Orts- und Personennamen, die teils in einer äußerst kuriosen Darstellungsweise festgehalten wurden. Letztere finden sich auch durch Siglen abgekürzt, was in Einzelfällen zu Identifizierungsproblemen führt. Zudem verzichtete die Herzogin konsequent auf Satzzeichen und Absätze, sodass sich die Rekonstruktion 3 4 Im Rahmen des Projektes „Fürstinnenkorrespondenzen der Reformationszeit“ am ISGV werden die Briefe Herzogin Elisabeths erstmals in Gänze zugänglich gemacht. Bisher erschienen sind: KES, Bd. 1 (wie Anm. 1); KES, Bd. 2: Die Jahre 1533 und 1534, ed. J. Klingner (QMSGV III/2), Leipzig 2016; weitere Informationen zum Editionsprojekt unter https://www.isgv.de/ elisabeth (letzter Zugriff am 21.2.2020); sowie J. Klingner, Fürstinnenkorrespondenzen der Reformationszeit. Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557), in: W. Müller (Hg.) / D. Geissler (Red.), Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 1997–2017 (Spurensuche 7), Dresden 2017, S. 92–99; Ders., dan so vel ich er farre, so vel schrib ich dir. Die Edition der Korrespondenz Herzogin Elisabeths von Sachsen, in: M. Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement (SSGV 55), Leipzig 2016, S. 55–86; A. Thieme, Fürstinnenkorrespondenzen in der Reformationszeit, in: W. Müller (Hg.) / A. Martin (Red.), Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 1997–2007 (Spurensuche 1), Dresden 2007, S. 70–77. Vgl. unter anderem M. Schneikart, Briefe pommerscher Fürstinnen zwischen 1600 und 1633. Privatbriefe oder „geringe Haußbrieflein“?, in: D. Schleinert / Dies. (Hgg.), Zwischen Thronsaal und Frawenzimmer. Handlungsfelder pommerscher Fürstinnen um 1600 (VHKP FPG 50), Köln/Weimar/Wien 2017, S. 235–250; U. Essegern, Die Kanzlei liest mit. Familiäre Netzwerke von Fürstinnen am Beispiel der Kopialbuchüberlieferung Sophias von Brandenburg (1568–1622), in: ebd., S. 271–294; J. Daybell (Hg.), Early modern women’s letter writing 1450–1700, Basingstoke/Hampshire/London 2001; C. Nolte, Pey eytler finster in einem weichen pet geschrieben. Eigenhändige Briefe in der Familienkorrespondenz der Markgrafen von Brandenburg (1470–1530), in: H.-D. Heimann (Hg.), Adelige Welt und familiäre Beziehung. Aspekte der „privaten Welt“ des Adels in böhmischen, polnischen und deutschen Beispielen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (QSGKBPAR 7), Potsdam 2000, S. 177–202. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) 205 Abb. 1: Handschrift Herzogin Elisabeths von Sachsen, Brief an Kurfürst Johann Friedrich (der Großmütige), 16. September 1532, Vorderseite [HStA Dresden, 10024, Loc. 10548/6, fol. 6r]. von Satz- und Sinnzusammenhängen als sehr schwierig herausstellt. Neben der nicht genormten Schreibtätigkeit fällt ihr individuelles hessisch-sächsisches Dialektgemisch auf. Ausgeprägt erscheinen die häufigen, meist harten konsonantischen Endungen, das hessische aber für „oder“ sowie der hessische Vokalismus der Verwendung von ‚i‘, ‚e‘ oder ‚ei‘.5 In ihren Briefen spiegelt sich zudem ihre direkte Sprache wider. Sie verwendete teilweise eine sehr derbe Ausdrucksform, wenn sie von einem „bloßen Maul“ schreibt oder ihre Gegner stult, also dumm und einfältig nennt. Der Gebrauch von Sprichwörtern und Redewendungen wird mit ‚Zoffen‘ ebenfalls angedeutet. Einige wenige ausgewählte Beispiele aus der bisher bearbeiteten Korrespondenz seien in der folgenden Übersicht zusammengefasst:6 (Abb. 1) Dialektgemisch moen = mühen drawett = trauen 5 6 Vgl. KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. XXXVIII. Die Beispiele finden sich ebd.; und in: KES, Bd. 2 (wie Anm. 3). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 206 Jens Klingner frett = Frieden breitteiger = Prediger Getrenntschreibung forscht sam = furchtsam vor botten = verboten bourn auff stend = Bauernaufstand dantz schou = Tanzschuhe vor retterye = Verräterei bleymett leyn = Blümlein Lehn- und Fremdwörter bersown = Person faron = Pharao bobest = Papstes brackereytzern = praktizieren yn fett argen = Inventarium auffeitzseygal = Offizial Namen graun felter = Antoine Perrenot de Granvelle dymost = Franz von Hemste, genannt Thamise mit we = Mittweida He v S = Heinrich von Schleinitz Ha v S = Hans von Schönberg A v der Dant =Alexander von der Tann Sprichwörter Das glaubt der Kuckuck. Wenn man einen im Löffel ertränken könnte, würde man keine Schüssel dazu nehmen. *** Andererseits wird anhand des eingangs genannten Schreibens Elisabeths die enge Verbindung dreier Personen verdeutlicht, nämlich Herzogin Elisabeth – Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen (1532–1547/54) – Landgraf Philipp I. von Hessen (1509/18–1567). Dieser Konstellation soll im Folgenden anhand einer biografischen Skizze der Herzogin für die Zeit am Dresdner Hof Beachtung geschenkt und Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) 207 die Bedeutung dieser ‚Kommunikationsachse‘7 nachgezeichnet werden. Der Brief weist auf einen regen Informationsaustausch zwischen den drei nahezu gleichaltrigen Fürsten bzw. der Fürstin hin. Aus inhaltlicher Perspektive offenbart er eine Auseinandersetzung zwischen dem Kurfürsten und dem Landgrafen, die in der Folge des Nürnberger Religionsfriedens vom Juli 1532 entstanden war. Georg Mentz (1870–1943) spricht im Zusammenhang mit dem hier angesprochenen Streit von einer in dieser Phase „gereizten Korrespondenz“ zwischen Johann Friedrich und Philipp.8 Letzterer sah in den durch die Ernestiner ausgehandelten Ergebnissen des Nürnberger Anstands ein Hindernis für die weitere Ausbreitung der lutherischen Lehre.9 Der Brief zeigt das Aufgreifen von Gerüchten am Dresdner Hof durch die Herzogin: Nämlich das man heyr sagett.10 Ferner deutet das Beispiel die Besorgnis der Herzogin wegen des sich anbahnenden Konflikts zwischen ihren Briefpartnern an. Insgesamt eröffnen der Brief und schließlich die gesamte Korrespondenz Herzogin Elisabeths einen weiteren Blickwinkel auf die Geschehnisse der Zeit und ergänzt die in erster Linie politischen Briefwechsel der agierenden Fürsten, in denen sich zumeist die ‚offiziellen‘ diplomatischen Vorgänge festgehalten finden. (Abb. 2) Herzogin Elisabeth von Sachsen ist heute vor allem unter dem Namen ihres Wittums als Elisabeth von Rochlitz bekannt. Die geborene Landgräfin von Hessen ist nicht nur wegen ihrer Lebensdaten als eine „klassische Reformationsfürstin“ zu bezeichnen,11 sondern auch wegen ihrer Rolle als aktiv handelnde Herzogin und Witwe. André Thieme hält treffend fest: „Durch die Reformation also ist der Lebensweg der Herzogin Elisabeth tief beeinflusst worden, und ihrerseits versuchte auch Elisabeth, diese Reformation nach Kräften mit zu gestalten. 7 Vgl. A. Thieme, Religiöse Rhetorik und symbolische Kommunikation. Herzogin Elisabeth von Sachsen am Dresdner Hof (1517–1537), in: W. Müller (Hg.), Perspektiven der Reformationsforschung in Sachsen Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Karlheinz Blaschke (Bausteine ISGV 12), Dresden 2008, S. 95–106; vgl. auch Ders., Glaube und Ohnmacht? Herzogin Elisabeth von Rochlitz am Dresdner Hof, in: E. Bünz / S. Rhein / G. Wartenberg (Hgg.), Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation (SLSA 5), Leipzig 2005, S. 149–174. 8 G. Mentz, Johann Friedrich der Grossmütige 1503–1554, T. 2: Vom Regierungsantritt bis zum Beginn des Schmalkaldischen Krieges (Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens I/2), Jena 1908, S. 6. 9 Vgl. ebd., S. 5 f.; sowie Ders., Johann Friedrich der Grossmütige 1503–1554, T. 1: Johann Friedrich bis zu seinem Regierungsantritt 1503–1532 (Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens I/1), Jena 1903, S. 92. 10 KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 312 f., Nr. 175. 11 Ebd., S. XIV. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 208 Jens Klingner Abb. 2: Herzogin Elisabeth von Sachsen, Reisebild, um 1577 [Sammlung des Museums Schloss Wilhelmsburg Schmalkalden, D IV a 1307]. Über die Spielräume einer ‚gewöhnlichen‘ Fürstin und Fürstenwitwe hinaus wuchs ihr dabei eine markante politische und kommunikative Bedeutung innerhalb der so genannten Fürstenreformation zu.“12 Im Jahr 1502 zur Welt gekommen, erfolgte bereits im Alter von drei Jahren die Aushandlung ihrer Ehe zwischen ihrem Vater, Landgraf Wilhelm II. (dem Mittleren) von Hessen (1469–1509), und Herzog Georg (dem Bärtigen) von Sachsen (1471–1539). Durch die Verheiratung mit Herzog Johann (1498–1537), dem ältesten Sohn Georgs, sollten die Verbindungen zwischen den albertinischen Wettinern und dem Haus Hessen gestärkt werden. Hervorzuheben ist bei dieser Verbindung insbesondere die außergewöhnliche Position Elisabeths in einem familiären Geflecht, welches von den engen Verwandtschaftsbeziehungen zu den wichtigsten Reformationsfürsten der ersten und zweiten Generation gekennzeichnet ist. Durch ihre hessische Herkunft und ihre Einheirat in den albertinischen Familienzweig der Wettiner markieren ihre vielfältigen Verwandtschaften wichtige Eckpunkte ihres Lebens bzw. ihrer Korrespondenz. Zu nennen sind erstens ihr 12 Ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) 209 Gemahl Herzog Johann von Sachsen, dem vorherbestimmten Nachfolger des – zweitens – albertinischen Herzogs Georg von Sachsen (1500–1539) und bedeutendsten antilutherischen Fürsten. Drittens führte ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Landgraf Philipp von Hessen die Reformation in seiner Landgrafschaft ein und war gemeinsam mit – viertens – dem Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen Führer des Schmalkaldischen Bundes, dem bedeutendsten religiös motivierten Bündnis der protestantischen Stände. Für Elisabeths Lebensphase als Witwe in Rochlitz nahm – fünftens – der spätere Kurfürst Moritz von Sachsen (1521–1553) eine wichtige Rolle ein, zu dem sie zunächst ein enges Verhältnis gepflegt hatte, der sie dann aber im Zuge des Schmalkaldischen Krieges ihres Wittums enthob.13 Ihre besondere dynastische Konstellation wird also nicht nur durch ihre persönliche Nähe zu den Fürsten charakterisiert, sondern gleichfalls durch ihre ambivalente Stellung in der Konfliktlinie zwischen den beiden Bekenntnissen. Elisabeth lebte ab dem Herbst 1517 dauerhaft am Dresdner Hof. Erstmals wird im Juni 1526 ein reformationsgeschichtlich interessanter Aspekt greifbar, das als erstes Beispiel für den Quellenwert der Korrespondenz herangezogen werden soll. In ihrem Schreiben an Herzog Johann Friedrich schildert sie ausführlich die theologischen und kirchenpolitischen Sichtweisen am Dresdner Hof und stellt sie in den Kontext eigener religiöser Anschauungen.14 Kernaussage des Schreibens sind ihre Bemühungen, Kurfürst Johann (den Beständigen) (1468–1532) durch dessen Sohn Johann Friedrich dahingehend zu bewegen, ein Schreiben an Herzog Georg aufzusetzen. In diesem solle der Kurfürst seine Teilnahme an einem christlichen Konzil zusichern. Elisabeth glaubte – wie sie selbst schreibt –, dass Herzog Georg so auf Verhandlungen eingehen müsse, denn bislang habe er immer behauptet, Kurfürst Johann (1486/1525–1532) wolle über die Religion nicht mit sich reden lassen. In ihrem Brief gibt Elisabeth zudem Handlungsvorschläge im Umgang mit Herzog Georg. Sie ermahnte ihr Gegenüber, dem Herzog solle man in einem freundlichen Ton schreiben und ausdrücklich von dein mist bro­ chgen beider seits retten – also den Missbräuchen beider Seiten sprechen.15 Diese Vorschläge Elisabeths scheinen durch die Ernestiner aufgegriffen worden zu sein, denn im Juli 1526 instruierte Kurfürst Johann zwei seiner Räte entsprechend. Diese sollten Georg anbieten, über die Abstellung kirchlicher Missbräuche durch beiderseitige Räte oder die gemeinsame Landschaft beraten zu lassen.16 13 14 15 16 Vgl. ebd., S. XIV f. Vgl. ebd., S. 177–182, Nr. 98; vgl. auch ebd., S. XXV. Ebd., S. 177–182, Nr. 98. Vgl. ABKG, ed. F. Gess, Bd. 2: 1525–1527 (SSKG 22), Leipzig 1917, ND: Leipzig 1985, S. 569 ff., Nr. 1277. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 210 Jens Klingner Der Briefwechsel zeigt darüber hinaus die eigene Rolle der Herzogin als Vermittlerin in einer Schlüsselstellung zwischen den Fürsten. In den folgenden Jahren intensivierte sie ihre Schreibtätigkeit und baute dadurch diese kommunikative Position aus. Elisabeth übernahm die Funktion einer Informantin für ihren Bruder sowie den sächsischen Kurfürsten und schilderte Stimmungen, Gerüchte und Pläne am Dresdner Hof – wie das Beispiel am Anfang zeigt. In der Affäre um Vizekanzler Otto von Pack (ca. 1480–1537) engagierte sich Elisabeth 1528 erstmals politisch. Nachdem die Ernestiner und Herzog Georg von Otto von Pack abgerückt waren, distanzierte sich auch Elisabeth schnell von ihm und versuchte vergeblich, ihren Bruder Philipp zu einem entschiedenen Vorgehen gegen den mittlerweile verhafteten Vizekanzler zu veranlassen.17 Ihre Rolle als Ratgeberin und Schlichterin zwischen den zerstrittenen Parteien gewann an Bedeutung, als sie nach dem Ableben ihrer Schwiegermutter Barbara von Polen (1478–1534) zur ersten Frau am Hof aufstieg und sie die damit verbundenen Freiräume für ihr politisches Engagement nutzte. Ein wichtiger Meilenstein war ihre aktive Rolle bei der Vermittlung des Friedens von Kaaden/ Kadaň 1534. Bei diesen Friedensverhandlungen schlichtete sie gemeinsam mit Herzog Georg erfolgreich zwischen ihrem Bruder und Kurfürst Johann Friedrich und trug somit zu dem Ausgleich zwischen den verschiedenen Parteien bei.18 Die Korrespondenz der Herzogin informiert ausführlich über den Verlauf der sich anschließenden Gespräche in Annaberg und Kaaden, und zwar aus der Sicht Elisabeths. Innerhalb des kurzen Zeitraums der Verhandlungen vom 11. bis 23. Juni verfasste sie mindestens 13 Briefe19 sowie im Nachgang bis Anfang Juli fünf weitere zu den Inhalten des abgeschlossenen Friedensvertrags. Vor allem geben ihre Schreiben einen umfassenden Einblick in ihren eigenen Beitrag zu den Friedensbemühungen. Schon die Zeitgenossen erkannten ihren daraus gestiegenen kommunikativen Stellenwert. Herauszuheben ist in diesem Kontext die eigenständige Anfrage des bedeutenden albertinischen Rats Georg von Carlowitz (ca. 1471–1550) sowie des Kanzlers Simon Pistoris d. J. (1489–1562), die Ende September 1534 um ihre Mithilfe im Fall des Predigers von Niederdorla um Vermittlung zwischen Herzog 17 Vgl. KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 230–235, Nr. 125 ff., S. 238–246, Nr. 134–137, S. 247–250, Nr. 139, S. 252–260, Nr. 142, S. 261–264, Nr. 145, S. 264–267, Nr. 147, S. 269–274, Nr. 149–152; K. Dülfer, Die Packschen Händel (VHKHW 24; QDGLPG 3), Marburg 1958. 18 Vgl. KES, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. XVIII–XXIII; zum Vertrag von Kaaden vgl. ABKG, edd. H. Jadatz / C. Winter, Bd. 3: 1528–1534, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 753 f., Nr. 2494. 19 Vgl. KES, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. 304–311, Nr. 169–172, S. 314, Nr. 174, S. 317–323, Nr. 177 f., S. 327–330, Nr. 181–184, S. 339–343, Nr. 188 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) 211 Georg und Landgraf Philipp baten.20 Weitere Beispiele lassen sich anfügen, so etwa die Auseinandersetzung um die Predigten Martin Luthers (1483–1546) gegen Herzog Georg zum Jahreswechsel 1534/35. Hier trat Elisabeth gemeinsam mit ihrem Gemahl politisch in Erscheinung, denn sie formulierte ihre Anfrage bezüglich der Predigten Luthers in Wittenberg als Begleitschreiben zum Brief Herzog Johanns21 an den Kurfürsten,22 der wiederrum – darauf reagierend – sie seinerseits um Vermittlung bat, sollte es zum Streit mit den albertinischen Herzögen kommen.23 Auch später auf ihrem Wittum setzte Elisabeth ihre am Dresdner Hof begonnenen politischen Aktivitäten fort. Ihren Bruder überzeugte sie unter anderem zu einer Teilnahme an dem von Georg von Carlowitz initiierten Leipziger Religionsgespräch 1539, bei dem kursächsische, hessische und sächsisch-albertinische Vertreter zusammentrafen.24 Diese politischen Aktivitäten zeigen eindrucksvoll ihre eigenständige Haltung gegenüber ihrem Bruder sowie dem Kurfürsten und machen ihr Selbstverständnis in der Rolle als albertinische Fürstin sichtbar. Neben ihrer Vermittlerrolle zwischen den Fürsten sind die Jahre der jungen Herzogin am Dresdner Hof von einer zunehmenden Konfrontation mit ihrem Schwiegervater gekennzeichnet. Der Konflikt ging zunächst auf die Schwierigkeiten Elisabeths zurück, sich den höfischen Regeln der albertinischen Residenz unterzuordnen. Ihre Eigenwilligkeit, ihr ungebührliches Verhalten und die Miss­achtung von Hierarchien führten zu intensiven Auseinandersetzungen. Der Generationskonflikt wurde durch die unterschiedlichen Hofkulturen, mit dem freizügigen Leben in Hessen auf der einen und der strengen, autoritäreren Haushaltung am Hof in Sachsen auf der anderen Seite, verstärkt. Insbesondere wurde der Streit im Frauenzimmer Elisabeths ausgetragen, wo die Herzogin häufig mit der verantwortlichen Hofmeisterin aneinandergeriet.25 Diese fortwährenden 20 Vgl. ebd., S. 383 ff., Nr. 210; darüber hinaus ebd., S. 386 f., Nr. 212, S. 391–395, Nr. 215 f.; vgl. auch ABKG, Bd. 3 (wie Anm. 18), S. 459 f., Nr. 2086, S. 466 f., Nr. 2098, S. 470 f., Nr. 2103. 21 Zum Brief Herzog Johanns vgl. ebd., S. 824 f., Nr. 2620. 22 Vgl. KES, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. 404 f., Nr. 222. 23 Vgl. ebd., S. 407 ff., Nr. 224. 24 Vgl. ABKG, edd. H. Jadatz / C. Winter, Bd. 4: 1535–1539, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 622 f., Nr. 3441; vgl. auch ebd., S. 662–668, Nr. 3492; sowie G. Wartenberg, Die Leipziger Religionsgespräche von 1534 und 1539. Ihre Bedeutung für die sächsisch-albertinische Innenpolitik und für das Wirken Georgs von Karlowitz, in: G. Müller (Hg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit (SVRG 191), Gütersloh 1980, S. 35–41. 25 Vgl. A. Thieme, Herzogin Elisabeth von Rochlitz – ein Fürstinnenleben im Zeitalter der Reformation, in: S. Schellenberger / Ders. / D. Welich (Hgg.), Eine STARKE FRAUENgeschichte. 500 Jahre Reformation, Beucha/Markkleeberg 2014, S. 41–46, hier S. 42. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 212 Jens Klingner Spannungen verschärften sich spätestens 1526 durch Elisabeths Hinwendung zur lutherischen Lehre, die in der Korrespondenz greifbar wird.26 Im November des Jahres berichtete sie Johann Friedrich, dass Herzog Georg erfahren habe, dass sie das Sakrament in beiderlei Gestalt nehmen wolle: wei ym for kumb, wey ych wilt zu dem sackratment gein in beytter gestalt aber wilst k[ei]nst nem, […] Martteins meinung geveilt mir ser wolt, […] wan mans mir beytterleig geb, wolt ych so nem, dan Got hest so ausz gesast.27 Elisabeth habe ihm daraufhin erklärt, dass sie es lieber in der evangelischen Gestalt hätte – weil Gott das so gewollt habe. In diesem Brief werden erstmals ihre eigene religiöse Sichtweise und ihre Zuneigung zur lutherischen Lehre sichtbar, die zu einem grundlegenden Bestandteil ihres Lebens und ihrer Identität wurde. Im April 1527 schrieb sie ihrem Bruder, dass sie versucht habe, ihren Gemahl zum evangelischen Bekenntnis zu bewegen: Auch hab ych mein hern und gemalt gesag, wei e[uer] l[ieben] s[eine] l[ieben] enttbotten hott, […] Wan es auch dei weige er reichgett, das her in das regement kemb, wort es wolt gutt werden, […] dei Mertteinse sach geveilt im nich so gar obelt […].28 Sie habe zwar keine Antwort bekommen, aber Herzog Johann sei der lutherischen Sache nicht abgeneigt – wenn nur die Beleidigungen Luthers gegenüber seinem Vater sowie der Missbrauch der Sakramente durch die evangelische Seite nicht wären. Hier offenbart sich im Übrigen Johanns Kritik an der lutherischen Lehre und den Folgen der Säkularisationen, die identisch mit der seines Vaters war. Festzuhalten bleibt, dass Johann Friedrich und Philipp zentrale Vertrauenspartner in dieser für Elisabeth schwierigen Lebensphase waren. Es wird weiterhin klar, dass die Herzogin eine besondere Rolle innehatte. Als lutherische Gemahlin des künftigen sächsisch-albertinischen Herzogs am Hof des Luthergegners Herzog Georg nahm sie eine wichtige strategische Funktion ein. Sie war der zentrale Baustein, um das albertinische Sachsen nach dem jederzeit erwarteten Ableben des alten Herzogs durch ihren Gemahl zu reformieren. Philipp und Johann Friedrich nutzten Elisabeth, um auf den jungen Herzog Johann Einfluss auszuüben. Diese 26 Elisabeth Werl (1898–1983) vermutet, dass Herzogin Elisabeth sich bereits 1524 der lutherischen Lehre zuwendete. Günther Wartenberg (1943–2007) verweist dagegen auf das Jahr 1525, als Alexius Chrosner (ca. 1490–1535) als Prediger am Dresdner Hof angestellt wurde; vgl. E. Werl, Elisabeth, Herzogin zu Sachsen, die Schwester Landgraf Philipps von Hessen. Eine deutsche evangelische Frau der Reformationszeit, Bd. 1: Jugend in Hessen und Ehezeit am sächsischen Hofe zu Dresden, Weida 1937, S. 74; G. Wartenberg, Herzogin Elisabeth von Sachsen als reformatorische Fürstin, in: M. Schattkowsky (Hg.), Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung (SSGV 6), Leipzig 2003, S. 191–201, hier S. 195. 27 KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 190–207, Nr. 111. 28 Ebd., S. 212–215, Nr. 116. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) 213 besondere Konstellation barg ein großes Konfliktpotenzial. Am kämpferisch altgläubigen Dresdner Hof bekam ihre religiöse Auseinandersetzung mit dem Schwiegervater eine ganz eigene Dynamik. In der religiösen Frage versuchte wiederum Herzog Georg Elisabeth über ihren Gemahl Herzog Johann zu beeinflussen und sie zu einer Abkehr von der lutherischen Lehre zu bewegen. 1533 rückte die Auseinandersetzung in eine breitere Öffentlichkeit, als Elisabeth Beichte und Abendmahl verweigerte. Im Zentrum stand die Gewissensfrage zum Abendmahl. Elisabeth schilderte Anstrengungen Herzog Georgs, sie durch ihren Gemahl zum Ablegen der Beichte zu bringen. Dieses Ersuchen lehnte Elisabeth mit der Begründung ab, sie könne unter Zwang das Sakrament in einer Gestalt nicht nehmen: […] ich gebe e[uer] l[ieben] fruntlych tzu erkeyn, das ich gantz bedach bin, das sackrament nich tzu nemen, man geb mir es dan in beyder gestal, […] dan mir yst in meyn gewissen also, das ich nich kant sellych wertten wo ich dey menschsen serer forcht dan Got und wil es wagen, wast sey wollen anfan.29 In dieser Auseinandersetzung suchte Elisabeth bei dem Kurfürsten und ihrem Bruder um Rat. Sie befürchtete, Herzog Georg würde sie zum katholischen Bekenntnis zwingen. Johann Friedrich und Philipp rieten ihr, das Abendmahl vorerst auszusetzen und die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Wie stark sich die Herzogin in dieser Phase am Dresdner Hof einer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sah, zeigen Warnungen vor einer möglichen Vergiftung und ihre Schilderung der Behauptung Herzog Georgs, er habe den „Feind im Hause“.30 Höhepunkt der Auseinandersetzungen sind die aufkommenden Anschuldigungen am Dresdner Hof zum Ehebruch Elisabeths ab 1532.31 Erst Anfang 1534 kam es zu einem Ausgleich zwischen Elisabeth und ihrem Schwiegervater und danach normalisierte sich ihre Beziehung. Eine Lösung in der Frage des Abendmahls scheint auch gefunden worden zu sein. Vermutlich hatte Herzog Johann über einen Pfarrer ermöglicht, im Geheimen das Sakrament in beiderlei Gestalt zu erhalten.32 Im Januar 1537 starb überraschend ihr Gemahl und Elisabeth trat in der Folge die Rochlitzer Wittumsherrschaft an.33 Mit dem Verlassen des höfischen Umfelds 29 KES, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. 103 f., Nr. 47. 30 Ebd., S. 123, Nr. 58; vgl. auch ebd., S. 98–104, Nr. 46 f., S. 109 ff., Nr. 51, S. 115 ff., Nr. 55 sowie S. 122–125, Nr. 58, S. 135–139, Nr. 61. 31 Vgl. „causa Elisabeth“ ebd., S. IX–XIV. 32 Nach dem Tod Herzog Johanns 1537 klagte Elisabeth, keinen Pfarrer mehr zu haben, vgl. A. Thieme, Glaube und Ohnmacht (wie Anm. 7), S. 169. 33 Vgl. dazu J. Klingner, Elisabeth von Sachsen und die Einführung der Reformation in Rochlitz 1537, in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.), Reformationen vor Ort. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 214 Jens Klingner der landesherrlichen Residenz eröffneten sich für sie als fürstliche Witwe neue Handlungsfelder und Gestaltungsmöglichkeiten. Rochlitz lag im albertinischen Sachsen unmittelbar an der Grenze zum lutherisch gewordenen ernestinischen Kurfürstentum. Zu ihrem Territorium gehörten neben dem namensgebenden Schloss die Städte Rochlitz, Mittweida und Geithain sowie 74 Dörfer. Zusätzlich erhielt Elisabeth die Herrschaft Kriebstein mit Waldheim und Hartha. Ihr Wittum verstand sie nicht nur als Versorgungsresidenz, sondern als selbstständigen Herrschaftsbereich. Dazu wurden bereits in der Eheberedung von 1505 Bestimmungen über die Witwenausstattung der Herzogin festgehalten. Speziell die Beschreibung des Rochlitzer Wittums als herrschaftliche Einheit war Grundlage für ihr weitgehend eigenständiges herrschaftliches Handeln.34 Schließlich setzte sie gegen den erklärten Willen Herzog Georgs in ihrem Herrschaftsgebiet die Reformation durch – damit hatte diese bereits zwei Jahre eher stattgefunden, bevor Herzog Heinrich der Fromme (1473–1541) das gesamte albertinische Herzogtum 1539 reformierte.35 Als Zäsur für die Einführung der Reformation in ihrem Wittum wird das Mandat über die Priesterehe und den Abendmahlsempfang an den Rat Mittweida vom 2. Dezember 1537 angesehen.36 (Abb. 3) Damit erlaubte sie Priestern, in den Stand der Ehe zu treten. Außerdem überließ sie die Entscheidung über die Form der Austeilung des Sakraments den Empfängern. Es durften nur Priester im Wittum bleiben, die auch das evangelische Sakrament zu reichen bereit waren. Die Einführung geschah nicht willkürlich, vielmehr griff sie die bereits vorhandenen reformatorischen Strömungen in ihrem Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (SBVL 20), Berlin 2017, S. 216–232. 34 Vgl. KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 3–13, Nr. 1. 35 Herzog Heinrich hatte seine Herrschaft – vor Elisabeth – ebenfalls 1537 reformiert. Vgl. G. Wartenberg, Die Einwirkungen Luthers auf die reformatorische Bewegung im Freiberger Gebiet und auf die Herausbildung des evangelischen Kirchenwesens unter Herzog Heinrich von Sachsen, in: HC 13 (1981/82), S. 93–117; ND in: Ders., Wittenberger Reformation und territoriale Politik. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von J. Flöter / M. Hein (AKThG 11), Leipzig 2003, S. 121–146; Ders., Herzogin Elisabeth (wie Anm. 26), S. 193. 36 Vgl. Mandat der Herzogin Elisabeth von Sachsen über die Priesterehe und den Abendmahlsempfang an den Rat der Stadt Mittweida, 1537 in: Stadtverwaltung Mittweida, StA, V.I. Nr. 8; vgl. auch ABKG, Bd. 4 (wie Anm. 24), S. 483, Nr. 3280; gedruckt in E. Werl, Aus der Reformationsgeschichte der Stadt Mittweida, in: F. Lau (Hg.), Das Hochstift Meißen. Aufsätze zur sächsischen Kirchengeschichte (HC Sonderbd. 1), Berlin 1973, S. 223–240, hier S. 228 f.; W. C. Pfau, Die Schützengesellschaft zu Waldheim und ihre Schwestergilden im Rochlitzer Amt zur Reformationszeit. Ein Beitrag zur Waldheimer Reformationsgeschichte, Waldheim 1917, S. 10; A. C. Kretzschmar, Nachrichten aus der alten und neuen Zeit, welche die Stadt Mittweyda betreffen […], Bd. 1, Mittweida 1839, S. 80–83. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) 215 Abb. 3: Mandat der Herzogin Elisabeth von Sachsen an den Rat der Stadt Mittweida über die Priesterehe und den Abendmahlsempfang, 1537 [Stadtverwaltung Mittweida, Stadtar­ chiv, V.I. Nr. 8, fol. 1r]. Herrschaftsbereich auf. Günther Wartenberg hält treffend fest, dass Elisabeth „auf Drängen der Bewohner, auf Zureden von Landgraf Philipp und Kurfürst Johann Friedrich, unter Drohungen von Herzog Georg, aber aus eigener Überzeugung handelte“.37 Zur Durchsetzung der Reformation löste sie mit der Anstellung Anton Musas (ca. 1485–1547) eine wichtige Personalie. Als Prediger und Superintendent von Jena hatte er bereits im sächsischen Kurfürstentum am Aufbau des evangelischen Kirchenwesens mitgewirkt. Aus dem Briefwechsel geht hervor, dass Kurfürst Johann Friedrich Musa nach Rochlitz schickte, wo er die Funktion des Pfarrers und eines Superintendenten übernahm.38 In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Elisabeth, Herzog Georg und den Bischöfen. Der Meißner 37 G. Wartenberg, Herzogin Elisabeth (wie Anm. 26), S. 193. 38 Vgl. S. Siebert, Musa, Anton, in: BBKL, Bd. 6: Moenius Georg bis Patijn, Constantijn Leopold, Nordhausen 1993, Sp. 370–372. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 216 Jens Klingner Bischof reagierte auf Musas Anstellung: Die Herzogin könne nicht geistliches Oberhaupt sein. Eine Einmischung soll sie sich als eine Weibsperson nicht anmaßen, auch wenn sie als Fürstin aus einem berühmten Geschlecht stamme.39 Die Argumentation des Bischofs folgte dem traditionellen Rollenmuster – der Unterordnung des weiblichen Geschlechts unter den Mann. Elisabeth begründete ihrerseits die Endscheidungsgewalt mit ihrem Recht als Regentin ihres Wittums.40 Im April 1538 schlug Landgraf Philipp zuerst der Herzogin und wenig später in Braunschweig den Bundgenossen die Aufnahme seiner Schwester in den Schmalkaldischen Bund vor. Als Mitglied des Bundes konnte die Herzogin im Notfall militärischen Beistand erwarten. Dieser Schritt sicherte letztlich die Einführung der Reformation politisch ab.41 Bereits Ende Januar 1538 hatte Herzog Georg resignierend dem Merseburger Bischof geschrieben, wenn sich Elisabeth über die Verbote hinwegsetze, mussen wyr es auch dabey wenden lassen, biß so lang eynn mahl eynn besserung gefunden werden mug.42 *** Die Korrespondenz Herzogin Elisabeths zählt wegen ihrer thematischen Vielschichtigkeit zu den materialreichsten persönlichen Quellenzeugnissen der Reformationszeit und bietet einen außergewöhnlichen Einblick in weibliche Lebenswelten der Frühen Neuzeit. Allerdings wurden das Leben und Wirken Herzogin Elisabeths von der Landesgeschichte zunächst wenig beachtet und erfuhren nur durch die heimatgeschichtliche Forschung in Rochlitz und Schmalkalden Aufmerksamkeit. Erst in den biografischen Darstellungen zu ihrem Bruder, Landgraf Philipp, ihrem Cousin Kurfürst Johann Friedrich sowie Kurfürst Moritz von Sachsen (1541/47–1553) rückte sie im 19. Jahrhundert in das Blickfeld der Historiker, ohne dass jedoch ihre reformationsgeschichtliche Bedeutung bedacht worden wäre.43 Einzelstudien, die Elisabeth zum Thema hatten, entstanden nicht vor dem 20. Jahrhundert: Gerhard Planitz legte 1904 seine Untersuchungen zu ihrer Verheiratung sowie zur Einführung der Reformation im Rochlitzer Wittum vor.44 20 Jahre später ging Elisabeth Werl im Rahmen ihres Promotionsvorhabens an die Abfassung einer Biografie. Davon erschien aber nur der erste 39 40 41 42 43 44 ABKG, Bd. 4 (wie Anm. 24), S. 522 f., Nr. 3323. Vgl. J. Klingner, Elisabeth von Sachsen (wie Anm. 33), S. 229 ff. Vgl. ABKG, Bd. 4 (wie Anm. 24), S. 458, Nr. 3243. Ebd., S. 505, Nr. 3304. Vgl. KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. IX–XIV. Vgl. G. Planitz, Zur Einführung der Reformation in den Ämtern Rochlitz und Kriebstein, in: BSKG 17 (1903), S. 24–141; Ders., Zur Heiratsgeschichte der Herzogin von Rochlitz, in: NASG 24 (1903), S. 79–99. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) 217 Teil, der die Jugendjahre Elisabeths in Hessen und ihre Ehezeit am Dresdner Hof bis 1537 umfasst.45 Werl ist es zu verdanken, dass die Korrespondenz Elisabeths mit wichtigen ergänzenden Quellen aus den verschiedenen Archiven erstmals zusammengetragen wurde. Auf diesen Vorarbeiten fußt das aktuelle Editionsprojekt am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Nachdrücklicher als bisher rückt es die Briefe Herzogin Elisabeths von Sachsen in den Blickpunkt der Forschung und wird sämtliche überlieferte Schreiben im Volltext und umfassend kommentiert zur Verfügung stellen. Betrachtet man die Korrespondenz unter dem eingangs erwähnten Gesichtspunkt ihres Quellenwertes für die Reformationsgeschichte, so sind bereits zum gegenwärtigen Stand der Forschung zumindest die folgenden vier Punkte festzuhalten: Erstens belegt die Korrespondenz mit zahlreichen Beispielen den mehr oder weniger starken Einfluss, den Elisabeth und die Reformationsfürsten, Landgraf Philipp von Hessen und der ernestinische Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen aufeinander genommen haben. Die Fürstin füllte je nach Lebenssituation verschiedene Rollen aus: als besorgte Schwester, die um ihren Bruder bangte; als Ratgeberin für den Umgang mit Herzog Georg; als Fürsprecherin und Komplizin Johann Friedrichs und Philipps am Dresdner Hof; als Vermittlerin zwischen den zerstrittenen Fürsten; oder später als Spionin im Schmalkaldischen Krieg. Ihr Briefwechsel ergänzt die vielbeachteten Quellen der männlichen Protagonisten der Reformationszeit und setzt insofern einen Kontrapunkt zu den Sichtweisen der Fürsten. Zweitens liefert die Korrespondenz Hintergrundinformationen zu politischen Geschehnissen der Zeit. Nahezu jeder Brief nimmt Bezug auf aktuelle Ereignisse. Elisabeth berichtete darüber, was sie erfuhr und wie sie selbst darüber urteilte. Gespräche der Fürsten gab sie aus erster oder zweiter Hand wieder. Unter anderem schilderte sie das Zustandekommen von Verträgen, beschrieb die Haltung des Adels oder die Stimmung bei Hof oder in der Stadt. Sogar aufschlussreiche theologische Diskussionen am Hof und mit Herzog Georg und seinen Räten hielt sie fest und gab damit einen seltenen Einblick in die diskursive Meinungsbildung der Dresdner Herrschaftselite. Der Wert ihrer Mitteilungen erhöht sich dadurch, dass sie deutlich Tatsachenberichte und Gerüchte unterschied. Ferner bewertete sie ihre Quellen und prüfte die Glaubwürdigkeit der an sie überbrachten Aussagen und fragte – wie im zu Beginn angeführten Beispiel – ihre Briefpartner überdies nach der Richtigkeit der Meldungen. Von Bedeutung sind auch die zusammen mit ihren Briefen versandten und weitergeleiteten Beilagen; 45 Vgl. E. Werl, Elisabeth, Herzogin zu Sachsen (wie Anm. 26). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 218 Jens Klingner dazu zählen einfache Zettel, mehrseitige Instruktionen oder Protokolle bzw. Konzepte von Verträgen. Drittens zeigen Elisabeths Briefe (wie das genannte Mandat von Mittweida) ihr herrschaftliches Handeln zur Einführung und Durchsetzung der Reformation in ihrem Wittum; dieser Gesichtspunkt wird in den kommenden Bänden der Edition sicherlich noch stärker ins Blickfeld rücken. Und nicht zuletzt sind viertens die Briefe der Herzogin eine ganz persönliche Korrespondenz, in der sie nicht nur über Befindlichkeiten, Gefühle, Sexualität und Krankheiten schrieb (was an sich schon ungewöhnlich genug ist), sondern auch ihre eigenen religiösen Anschauungen festhielt. Der Briefwechsel dokumentiert politische Geschehnisse und religiöse Diskurse. Die außerordentliche reformationsgeschichtliche Bedeutung des Briefwechsels liegt somit auf der Hand. Mehr noch: Die Korrespondenz erhellt die eigenen, ganz persönlichen Vorstellungen einer eindrucksvollen Frau des Reformationszeitalters. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 INSTITUTIONEN IM REFORMATORISCHEN ­KOMMUNIKATIONSPROZESS Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Enno Bünz Stadtpfarrkirchen und Reformation Wandel und Bestand am Beispiel Leipzigs Vorbemerkung Das kirchliche Leben der Städte wurde vor wie nach der Reformation ganz wesentlich von den Pfarrkirchen geprägt, die für die religiöse Versorgung der Bevölkerung unverzichtbar waren. Die Pfarrei1 ist als die wichtigste kirchliche Institution vor Ort anzusehen, ungeachtet des Umstandes, dass es in vielen Städten weitere geistliche Institutionen gab, vor allem Niederlassungen der Bettelorden und anderer geistlicher Gemeinschaften, aber auch Kapellen, die beispielsweise mit Hospitälern verbunden waren.2 Die Pfarrkirchen waren nicht nur die Zentren der Seelsorge, an die die Bevölkerung durch den Pfarrzwang gebunden war, sondern sie waren auch wichtige Bezugspunkte der städtischen Frömmigkeit und Identität, in denen sich vor allem das Bürgertum durch Altar- und Bilderstiftungen, Gräber und Epitaphien manifestierte. Im Gegensatz zu den Klöstern, deren geistliche Gemeinschaften im Zuge der Reformation aufgehoben wurden, und der Kapellen, die als Stätten der Privatfrömmigkeit zumeist ihre Bedeutung verloren und abgerissen oder profaniert wurden, haben die Pfarrkirchen in der Regel über die Reformation hinaus fortbestanden, wurden dabei aber vom religiösen Umbruch erfasst und verwandelt. Sie erwiesen sich gerade durch Beständigkeit wie Anpassungsfähigkeit als „die erfolgreichste Institution des Mittelalters“, letztlich bis heute!3 Systematisch untersucht wurden die hiermit zusammenhängenden 1 2 3 Vgl. W. Petke, Die Pfarrei. Ein Institut von langer Dauer als Forschungsaufgabe, in: E. Bünz / K.-J. Lorenzen-Schmidt (Hgg.), Klerus, Kirche, Frömmigkeit im mittelalterlichen Schleswig-Holstein (SWSGSH 41), Neumünster 2006, S. 17–49; N. Kruppa (Hg.), Pfarreien im Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich (VMPIG 238; SGS 32), Göttingen 2008; W. Freitag (Hg.), Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern – Bürgerkirche – Urbanes Zentrum (Städteforschung A 82), Köln/Weimar/Wien 2011; E. Bünz / G. Fouquet (Hgg.), Die Pfarrei im späten Mittelalter (VuF 77), Ostfildern 2013; E. Bünz, Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.–16. Jahrhundert (SMHR 96), Tübingen 2017. Vgl. E. Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln/Weimar/Wien 22014, hier S. 605–668, zum Themenbereich „Stadt und Kirche“ mit umfassenden Literaturangaben ebd., S. 1056–1063. E. Bünz, Die erfolgreichste Institution des Mittelalters: Die Pfarrei, in: D. Klein (Hg.) / Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 222 Enno Bünz Fragen bislang nicht; die Forschung hat sich vor allem für Wandel und Bestand der Kirchenausstattung interessiert,4 doch sollten auch andere Aspekte wie der Wandel kultureller Praktiken und Mentalitäten,5 aber auch die Veränderungen der Kirchenverfassung und der rechtlichen Rahmenbedingungen nicht außer Acht bleiben. Diese Entwicklung soll im Folgenden exemplarisch anhand der Leipziger Pfarrkirchen im Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit betrachtet werden. Im Mittelpunkt wird dabei die Frage nach Wandel und Bestand in der Reformationszeit stehen. Leipzig ist dafür ein besonders interessantes Beispiel, denn die Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai gehören zu den berühmtesten Pfarrkirchen der Welt.6 Die Thomaskirche ist untrennbar mit dem Wirken des Kantors Johann Sebastian Bach (1685–1750) in den Jahren von 1723 bis 4 5 6 M. Frankl / F. Fuchs (Mitarb.), Überall ist Mittelalter. Zur Aktualität einer vergangenen Epoche (Würzburger Ringvorlesungen 11), Würzburg 2015, S. 109–138. Vgl. etwa die Beiträge in W. Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst. Katalog der Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, 11. November 1983–8. Januar 1984, München 1983; und in J. M. Fritz (Hg.), Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen Kirchen, Regensbur 1997; H. Mai, Der Einfluß der Reformation auf Kirchenbau und kirchliche Kunst, in: H. Junghans (Hg.), Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Leipzig 2005, S. 153–176; P. Knüvener, Was bleibt? Was kann weg? Die Umwandlung mittelalterlicher Kirchenausstattungen nach Einführung der Reformation in Brandenburg und in den Lausitzen, in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.), Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (SBVL 20), Berlin 2017, S. 362–389; G. Weilandt, Der Kirchenbau und der Wandel in der Kirchenausstattung im südwestlichen Ostseeraum in den ersten Jahrzehnten der Reformation, in: K. Baumann / J. Krüger / U. Kuhl (Hgg.), Luthers Norden. Katalog zur Ausstellung Pommersches Landesmuseum Greifswald 14. Mai–3. September 2017 und Stiftung Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf, Schleswig, 8. Oktober 2017–28. Januar 2018, Petersberg 2017, S. 196–205; J. Harasimowicz / B. Seyderhelm (Hgg.), Cranachs Kirche. Begleitbuch zur Landesausstellung Sachsen-Anhalt Cranach der Jüngere 2015, Beucha/Markkleeberg 2015 (Ausstattung der Stadtpfarrkirche in Wittenberg); materialreich hinsichtlich der Kirchenausstattung ist J. A. Steiger, Gedächtnisorte der Reformation. Sakrale Kunst im Norden (16.–18. Jahrhundert), B. 1: A–K; Bd. 2: L–Z, Regensburg 2016. Dazu nun S. C. Karant-Nunn, The Reformation of Feeling. Shaping the Religious Emotions in Early Modern Germany, Oxford 2010; Dies., Tod, wo ist Dein Stachel? Kontinuität und Neuerung bei Tod und Begräbnis in der jungen evangelischen Kirche, in: C. Magin / U. Schindel / C. Wulf (Hgg.), Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext, Wiesbaden 2008, S. 193–204. Vgl. E. Bünz, Mehr als nur die berühmtesten Pfarrkirchen der Welt. Das kirchliche Leipzig vor der Reformation, in: S. Blattner / C. Dertinger / W. Meier / J. Neudert (Red.), Glaube – Kirche – Stadt. FS zur Kirchweihe der katholischen Propsteikirche Leipzig, Leipzig 2015, S. 10–21, erweiterter ND in: SächsHbll 61 (2015), S. 107–121. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 223 1750 verbunden;7 und auf die Nikolaikirche richteten sich im Herbst 1989 die Augen der Welt, als von dort eine Protestbewegung ausging, die den Untergang der DDR eingeläutet hat.8 Beide Kirchen waren aber bereits seit dem hohen Mittelalter Teil der Stadtgeschichte Leipzigs und verdeutlichen damit, dass die Pfarrei eine Institution von ‚langer Dauer‘ ist. Sowohl St. Thomas,9 seit 1212 zugleich Stiftskirche der Augustiner-Chorherren, als auch St. Nikolai10 sind – jede auf ihre Weise – ein Spiegel kommunaler Geschichte. Dies gilt auch für die dritte Pfarrkirche in Leipzig, die heute völlig vergessen ist: St. Jakob lag außerhalb des Mauerrings im Nordwesten der Stadt im sog. Naundörfchen bei der Rannischen Vorstadt und wurde wenige Jahre nach Einführung der Reformation in Leipzig abgerissen.11 Diese Pfarrkirche ist im öffentlichen Bewusstsein gar nicht mehr präsent, was umso bedauerlicher ist, weil St. Jakob im Gegensatz zu St. Thomas 7 Vgl. A. Glöckner, Die Ära Johann Sebastian Bachs, in: D. Döring (Hg.) / U. John / H. Steinführer (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2: Von der Reformation bis zum Wiener Kongress, Leipzig 2016, S. 534–550, bes. S. 541–545. 8 Vgl. K. Löffler, Leipziger Herbst 1989, in: U. von Hehl (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 4: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Leipzig 2019, S. 758–794, S. 1055–1061. 9 H. Magirius, Evangelisch-lutherische Stadtpfarrkirche St. Thomas, in: Ders. / H. Mai / T. Trajkovits / W. Werner (Bearb.), Stadt Leipzig. Die Sakralbauten. Mit einem Überblick über die städtebauliche Entwicklung von den Anfängen bis 1989, 2 Bde. (Die Bau- und Kunstdenkmäler von Sachsen), München 1995, Bd. 1, S. 153–335, mit umfangreichen bibliografischen Nachweisen S. 153 ff. Eine umfassende Geschichte sowohl des Thomasstifts als auch der Thomaspfarrei steht noch aus. Knappe Gesamtdarstellungen mit dem Schwerpunkt auf der nachreformatorischen Zeit bieten H. Stiehl (Hg.), 750 Jahre St. Thomas zu Leipzig, Berlin 41984; und M. Petzoldt (Hg.), Thomaskirche Leipzig, Leipzig 2012; grundlegend für die Geschichte von Stift und Pfarrei nun die Beiträge in: D. Zerbe (Hg.), 800 Jahre St. Thomas zu Leipzig. Ein Gang durch die Geschichte, Leipzig 2013; sowie E. Bünz, Pfarreien und Kapellen, in: Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, Leipzig 2015, S. 454–481, S. 880–887; zu St. Thomas vgl. ebd., S. 465–468; Ders., Klöster und Stifte, ebd. S. 482–498, S. 888 ff.; zum Thomasstift vgl. ebd., S. 484–488. 10 Vgl. H. Magirius, Evangelisch-lutherische Stadtpfarrkirche St. Nikolai, in: Ders. / H. Mai / T. Trajkovits / W. Werner (Bearb.), Stadt Leipzig. Die Sakralbauten (wie Anm. 9), S. 337–474; eine kurze Gesamtdarstellung bietet F. Ostarhild, St. Nikolai zu Leipzig. Geschichte des Gotteshauses und der Gemeinde 1160–1960, Berlin 1964; weiterführend nun die Beiträge in A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig. 850 Jahre Kirche in der Stadt, Petersberg 2015; E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 469–473. 11 Vgl. M. Cottin / H. Steinführer, Die Leipziger Jakobskirche – ein Schlüssel zur frühen Stadtgeschichte?, in: K. Herbers / E. Bünz (Hgg.), Der Jakobuskult in Sachsen ( Jakobus-Studien 17), Tübingen 2007, S. 97–112; E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 474 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 224 Enno Bünz und St. Nikolai eine in mancher Hinsicht recht aussagekräftige Überlieferung aufweist. Teile des Pfarrarchivs gelangten nach der Aufhebung der Parochie 1544 in das Ratsarchiv.12 Die Kirchenarchive von St. Thomas und St. Nikolai sind hingegen bis heute vor Ort geblieben; die mittelalterliche Überlieferung ist offenbar nach der Reformation kassiert worden, doch fehlen Untersuchungen über die Zusammensetzung und Entwicklung der Archivbestände.13 Da beide Pfarrkirchen aber eng mit dem Thomasstift zusammenhingen, hat sich in dessen Archiv, das nach der Säkularisation des Stiftes 1540 an die Stadt gefallen ist, doch manches erhalten, und anderes wurde – weil es die Bürgerkirche St. Nikolai betraf – auch in die Ratsbücher eingetragen.14 Die Leipziger Pfarrkirchen haben bislang vor allem aus kunstgeschichtlicher Sicht Interesse gefunden.15 12 Diese Quellen, darunter zwei spätmittelalterliche Bibliothekskataloge der Pfarrei, werde ich in einer gesonderten Studie edieren und auswerten. 13 Einige Hinweise zu den Kirchenarchiven gibt H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 153; Ders., Stadtpfarrkirche St. Nikolai (wie Anm. 10), S. 337. 14 Die städtischen Urkunden sind bis 1485, die der Klöster und Stifte bis zu ihrer Aufhebung durch die Reformation 1539/40 gedruckt in: UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett (CDSR II/8-9), Bd. 1–2, Leipzig 1868/70; UB Leipzig, ed. J. Förstemann (CDSR II/10), Bd. 3, Leipzig 1894; Bd. 1 enthält die städtischen Urkunden, Bd. 2 die Urkunden des Thomasstifts, Bd. 3 die Urkunden der übrigen Klöster; einige einschlägige Urkunden finden sich auch in: Urkundenbuch der Universität Leipzig von 1409 bis 1555, ed. B. Stübel (CDSR II/11), Leipzig 1879; die ältesten Stadtbücher wurden ediert in: Die Leipziger Ratsbücher 1466–1500. Forschung und Edition, ed. H. Steinführer (QMGSL 1), 2 Bde., Leipzig 2003; die Edition der Ratsbücher 3 und 4 bereitet Dr. Jens Kunze (Wermsdorf ) vor. Urkundliche Einträge aus den Ratsbüchern 1 und 2, die die Nikolaikirche betreffen, finden sich in: UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (s. o.); während Einträge aus den jüngeren Ratsbüchern (nach 1500) dort nicht berücksichtigt wurden; zur Überlieferung der Ratsbücher und anderer städtischer Amtsbücher bis 1500 vgl. Leipziger Ratsbücher, ed. H. Steinführer, Bd. 1 (s. o.), S. XXXVII–XXXIX; Quellenwert besitzt auch die im 16. Jahrhundert verfasste, älteste gedruckte Darstellung der Leipziger Stadtgeschichte: D. Peifer, Lipsia religiosa, seu originum Lipsiensium libri IV […], Merseburg/Leipzig: Reinhard Wächtler 1689 (VD17 23:305928H, VD17 39:126759F); hier zitiert nach dem übersetzten Auszug in Ders., Das religiöse Leipzig oder Buch III des Leipziger Ursprungs und seiner Geschichte (Lipsia religiosa seu originum et rerum Lipsiensium Liber III), ed. G. Löwe nach der Übersetzung von E. von Reeken (Leipziger Hefte 5), Beucha 1996. Eine wissenschaftliche Bearbeitung der Leipziger Inschriften im Rahmen des Corpus-Werkes „Die Deutschen Inschriften bis 1650“ fehlt; die umfassendste Sammlung bietet noch immer S. Stepner, Inscriptiones Lipsienses. Das ist: Verzeichnis allerhand denckwürdiger Uberschrifftten, Grab- und Gedächtnis-Mahle in Leipzig […], Leipzig: Nicolaus Scipio 1686 (VD17 14:015022L). 15 Vgl. neben der in Anm. 9 f. genannten Literatur auch H. Magirius, Die Stadtpfarrkirchen St. Thomas und St. Nikolai – Ihre Vorgängerbauten im hohen Mittelalter, in: E. Ullmann Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 225 Die Geschichte der mittelalterlichen Pfarrkirchen Leipzigs in institutioneller wie personeller Hinsicht ist hingegen lange unbearbeitet geblieben.16 Erst in den letzten Jahren hat sich der Forschungsstand etwas verbessert, weil anlässlich der 800-Jahrfeier der Thomaskirche und der 850-Jahrfeier von St. Nikolai, aber auch anlässlich der 1000-Jahrfeier Leipzigs neuere Publikationen erschienen sind.17 Dabei ist allerdings kritisch anzumerken, dass die Beschäftigung mit der Pfarreigeschichte nach wie vor Historiker wie Kirchenhistoriker vor manche Probleme stellt. Die Defizite, die bei diesen Jubiläen und den begleitenden Publikationen deutlich geworden sind, können hier nicht ausführlich thematisiert werden. Die Beschäftigung mit diesen Kirchen erschöpft sich nur allzu schnell in der Behandlung einzelner Pfarrgeistlicher, die im Rahmen größerer kirchengeschichtlicher Bezüge und vor allem theologisch-dogmatischer Diskurse gesehen und eingeordnet werden. Gewiss ist es interessant, ob ein Pfarrgeistlicher Gnesiolutheraner oder Kryptocalvinist war, aber nicht weniger interessant ist es, nach seinem Engagement als Seelsorger, dem Verhältnis zur Gemeinde usw. zu fragen. Es fehlt zumeist auch der institutionengeschichtliche Blick auf die Pfarrei und dessen Erweiterung um sozialgeschichtliche Dimensionen, also die Pfarreigeschichte aus der Perspektive (Hg.), „… die ganze Welt im kleinen …“. Kunst und Kunstgeschichte in Leipzig (Seemann-Beiträge zur Kunstwissenschaft), Leipzig 1989, S. 12–33; und W. Hocquél, Die Nikolaikirche zu Leipzig im Mittelalter, in: Ders., Archäologie und Architektur. Das frühe Leipzig, Beucha 2003, S. 82–98; die beide aber nur die Baugeschichte behandeln. Sehr knappe Abrisse bieten das Büchlein von M. Gretzschel / H. Mai, Kirchen in Leipzig (SLGV NF 2), Beucha 1993; und H. Magirius, Von der spätromanischen Basilika zur spätgotischen Hallenkirche. Restaurierungen und Umbauten der Nikolaikirche bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 158–181. 16 Immer noch nützlich ist K. C. C. Gretschel, Kirchliche Zustände Leipzigs vor und während der Reformation im Jahre 1539. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte der sächs. Lande, so wie eine Gedenkschrift zur 300jährigen Jubelfeier der leipziger Reformation. Großentheil nach ungedruckten Quellen, Leipzig 1839, bes. S. 76–112 über die Pfarrkirchen; G. Wustmann, Geschichte der Stadt Leipzig. Bilder und Studien, Bd. 1, Leipzig 1905, S. 22 f.; G. Buchwald, Reformationsgeschichte der Stadt Leipzig, Leipzig 1900; W. Schlesinger, Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter, 2 Bde. (MF 27/1–2), Köln/Wien 21983, hier Bd. 2: Das Zeitalter der deutschen Ostsiedlung (1100–1300), S. 412 f. 17 Vgl. E. Bünz / A. Kohnle (Hgg.) / S. Kusche (Red.), Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart (QFGSL 6), Leipzig 2013; S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana. Glauben – Singen – Lernen. FS zum Jubiläum von Thomaskirche, Thomaschor und Thomasschule, Wettin-Löbejün 2012; D. Zerbe (Hg.), 800 Jahre St. Thomas (wie Anm. 9); M. Petzoldt (Hg.), Thomaskirche (wie Anm. 9); A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10); E. Bünz (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 226 Enno Bünz des Klerus, der Laien und der Gemeinde, die Frage nach ihren Einwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Die mittelalterlichen Grundlagen Die Entwicklung des Leipziger Kirchenwesens im Mittelalter ist schnell skizziert. Die urbs Libzi ist 1015 erstmals bei Thietmar von Merseburg (975–1018) belegt, und bereits zum Jahr 1017 erwähnt dieser Chronist die Schenkung einer Kirche in Leipzig an das Bistum Merseburg.18 Um welche Kirche es sich handelte, erwähnt Thietmar nicht, er schreibt nur von einer ecclesia. Ursprünglich verfügte das Königtum über die urbs, d. h. Burgward Leipzig, doch gelangte Leipzig im Laufe des Hochmittelalters in die Hände der Wettiner als Markgrafen von Meißen. Die Wettiner haben im Laufe des 12. Jahrhunderts die Entwicklung Leipzigs zur Stadt entscheidend gefördert.19 Dazu gehörte der großzügige Ausbau des Kirchenwesens, ablesbar daran, dass die Markgrafen wohl schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Pfarrkirche St. Thomas, in der zweiten Hälfte die Pfarrkirche St. Nikolai gründeten. Beide Kirchen waren nachweislich Eigenkirchen des Markgrafen. Das wird deutlich, als Markgraf Dietrich (1198–1221) 1212/13 das Augustinerchorherrenstift St. Thomas als erste monastische Gemeinschaft in Leipzig stiftet. 1213 hat dieser Markgraf beide Pfarrkirchen mit ihrer Dotation, darunter mehrere Dörfer, dem Thomasstift zu vollem Eigen geschenkt. Das Thomasstift hat sich dann 1218 und 1220 in zwei Urkunden von Papst Honorius III. (1216–1227) den Besitz der beiden Leipziger Pfarrkirchen bestätigen lassen.20 Wir fassen hiermit eine frühe Form der Inkorporation in Mitteldeutschland.21 Dieses Inkorporationsverhältnis hat die kirchlichen Verhältnisse der Stadt Leipzig bis zur Reformation maßgeblich geprägt. St. Thomas war Pfarr- und Stiftskirche zugleich, St. Nikolai hingegen nur Pfarrkirche. Beide Kirchen verfügten über ungefähr gleich große Pfarrsprengel.22 Die Pfarrseelsorge wurde an beiden 18 Vgl. E. Bünz, Die Chronik Thietmars von Merseburg und die Ersterwähnung von 1015, in: Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 86–89 und S. 798 f. 19 Vgl. Ders., Entstehung und Entwicklung der Stadt im 12. und 13. Jahrhundert, in: ebd. S. 123–143 und S. 805–811. 20 Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 2 f., Nr. 2, S. 5, Nr. 5, S. 6, Nr. 7. 21 Vgl. W. Schlesinger, Kirchengeschichte, Bd. 2 (wie Anm. 16), S. 587 ff. 22 Vgl. M. Wejwoda, Pfarrzwang, Grabstätten und Steuerlisten. Zur Rekonstruktion der Sprengel Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 227 Kirchen von Angehörigen des Chorherrenstifts St. Thomas versehen, also von Ordensgeistlichen, denen allerdings in beiden Kirchen Weltgeistliche als Unterpfarrer, Kapläne, Prediger und Frühmessner zur Seite standen. In der Thomaskirche wurde erst durch Apollonia von Wiedebach (1470–1526) testamentarisch 1526 eine Prädikatur gestiftet.23 Schon seit dem Hochmittelalter bestand in Leipzig als dritte Pfarrkirche St. Jakob vor den Mauern, deren Siedlung zwar bis 1503 nicht zur Stadt Leipzig gehörte, wohl aber innerhalb des Weichbildes der Stadt lag. Die Jakobsparochie, 1226 erstmals urkundlich genannt, gehörte – warum auch immer – dem Schottenkloster in Erfurt. Als die dortigen Benediktiner 1484 in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten, verkauften sie das Patronatsrecht an den Leipziger Stadtrat, der damit in vorreformatorischer Zeit seine kirchlichen Kompetenzen, wenn auch in einem sehr überschaubaren Rahmen, ausbauen konnte.24 Ansonsten kontrollierte das Thomasstift weitgehend die Kirchen und Kapellen in der Stadt. Lediglich die beiden Hospitalkapellen vor den Stadtmauern – St. Georg und St. Johannes – und die Ratskapelle im Rathaus blieben dem Zugriff der Augustinerchorherren entzogen.25 Ungeachtet dieser kirchlichen Rechte konnte der Rat aber schon seit dem späten Mittelalter die Kirchtürme von St. Thoma und St. Nikolai als Aussichtstürme nutzen, auf denen Wächter für die Sicherheit der Stadt fungierten. Diese „Hausmänner“, wie man die Turmwächter in Mitteldeutschland nannte, wurden von der Stadt bestellt und entlohnt.26 Zur Größe der Pfarrsprengel liegen aus dem Jahr 1534 recht präzise Zahlenangaben vor, denn im Auftrag Herzog Georgs wurden die Kommunikanten an 23 24 25 26 der Leipziger Pfarreien St. Thomas und St. Nikolai im Mittelalter, in: Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch 2012 (erschienen: Markkleeberg 2013), S. 15–31; die Karte umgezeichnet auch in: E. Bünz (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 461. Vgl. H. Jadatz, Apollonia von Wiedebach – eine Förderin der evangelischen Predigt an der Thomaskirche?, in: S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17), S. 146–155. Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 1 (wie Anm. 14), S. 438–441, Nr. 527 f.; zur ‚Kirchenpolitik‘ des Rates: E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 454 ff.; und Ders., Die Leipziger Ratskapelle im späten Mittelalter, in: Stadtgeschichte. MLGV. Jahrbuch 2007 (erschienen: Beucha 2008), S. 17–61. Über die Kapellen zuletzt E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 475–481; und H. Kühne, Frömmigkeit vor und nach der Reformation: Die Wallfahrt zur Heilig-Kreuz-Kapelle und der Leipziger Wunderbrunnen, in: E. Bünz / A. Kohnle (Hgg.) / S. Kusche (Red.), Religiöses Leipzig (wie Anm. 17), S. 63–85. Siehe dazu nun E. Bünz, Türmer, Hausmann, Hausmannsturm. Aussichtstürme in sächsischen Städten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Volkskunde in Sachsen. Jahrbuch für Kulturanthropologie 31 (2019 = Festschrift Andreas Martin) S. 165–176. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 228 Enno Bünz Ostern gezählt.27 In St. Nikolai haben 3.120 Gläubige kommuniziert, in St. Thomas mehr als 3.600 und in der Jakobsparochie 250. In der Nikolaiparochie war die tatsächliche Zahl der Kommunikanten sogar noch höher, weil in diesem Kirchspiel die meisten Universitätskollegien und Bursen lagen,28 so dass auch mehrere hundert Studenten die Gottesdienste besucht haben werden. Die Grenze zwischen den beiden Pfarrsprengeln von St. Thomas und St. Nikolai verlief innerhalb der Ummauerung von Süden nach Norden quer durch die Stadt. Aus vorreformatorischer Zeit ist keine Beschreibung der Sprengelgrenzen überliefert, doch lassen sich diese anhand der Bestattungspraxis rekonstruieren. Zwar haben sich in den Leipziger Pfarrkirchen nur wenige mittelalterliche Grabsteine und Epitaphien erhalten, aber der Leipziger Universitätsmagister Salomon Stepner hat im 17. Jahrhundert systematisch die damals noch vorhandenen Grabschriften gesammelt.29 Bis zur Einführung der Reformation lassen sich auf dieser Grundlage 74 Begräbnisse in der Thomaskirche und 75 in der Nikolaikirche nachweisen, von denen wiederum 71 bzw. 49 Bürgerfamilien zuzuweisen sind.30 Da sich für 40 in der Thomaskirche begrabene Bürger und für 36 Bürger, deren Grabstätte sich in St. Nikolai befand, anhand der Steuerregister des 15. und frühen 16. Jahrhunderts die Wohnadresse feststellen lässt, kann die Grenze zwischen den beiden Pfarrsprengeln recht genau rekonstruiert werden. Die Grenze verlief vom Peterstor im Süden der Stadt die Petersstraße entlang über den Marktplatz zur Katharinenstraße, folgte dieser bis zum Brühl, dort ein kurzes Stück Richtung Osten bis zur Hallischen Straße und dem Hallischen Tor im Norden. Der westliche Teil der Innenstadt und der Hallischen Vorstadt sowie die Rannische Vorstadt (mit Ausnahme der Jakobsparochie) gehörten zum Pfarrsprengel von St. Thomas, der östliche Teil der Innenstadt und der Hallischen Vorstadt sowie die Petersvorstadt und die Grimmaische Vorstadt bildeten den Sprengel des Kirchspiels von St. Nikolai. Darüber hinaus griffen beide Pfarrsprengel auch in das Umland aus und schlossen mehrere Dörfer mit ein.31 27 Vgl. ABKG, edd. H. Jadatz / C. Winter, Bd. 3: 1528–1534, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 726 f., Nr. 2444; vgl. dazu auch K. C. C. Gretschel, Kirchliche Zustände (wie Anm. 16), S. 226 f. 28 Vgl. E. Bünz, Gründung und Entfaltung: Die spätmittelalterliche Universität Leipzig 1409– 1539, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, hrsg. von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31, Leipzig 2009, S. 17–325, hier S. 105–125. 29 Vgl. S. Stepner, Inscriptiones Lipsienses (wie Anm. 14). 30 Vgl. M. Wejwoda, Pfarrzwang (wie Anm. 22), S. 15 ff. 31 Vgl. E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 460 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 229 Das Leipziger Schulwesen reicht bis in das Mittelalter zurück, war aber nicht Teil der Pfarreigeschichte und muss hier deshalb nicht weiter behandelt werden.32 Die bereits 1254 erwähnte Thomasschule war bis zur Aufhebung des Augustinerchorherrenstifts eine Klosterschule, die dann in städtische Trägerschaft überging, und die 1512 eröffnete Nikolaischule war von vornherein eine Ratsschule. Anders als in den meisten deutschen Städten lässt sich für Leipzig also nicht die typische Entwicklung von Pfarr- zu Ratsschulen feststellen. Ungeachtet dessen stellte der kirchliche Chordienst der Thomasschüler (schola Thomana) aber ein wichtiges verbindendes Element zwischen Schule und Kirche dar, das auch über die Reformation hinaus erhalten blieb. Zwischen Mittelalter und Reformation: Der Wandel der Friedhöfe Generell besteht die Auffassung,33 dass die Verlegung städtischer Friedhöfe vor die Mauern eine Folge der Reformation sei, doch trifft dies nicht zu. Schon aus chronologischen Gründen ist wenig wahrscheinlich, dass die Friedhofsverlegung in Leipzig mit reformatorischen Vorstellungen in Zusammenhang stand.34 Die beiden Leipziger Stadtpfarrkirchen St. Nikolai und St. Thomas 32 Dazu Ders., Schulwesen, in: Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 534–549 und S. 898–900; zu den Veränderungen des Leipzigers Schulwesens in der Reformationszeit vgl. T. Töpfer, Schule und Erziehung, in: D. Döring (Hg.) / U. John / H. Steinführer (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2 (wie Anm. 7), S. 442–472 und S. 892–896, hier bes. S. 447–453. 33 C. Koslofsky, The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Modern Germany, 1450–1700 (Early Modern History: Society and Culture), Houndmills/Basingstoke/Hampshire/London 2000, S. 41–46, betont, dass die Friedhöfe vor den Mauern erst im 16. Jahrhundert aufgekommen seien, was aber nicht zutrifft. Diese Entwicklung setzt tatsächlich schon im 15. Jahrhundert ein; unter Verweis auf diese Arbeit betont N. Fischer, Friedhof, in: EdN, Bd. 4: Friede-Gutsherrschaft, Stuttgart/Weimar 2004, Sp. 48–51, hier Sp. 49, dass die Friedhöfe in der Regel „erst im Anschluss an die Reformation (die einen Zusammenhang zwischen Bestattungsort und jenseitigem Seelenfrieden negierte)“ vor die Stadt verlegt wurden. Aus einer Fülle von Überblicksdarstellungen, die den Zusammenhang von Friedhofsverlegung und Reformation betonen, sei hier nur zitiert H. K. L. Schulze, „… darauf man mit Andacht gehen kann“. Historische Friedhöfe in Schleswig-Holstein (Kleine Schleswig-Holstein Bücher 49), Heide 1999, S. 25 f.; und B. Happe, Die Trennung von Kirche und Grab. Außerstädtische Begräbnisplätze im 16. und 17. Jahrhundert, in: R. Sörries (Hg.), Raum für Tote. Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung, Braunschweig 2003, S. 63–82. 34 Wie verbreitet diese Vorstellung ist, verdeutlicht z. B. das populäre Buch von P. Mewes / P. Benecken, Leipzigs Grün. Ein Park- und Gartenführer, Leipzig 2013, wo es S. 141 über den Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 230 Enno Bünz werden ebenso wie die vor den Mauern gelegene Pfarrei St. Jakob bereits seit dem 12. Jahrhundert über Begräbnisplätze verfügt haben, doch liegen darüber vor dem 15. Jahrhundert nur spärliche Quellenzeugnisse vor.35 Wer auf dem Kirchhof von St. Thomas bzw. von St. Nikolai beigesetzt wurde, hing von der Pfarrzugehörigkeit ab, doch ist über die Belegung der Friedhöfe im Einzelnen nichts bekannt. Dass der Pfarrzwang auch in dieser Hinsicht weitgehend befolgt wurde, zeigen aber die Beisetzungen in den Kirchen.36 Ihre Zahl war liminitiert, denn kirchenrechtlich war vorgeschrieben, dass nur Kleriker und hochrangige Laien innerhalb des Kirchenraumes beigesetzt werden konnten.37 Die Masse der Verstorbenen fand ihre letzte Ruhestätte auf den Kirchhöfen im Umfeld der Pfarrkirchen, doch war der Platz auch hier begrenzt und die Belegung wurde schon im ausgehenden Mittelalter aufgrund der demographischen Entwicklung der Stadt problematisch. Allein von 1481 bis 1529 war die Einwohnerzahl von 7.839 auf 9.221 angewachsen.38 Das Jahr 1475 markiert einen ersten Einschnitt in das Begräbniswesen der Stadt.39 Die Bevölkerungsentwicklung und eine durch Epidemien verursachte höhere Sterblichkeit führten dazu, dass die Grabplätze auf den Pfarrkirchhöfen 35 36 37 38 39 Johannisfriedhof heißt, die Verlegung durch Herzog Georg 1536 „stand im Kontext einer Forderung der lutherischen Reformation, nach der die Friedhöfe vor die Mauern verlagert werden sollten“. Vgl. P. Benndorf, Die Entwicklung des Begräbniswesens in Leipzig bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Stadtgeschichte, in: Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung, Nr. 11, 14. März 1908, S. 49–52; Ders., Der alte Johannisfriedhof in Leipzig. Ein Beitrag zur Stadtgeschichte, Leipzig 1922; E. Bünz, Friedhöfe und Begräbniswesen, in: Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 521–531 und S. 894–897. Siehe oben bei Anm. 29. Vgl. B. Schimmelpfennig, Begräbnis, Begräbnissitten, C. Kirchliches Begräbnisrecht, in: LexMa, Bd. 1: Aachen bis Bettelordenskirchen, München/Zürich 1980, Sp. 1807 f.: „Nur Geistliche und, seit dem 9. Jh., auch höhergestellte Laien durften innerhalb einer Kirche bestattet werden.“ Vgl. E. Bünz, Bevölkerungszahl, Sozialtopographie, Vermögensverteilung, in: Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 274–281 und S. 841–844, hier S. 278. Zum Folgenden vgl. vor allem die Studien von C. Koslofsky, Die Trennung der Lebenden von den Toten: Friedhofverlegungen und die Reformation in Leipzig, 1536, in: O. G. Oexle (Hg.), Memoria als Kultur (VMPIG 121), Göttingen 1995, S. 335–385; Ders., „Pest“ – „Gift“ – „Ketzerei“. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe (Leipzig 1536), in: B. Jussen / Ders. (Hgg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600 (VMPIG 145), Göttingen 1999, S. 193–238; Ders., Reformation of the Dead (wie Anm. 33), S. 54–76. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 231 allmählich knapp wurden. Seitens der Landesherrschaft (vff vnser geschefte vnnde beger, wie es in dem 1475 von Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht zwischen Stadt und Thomasstift vermittelten Vergleich heißt) wurde darauf gedrungen, den Friedhof von St. Johannis vor den Mauern auszubauen.40 1476 wurde der erweiterte Friedhof, der sich östlich der Johanniskirche erstreckte, eingeweiht. Wie aus dem Vergleich von 1475 hervorgeht, sollten die Bewohner der Dörfer und der Vorstädte (in den fursteten), die zwar kein volles Bürgerrecht hatten (die nicht foll burgerrecht haben), aber zu den Pfarrsprengeln von St. Thomas und St. Nikolai gehörten, künftig auf dem Friedhof des Johannisspitals beigesetzt werden. Von dieser Regelung ausgenommen waren nur die Bewohner der Hallischen Vorstadt, die in vollem burgerrecht sitzen. Der Propst des Thomasstifts hatte für die Begräbnisse einen Priester aus den Reihen der Augustinerchorherren abzustellen, der die toden vff dem kirchoff zcu sant Johannes vor vnser stat Liptzk zcu der erden bestaten sollte. Wie aus den Einzelbestimmungen des Vergleichs von 1475 hervorgeht (vor allem die Einnahme und Aufteilung der anfallenden Opfergelder und anderen Spenden), sollte dieser Priester dauerhaft an der Johanniskirche tätig sein. Der Vertrag ist dem Leipziger Rat 1484 von dem päpstlichen Legaten Bartolomeo Maraschi (ca. 1420–1487) bestätigt worden, als er sich im Stift Neuwerk bei Halle aufhielt; dabei wird übrigens ausdrücklich auf die latente Gefährdung der Stadt in Pestzeiten verwiesen, wenn zu jeder Tag- und Nachtzeit Begräbnisse auf den Friedhöfen der Stadt vorgenommen werden müssten.41 Die Neuordnung des Leipziger Begräbniswesens, die 1475 durch den Ausbau des Johannisfriedhofs eingeleitet worden war, sollte schließlich in die landesherrliche Begräbnisordnung von 1536 münden. Herzog Georg hat die Ordnung am 13. Januar beurkundet, die zwischen dem Leipziger Rat und dem Propst des Thomasstiftes durch die herzoglichen Räte Georg von Carlowitz (ca. 1471–1550), Georg von Breitenbach (ca. 1485–1540/41), ein Leipziger Jurist, und Andreas Pflug zu Löbnitz (1507–1560) ausgehandelt worden war.42 Zwischen dem Thomasstift und dem Leipziger Rat hätten sich, heißt es am Anfang des Vergleichs, der begrebtnissen halber in der vnnd vor der stadt irrungenn aus dem zugetragen, das es vonn wegenn der mennige des volcks vnnd vorstehennden sterbeleufftenn, so sich fast alle ihar sorgklich ereugt, nit vor guet anngesehenn, die absterbendenn for­ der in der stadt zubegrabenn. 40 UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 1 (wie Anm. 14), S. 409 f., Nr. 487. 41 Ebd., S. 443 f., Nr. 532. 42 Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 416 ff., Nr. 449; ABKG, edd. H. Jadatz / C. Winter, Bd. 4: 1535–1539, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 245 f., Nr. 2942. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 232 Enno Bünz Die erste und wichtigste Bestimmung war, das das begrebnis zcw s. Johanns hin­ furder gelegt vnnd der kirchoff mit der zeit geweittert werde, wofür der Rat durch Verschiebung des Franzosenhauses Platz schaffen sollte, welcher raum volgennde auch geweihet werdenn soll. Ausgenommen von dieser Regelung wurden die Adligen, die ihr Begräbnis in den Klöstern haben. Ansonsten waren Beisetzungen in den beiden Bettelordensklöstern der Dominikaner und Franziskaner weiterhin möglich, sofern die Erben zwei silberne Schock an den zuständigen Pfarrer vor sein pfarrecht und zwei gute Schock an die Kirchenfabrik zahlten. Entsprechende Abgaben an den Pfarrer und die Kirche von St. Thomas wurden fällig, wenn Personen, die itziger zeit bestettigte stiefftung ader gaistliche lehenn dorinnen habenn, dort beigesetzt werden sollten. Recht detailliert wurde geregelt, wie mit den Verstorbenen zu verfahren war, die auf dem Johannisfriedhof begraben wurden: Unabhängig davon, welchem Kirchspiel der Verstorbene angehörte, wurde der Leichnam nach St. Thomas gebracht – hier erstmals als die hauptpfarre bezeichnet43 – und von dort durch Priester und Schüler bis zum Grimmaischen Tor geleitet, sofern dies mit dem Propst nicht anders vereinbart wurde, und von dort holten den Leichnam dann einige Schüler und der Pfarrer von St. Johannis ab und begruben ihn dort. Wenn jemand vormittags begraben wurde, sollten Vigilien und Seelmesse in St. Johannis stattfinden, fand das Begräbnis nachmittags statt, wurden Vigilien und Seelmesse in der Pfarrei des Verstorbenen abgehalten. Wenn der Dreißigste bestellt wurde, sollte dieser stets in der pfarre, do der verstorben gewohnet hat, gehalten wer­ denn. Seelmessen und Begängnisse der Bruderschaften und anderer Personen, do keinne leiche ist, sollen in denn pfarrenn closternn vnnd kirchen gehaltenn werden, doreinn sie gehorenn vnnd gestiefft seinn, wie ietzundt geschicht. Diese Regelung sollte wohl sicherstellen, dass die Jahrtagsstiftungen weiter in den Pfarreien und anderen Kirchen der Stadt gestiftet wurden und nicht mit den Begräbnissen nach St. Johannis verlagert wurden. Mit dem Spolium der Verstorbenen, das in den beiden Pfarrkirchen anfiel, sollte wie bisher verfahren werden. Wütete in Leipzig eine Seuche, galten die Ausnahmegenehmigungen für Begräbnisse in den Pfarr- und Klosterkirchen allerdings nicht. In der Begräbnisordnung von 1536 heißt es vielmehr: Welcher aber im sterbenn ann der pestilenntz stirbet, denn sall mann an allenn vnderschaidt zw s. Johannes begrabenn, und dann auch ohne Versammlung, Geläut und Geleit durch die Schüler oder die freuntschafft des Verstorbenen und auch zu einer Tageszeit, wann wenig volcks auff der gassenn gehet, also bei Nacht und Nebel. Die Entscheidung, wann eine Seuche grassierte, wurde rational definiert: vnnd sall dis fals einn sterbenn heissenn, alledieweill eine 43 UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 417, Nr. 449: […] in s.Tho­ mas closter, weill dasselbige die hauptpfarre […]. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 233 woche in der stad vnnd vorstedtenn zwainntzig personn ann der pestilentz sterbenn. Der 1475 geschlossene Vergleich mit dem Thomasstift sollte übrigens weiter Gültigkeit haben. Die weitere Belegung des Friedhofs von St. Jakob vor den Mauern wurde durch die Begräbnisordnung nicht berührt. Erst mit der Aufhebung der Jakobsparochie 1543 wurde der Johannisfriedhof zum Begräbnisplatz der bisherigen Pfarrangehörigen. Widerstand gegen die Begräbnisordnung regte sich vor allem von Seiten der Universität, so dass Herzog Georg die Kirchhöfe zeitweilig überwachen lassen musste, damit dort keine Begräbnisse mehr vorgenommen wurden. Vor allem die Theologische Fakultät kritisierte die Begräbnisordnung als einen Bruch mit den bisher praktizierten Formen der Jenseitsfürsorge, weil die Bürger nicht länger in der Lage seien, „in der Gegenwart der Toten für die Toten zu handeln, weil der neue Friedhof zu weit von ihren Arbeitsstätten in der Stadt entfernt sei“.44 Der Merseburger Bischof Sigismund von Lindenau (1535–1544) befürchtete sogar einen Zusammenhang der Friedhofsverlegung mit lutherischen Ideen. Trotz anhaltender Kritik an der Begräbnisordnung, auch durch ein anonymes Klageschreiben, das dem Landesherrn zugesteckt wurde, hat Herzog Georg, dem man wahrlich keine Neigungen zur lutherischen Bewegung nachsagen konnte, an der Begräbnisordnung festgehalten. Nachdem die Verhandlungen mit der Universität, zuletzt auf dem Leipziger Ostermarkt, zu keinem Ergebnis geführt hatten, entschied der Herzog am 26. Mai 1536, dass Rektor, Magister und Studenten, sofern sie nicht das Bürgerrecht in Leipzig hätten, ihr Begräbnis bei den Franziskanern oder den Dominikanern wählen dürften. Sie mussten dafür aber dem Pfarrer und der Kirchenfabrik des Pfarrsprengels, zu dem sie gehörten, zur Abgeltung des Pfarrrechts jeweils ein Schock entrichten. Den Dreißigsten und den Jahrtag sollten sie hingegen begehen lassen, wo sie wollten. Damit mochte ein Kompromiss gefunden sein, der gleichermaßen den Interessen der Universitätsangehörigen, der Klöster und der Pfarreien (respektive des Thomasstifts) gerecht wurde. Weitere Klagen über die Begräbnisordnung sind jedenfalls nicht überliefert, und alle weiteren Klagen über die Trennung der Lebenden und der Toten sowie die Sorge um deren Seelenheil haben sich durch Einführung der Reformation 1539 ohnehin erledigt. 44 C. Koslofsky, Pest (wie Anm. 40), S. 198; vgl. grundsätzlich: O. G. Oexle, Die Gegenwart der Toten, in: H. Braet / W. Verbeke (Hgg.), Death in the Middle Ages (ML I/9), Leuven 1983, S. 19–77; wieder abgedruckt in Ders., Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, hrsg. von A. von Hülsen-Esch / B. Jussen / F. Rexroth Göttingen/Oakville 2011, S. 99–155. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 234 Enno Bünz Die Begräbnisordnung von 1536 zwang zur Änderung überkommener Gewohnheiten, stellte aber keineswegs grundsätzlich die altgläubige Begräbnisund Memorialpraxis in Frage.45 Die detaillierten Regelungen über die Begräbnisfeier, Abhaltung des Dreißigsten und Feier des Jahrtags zeigen dies zur Genüge. Von daher sollte man auch zurückhaltend sein, von einem „kulturell tiefgreifenden Wandel in der Haltung gegenüber den Toten“ zu sprechen, auch wenn der altgläubige Herzog Georg „sich von der neuen Ansicht [hatte, Anm. E. B.] überzeugen lassen, daß die Gesundheit der Lebenden gegenüber der Gegenwart der Toten Vorrang habe“.46 War dies tatsächlich so revolutionär? Die Ablösung der Friedhöfe von der Pfarrkirche ist ein Vorgang, der allenthalben im deutschsprachigen Raum seit dem ausgehenden Mittelalter einsetzt und im 16. Jahrhundert vielerorts durchgeführt wurde, übrigens stets mit dem Hinweis auf die anwachsende Bevölkerung und vermehrte Todesfälle durch Seuchenzüge.47 In Leipzig hatte man, wie erwähnt, schon 1474/75 aus diesem Grund das Begräbnis auf den Pfarrkirchhöfen eingeschränkt. In der bayerischen Residenzstadt München erwirkte man 1480 die päpstliche Genehmigung, die Kirchhöfe in der Stadt aufzugeben, ebenso in Freiburg im Breisgau 1513. In Nürnberg wurde vor den Toren 1519 der Rochusfriedhof angelegt und der Johannisfriedhof erweitert.48 Aufgrund der vielfältigen Beziehungen nicht nur der Messestadt, sondern auch Herzog Georgs nach Nürnberg wird diese Maßnahme in Leipzig gewiss nicht unbekannt geblieben sein. In Halle (Saale) wurde der Stadtgottesacker vor den Toren 1529 begründet. Womöglich registrierte man auch, dass selbst kleinere Städte ihren Kirchhof in der Stadt aufgaben, beispielsweise das thüringische Neustadt an der Orla, wo 1494/95 der Friedhof beim Lorenzhospital vor den Mauern zum allgemeinen Begräbnisplatz erhoben wurde.49 Ein Bruch mit 45 Lutheraner erhielten ein unehrliches Begräbnis, und Herzog Georg wies den Leipziger Rat am 23.3.1533 an, Anhänger der luterischen secten vnnd Nawygkayt ohne Geleit und kirchliche Zeremonien beizusetzen; ABKG, edd. H. Jadatz / C. Winter, Bd. 3 (wie Anm. 28), S. 561, Nr. 2220. 46 C. Koslofsky, Pest (wie Anm. 39), S. 204. 47 Zum Folgenden vor allem A. A. Tietz, Der frühneuzeitliche Gottesacker. Entstehung und Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des Architekturtypus Camposanto in Mitteldeutschland (Beiträge zur Denkmalkunde 8), Halle/Saale 2012, S. 17–31, mit weiteren Beispielen. 48 Vgl. A. Landois / U. Swoboda / H. Weingärtner / C. Maué (Red.), Hingeht die Zeit, herkommt der Todt. 500 Jahre Johannis- und Rochusfriedhof. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Stadtarchivs Nürnberg vom 25. Oktober 2018 bis zum 8. März 2019 (AKStA Nürnberg 26), Neustadt/Aisch 2018. 49 Vgl. E. Bünz, Die Bürger von Neustadt an der Orla und ihre Kirchen am Vorabend der Reformation, in: W. Greiling / U. Schirmer / R. Schwalbe (Hgg.), Der Altar von Lucas Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 235 der kirchlichen Praxis der Vorreformation war die Verlegung der Friedhöfe vor die Mauern der Städte allerdings nicht, denn sie blieben mit einem Gotteshaus verbunden, weshalb vielfach einfach die Hospitalfriedhöfe erweitert wurden, die mit einer Kapelle verbunden waren. Verzögerte Reformation in Leipzig seit 1539 Leipzig gehörte seit der wettinischen Landesteilung von 1485 zum albertinischen Herzogtum Sachsen.50 Das hatte weitreichende Konsequenzen, weil der seit 1500 allein regierende Albertiner Herzog Georg (reg. 1471–1539)51 spätestens seit der Leipziger Disputation von 1519 ein entschiedener Gegner der lutherischen Reformation war.52 Zwar regte sich seit 1524 in Leipzig, der größten und durch die drei großen Märkte wirtschaftlich prosperierenden Stadt im Herzogtum, eine lutherische Bewegung, doch gelang es Herzog Georg, das Eindringen der Reformation in seinem Territorium einzudämmen. Bis zum Tod des altgläubigen Landesherrn im April 1539 war diese antilutherische Politik auch erfolgreich. Im Vergleich zum ernestinischen Kurfürstentum Sachsen, das bereits in den 1520er Jahren von der Reformation erfasst wurde und nach 1525 eine evangelische Kirchenordnung durchsetzte, kann man für das Herzogtum Sachsen von einer verzögerten Reformation sprechen,53 und dies gilt natürlich auch für Leipzig, die bedeutendste Stadt im Herzogtum.54 50 51 52 53 54 Cranach d. Ä. in Neustadt an der Orla und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation (QFThZR 3; Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, Sonderbd.), Köln/Weimar/Wien 2014, S. 59–99, hier S. 88–90 und S. 99. Vgl. K. Blaschke, Die wettinischen Länder von der Leipziger Teilung 1485 bis zum Naumburger Vertrag 1554. Karte und Beiheft (AGLS C III 1), Dresden 2010. Vgl. C. Volkmar, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525 (SMHR 41), Tübingen 2008; englische Übersetzung: Ders., Catholic Reform in the Age of Luther. Duke George of Saxony and the Church, 1488–1525, translated by Brian McNeil and Bill Ray (SMRT 209), Leiden/Boston 2017. Vgl. M. Hein / A. Kohnle (Hgg.), Die Leipziger Disputation 1519. Ein theologisches Streitgespräch und seine Bedeutung für die frühe Reformation (HC Sonderbd. 25), Leipzig 2 2019. Vgl. E. Bünz, Getrennte Wege: Die Reformation im Kurfürstentum und im Herzogtum Sachsen (1517–1539/40), in: F.-L. Kroll / G. Redworth / D. J. Weiss (Hgg.), Deutschland und die Britischen Inseln im Reformationsgeschehen. Vergleich, Transfer, Verflechtungen (PAS 34; AKGB 97), Berlin 2018, S. 275–301. Vgl. A. Kohnle, Der lange Weg zur Reformation, in: E. Bünz (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 648–667 und S. 918–921; Ders., Kirche und lutherische Orthodoxie 1539–1650, in: D. Döring (Hg.) / U. John / H. Steinführer Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 236 Enno Bünz Der Nachfolger Herzog Georgs, sein Bruder Heinrich, hat in seiner kurzen Regierungszeit 1539 bis 1541 zügig Maßnahmen zur Einführung der Reformation umgesetzt; dessen Sohn Herzog Moritz hat diese Maßnahmen dann erfolgreich weitergeführt, auch gegen zeitweilig beharrliche altgläubige Widerstände. Dies gilt auch für Leipzig.55 Martin Luther (1483–1546) hat zwar anlässlich der Einführung der Reformation Pfingsten 1539 in der Leipziger Thomaskirche gepredigt, aber er hat zeitlebens eine Abneigung gegen die Stadt empfunden, vordergründig wegen der Leipziger ‚Pfeffersäcke‘, aber wohl auch wegen der verzögerten Hinwendung zur Reformation.56 Die Einführung der Reformation in den Städten und Dörfern des albertinischen Herzogtums bediente sich der aus Kursachsen bekannten bewährten Instrumente:57 Der Erlass einer neuen Gottesdienstordnung („Heinrichsagende“),58 die zweimalige Visitation der Kirchen und Klöster 1539/40 und der Aufbau neuer kirchlicher Strukturen (Superintendenten) sind hier vor allem zu nennen. Die Reformation hat sich auf das Kirchenwesen der Stadt nachhaltig ausgewirkt. Die vier Klöster – ein Benediktinerinnenkonvent (St. Georg), zwei Bettelordenskonvente der Dominikaner und der Franziskaner sowie das Augustinerchorherrenstift St. Thomas – wurden bis Anfang der 1540er Jahre ebenso aufgehoben 55 56 57 58 (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2 (wie Anm. 7), S. 313–339 und S. 876–881; Ders., Zwischen Luthertum und Calvinismus. Leipzig im konfessionellen Zeitalter (1539– 1648), in: E. Bünz / Ders. (Hgg.) / S. Kusche (Red.), Religiöses Leipzig (wie Anm. 17), S. 165–178, bes. S. 165–168; C. Volkmar, Ein zweites Sodom? Leipzig in der frühen Reformation, in: ebd., S. 143–163. Vgl. C. Volkmar, Luther am Boden, in: E. Bünz (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 668–670 und S. 921 f. Vgl. H. Junghans, Luthers Beziehungen zu Leipzig bis zu seinem Tode 1546, in: E. Henschke / K. Sohl (Hgg.), Luther und Leipzig. Beiträge und Katalog zur Ausstellung (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 3), Leipzig 1996, S. 7–24; G. Wustmann, Luther in Leipzig, in: Ders., Aus Leipzigs Vergangenheit. Gesammelte Aufsätze (SVGL 3), Leipzig 1885, S. 34–101, zu Pfingsten 1539 vgl. ebd. S. 95 f.; zu den Aufenthalten Luthers in Leipzig seit 1539 vgl. auch Ders., Geschichte (wie Anm. 16), S. 449 f. und S. 506 f. Vgl. G. Wartenberg, Die Entstehung der sächsischen Landeskirche von 1539 bis 1559, in: H. Junghans (Hg.), Jahrhundert der Reformation (wie Anm. 4), S. 69–92, hier S. 70–77; Y. Hoffmann / U. Richter (Hgg.), Herzog Heinrich der Fromme (1473–1541), Beucha 2007; K. Enge, Heinrich von Sachsen (1473–1541), in: S. Richter / A. Kohnle (Hgg.), Herrschaft und Glaubenswechsel. Die Fürstenreformation im Reich und in Europa in 28 Biographien (HAMNG 24), Heidelberg 2016, S. 214–229. Vgl. EKO, ed. E. Sehling, Bd. 1: Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten, Halbbd. 1: Die Ordnungen Luthers. Die Ernestinischen und Albertinischen Gebiete, Leipzig 1902, ND: Aalen 1979, S. 264–281, Nr. 24. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 237 wie der Beginenkonvent der Franziskaner.59 Damit verschwanden die Klöster zumindest teilweise aus dem Stadtbild. Die Klausur- und Wirtschaftsgebäude des Thomasstifts wurden schon 1543 abgerissen; nur das Schulhaus blieb stehen.60 Gleichzeitig ließ der Rat das Franziskanerkloster und den Chor der Kirche, die profaniert wurde, abbrechen.61 Die Säkularisation des Thomasstifts betraf sehr zentral auch die Pfarrseelsorge in der Stadt, die aufgrund der Inkorporation beider Pfarrkirchen seit 1213 von den Chorherren besorgt worden war.62 Mit der Reformation 1539 stellte sich allerdings nicht nur die Frage der Seelsorgeorganisation, sondern viel grundsätzlicher auch die der Finanzierung und der Besetzung der Pfarrstellen.63 Zur Regelung dieser Fragen kam es durch Herzog Moritz (reg. 1541–1553, seit 1547 Kurfürst).64 Bereits der Landtag zu Leipzig 1541 hat über dieses Problem, das sich angesichts der zahlreichen den Klöstern inkorporierten Pfarreien nicht nur für Leipzig stellte, verhandelt und festgehalten, dass die Pfarren von den klosterge­ stifften unterhalten werden sollten.65 Die Stadt Leipzig hat bereits im folgenden 59 Vgl. S. Zinsmeyer, Die Aufhebung der Klöster und des Stifts St. Thomas, in: E. Bünz (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 676–679 und S. 923 f.; A. J. Gornig, Das Nonnenkloster Sankt Georg vor Leipzig. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Stadt- und Kirchengeschichte, 2 Teilbde., unpublizierte Phil. Diss. Leipzig 2015, erscheint in der Reihe „QFGSL“; von der älteren Literatur ist die aus den Akten gearbeitete Darstellung von G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 458–495, noch immer von Wert. 60 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 498 f.; H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 199; M. Rudersdorf, Einführung der Reformation. Stadt und Land im Wandel, in: D. Zerbe (Hg.), 800 Jahre St. Thomas (wie Anm. 9), S. 77–109, hier S. 99. 61 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 499 f.; H. Mai, Matthäikirche, in: H. Magirius / Ders. / T. Trajkovits / W. Werner (Bearb.), Stadt Leipzig. Die Sakralbauten (wie Anm. 9), S. 677–697, hier S. 686. 62 Siehe oben Anm. 20. 63 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 460, der erwähnt, dass der Rat bei der ersten Kirchenvisitation im August 1539 gegenüber dem Landesherrn behauptete, die Bestellung der Geistlichen habe ihm schon „vor Alters“ zugestanden, was die Visitatoren aber zu Recht bestritten; vgl. auch K.-H. Diener von Schönberg, Das Stadtpatronat an der Thomaskirche zu Leipzig, Phil. Diss. Leipzig, Borna/Leipzig 1925. 64 Vgl. J. Herrmann, Moritz von Sachsen (1521–1553). Landes-, Reichs- und Friedensfürst, Beucha 2003; C. Winter, Moritz von Sachsen (1521–1553), in: S. Richter / A. Kohnle (Hgg.), Herrschaft (wie Anm. 57), S. 231–249. 65 G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 461; zum Folgenden nun auch M. Beyer, Leipziger Kirchen und Kirchengut in der Reformationszeit. Die Absicherung der städtischen kirchlichen Versorgung aus dem Thomaskloster durch Herzog Moritz von Sachsen, in: S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17), S. 137–145. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 238 Enno Bünz Jahr Herzog Moritz 30.000 Gulden vorgestreckt und sich damit ein Vorkaufsrecht an den Klostergütern gesichert.66 Daraufhin hat Herzog Moritz am 1. Mai 1543 der Stadt Leipzig den folgenden Tatbestand beurkundet:67 Nachdem dy beyden pfarrer czu s. Niclaus und s. Thomas yn unser stadt Leipzigk myt beyden pfarrher­ ren, kappellanen und allen andern kirchendienern aus und von des klosters czu s. Thomas güttern über menschengedenken unterhalten worden seien, nun aber durch das Licht der Wahrheit das Thomaskloster ledig wordenn sei und der große Ausschuss auf dem Landtag beschlossen habe, die Pfarreien aus den Klostergütern zu besolden, gestand er dem Leipziger Rat das Recht zu, künftig die Kirchen- und Schuldiener auf diese Weise zu finanzieren und übertrug dem Rat deshalb auch das Patronatsrecht.68 Am 6. August 1543 beurkundete Herzog Moritz den Verkauf des Barfüßerklosters mit dem Beginenhaus, des Thomasstifts, des Nonnenklosters St. Georg mit der Mühle sowie eines Teils der Klostergüter im Umland an die Stadt Leipzig für 83.342 Gulden.69 Durch den Erwerb der Klostergüter konnte der Leipziger Rat seinen Landbesitz erheblich ausbauen.70 Die Besoldung der Kirchendiener war grundsätzlich schon bei der ersten Kirchenvisitation im August 1539 festgelegt worden.71 Der Pfarrer von St. Thomas erhielt jährlich 200 Gulden, der Prediger 150, die beiden Kapläne jeweils 100 Gulden, der Organist 40 und der Glöckner 35 Gulden im Jahr. Für den Schulmeister der Thomasschule wurde ein Jahresgehalt von 80 Gulden festgelegt.72 Entsprechend wurden an der Nikolaikirche ebenfalls vier Geistliche besoldet, nämlich der Nikolaipfarrer oder Pastor, der im Wechsel mit seinem Kollegen von St. Thomas 66 Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 441 ff., Nr. 475 f. 67 Vgl. ebd., S. 444 ff., Nr. 478. 68 K.-H. Diener von Schönberg, Stadtpatronat (wie Anm. 63), S. 55 f.; vgl. auch M. Rudersdorf, Einführung (wie Anm. 60), S. 93. 69 Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 447–450, Nr. 480; A. Kohnle, Kirche (wie Anm. 54), S. 319. 70 Vgl. W. Emmerich, Der ländliche Besitz des Leipziger Rates. Entwicklung, Bewirtschaftung und Verwaltung bis zum 18. Jahrhundert (Aus Leipzigs Vergangenheit 3), Leipzig 1936; S. Zinsmeyer, Der Besitz der Leipziger Klöster und des Stifts St. Thomas um 1500, in: V. Rodekamp / R. Smolnik (Hgg.), 1015. Leipzig von Anfang an. Begleitband zur Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig 20. Mai–25. Oktober 2015 (Veröffentlichung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig), Dresden/Leipzig 2015, S. 123 f. mit Karte. 71 Vgl. EKO, ed. E. Sehling, Bd. I/1 (wie Anm. 58), S. 259 f., Nr. 22. 72 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 463 f.; M. Rudersdorf, Einführung (wie Anm. 60), S. 94; zum Personal vgl. K. C. C. Gretschel, Kirchliche Zustände (wie Anm. 16), S. 265–267; und S. Altner / M. Petzoldt / M. Täschner, Synoptische Übersicht der Bediensteten in der Thomaskirche und Thomasschule seit der Reformation, in: S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17), S. 428–435, hier S. 428. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 239 das Amt des „Superattendenten“ ausübte, der Archidiakon, der Diakon und der Subdiakon.73 Die Gehälter hat die Stadt schon übernommen, bevor ihr die Güter des Thomasklosters zugestanden wurden.74 Bis zur Reformation war der Propst des Thomasstiftes die beherrschende Gestalt des Pfarrwesens gewesen. Der letzte Propst Ambrosius Rauch verlor aber schon mit der ersten Visitation 1539 seinen Einfluss, durfte aber noch im Stift leben, bis er im September 1543 entlassen und mit einer Pension abgefunden wurde.75 Mit diesen Besoldungslasten hängt auch zusammen, dass die Jakobsparochie vor den Mauern 1543 aufgegeben und zur Thomasparochie geschlagen wurde.76 Die Jakobskirche wurde im folgenden Jahr abgebrochen.77 Damit erlosch auch das städtische Pfarrpatronat über diese Kirche, die nur über einen winzigen Sprengel und entsprechend geringe Einkünfte verfügte. In den Pfarrkirchen war der religiöse Wandel rein äußerlich an Veränderungen des Kircheninneren ablesbar. In der Thomaskirche wurde 1539 oder 1540 der Kreuzaltar und die Wand, die den Chor quericht scheidet […] abgebrochen und als der Chor des prospects halben gantz geöffnet.78 Damit war die Beseitigung des Lettners gemeint, der bislang den Chorbereich der Augustinerchorherren vom Langhaus, das als städtische Pfarrkirche diente, geschieden hat.79 Damit konnte der Kreuzaltar, der bislang vor dem Lettner stand,80 abgebrochen werden, und der Hauptaltar des Konvents, der bislang durch den Lettner nicht sichtbar gewesen 73 Vgl. A. Kohnle, Die Nikolaikirche und ihre Pfarrer von der Reformation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 64–91, hier S. 66; erster Superintendent wurde der Pfarrer der Nikolaikirche, Johannes Pfeffinger (1493–1573), vgl. Ders., Kirche (wie Anm. 54), S. 316; zum Personal 1539/40 auch K. C. C. Gretschel, Kirchliche Zustände (wie Anm. 16), S. 263–265; und M. Thiem, Pfarrer und Superintendenten seit der Reformation, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 303–322, hier S. 304, 307, 310, 340. 74 Vgl. die jährlichen Besoldungskosten für die Kirchen- und Schuldiener seit 1540 bei G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 485 f. 75 Vgl. A. Kohnle, Kirche (wie Anm. 54), S. 313 f. und S. 317 mit weiterführenden Hinweisen. 76 Vgl. K. C. C. Gretschel, Kirchliche Zustände (wie Anm. 16), S. 261 f., der weitere Veränderungen der Kirchspielsgrenzen im Zuge der Reformation erwähnt. 77 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 503–505; bei der ersten Kirchenvisitation im August 1539 hatte man zunächst noch an ihrem Bestand festgehalten und die Pfarrbesetzung neu geregelt, vgl. ebd. S. 462 f. 78 Zitiert nach H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 201. 79 Vgl. ebd.; G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 456, erwähnt für 1539 den Abbruch der „Fürgebäu“, der Lettner, in den Leipziger Kirchen. 80 Vgl. H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 176. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 240 Enno Bünz war, wurde zum Hauptaltar der Pfarrkirche; dieser um 1500 entstandene Flügelaltar wurde 1721 an die Lutherkirche zu Plauen im Vogtland verkauft.81 Die Beseitigung der zahlreichen Seiten- bzw. Nebenaltäre, die nicht nur in Leipzig das Erscheinungsbild der Stadtkirchen vor der Reformation sehr geprägt haben,82 dürfte der sichtbarste Eingriff in die Kirchenräume gewesen sein. Aus reformatorischer Sicht dienten sie bloß sog. Winkelmessen,83 nämlich Seelmessen, die von Altaristen zum Seelenheil von Stiftern ohne Gemeinde gelesen wurden. Die Einkünfte der mit den Altären verbundenen Benefizien (lehen) sollten laut Anordnung der Visitatoren 1539 in den gemeinen kasten geschlagen werden.84 Lediglich in der Jakobskirche scheint es solche Nebenaltäre nicht gegeben zu haben. In St. Thomas gab es maximal 27 Nebenaltäre, die aber nicht nur in der Kirche, sondern z. T. auch im Kreuzgang lagen,85 und in St. Nikolai waren es mindestens 18,86 die laut David Peifer (1530–1602) gleich nach Einführung der Reformation abgebrochen wurden. Peifer betont in diesem Zusammenhang, dass anstelle dieser Altäre im Kirchenschiff Sitzplätze geschaffen worden seien.87 Hierbei ist wohl davon auszugehen, dass eine einheitliche Bestuhlung erfolgte, die die spätmittelalterliche Zergliederung der Kirchenräume durch abgeschlossene Gestühlbereiche bestimmter Familien und Gitter ablöste. Nach der ersten Kirchenvisitation in Leipzig im August 1539 ordneten die Visitatoren an, in den Kirchen die gegitter zu beseitigen, die bislang den Gottesdienstbesuchern Anlass zu allerlei Mutmaßungen darüber gegeben hatten, wer denn hinder den gegittern steet oder welche Personen gar nicht zugegen seind.88 Wie gründlich schon bald nach Einführung der Reformation aufgeräumt wurde, ist daran ablesbar, dass sich nur aus der Nikolaikirche Teile eines spätgotischen Altarretabels erhalten haben, die in die Zeit um 1520 gehören. Es handelt sich 81 Vgl. ebd. S. 199; zum Hauptaltar vgl. auch ebd. S. 255 f. 82 Vgl. J. E. A. Kroesen, Seitenaltäre in mittelalterlichen Kirchen. Standort – Raum – Liturgie, Regensburg 2010. 83 Ein Leitbegriff der lutherischen Reformation, vgl. z. B. die sächsische „Heinrichsagende“ 1539 in: EKO, ed. E. Sehling, Bd. I/1 (wie Anm. 58), S. 259, Nr. 22. 84 Ebd., S. 282, Nr. 25 (Artikel XIII.); allerdings scheint dann in Leipzig keine Kastenordnung umgesetzt worden zu sein. 85 Vgl. M. Wejwoda, Stadt und Kirche als Sakralgemeinschaft. Das Augustiner-Chorherrenstift St. Thomas zu Leipzig im späten Mittelalter, in: D. Zerbe (Hg.), 800 St. Thomas (wie Anm. 9), S. 41–73, hier S. 46 f. 86 Vgl. E. Bünz, Die Nikolaikirche im Mittelalter, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 18–63, hier S. 43 f. 87 Vgl. D. Peifer, Lipsia (wie Anm. 14), S. 373; moderne Teilübersetzung Ders., Religiöses Leipzig (wie Anm. 14), S. 50. 88 EKO, ed. E. Sehling, Bd. I/1 (wie Anm. 58), S. 592, Nr. 106. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 241 um mehrere Schnitzreliefs mit Darstellung des Lebens und Leidens Christi, die 1605 aus St. Nikolai an die Johanniskirche abgegeben und dort in einen barocken Hochaltar integriert wurden. Nach einer Restaurierung in den Jahren 1978 bis 1981 wurden die Tafeln neu zusammengefügt und befinden sich seit 1993 wieder in der Nikolaikirche. Es dürfte sich hierbei um Reste der seit dem 15. Jahrhundert belegten Fronleichnamsvikarie gehandelt haben.89 Auch bei dem Hauptaltar der Thomaskirche, der 1721 nach Plauen verkauft wurde, handelt es sich aufgrund der Ikonographie und der Abmessungen wohl nicht um den mittelalterlichen Hauptaltar, sondern um einen ehemaligen Nebenaltar, der erst nach der Reformation im Chorraum aufgestellt wurde.90 Auch sonst wird manches an alten Bildwerken, die der Andacht und religiösen Erbauung dienten, aus den Kirchen verschwunden sein,91 ohne dass freilich ein Bildersturm oder eine systematische Beseitigung (‚Abtuung‘) der Bilder durchgeführt wurde.92 Die Visitationsordnungen von 1539 haben zum Umgang mit den Bildern keine Vorgaben gemacht.93 Normative Vorgaben der Visitatoren oder der Kirchenordnungen für den Umgang mit vorreformatorischen Bildwerken gab es nicht. So blieben vor allem in der Nikolaikirche etliche Bilder aus vorreformatorischer Zeit erhalten, die jetzt im Stadtgeschichtlichen Museum und im Museum der bildenden Künste zu Leipzig verwahrt werden.94 Im Gegensatz zu 89 Vgl. E. Bünz, Nikolaikirche (wie Anm. 86), S. 44–46, mit Abbildung des Altarretabels. 90 Allerdings meint H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 199, dass dieser Flügelaltar nicht der mittelalterliche Hauptaltar war, sondern dass es sich um einen ehemaligen Nebenaltar handelt, der erst nach der Reformation im Chorraum aufgestellt wurde. 91 Heinrich Magirius in: ebd., S. 201, verweist auf die „abgöttischen Wachsbilder“, die am 16.8.1539 aus der Thomaskirche entfernt wurden. Dies könnten Votivgaben gewesen sein. 92 Zur vergleichenden Einordnung vgl. die Beiträge in R. W. Scribner (Hg.), Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (WF 46), Wiesbaden 1990; C. Dupeux / P. Jezler / J. Wirth (Hgg.), Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Katalog zur Ausstellung, Bern/Straßburg 2000; P. Blickle / A. Holenstein / H. R. Schmidt / F.-J. Sladeczek (Hgg.), Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte (HZ Beiheft NF 33), München 2002; J. E. A. Kroesen, Na de Beeldenstorm: Continuïteit en verandering in het gebruik van middeleeuwse kerkruimten in Nederland na de Reformatie, met bijzondere aandacht voor het koor, in: JLO 30 (2014), S. 137–163. 93 Vgl. EKO, ed. E. Sehling, Bd. I/1 (wie Anm. 58), S. 257–263, Nr. 22, und S. 281–284, Nr. 25. 94 Vgl. H. Guratzsch / D. Sander (Hgg.), Vergessene altdeutsche Gemälde. 1815 auf dem Dachboden der Leipziger Nikolaikirche gefunden – 1997 anläßlich des 27. Deutschen Kirchentages präsentiert, Heidelberg 1997; E. Bünz, Rekonstruktion des Epitaphs der Familie Schmidburg-Pistoris, in: H. Kühne / Ders. / T. T. Müller (Hgg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 242 Enno Bünz den Seitenaltären störten diese Epitaphien wohl nicht im Kirchenraum und blieben deshalb an ihrem angestammten Platz, bis der durchgreifende klassizistische Umbau von St. Nikolai es nötig machte, alle älteren Bildwerke aus dem Kirchenraum zu beseitigen.95 Erst damals wurde auch die spätgotische Steinkanzel von 1521 aus dem Langhaus der Kirche entfernt und in der Nordkapelle aufgestellt.96 Man scheut sich, diesen Predigtstuhl ganz zu beseitigen, weil er vermeintlich als Lutherkanzel galt. Tatsächlich aber hat Martin Luther niemals in der Nikolaikirche gepredigt.97 Die Vasa sacra der Leipziger Kirchen wurden im Frühjahr 1540 vom Rat verzeichnet, mussten aber mit Ausnahme der Pfarrkleinodien an die Sequestratoren der Klostergüter abgeliefert werden.98 Von dem liturgischen Gerät der Thomaskirche sind aus vorreformatorischer Zeit nur noch zwei Abendmahlskelche und eine Patene vom Anfang des 16. Jahrhunderts erhalten geblieben,99 und in St. Nikolai ist nur noch ein Abendmahlskelch von 1514 mit Patene überliefert.100 Auf der anderen Seite sind Neuanschaffungen zu verbuchen, so bereits 1540 eine Abendmahlskanne für die Thomaskirche.101 Von dem reichen Bestand an Paramenten, der in den Leipziger Kirchen vorhanden war, ist nach der Reformation fast alles verlorengegangen, allerdings in einem schleichenden Prozess, weil die Messgewänder z. T. noch lange weiterverwendet wurden. Aus dem Bestand der 95 96 97 98 99 100 101 der Tod“, Petersberg 2013, S. 97–100; Ders., Tod eines Bürgers – Lukas Cranachs „Sterbender“, in: Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 531–533 und S. 897. Vgl. G. Pasch, Die Nikolaikirche seit der Erneuerung des späten 18. Jahrhunderts, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 182–208, bes. S. 185–195, zur Erneuerung durch Johann Carl Friedrich Dauthe (1746–1816). Vgl. H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Nikolai (wie Anm. 10), S. 437–439; F. Schmidt, Die Kanzel von 1521, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 178. Vgl. F. Seifert, Die Durchführung der Reformation in Leipzig 1539–1545, in: BSKG 1 (1882), S. 125–166, hat S. 131–136 dargelegt, Luther habe zur Einführung der Reformation Pfingsten 1539 dort gepredigt. Dieser Irrtum aber korrigiert von Ders., Wo hat Luther am Pfingstsonntage (25. Mai) in Leipzig gepredigt?, in: ebd., 2 (1883), S. 45–53; A. Kohnle, Kirche (wie Anm. 54), S. 314, mit Bezugnahme auf die vermeintliche ‚Lutherkanzel‘. Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 428 f., Nr. 465; G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 480. Vgl. H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 323. Vgl. ebd., S. 465. Vgl. S. Walther, „bibite ex hoc omnes“ – Liturgisches Gerät aus St. Thomas zu Leipzig und der Nathanaelkirchgemeinde Leipzig als frühes Zeugnis des lutherischen Abendmahlsverständnisses, in: Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch 2017 (erschienen: Markkleeberg 2018), S. 5–14; behandelt wird auch ein liturgischer Sieblöffel von 1540, der in der Nathanaelgemeinde verwahrt wird und aufgrund der Inschrift ADML 1540 hypothetisch als ‚Lutherlöffel‘ angesprochen wird. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 243 Nikolaikirche wurden 1596 31 Messgewänder verkauft, und bis heute ist nur eine Kasel von ca. 1530, die sich im Grassimuseum befindet, erhalten geblieben.102 Die zahlreichen Kapellen, die nicht mit Seelsorgeaufgaben verbunden waren, verschwanden durch Abbruch entweder ganz aus dem Stadtbild (Marienkapelle, Katharinenkapelle, Kapelle des Studienkollegs St. Bernhard) oder wurden, wie die Peterskapelle, profaniert.103 Ebenso verfuhr man mit den Gebäuden des Franziskanerklosters sowie mit dem Georgenkloster, das vor den Mauern lag und dem Ausbau der landesherrlichen Burg zur Renaissancefestung (sog. Pleißenburg) im Weg war und deshalb vollständig weichen musste.104 Lediglich das Dominikanerkloster mit der Paulinerkirche blieb als Baukomplex weitgehend intakt erhalten, nachdem Herzog Moritz 1543 entschieden hatte, dieses Kloster nicht der Stadt, sondern der Universität zu übergeben.105 So wurde aus der Paulinerkirche der Dominikaner die Universitätskirche, die nach der Reformation vor allem von der Theologischen Fakultät genutzt wurde und Leipziger Professoren und Bürgern als Grablege diente.106 Die Bibliotheksbestände der Leipziger Klöster kamen, soweit sie nach der Selektion durch Caspar Borner (1492–1547) als wertvoll oder nützlich erachtet wurden, an die Universitätsbibliothek,107 darunter auch Teile der Bibliothek des Thomasstifts. 102 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 497; H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Nikolai (wie Anm. 10), S. 473 f. 103 Vgl. E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 478. 104 Vgl. S. Zinsmeyer, Aufhebung (wie Anm. 59), S. 677 f.; A. J. Gornig, Nonnenkloster Sankt Georg (wie Anm. 59), S. 28–33 u. S. 252–255. 105 Vgl. M. Rudersdorf, Weichenstellung für die Neuzeit. Die Universität Leipzig zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg 1539–1648/1660, in: Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 27), S. 327–515, hier S. 368–373. 106 Vgl. H. Mai, Die Universitätskirche St. Pauli, in: M. Marek / T. Topfstedt (Hgg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 5: Geschichte der Leipziger Universitätsbauten im urbanen Kontext, Leipzig 2009, S. 77–132, hier bes. S. 89–112 über die Funktion als Universitätskirche in der Frühen Neuzeit; H. Mai, Das Leipziger Dominikanerkloster – Baugeschichte und Ausstattung, in: E. Bünz / D. M. Mütze / S. Zinsmeyer (Hgg.), Neue Forschungen zu sächsischen Klöstern. Ergebnisse und Perspektiven der Arbeit am Sächsischen Klosterbuch (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 62), Leipzig 2020, S. 507–535; wenig Neues bieten die Beiträge in: P. Zimmerling (Hg.), Universitätskirche St. Pauli. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. FS zur Wiedereinweihung der Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig, Leipzig 2017. 107 Vgl. M. Rudersdorf, Weichenstellung (wie Anm. 105), S. 355–358 und S. 373; wie stark ausgewählt wurde, zeigt C. Mackert, Geist aus den Klöstern. Buchkultur und intellektuelles Leben in Sachsen bis zur Reformation. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig vom 15. Oktober 2017 bis 7. Januar 2018 (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 39), Leipzig 2017. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 244 Enno Bünz Ob es in St. Thomas und St. Nikolai darüber hinaus auch gesonderte Pfarroder Prädikaturbibliotheken gegeben hat oder sie erst nach der Reformation eingerichtet wurden, ist nicht sicher.108 Da sich in unmittelbarer Nähe der Nikolaikirche die Universitätskollegien mit ihren Buchbeständen sowie die seit dem 15. Jahrhundert öffentlich zugängliche Bibliothek des Dominikanerklosters befanden, mag sich die Anschaffung eines gesonderten Buchbestandes für den Prediger der Nikolaikirche erübrigt haben.109 Evangelische Kirchenbibliotheken wurden sowohl an St. Thomas als auch an St. Nikolai erst im späten 16. Jahrhundert aufgebaut.110 Freilich verfügte jede Pfarrkirche, auch wenn keine gesonderte Pfarr- oder Prädikaturbibliothek vorhanden war, über Bücher, die für die Gottesdienste und andere liturgische Feiern erforderlich waren.111 Vor allem solche Bücher hatten in der Reformationszeit aber nur eine geringe Überlieferungschance, weil das kirchlich-liturgische Leben gründlich umgestaltet wurde.112 Vor diesem Hintergrund 108 T. Fuchs, Die Kirchenbibliothek von St. Nikolai, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 272–277, hier S. 272, meint, es habe in St. Nikolai eine mittelalterliche Bibliothek „mit Sicherheit gegeben“; allerdings waren spätmittelalterliche Pfarrbibliotheken nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme, vgl. E. Bünz, Buchbesitz von Pfarrern im ausgehenden Mittelalter (15. und frühes 16. Jahrhundert), in: Ders., Mittelalterliche Pfarrei (wie Anm. 1), S. 295–333. 109 Vgl. Ders., Nikolaikirche (wie Anm. 86), S. 42. 110 Vgl. T. Fuchs, Kirchenbibliothek (wie Anm. 108), S. 272–277; S. Kötz (Hg.), Dokumente des lutherischen Glaubens. Die Kirchenbibliothek von St. Nikolai in Leipzig. Katalog zur Ausstellung in der Bibliotheca Albertina Leipzig 11.03.2015–31.05.2015 (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 34), Leipzig 2015; T. Fuchs / C. Mackert, 3 × Thomas. Die Bibliotheken des Thomasklosters, der Thomaskirche und der Thomasschule im Laufe der Jahrhunderte. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Bibliotheca Albertina vom 18. Oktober 2012 bis 20. Januar 2013 (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 27), Leipzig 2012; T. Fuchs, Die Bibliothek der Thomaskirche, in: S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17), S. 346–363. 111 Zu den unterschiedlichen Buchbeständen von Kirche und Geistlichen vgl. E. Bünz, Buchbesitz (wie Anm. 108), passim; und Ders., Das Buch in den Händen von Geistlichen. Beobachtungen zum kirchlichen und klerikalen Buchbesitz (12.–16. Jahrhundert), in: Ders. / T. Fuchs / S. Rhein (Hgg.), Buch und Reformation. Beiträge zur Buch- und Bibliotheksgeschichte Mitteldeutschlands im 16. Jahrhundert (SLSA 16), Leipzig 2014, S. 39–68. 112 Vgl. B. Kranemann, Liturgien unter dem Einfluss der Reformation, in: J. Bärsch / Ders. (Hgg.) / W. Haunerland / M. Klöckener (Mitarb.), Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens. Rituelle Entwicklungen, theologische Konzepte und kulturelle Kontexte, Bd. 1: Von der Antike bis zur Neuzeit, Münster 2018, S. 425–479: P. Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, Bd. 1: Bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus, Waltrop 1994, ND der 2. vermehrten und verbesserten Auflage Göttingen 1937. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stadtpfarrkirchen und Reformation 245 ist es überraschend, dass sich in St. Nikolai mehrere Chorbücher des 15. Jahrhunderts und darauf beruhende Kopien des 16. bis 18. Jahrhunderts erhalten haben.113 Diese Chorbücher verdeutlichen, dass das Institut der beiden Choralisten an der Nikolaikirche auch nach 1539 erhalten blieb und dass sie donnerstags, samstags und sonntags bei den Frühgottesdiensten den liturgischen Gesang bestritten. Diese Einrichtung der Choralisten hat bis 1823 bestanden. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass die Schola der Thomaner noch bis 1876 ihrer 1536 geregelten Verpflichtung nachkam, den Verstorbenen aus der Stadt das Geleit zum Johannisfriedhof vor der Stadt zu geben.114 Diese Beispiele mögen abschließend verdeutlichen, dass es in manchen Bereichen des kirchlichen Lebens überraschende Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Neuzeit gegeben hat. *** Zusammenfassend lässt sich sagen: Auf der einen Seite wurde das Kirchenwesen der Stadt Leipzig in Folge der Reformation radikal vereinfacht und das Stadtbild, das von vielen Kirchenbauten geprägt war, weitgehend entsakralisiert: Vier Klöster und Stifte wurden säkularisiert und z. T. abgebrochen. Ebenso wurden mit Ausnahme der Peterskirche, die profaniert wurde, und der beiden Hospitalkirchen alle Kapellen aufgehoben und abgebrochen. Das gleiche Schicksal erlitt die Pfarrkirche St. Jakob vor den Mauern, die mit ihrer kleinen Pfarrgemeinde nicht mehr existenzfähig war und der Thomasparochie zugeschlagen wurde. Der religiöse Wandel wurde äußerlich sichtbar durch die Veränderung der Kirchenräume, aus denen die zahlreichen Nebenaltäre verschwanden und das Gestühl vereinheitlicht wurde. Auf der anderen Seite blieben die beiden Stadtpfarrkirchen St. Thomas und St. Nikolai erhalten und waren bis zum Ende des 17. Jahrhunderts alleine für die Seelsorge der Innenstadtbevölkerung zuständig. Erst mit dem Anwachsen der Gemeinden wurde es um 1700 nötig, innerhalb dieser fortbestehenden Pfarrorganisation die Peterskapelle und die einstige Franziskaner-, nun Neukirche (später Matthäikirche genannt) wieder als Gotteshäuser zu nutzen.115 Die Pfarrei erweist sich auch in Leipzig als das bedeutendste Kontinuitätselement 113 Zum Folgenden M. Maul, Kirchenmusik an St. Nikolai in älterer Zeit, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 244–261, hier bes. S. 244 ff. über die Choralisten und ihre Chorbücher, die weiterer Untersuchung bedürften, wie ebd., S. 246, betont wird. 114 Vgl. P. Benndorf, Entwicklung (wie Anm. 35), S. 52; M. Maul, Die Frühgeschichte des Thomaskantorats und die Entwicklung des Chores bis zum Amtsantritt Johann Sebastian Bachs, in: S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17), S. 79–103. 115 Vgl. R. Otto, Kirchliches Leben 1650–1815, in: D. Döring (Hg.) / U. John / H. Steinführer (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2 (wie Anm. 7), S. 340–375, S. 881–886, hier S. 346. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 246 Enno Bünz zwischen vor- und nachreformatorischer Kirche. Weitere Forschungen werden sich vor allem darauf konzentrieren müssen, den Wandel der kirchlichen Praxis vom ausgehenden Mittelalter zur Frühen Neuzeit näher zu beschreiben. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Winfried Müller Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel im höheren Schulwesen „Luther hätte getwittert“ – unter dieser Überschrift stellte der Präsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in einem in der Online-Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichten Beitrag auf das Thema ab, das den Rahmen für den vorliegenden Band vorgibt: Reformation als Kommunikationsprozess. Kirchenpräsident Volker Jung räumte ein, dass Martin Luther (1483–1546) bei der Formulierung seiner Tweets gewiss nicht zimperlich gewesen wäre, reiche doch die Bandbreite seiner Äußerungen „von genial bis zu geht gar nicht“.1 Und in der Tat verleiten manche überlieferten Äußerungen Luthers, die sich gegen seinen Ingolstädter Kontrahenten Johannes Eck (1486–1543) richten oder seine Tiraden gegen Bauernrotten und Juden sowie die Suggestion eines twitternden Reformators zum Abgleich mit der aktuellen politischen Kultur. Doch nicht um Poltergeister aus Vergangenheit und Gegenwart soll es im Folgenden gehen, im Mittelpunkt stehen vielmehr geräuschlose und nachhaltige Kommunikationsprozesse in einem – so lesen wir in einer neueren Studie zum Thema „Kommunikation und Zusammenarbeit in der Schule“ – „mechanischen Organisationssystem“, das „dazu geschaffen“ wurde, „gewisse wünschenswerte Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen zustande zu bringen“.2 Es geht im Folgenden also um die Schule und deren Bildungsauftrag für weltliche und geistliche Eliten, oder in der Sprache Luthers formuliert: soll man denn zu lassen, das eyttel rülltzen und knebel regiren, so mans wol bessern kann?3 1 2 3 V. Jung, Luther hätte getwittert, in: Zeit Online, 2. April 2017, vgl. https://www.zeit.de/ 2017/15/reformation-martin-luther-medien (letzter Zugriff am 22.3.2020). A. Ebelhoff, Kommunikation und Zusammenarbeit in der Schule, Weinheim/Basel 1974, S. 18. M. Luther, An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen. 1524, in: WA, Bd. 15, Weimar 1899, S. 9–53, hier S. 34 f.; vgl. auch die 1530 gehaltene Predigt, daß man die Kinder zur Schule halten solle in: Dr. Martin Luthers pädagogische Schriften und Äußerungen, ed. H. Keferstein (Bibliothek pädagogischer Klassiker 28), Langensalza 1888, S. 228–244, hier S. 235; wo im Hinblick auf die Bedürfnisse der Seelsorge die Notwendigkeit des Lateinunterrichts auch für breitere Bevölkerungsschichten betont wird: Solche tüchtigen Knaben sollte man zur Lehre halten, sonderlich der armen Leute Kinder: denn dazu sind aller Stifte und Klöster Pfründe und Zinsen verordnet; wiewohl Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 248 Winfried Müller Diese besorgte Frage aus Luthers 1524 erschienenem Appell „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ versuchte in gemeinwohlorientierter Absicht von der Notwendigkeit von Investitionen in das Schulwesen zu überzeugen. Das bonum commune hänge ganz wesentlich davon ab, dass man viel feyner gelerter, vernünfftiger, erbar, wol gezogener burger habe.4 Diese allgemeine Zielsetzung war unterfüttert von der Erwartung, dass in einem wohlgeordneten Gemeinwesen die reformatorische Lehre durchgesetzt und unter landesherrliches Protektorat gestellt würde. Die Bedeutung der Schule als – wiederum modern gesprochen – einem Ort der vertikalen Kommunikation zwischen vorgesetzten Lehrern und untergebenen Schülern für die religiöse Sozialisation wurde von den Reformatoren besonders hoch eingeschätzt. Einerseits galt es – so formulierte es der sächsische Fürstenratgeber Georg von Carlowitz (ca. 1471–1550) – bei der Erneuerung der Christenheit an der jugend an[zu]fahen; beim alters ists verloren.5 Andererseits wurden die Reformatoren von einem veritablen Misstrauen gegenüber der Elterngeneration umgetrieben. Wiederum Luther: so ist der größte Teil der Eltern leider dazu ungeschickt und weiß nicht, wie man Kinder erziehen und lehren soll. Denn sie haben selbst nichts gelernt, außer den Bauch zu versorgen, und es gehö­ ren besondere Leute dazu, die Kinder gut und recht lehren und erziehen sollen.6 Das setzte allerdings die Bereitschaft der Eltern voraus, ihre Kinder überhaupt in die Schule zu schicken, denn von einer allgemeinen Schulpflicht konnte im 16. Jahrhundert ja noch keine Rede sein. Es sollen auch die Prediger die leute vermanen, yhre kinder zur schule zu thun, damit man leut aufziehe, geschickt zu leren ynn der Kirchen und sonst zu regiren, formulierte Philipp Melanchthon 4 5 6 daneben dennoch auch die anderen Knaben, ob sie nicht so wohl geschickt wären, auch sollten lernen zum wenigsten Latein verstehen, schreiben und lesen. Denn man darf nicht allein hoch­ gelehrte Doktores und Magister in der Schrift, man muß auch gemeine Pfarrherren haben, die das Evangelium und Katechismum treiben im jungen und groben Volk, taufen und Sakrament reichen etc. Ob sie nicht zum Streit wider die Ketzer taugen, da liegt nicht Macht an; man muß zum guten Gebäu nicht allein Werkstücke, sondern auch Füllsteine haben: so muß man auch Küster und andere Personen haben, die da dienen und helfen zum Predigtamt und Wort Got­ tes. Und wenn schon ein solcher Knabe, so Latein gelernet hat, darnach ein Handwerk lernet und Bürger wird, hat man denselbigen im Vorrat: ob man sein etwa zum Pfarrherrn, oder sonst zum Wort brauchen müßte: schadet ihm solche Lehre auch nichts zur Nahrung, kann sein Haus desto baß regieren, und ist über das zugerichtet und bereit zum Predigtamt oder Pfarramt, wo man sein bedarf. Ebd. Zitiert nach R. Bohley, Die Gründung der sächsischen Landesschulen und der Versuch, eine christliche Einigkeit zu erhalten. Eine Skizze, in: HC 15 (1987/88), S. 77–106, hier S. 82. M. Luther, An die Ratsherren (wie Anm. 3), S. 34. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel 249 (1497–1560) folgerichtig 1528 im „Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum zu Sachsen“.7 In einer historischen Phase, in der sich einerseits die Aufgabe stellte, eine neue evangelische Kirchenordnung zu etablieren, und in der andererseits die Elterngeneration vielfach mit den Lehrinhalten noch längst nicht hinreichend vertraut war, kam der Schule also eine überaus wichtige Funktion zu. Über die Schule wurde die nachwachsende Generation religiös erzogen, vor allem aber wurde dort der dringend benötigte Nachwuchs für den Kirchen-, Schul- und Staatsdienst ausgebildet. Kirchenreform, Konfessionsbildung, Aufbau des modernen Territorialstaats und des landesherrlichen Kirchenregiments standen somit in engstem wechselseitigen Zusammenhang mit der Schule bzw. Schulreform. Zwar ging es dabei auch um das niedere Schulwesen, denn natürlich waren die Vermittlung der elementaren Kulturtechniken und der Katechismusunterricht für breite Bevölkerungsschichten ein Anliegen der Reformation. Aber wenn es um die Durchsetzung der neuen Lehre und um die Festigung des Kirchenregiments ging, so waren jene Schüler die Zielgruppe, die eine Karriere in Verwaltung, Bildungswesen oder Kirchendienst anstrebten bzw. die gezielt für diesen Berufsweg gewonnen werden sollten. Von dieser Zielsetzung leitete sich das große Interesse an der Pflege der ‚heiligen‘ Sprachen als unabdingbarer Voraussetzung des richtigen Bibelverständnisses in Luthers Ratsherrenschrift ab. Zugleich war die Ratsherrenschrift eindeutig ein Reflex auf die frühreformatorische Bildungskrise.8 Gemeint ist damit der massive Einbruch in der Frequenz der Universitäten, nachvollziehbar im Rückgang der Immatrikulationszahlen um über 30 Prozent während der 1520er Jahre.9 Als Hintergrund ist hier zum einen zu beachten, dass im Zuge der Reformation mit den Kloster- und Domschulen ein traditioneller Zulieferer der Universitäten wegfiel. Dazu kam die Ablehnung der 7 8 9 P. Melanchthon, Unterricht der Visitatoren (1528), in: Ders., Werke in Auswahl, ed. R. Stupperich, Bd. 1: Reformatorische Schriften, Gütersloh 1951, S. 215–271, hier S. 265. Hierzu grundlegend A. Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: N. Hammerstein (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe, München 1996, S. 197–374, hier S. 256 ff. Nachgerade dramatisch verlief diese Entwicklung an der Universität Leipzig, wo sich 1520 noch 417 Studenten neu immatrikuliert hatten. 1526 war die Zahl der Neueinschreibungen auf 86 gesunken, vgl. G. Uhlig, Geschichte des sächsischen Schulwesens bis 1600 (Kleine sächsische Bibliothek 6), Dresden 1999, S. 91; vgl. den Abschnitt „Von der Reform zur Reformation“ bei: E. Bünz, Gründung und Entfaltung. Die spätmittelalterliche Universität Leipzig 1409–1539, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31, hrsg. von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Leipzig 2009, S. 17–325, hier S. 301 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 250 Winfried Müller Universitätstheologie durch die Reformatoren; Andreas Karlstadt (1486–1541) gab beispielsweise seine Wittenberger Professur auf, „um künftig sein Brot biblisch ‚im Schweiße seines Angesichts‘ zu essen“.10 Schließlich fiel in einer religiösen Umbruchsituation aufgrund unsicherer Perspektiven im geistlichen Berufsfeld der Anreiz weg, ein Theologiestudium aufzunehmen. All dies schlug nicht nur auf die Universitäten durch, sondern auch auf die städtischen Lateinschulen, die zurückgehende Schülerzahlen und damit auch geringere Einnahmen aus dem Schulgeld zu verkraften hatten. Zudem versiegten Nebeneinkünfte aus kirchlichen Stiftungen. Kurzum: Die städtischen Lateinschulen waren vorübergehend in ihrem Lebensnerv getroffen. Die Krise des Lateinschulwesens drohte weltlichem und geistlichem Regiment gleichermaßen die Grundlage zu entziehen. Nebenbei bemerkt war das ein Problem, das sich in gleicher Weise in den altgläubig gebliebenen Gebieten stellte. Die Überalterung oder Verödung von Konventen, ein rapider Rückgang der Theologiestudenten und der Priesterweihen, dies alles mündete auch in einem Territorium wie Bayern, wo die Landesherren eine dezidiert gegenreformatorische Politik verfolgten, in eine schwere Krise: „Der Kirche ging der Nachwuchs aus, sie drohte sang- und klanglos auszusterben.“11 Dass sich Luther zwecks Behebung dieser Krise an die Bürgermeister und Ratsherren wandte, war dem Umstand geschuldet, dass das Lateinschulwesen – also der sekundäre Bildungsbereich – vor allem unter kommunaler Regie stand. Bereits in vorreformatorischer Zeit war nämlich in den innerstädtischen Schulkämpfen die Schulträgerschaft kirchlicher Einrichtungen und die ausschließliche Bestimmung der Bildungsinhalte durch die Kirche vielfach gebrochen worden zugunsten der kommunalen Schulhoheit. Diese war Ausdruck städtischer Unabhängigkeit, die sich in keiner Weise gegen eine religiöse Erziehung in den Schulen richtete. Im Gegenteil: Die Kritik an der kirchlichen Bildungsträgerschaft wurde nicht zuletzt von der Unzufriedenheit darüber gespeist, dass der Welt- und Ordensklerus sich den Aufgaben der religiösen Erziehung nicht gewachsen zeigte. Vor allem aber war ein Hauptzweck der städtischen Lateinschulen die Vorbereitung auf die Universität. Aus diesem Grund war es den städtischen Obrigkeiten so wichtig, dass an ihren Schulen Latein als entscheidende Zugangsvoraussetzung für ein Studium gelehrt wurde. 10 A. Seifert, Höheres Schulwesen (wie Anm. 8), S. 257. 11 Ders., Die „Seminarpolitik“ der bayerischen Herzöge im 16. Jahrhundert und die Begründung des jesuitischen Schulwesens, in: H. Glaser (Hg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. 2/1: Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1573–1657, München/Zürich 1980, S. 125–132, hier S. 125; zusammenfassend W. Ziegler, Reformation und Gegenreformation 1517–1648: Altbayern, in: W. Brandmüller (Hg.), Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. 2: Von der Glaubensspaltung bis zur Säkularisation, St. Ottilien 1993, S. 1–64, hier S. 25 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel 251 Das Lateinschulwesen als kommunale Aufgabe – das verweist zugleich darauf, dass bis ins 16. Jahrhundert das Ziel der landesherrlichen bildungspolitischen Aktivitäten nicht die Schule bzw. das höhere Schulwesen war, sondern die Universität. In moderner Begrifflichkeit ausgedrückt: Die Landesherren wurden in vorreformatorischer Zeit lediglich im tertiären Bildungssektor tätig, im Hochschulbereich also. Das Recht, eine Universität zu stiften, war gleich dem Recht zur Stadtgründung oder zur Anlage von Burgen Herrenrecht.12 Ausgeübt wurde es zur Mehrung des Ansehens der regierenden Dynastie und des Landes gleichermaßen, das über die Universitäten seine Eliten für die weltliche Verwaltung und für den Kirchendienst rekrutierte. Prestigedenken der Dynastien und das Streben der Territorien nach bildungspolitischer Autarkie – aus der Logik des Zusammenspiels dieser Faktoren ergab es sich, dass im deutschen Reich im späten Mittelalter eine Welle von Universitätsgründungen zu beobachten war. In der Universitätsgeschichtsschreibung spricht man von der partikularen Epoche der Universitäten im Gegensatz zur zeitlich vorgelagerten universalen, als die Scholaren aus Deutschland noch an die wenigen Universitäten in Europa – Paris und Bologna vor allem – zogen. Dieser Übergang von der universalen zur partikularen Epoche der Universitätsgeschichte impliziert auch einen Vorgang der Regionalisierung, der zur Mobilisierung der landeseigenen Bildungsreserven führte.13 Verstärkt wurde diese Regionalisierung dann noch einmal durch die mit der Reformation ein­ gezogenen konfessionellen Trennungslinien. Für den mitteldeutschen Raum ist für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit auf Universitätsgründungen in Erfurt 1392, Leipzig 1409, Wittenberg 1502, Jena 1558 und Halle 1694 zu verweisen. Die Leistungsfähigkeit der frühmodernen Territorialstaaten wird gut illustriert, wenn man diese Reihung zur heutigen Universitätslandschaft in Beziehung setzt. Mit den Universitäten erstreckten sich Gestaltungswille und Zuständigkeit des Landesherrn bildlich gesprochen also auf das Dach des Bildungssystems, oder um es noch einmal in moderner Terminologie auszudrücken: auf den tertiären 12 Vgl. R. C. Schwinges, Prestige und gemeiner Nutzen. Universitätsgründungen im deutschen Spätmittelalter, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), S. 5–17; F. Rexroth, Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln. Die Intentionen des Stifters und die Wege und Chancen ihrer Verwirklichung im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat (AfKG Beiheft 34), Köln/Weimar/Wien 1992; W. E. Wagner, Universitätsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg. Eine vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher Stiftungen im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft (Europa im Mittelalter 2), Berlin 1999. 13 Vgl. J. Verger, Patterns, in: W. Rüegg (Hg.), A History of the University in Europe, vol. 1: Universities in the Middle Ages, Cambridge 1992, S. 35–74, hier S. 55 ff.; R. A. Müller, Geschichte der Universität. Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule, München 1990, S. 45 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 252 Winfried Müller Bildungssektor, wohingegen der Bau der darunterliegenden Ebenen den Lokalund Privatgewalten überlassen war. So folgerichtig es deshalb war, dass sich Luthers Appell für die Errichtung von (Latein-)Schulen als dem sekundären Bildungssektor an die Bürgermeister und Ratsherren richtete, so kam es im Zuge der nachreformatorischen schulischen Neuorganisation doch auch zu einer innovativen Einbindung der Landesherren. Denn durch das im Verlauf der Reformation von den protestantischen Landesherren sequestrierte Kloster- und Kirchengut stand ja eine Verfügungsmasse bereit, die nach dem Willen der Reformatoren ad pias causas, also für Seelsorge, caritas und Bildungswesen, eingesetzt werden sollte – auch um sich nicht dem von der katholischen Gegenpartei erhobenen Vorwurf auszusetzen, Kirchengut zu profanieren. Die Argumentationslinie war bereits frühzeitig durch die von Luther gutgeheißene und von ihm mit einem Vorwort versehene Leisniger Kastenordnung von 1523 vorgegeben worden.14 Durch Philipp Melanchthons Gutachten über den rechten Gebrauch der Kapitel und Klöster (1537) oder Martin Bucers (1491–1551) Schrift „Von Kirchengütern“ (1540) wurde sie weitergeführt. Der Tenor dieser Schriften ist, dass die sich zum neuen evangelischen Glauben bekennenden Fürsten zwar die Institutionen der alten Kirche beseitigt hatten, dass aber deren Güter in Entsprechung zum ursprünglichen Stiftungszweck verwendet, also für Seelsorge, Armenfürsorge und nicht zuletzt für Einrichtungen zur Ausbildung des evangelischen Klerus zur Verfügung gestellt werden müssten: Dan was sein stifft und kloster anders geweßen / den Christliche schulenn / darynnen man leret/schrifft vnnd zucht nach Christlicher weiße / vnnd leut auff ertzog / zu regieren und predigen – so wiederum Luther in seiner 1520 erschienenen Schrift „An den christlichen Adel“.15 Damit schlug die historische Stunde des Vordringens des Territorialstaats in den sekundären Bildungsbereich, wobei es mit Georg von Carlowitz ein katholischer Fürstenberater im seinerzeit noch am alten Glauben festhaltenden albertinischen Sachsen war, der offenkundig im mitteldeutschen Raum der Erste war, der 1537 das Modell der Landes- oder Fürstenschulen andachte.16 Und zwar schlug 14 Vgl. M. Luther, Ordnung eines gemeinen kastens. Radschlag wie die geistlichen guter zu handeln sind. 1523, in: EKO, ed. E. Sehling, Bd. 1: Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten, Halbbd. 1: Die Ordnungen Luthers. Die Ernestinischen und Albertinischen Gebiete, Leipzig 1902, ND: Aalen 1979, S. 598–604, Nr. 109, hier 598 f.; O. Fries, Luthers Schrift „Ordnung eines gemeinen Kastens“, in: SBAG 11 (1953), S. 27–42. 15 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. 1520, in: WA, Bd. 6, Weimar 1888, S. 380–469, hier S. 439; vgl. auch R. Bohley, Gründung der sächsischen Landesschulen (wie Anm. 5), S. 79. 16 Vgl. im Überblick ebd.; J. Flöter / G. Wartenberg (Hgg.), Die sächsischen Fürsten- und Landesschulen. Interaktion von lutherisch-humanistischem Erziehungsideal und Eliten-Bildung Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel 253 Carlowitz vor, vom erledigten Klostergut an ein oder zwei Orten landesherrliche höhere Schulen einzurichten. Adressat dieses in einem vertraulichen Schreiben formulierten Vorschlags war Landgraf Philipp von Hessen (1509/18–1567). Im albertinischen Sachsen selbst konnte man einem solchen Vorhaben erst nach dem Tod Herzog Georgs (1500–1539), also nach 1539, nähertreten, wobei die für die künftigen Fürstenschulen entscheidende Phase 1541 unter Herzog/Kurfürst Moritz (1541/47–1553) begann. Bereits wenige Monate nach seinem Regierungsantritt wurden Überlegungen über die Verwendung sequestrierten Klosterguts angestellt, die in der „Neuen Landesordnung“ vom 21. Mai 154317 in die Vorgabe mündeten, drei Landesschulen zu gründen.18 Eine sollte im vormaligen Zisterzienserkloster St. Maria ad Portam untergebracht werden. Eine weitere Landesschule war für Merseburg geplant, der zähe Widerstand des Domkapitels brachte es mit sich, dass die Landesschule dann erst 1550 in Grimma in der aufgegebenen Niederlassung der Augustiner-Eremiten eröffnet werden konnte.19 Und drittens kam es schließlich zur Gründung einer Landesschule in der Niederlassung der Augustiner-Chorherren in Meißen, wo bereits im Juli 1543 der Unterrichtsbetrieb aufgenommen wurde. Die landesherrliche Stiftungsurkunde wurde erst am 23. Januar 1544 ausgestellt. Der neuen Bildungseinrichtung wurden (SSGV 9), Leipzig 2004; W. Müller, Herzog Moritz und die Neugestaltung des Bildungswesens nach der Einführung der Reformation im albertinischen Sachsen, in: K. Blaschke (Hg.), Moritz von Sachsen. Ein Fürst der Reformationszeit zwischen Territorium und Reich (QFSG 29), Stuttgart 2007, S. 173–201. 17 Vgl. Neue Landes-Ordnung Hertzog Moritzens zu Sachsen, die drey Schulen zu Meissen, Merseburg und zur Pforten, wie auch etliche andere Articul betreffend, Montags nach Trinitatis, An. 1543, in: Codex Augusteus […], Bd. 1, ed. J. C. Lünig, Leipzig 1724, Sp. 13–24, hier Sp. 13 f. 18 Zu den einzelnen Schulen vgl. J. Flöter / M. Pesenecker (Hgg.), Erziehung zur Elite. Die Fürsten- und Landesschulen zu Grimma, Meißen und Schulpforte um 1900, Leipzig 2003; J. Flöter / G. Wartenberg (Hgg.), Sächsische Fürsten- und Landesschulen (wie Anm. 16); G. Arnhardt / G.-B. v. Reinert, Die Fürsten- und Landesschulen Meißen, Schulpforte und Grimma. Lebensweise und Unterricht über Jahrhunderte (SchrRh. WEE 5), Weinheim/ Basel 2002; T. Flathe, Sanct Afra. Geschichte der königlich sächsischen Fürstenschule zu Meißen seit ihrer Gründung im Jahre 1543 bis zu ihrem Neubau in den Jahren 1877–1879, Leipzig 1879; A. Clemen, Fürsten- und Landesschule St. Augustin zu Grimma, in: Veröffentlichungen zur Geschichte des gelehrten Schulwesens im albertinischen Sachsen 1 (1900) [= Übersicht über die geschichtliche Entwicklung der Gymnasien], S. 20–33; G. Arnhardt, Schulpforte – eine Schule im Zeichen der humanistischen Bildungstradition (Monumenta paedagogica 25), Berlin 1988; H. Heumann, Schulpforta. Tradition und Wandel einer Eliteschule, Erfurt 1994. 19 Vgl. G. Wartenberg, Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546 (QFRG 55), Gütersloh 1988, S. 195. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 254 Winfried Müller dabei Einnahmen aus dem Besitz von St. Afra und aus dem Verkauf anderweitiger Klostergüter zugesprochen. In Verbindung mit weiteren Zuweisungen wurde die Schule auf ein solides finanzielles Fundament gestellt, das dem Unterhalt des Schulpersonals und der Schüler diente. Laut Stiftungsbrief waren für die Fürstenschule St. Afra 60 Schüler eingeplant, die unentgeltlichen Unterricht und freie Kost genossen und für die der Aufenthalt im ehemaligen Kloster, im Alumnat, vorgesehen war. Letztlich wurde die Zahl der Freistellen auf 105 erhöht, was es für eine beschränkte Zahl von Schülern mit sich brachte, dass sie als ‚Extraneer‘ außerhalb des Alumnats wohnten. Der Regelfall war also der Internatsbetrieb für Schüler, die bereits über schulische Vorbildung verfügten. In der „Neuen Landesordnung“ von 1543 lesen wir in diesem Zusammenhang, dass kein Knabe aufgenommen werden solle, der nicht schreiben und lesen kan, auch keiner, der seines Alters unter eilff, oder über funfzehen Jahr ist.20 In der Kirchenordnung von Kurfürst August (1553–1586) aus dem Jahre 1580 wurde dann präzisiert, dass nur Knaben angenommen werden sollten, die zuvor auf einer Lateinschule über die Anfangsgründe des Lateinischen hinausgelangt waren.21 Konkret besagte das: Die Neukonstruktion der Landesschulen sollte die Begabungsreserven der städtischen Lateinschulen abschöpfen. Nach dem Besuch der unteren Klassen an einem städtischen Gymnasium sollten die gymnasiale Mittelund Oberstufe von den besonders Begabten an den Landesschulen absolviert werden. Dort sollten die Schüler sechs Jahre lang zum Glauben, Christlicher Tugennt getzogen und underweiset werden, bis zu Irem verstande und mundigen Jharn – und zwar unentgeltlich und ohne Ansehen ihrer sozialen Herkunft. Zielsetzung war die Vorbereitung auf die Universität. Nach Endung derer sechs Jahr, so lesen wir in der „Neuen Landesordnung“ von 1543, mögen die Knaben […] in unsere Universität gen Leipzig geschicket werden, wo wiederum Stipendien ausgeworfen werden sollten. Diese Zusammenziehung der Hochbegabten hinter die Mauern ehemaliger Klöster, wo sie dann nach einem streng reglementierten, an klösterliche Lebensordnung gemahnenden Tagesplan zusammenlebten und lernten, war nicht unumstritten. Die räumliche Absonderung von den Universitäten, für die die neuen Schulen ja eigentlich vorbereiten sollten, wurde beispielsweise vielfach kritisch 20 Dieses und die nachfolgenden Zitate in: Neue Landes-Ordnung (wie Anm. 17), Sp. 13 f. 21 Vgl. Die Schul- und Universitäts-Ordnung Kurfürst Augusts von Sachsen. Aus der Kursächsischen Kirchenordnung vom Jahre 1580, ed. L. Wattendorf (Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus alter und neuer Zeit 7), Paderborn 1890; F. Ludwig, Die Entstehung der kursächsischen Schulordnung von 1580 auf Grund archivalischer Studien (MGdESG Beiheft 13), Berlin 1907. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel 255 beurteilt. Und manchem passte der Geist der neuen Einrichtungen grundsätzlich nicht. Kein Geringerer als Philipp Melanchthon hielt das absondern vnd einschlies­ sen der jugendt für eine Neue müncherey, für ein Fortschreiben der gerade durch die Reformation überwundenen monastischen Lebensform.22 Die Jugend werde dadurch scheu und werde in moribus nicht auf das spätere Leben vorbereitet. Und in der Tat war das quasi-klösterliche Leben für die Schüler sicher nicht immer einfach. Der Preis für die Unentgeltlichkeit des Unterrichts waren strenge Aufsicht und Disziplin, die natürlich auch immer wieder durchbrochen wurden. Die Klagen über das Aussteigen der Schüler bei Nacht und über den sog. Pennalismus, der neu ankommende Schüler mit einer mit mancherlei Schikanen verbundenen Hack- und Rangordnung konfrontierte – auch das gehört zur Geschichte der Internatsschulen. Auf der anderen Seite war natürlich gerade die Internatserziehung im Ambiente aufgehobener Klöster genau das, was die Befürworter dieser Erziehungsanstalten wollten: eine disziplinierte und effiziente Ausbildung – fernab von den Anfechtungen einer Universitätsstadt, aber auch fernab vom Elternhaus. Von Luther wurde diese, modern gesprochen, Einschränkung des Elternrechts durchaus billigend in Kauf genommen, denn: ist der groessest hauffe der elltern leyder ungeschickt dazu und nicht weys, wie man kinder zihen und lernen soll. Denn sie nichts selbst gelernet haben, on den bauch versorgen, und gehoeren sonderliche leut dazu, die kinder wol und recht leren und zihen sollen.23 Mit den sächsischen Landesschulen wurde also eine neue Ebene zwischen das bestehende System der städtischen Lateinschulen und die unter landesherrlicher Regie stehende Universität gezogen. Durch die Regulierung des Ein- und Austrittsalters und der Vorkenntnisse wurde sichergestellt, dass die Absolventen der Landesschulen der gleichen Alterskohorte angehörten. Dies war ein gravierender Unterschied zur vorreformatorischen Zeit, in der vielfach Halbwüchsige z. T. sehr verschiedenen Alters und mit unterschiedlicher Vorbildung an die Universität gekommen waren; Luther hatte sich 1501 im Alter von 18 Jahren an der Universität Erfurt immatrikuliert,24 Luthers Gegner Johann Eck war elf Jahre alt, als er sich 1498 in Heidelberg einschrieb,25 und Luthers Mitstreiter Philipp Melanchthon war mit zwölf Jahren auf die Universität gezogen.26 22 Zitiert nach A. Seifert, Höheres Schulwesen (wie Anm. 8), S. 308. 23 M. Luther, An die Ratsherren (wie Anm. 3), S. 34. 24 Vgl. O. Scheel, Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation, Bd. 1: Auf der Schule und Universität, Tübingen 31921, S. 32 ff. 25 Vgl. M. Weitlauff, Johannes Eck, in: L. Boehm / W. Müller / W. J. Smolka / H. Zedelmaier (Hgg.), Biogr. Lex. LMU, Bd. 1: Ingolstadt-Landshut 1472–1826, Berlin 1998, S. 88. 26 Vgl. H. Rupp, Philipp Melanchthon – der vergessene „Praeceptor Germaniae“? Der Versuch Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 256 Winfried Müller Zur altersmäßigen Homogenisierung kam die Standardisierung der Ausbildungsinhalte hinzu: Dass in einer Schulen wie der andern gleichformig gelernet werden solle, die Absolventen der Landesschulen sich also beim Übergang zur Universität auf gleichem Lernniveau bewegten, war eine der Vorgaben der Landesordnung von 1543.27 Die ‚Gleichförmigkeit‘ des Unterrichts durch einheitliche, staatliche vorgegebene Ausbildungskriterien – das war ein Prinzip, das eine enorme Fernwirkung entfalten sollte, zumal dann im ‚pädagogischen‘ 18. Jahrhundert, als sich der formierende bürokratische Monopolstaat der Reform des Bildungswesens und des flächendeckenden Ausbaus des Schulwesens besonders intensiv annahm. Zugleich trugen die Landesschulen dem Umstand Rechnung, dass aus Sicht der Reformatoren Personen vornehmer Herkunft für den geistlichen Beruf ungeeignet seien, da für diese die Kirchenämter nur Versorgungsstellen gewesen waren. Worauf es nun aber ankam, war eine breite Schicht gut qualifizierter Pfarrer, die sich nach Amtsauffassung und -ausübung vom vorreformatorischen Klerus positiv abhob. Man entdeckte gewissermaßen den ‚gemeinen Mann‘ als Zielgruppe der Bildungswerbung. Diesen in das höhere Bildungswesen zu integrieren, setzte freilich ein gut funktionierendes Stipendienwesen voraus. Auch in dieser Hinsicht sind die sächsischen Landesschulen ein aufschlussreiches Beispiel, sah doch deren Konzeption vor, die Begabten aller Schichten zu gewinnen und diesen durch Kostenlosigkeit des Unterrichts und des Internatsaufenthalts eine Ausbildung zu gestatten, die auf das künftige Universitätsstudium vorbereitete. Dieses Anliegen war bereits in den frühen Äußerungen von Georg von Carlowitz formuliert worden: Bei der Auswahl und Aufnahme der Schüler solle kein Stand ausgeschlossen werden: Ehr sey Edelman, Burger, oder Pauer, So zu der Leer geschicht und geneigt. Und so gesehen stand es, als es an die Realisierung der Fürstenschulen ging, außer Diskussion, dass an allen drei Standorten mit Vorstehern und Dienern, Lehre, Kosten und anderer Nothdurfft, wie folget, umsonst versehen, und unterhalten werden.28 Um die höhere Bildung im Interesse des Überlebens der sich formierenden Landeskirche auch den sozial Schwachen zu öffnen, widersetzte man sich von landesherrlicher Seite dem Zugriff der Landstände, insbesondere des Adels, auf den neuen Schultypus. Dahinter stand die Befürchtung, bei einem zu starken ständischen Einfluss würde sich in den Landesschulen wiederholen, was man in der vorreformatorischen Kirche hatte beobachten können, dass nämlich vakante Plätze zur einer Synthese von Humanismus und Reformation im Deutschland des 16. Jahrhunderts, in: JHB 4 (1998), S. 45–63. 27 Neue Landes-Ordnung (wie Anm. 17), Sp. 14. 28 Ebd., Sp. 13 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel 257 Beute adeliger Pfründenjäger wurden. Zwar wurde für den Adel ausdrücklich eine gewisse Anzahl von Freiplätzen reserviert, aber grundsätzlich war es die Intention der Landesherren, auf der voruniversitären Ausbildungsebene die Begabungsreserven des Landes ohne Ansehen der sozialen Herkunft zu mobilisieren und den Universitäten gewissermaßen Studierende mit Gütesiegel und Erfolgsgarantie zuzuführen. Um die Konsequenzen dieser auf die sozial schwächeren Schichten abzielenden Bildungsoffensive zu erfassen, sind noch vertiefende Studien erforderlich. Für Württemberg mit seinen evangelischen Klosterschulen wurde aber bereits ermittelt, dass eine zunehmende Akademisierung des Klerus erfolgte. Bald nach der Jahrhundertmitte, also in der zweiten evangelischen Pfarrergeneration, war es zu einer fast 100-prozentigen Akademisierung gekommen, wobei alleine das Tübinger Stift drei Viertel der württembergischen Pfarrstellen mit seinen Absolventen versorgte. Im Vergleich zur vorreformatorischen Kirche war also eine deutliche Hebung des Ausbildungsniveaus und damit auch der Qualität der Seelsorge zu beobachten.29 Diese kam nicht nur den Landeskirchen zugute, sondern auch den weltlichen Berufen. Denn dass der sich ausdifferenzierende Staatsapparat gleichfalls geschulter, gut ausgebildeter Fachkräfte bedurfte, die durch die Unentgeltlichkeit von Unterricht und Internatsaufenthalt in Loyalität zum Land und seinem Fürsten erzogen wurden, liegt auf der Hand. Ausdrücklich war denn auch in der Neuen Landesordnung des Moritz von Sachsen nicht nur von der Ausbildung künftiger Kirchendiener die Rede, sondern auch von der anderer gelahrten Leuten in unseren Landen.30 Dass Unentgeltlichkeit von Unterricht und Internatsaufenthalt der Loyalität der Absolventen gegenüber dem Land und seinem Fürsten, der ja nicht nur die Ausbildung, sondern auch die künftige berufliche Versorgung sicherte, förderlich waren, dürfte außer Zweifel stehen. Diesem Ziel der intrinsischen Bindung der künftigen Kirchen- und Staatsdiener diente auch eine weitere Bestimmung, die in den Vorüberlegungen und in den Gründungsdokumenten der sächsischen Fürstenschulen immer wieder auftauchte: und sollen die Knaben alle unsere Untertha­ nen und keine Auslendische seyn […], vor unserer Underthanen Kinder und sunst vor Niemandt seien die neuen Schulen gedacht.31 Der Territorialstaat achtete auf bildungspolitische Autarkie, er grenzte sich aus konfessionellen und auch ökonomischen Gründen nach außen ab. Dieser Trend sollte sich – wie durch eine Fülle sog. Landeskindermandate belegt wird – in der Zukunft noch verstärken. 29 Vgl. A. Seifert, Höheres Schulwesen (wie Anm. 8), S. 273. 30 Neue Landes-Ordnung (wie Anm. 17), Sp. 13. 31 Ebd., Sp. 14. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 258 Winfried Müller Die bildungspolitische Innovation der Landesschule hatte – so viel sollte mittlerweile deutlich geworden sein – aus der Perspektive der Landesherren eine Reihe entscheidender Vorteile. Und deshalb blieb er auch kein sächsisches Spezifikum. Eine bezüglich Zielsetzung und Organisation identische Einrichtung finden wir beispielsweise in Stettin/Szczecin, wo die Herzöge von Pommern 1543 das sog. Pädagogium einrichteten.32 Aus dem Herzogtum Württemberg kennen wir die Pädagogien in Stuttgart und Tübingen.33 Mit dem braunschweigischen paeda­ gogium illustre in Gandersheim34 und der 1607 nach sächsischem Vorbild entstandenen brandenburgischen Fürstenschule in Joachimsthal bei Eberswalde35 lässt sich die Reihe der Beispiele ebenso fortsetzen wie mit dem 1605 eröffneten Casimirianum in Coburg,36 in dessen Stiftungsbrief noch einmal die Stellung des neuen Schultyps zwischen Lateinschule und Universität auf den Punkt gebracht wurde: Die Landt-Schul sei als ein medium oder mittell zwischen andern gemeinen triviall und hohen Schulen oder Academien constituirt worden – Gott zu ehren […] und unseren Landen zu wohlfarth.37 32 Vgl. S. Wesołowska, Das Fürstliche Pädagogium bzw. Gymnasium Carolinum in Stettin, in: D. Alvermann / N. Jörn / J. E. Olesen (Hgg.), Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums (Nordische Geschichte 5), Berlin 2007, S. 105–122, hier S. 105 ff. 33 Vgl. A. Seifert, Höheres Schulwesen (wie Anm. 8), S. 306 f. 34 Vgl. A. Reitemeier, Reformation in Norddeutschland. Gottvertrauen zwischen Fürstenherrschaft und Teufelsfurcht, Göttingen 2017, S. 227 f. 35 Vgl. J. Flöter / C. Ritzi (Hgg.), Das Joachimsthalsche Gymnasium. Beiträge zum Aufstieg und Niedergang der Fürstenschule der Hohenzollern, Bad Heilbrunn 2009. 36 Vgl. G. Melville, „Eine sonderbare hohe Landesschul“. Die Anfänge des Coburger Casimirianums in schulgeschichtlichen Kontexten, in: J. Goslar / W. Tasler (Hgg.), Musarum sedes 1605–2005. FS zum 400-jährigen Bestehen des Gymnasiums Casimirianum Coburg (SchrRh. der Historischen Gesellschaft Coburg e. V. 18), Coburg 22005, S. 35–57; W. Müller, „Gott zu ehren … und unsern Landen zu wohlfarth“. Die Reformation als pädagogische Bewegung und das Modell der Landesschulen am Beispiel des Coburger Casimirianums, in: G. Melville (Hg.), Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg (1564–1633). Einblicke in eine Epoche des Wandels (SchrRh. der Historischen Gesellschaft Coburg e. V. 27), Coburg 2016, S. 53–65. 37 Zitiert nach G. Melville, Anfänge des Coburger Casimirianums (wie Anm. 36), S. 36. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 DIE KUNST DER REFORMATION ALS KOMMUNIKATIONSMEDIUM Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Kateřina Horníčková Framing the Difference Visual Strategies of Religious Identification in the Czech Utraquist Towns Legal framing In the late Middle Ages, urban spaces of exchange and communication such as piazzas, streets, church and town hall facades, gates, and fortifications became public places where inscriptions and images were displayed.1 In Bohemia in the sixteenth century (already starting during the fifteenth century) prominent urban spaces became “contested territory”,2 where denominational meanings could be conveyed. Written records, and to a lesser extent preserved monuments, reveal that Bohemian towns in the post-Hussite period and during the Reformation occasionally used urban public spaces3 to show the denominational status of the community or individual residents through images, inscriptions, symbols, and even performances.4 This text reviews the legal framework of function, role, and 1 2 3 4 Cf. L. Burkart, Die Stadt der Bilder. Familiale und kommunale Bildinvestition im spätmittelalterlichen Verona, Munich 2000; G. Jaritz (ed.), Die Straße. Zur Funktion und Perzeption öffentlichen Raums im späten Mittelalter (Forschungen IMAREAL 6), Vienna 2001; esp. Id., Straßenbilder des Spätmittelalters, in: ibid., pp. 47–70; M. Camille, Signs on Medieval Street Corners, in: ibid., pp. 91–117. J. L. Koerner, The Reformation of the Image, London 2004, p. 56. In this article, I understand the term ‘public space’ in its premodern sense, as publicly accessible symbolically-loaded locales and spaces of communication in late medieval and early modern towns. Based on S. Rau / G. Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Iid. (eds.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (NuS 21), Cologne/Weimar/Vienna 2004, pp. 11–51, esp. pp. 17–23; but broadened by the notion of visual culture/aspects of seeing. This text summarizes my previous research in this field dispersed in the works K. Horníčková, Beyond the Chalice. Monuments Manifesting Utraquist Religious Identity in the Bohemian Urban Context in the Fifteenth and Early Sixteenth Centuries, in: ERH/REH 20 (2013), pp. 137–152; Ead., Symbol kalicha ve veřejném prostoru utrakvistických měst [The Symbol of the Chalice in the Public Space of Utraquist Towns], in: O. Halama / P. Soukup (eds.), Kalich jako symbol v prvním století utrakvismu [Chalice as Symbol in the First Century of Utraquism], Prague 2016, pp. 59–75; and in edited works: Ead. / M. Šroněk (eds.), In puncto religionis. Konfesní dimenze předbělohorské kultury v Čechách a na Moravě [… Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 262 Kateřina Horníčková reception of these Protestant images and monuments in the denominational communication in sixteenth-century Bohemia and identifies the factors that influenced their survival. Lucas Burkart, in “Die Stadt der Bilder”, showed that images played an important role in representing community and urban social networks in Italy. He wrote about Italian, German, and Flemish cities: “Es gehörte zum Selbstverständnis dieser Städte und ihrer Bürger, ihre Bedeutung und politische Stellung nicht nur in Texten zu dokumentieren, sondern sich auch in Bildern zu repräsentieren”.5 Although focused on the political meanings of images in urban space, his concept of the town as a ‘Bilderraum’ presented a point of view that I found particularly inspiring for the study of communication in urban religious communities in Bohemian towns in the second half of the fifteenth and sixteenth century. Images were straightforward, could easily be read and understood, and investing in them helped to express communal and political views and organized urban political communities in simple and clear terms. The same characteristics also meant that they could incite conflict. In the context of the religious division that became a part of the daily reality in post-Hussite Bohemia, images occasionally became markers of religious identity within the complicated framework of the denominational situation, which, on the surface, was represented by illusive religious tolerance. 5 The Confessional Dimensions of the Bohemian and Moravian Culture before the Battle of White Mountain], Prague 2013; Iid. (eds.), Umění české reformace (1380–1620) [The Art of the Bohemian Reformation (1380–1620)], Prague 2010; K. Horníčková, Insider’s Visions. Memory and Self-Representation in Bohemian Utraquist Towns, in: Ead. (ed.), Faces of Community in Central European Towns. Images, Symbols, and Performances, 1400–1700, Lanham/Boulder/New York/London 2018, pp. 113–148. This edited volume contains other contributions dealing with the symbolic identification through visual culture in denominationally-diverse urban space, esp. M. Šroněk, The Representation Practices of the Prague Painters’ Guild in the Late Middle Ages and Early Modern Period, in: ibid., pp. 149–193; Z. Míchalová, The Self-Presentation of Burghers in Moravian Seigniorial Towns. Telč and Slavonice in the Second Half of the Sixteenth Century, in: ibid., pp. 195–210; J. Hrdlička, Public Expressions of Religious Transformation in Moravian Towns (1550–1618), in: ibid., pp. 211–228; O. Jakubec, Epitaphs in the Moravian Royal Cities Around 1600 and their Confessional Imagination, in: ibid., pp. 251–278; K. Pražáková, Rewriting Memory. Remodelling Churches in Seventeenth-Century Freistadt, in: ibid., pp. 211–338. Concerning Utraquist images I am indebted in particular to works by Zikmund Winter (1846–1912), Josef Macek (1922–1991), Jan Royt, Milena Bartlová, Josef Krása (1933–1985) and Karel Stejskal (1931–2014). L. Burkart, Die Stadt der Bilder. Verona im Spätmittelalter, in: P. Johanek (ed.), Bild und Wahrnehmung der Stadt (Städteforschung A 63), Cologne/Weimar/Vienna 2011, pp. 25–50, here p. 25; cf. further: Id., Stadt der Bilder (as note 1). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 263 In 1539, aldermen (‘šepmistři’, ‘Schöffen’) of Kutná Hora/Kuttenberg and the Master of the Mint (‘mincmistr’, ‘Münzmeister’), Albrecht of Gutštejn/Guttenstein († 1550), called a certain Matěj Máša,6 asking why he depicted Jan Žižka (ca. 1360–1424), the redoubtable Hussite military leader, on the façade of his house.7 ‚Matěj Máša was asked by the order of His Grace Master of the Mint why he had his house painted with [an image of, rem. K. H.] Žižka and by whose order, [as it is, rem. K. H.] against the law of the land, where it stands that the parties under one and both kinds should not offend or disrespect each other. In response, Máša said that he did not wish to do anything wrong [to 6 7 Matěj Máša of Hornosyn/z Hornosyna (Hornosín in Southern Bohemia), ‘erckaféř’ (ore merchant) and burgher in Kutná Hora, guaranteed a payment of 80 schock (‘kop’) by Pavel Havránek of Vostrov/z Vostrova to Jan Bernhart of Hoštice/z Hoštic in 1531. In 1539 he received fishponds and an iron-smelting mill in pawn for 60 schock. In 1555 he bequeathed his house (called Mejšnarovský) to his son Petr and his garden to another Petr and a daughter, Regina, cf. SOkA Kutná Hora, fonds: AM KH, Městské knihy [Town Books], book no. 404 (Liber testamentorum, 1544–1584), fol. C25; it is possible that the image was painted on this house, but it is not certain. We are only informed that the house in question stood on a corner and can assume from the controversy that it was publicly visible. Cf. SOkA Kutná Hora, AM KH, Městské knihy [Town Books], book no. 14 (Kniha pamětní [Book of Memory of Kutná Hora], 1538–1541), fol. 292r/D18: Matějo[v]i Mášo[v]i mlu[ven] o z rozkazu JMti pana minc[mejs]tra proč j[es]t Žižku dal malo[va]ti a z čího návodu na domu své[m] p[ro]ti zřízení zemské[m]u, kdež stojí, že strana pod jednú a pod obojí zpuosobú nemají se dotýkati ani ku potupě jedna druhé nedo[týka]ti. P[ro]ti to[m]u Máša, že j[es]t se nenadál, aby tí[m] malování[m] měl co učiniti nenáležitého, než že to bude ku poctě městu tomuto, po[něva]dž j[es]t duo[m] ten na rohu, po[něva]dž jinde po domích a kostelích j[es]t malován Žižka, a že mu k to[m]u Lorenc, kterýž j[es]t mezi saudci, radil […]. A po[něva]dž to j[es]t pá[nuo]m obtížný an[e]b JMti pá[n]u, že on to snadno dá zamazati a skaziti. Po[vědí]no mu, že je[m]u domu ozdobiti nehájí a že sú to[m]u rádi, než aby Žižky nemalo[v]al, po[něva]dž by to k nepokoji bylo, však můž z těch vojákuov nětco jiné[h]o, nějakú ffikuru z zákona dáti vymalovati. A p[ro]tož, aby šel nyní ku p[ro]daji a po p[ro]daji, aby p[ři]šel ku panu šephmistru a tu, což mu bude ozná[men]o, tí[m] se sp[ra]ví. A j[es]t na to[m] zuostáno, podle vůle a psaní pana minc[mejs]tra, aby on i jiní, kteříž k to[m]u radili, byli trestáni. Lorenc Kořenský pověděl, že to žertem pověděl a on Mášovi neroz­ kazoval, než tak pověděl, kdyby byla má věc, že by dal Žižku namalo[va]ti. A po[něva]dž tak se j[es]t dálo, tož má z[uo]stá[n]o býti. I am indebted to Mgr. Viktor Pohanka for finding and transcribing the entry for me; the index of the book’s content is ibid. on fol. 11v: Matěj Máša domluvu má, že dal na domě svém Žižku malovati [‚Matěj Máša was admonished that he had his house painted with Žižka‘]; with the folio number and Žižka’s name erased; extract in J. Šimek, Zprávy o starodávných malbách na domech kutnohorských [Accounts of the Ancient Paintings on Houses in Kutná Hora], in: PAM 14 (1887–1889), col. 407 f.; re-printed in Id., Kutná Hora v XV. a XVI. století. Řada obrazů, pojednání a črt z kulturních a politických dějin kutnohorských [Kutná Hora in the 15th and 16th Centuries. A Set of Images, Essays, and Studies on the Cultural and Political History of Kutná Hora], Kutná Hora 1907, p. 226. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 264 Kateřina Horníčková cause any trouble, rem. K. H.] with the painting, and that it would be an ornament to the city because the house is on the corner and elsewhere in houses and churches Žižka is painted, and that Lorenc, one of the councillors, himself gave him the advice [to paint Žižka, rem. K. H.] […]. But if it bothers the gentlemen or His Grace Master of the Mint he can easily whitewash and destroy it. He was told [by the aldermen, rem. K. H.] that they do not want to prevent him from decorating the house and that [the aldermen, rem. K. H.] were happy with it, but that he should not paint Žižka because it would create tensions. He can have some other soldier painted, [for example, rem. K. H.] another character from the [Old, rem. K. H.] Testament. And that he should now go to do trade and after the trading he shall come back to the mayor and do what he is told to. And it was agreed, according to the will and letter of the Master of the Mint, that he [Máša, rem. K. H.] and others who advised him to do this should be punished. Lorenc Kořenský said that he recommended this [the figure of Žižka, rem. K. H.] to Máša as a joke and that he did not command him, but he also said that if it was up to him he would [also, rem. K. H.] have Žižka painted [on his house, rem. K. H.]. And so it happened, and so it has to remain.‘ They argued that it was against the law of the land (proti zřízení zemskému), which held that no religious community, Catholic or Utraquist, should insult or vituperate the other (dotýkati, ani ku potupě […] nedotýkati). Máša defended himself that he had not known that he was doing anything illegal and listed the reasons why he thought he was innocent: First, he thought that decorating his house would be an honor to the town as it stood on a corner; second, he had seen other images of Žižka depicted on houses and churches elsewhere; and third, one of the aldermen had advised him to paint this motif on his house. If, however, it was against the wishes of the town authorities he could paint over the painting or even destroy it. The aldermen responded that they had nothing against the decoration of houses as such, in fact the opposite, but he, Máša, should not show Žižka on his façade as this would disturb the peace and lead to conflict in the town. He could have “any other soldier [military leader, rem. K. H.] painted instead, any figure from the Bible that complies with the law”.8 The councillor who gave Máša the advice, Lorenc Kořanský,9 was also questioned about his advice to Matěj. He responded 8 9 Cf. note 7; the formulation z zákona [ ‘from the Testament’] in the text of the entry does not make it clear whether the aldermen recommended that Máša paint a figure from the New or Old Testament or whether they meant that painting any figure that complies with the law would do. Personally, I incline to believing the first, as figures from the Old and New Testament were common on façades. Lorenc Kořanský or Kořenský (Corczanský) is mentioned in the list of the aldermen for the year 1539; SOkA Kutná Hora, AM KH, Městské knihy [Town Books], book no. 14 (Kniha pamětní [Book of Memory of Kutná Hora], 1538–1541), fol. B22. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 265 that he had been joking when he said this to him, but if it were his house he would have painted Žižka too. Subsequently, both Matěj and Lorenc were punished at the request of the Master of the Mint, although the account does not give the exact nature of this punishment. Why were the authorities in Kutná Hora so concerned about an image of Žižka on the façade when images of other military leaders were acceptable? What could such an image on the façade of a town house have meant to the fellow burghers in 1539? The answer must be sought in the legal conditions of religious cohabitation in Bohemia. On one side, he was a positive symbolic figure for the Hussites and Utraquists, on the other side, the Catholic party naturally considered his figure an open insult. Publicly representing Žižka’s image had been controversial before. When Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), later pope Pius II (1458–1464), reporting on his visit to Hussite Tábor/Tabor to Cardinal Juan Carvajal (ca. 1400–1469) in a letter in 1451, he describes an image of Žižka combined with another image of an angel with a chalice displayed on the main gate of the town, which he saw as proof of the burghers’ fallacy and heresy.10 In order to portray the Tábor burghers as perfidious, blasphemous, and heretical, Enea Silvio omits the recognition that the political and memorial meaning of the images was to proclaim the communal identity of Tábor (a community of the chalice professing the legacy of the ‘founder’ of the town) and instead accuses the burghers of venerating Žižka’s image. In mid-fifteenth century Tábor the image of Žižka had served as a proud expression of the communal identity of Tábor burghers based on religion, its past historical role, and a nascent foundation myth (and as such it logically became a source of indignation to the Catholic bishop). In 1539, however, the Kutná Hora town authorities considered it a dangerous violation of the law of the land; they were predominantly Utraquists, with the probable exception of the Master of the Mint Albrecht of Gutštejn, who initiated the case.11 Around 1500, Žižka was a strong symbolic figure for the Utraquists, reminding them of a glorious military past, but also reminding Catholics of the Bohemian rebellion; both interpretations 10 Cf. K. Horníčková, Insider’s Visions (as note 4), pp. 123 f.; edition of the letter in: Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, 3. Abt.: Briefe als Bischof von Siena, Bd. 1: Briefe von seiner Erhebung zum Bischof von Siena bis zum Ausgang des Regensburger Reichstages (23. September 1450–1. Juni 1454), T. 1: Privatbriefe, ed. R. Wolkan (FRA DA 68), Vienna 1918, pp. 22–57, no. 12. 11 Cf. Paměti Mikuláše Dačického z Heslova [Memoirs of Mikuláš Dačický of Heslov], ed. A. Rezek, vol. 1 (PSLČ III/5), Prague 1878, p. XVI. Albrecht of Gutštejn was Master of the Mint from 1534 to 1542 and often intrigued against the town council. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 266 Kateřina Horníčková were revived each time a conflict arose.12 Although Kutná Hora was predominantly an Utraquist town, the town authorities there tried to subdue any individual public manifestation of denominational difference that the other party could have considered a vituperation, harmful to the fragile balance of religious cohabitation in the town. When taking legal steps against Máša, the councillors referred to the legal constitution of the Vladislaus’s II (1471–1526) “Land Order” (1500), which states in the chapter O hanění (“On vituperation”) that no verbal or painted ‘attack’ of either party was allowed between the two major religious parties in Bohemia under the threat of a penalty:13 ‘441. The provision of law found: As for the [cohabitation in, rem. K. H.] faith sub una and utraque species, we shall not oppress each other, and be as one as good friends. If any discord about any priests arises or of any other matter that concerns oppression in faith, it shall be raised with the king, lords, and knights/gentry at the land court. Whoever would oppress anyone he should come before the court without delay and the lords and knights corrected the matter […] and any party shall not vituperate the other (and any party shall not paint anything to insult the other; if any party would command a painting to insult the other, it to could be prosecuted on grounds of vituperation’.14 12 Cf. J. Macek, Víra a zbožnost jagellonského věku [Faith and Piety of the Jagiellonian Age] (Edice Každodenní život [Series Daily Life] 9), Prague 2001, p. 83. 13 Zřízení zemské Králowstwí českého za krále Wladislawa roku 1500 wydané [The Bohemian Kingdom’s Land Order of 1500 issued under King Vladislaus], in: AČ, vol. 5, ed. F. Palacký, Prague 1862, pp. 5–266, here pp. 211 f., chpt.: O hanění / De Infamacione, art. 441. In the Czech original (1500) as well as in the Latin translation (1527) of the whole Land Order by the lawyer and Catholic humanist Racek Doubravský of Doubrava/Roderich Dubravius (ca. 1470/72– 1547) for the new elected king of Bohemia Ferdinand I (1526–1564); full text at https:// sources.cms.flu.cas.cz/src/index.php?s=v&action=jdi&cat=10&bookid=1067&page=211&action_button.x=0&action_button.y=0 (last accessed: 2020/03/18). 14 Ibid.: 441. Nalezli wuobec za práwo: Což se wiery dotýče pod jednú spuosobú a pod oběma, aby­ chom se neutiskali, než spolu byli za jednoho člowěka, jako dobří přátelé. Pakliby jaká ruoznice očkoli o jakékoli kněžie znikla neb o jiné wěci, což se útiskouw wiery dotýče, aby to wznešeno bylo na krále a na pány a wládyky w saudu zemském. A ten, kdožby komu nátisk učinil, aby před saudem zemským bez puohonu stál, a tu aby páni a wládyky tu wěc napravovali. […] A strana strany ať nehanie (a strana straně k potupě nemaluj; pakliby která strana malovati kázala k potupě druhé straně, muože jí pohnati též jako o haněnie) / 441. Pro iure constitutum est: quod pertinet ad fidem sub una specie et sub utraque, ut nos inuicem in hoc non persequeremur, sed potius ut essemus pro uno homine, uti amici boni. Si tum aliqua dissensio ob quascunque res aut quales­ cunque exoriretur in hoc, quod pertinet ad persecutionem mutuam fidei, ut tunc id mox signifi­ caretur ac perferrent ad regiam maiestatem et ad barones et equestres in regni iudicio; et is, qui alteri ob fidem oppresionem intenderet facere, ut ante iudicium regni absque citatione compareret, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 267 This legal constitution was based on the first article of the earlier institution, the Religious Peace Treaty of Kutná Hora, signed in March 1485, which had settled the religious conflict re-ignited by the Prague Uprising of 1483.15 The Religious Peace Treaty of Kutná Hora and the “Vladislaus’s Land Order” as the law of the land provided a sufficient basic legal framework for religious cohabitation in Bohemian towns on the local and individual level; the urban laws thus needed to regulate only issues related directly to urban religious life. This (and the fact that urban law collections were often based on earlier pre-Hussite models) may have caused a certain hesitation in the contemporary town legal collections, where the matter was only established slowly. Contemporary with these events in Kutná Hora, the urban law collection “Práva městská” (1536) by Brikcí z Licka/Briccius of Licko (ca. 1488–1543) required new burghers to accept both the religious and secular customs of the town, especially in terms of conversion to the dominant faith (for the major towns in Bohemia this meant sub utraque, the communion of corpus Christi and Blood under both species),16 to avoid insulting anyone when renovating a house,17 and set a fine of 5 pounds ( funtů) for disturbing the peace through offensive speech, including in religious matters.18 A similar regulation on joining the prevalent (or a particular) denomination in the town 15 16 17 18 et domini ut hanc rem in integrum restituerentet corrigerent. […] Ne pars una alteram partem infamaret, neue pars in contumeliam partis aliquid pingat; si autem id fieret, quod pars una in contemptum partis alterius quid pingere faceret, potest tunc eam citare sicut pro infamatione. Cf. Akta weřejná i sněmowní w Králowstwí českém od r. 1453 do 1490 [Public and Diets’ Protocols in the Bohemian Kingdom from 1453 to 1490], in: ibid., vol. 4, ed. F. Palacký, Prague 1846, pp. 413–525, here pp. 512–516, no. 28 (Zápis sněmu Kutnohorského o pokoji a swobodě náboženstwí w Čechách [Resolution of the Kutná Hora Diet on Religious Peace and Freedom in Bohemia]); full text at https://sources.cms.flu.cas.cz/src/index.php?s=v&action=jdi&cat=10&bookid=795&page=512&action_button.x=0&action_button.y=0 (last accessed: 2020/03/18); on the Prague uprising, cf. F. Šmahel, Pražské povstání 1483 [The Prague Uprising of 1483], in: PSH 19 (1986), pp. 35–102. Cf. M. Brikcího z Licka Práva městská. Dle textu z r. 1536 [M. Briccius’s of Licko Town Laws. Based on its Text of 1536], eds. J. Jireček / H. Jireček, Prague 1880; here p. 25, art. 48: […] srovnati v řádích duchovních i světských, a zvláště v přijímání těla a krve Pána Krista pod obojí zpuosobau / ‘[…] to unite in spiritual and secular matters, and in particular in receiving the body and blood of the Lord Christ under both kinds‘. Full text at https://digi.law.muni. cz/handle/digilaw/14200 (last accessed: 2020/03/18). Cf. ibid., p. 31, 62, chpt. 5, art. 1. […] zaviněnie slov, jako jest rauhánie neb svědectvie jazyka […] / ‘[disturbing the peace, rem. K. H.] through words such as blasphemy or offence by language […]‘; ibid., p. 256, chpt. 47, art. 4; cf. to “Vladislaus’s Land Order”: chpt.: O hanění / De Infamacione; Zřízení zemské, ed. F. Palacký (as note 13). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 268 Kateřina Horníčková was issued in the statutes for professional corporations and confraternities.19 This shows the eminent effort of the town elites to discipline any dissent that would deviate from the locally dominant denomination. With the spread of the German (especially Lutheran) Reformation and further religious fragmentation during the sixteenth century, the problem of potentially offensive public religious communication intensified. In 1579–1581, Pavel Kristián Koldín’s (1530–1589) “Town Laws” (“Práva městská”) confirmed the “Vladislaus’s Land Order” formulation and expanded them in a specific subchapter De injuria / O zhanění: “One shall not vituperate another in painting, or due to faith. Whoever would perpetrate this, will be punished by a fine either under the complaint on damage of honor or vituperation.” The gravity of the offense guided the punishment; in the case of an offense against honor, it was damnation, prison, a monetary fine, and compensation for the inflicted. In lighter cases of vituperation the fine was set to ten schock (kopa) of coins and a week in prison, or – if the incumbent was insolvent – three months in prison.20 Similarly to “Vladislaus’s Land Order”, paintings were seen as relevant in social and confessional communication in Koldín’s “Town Laws”.21 The law affected primarily public images in the town. The legal framework was set up to put limits on conflicting religious symbols and imagery displayed in the urban space. This clearly shows that in spite of urging the peaceful cohabitation of denominations in the town (which in practice often meant the hegemony of one party, either Utraquists or Catholics), the potential for public indignation or a local conflict was high and began to increase around 1600.22 Growing denominational diversity and latent conflict, however, led to a 19 Cf. H. Pátková, Bratrstvie ke cti Božie. Poznámky ke kultovní činnosti bratrstev a cechů ve středověkých Čechách [Confraternities in Honor of God. Notes on Ritual Activity of the Bohemian Medieval Confraternities and Guilds] (CML (RB) 5/1), Prague 2000, pp. 85–87. 20 Jeden druhému ku potupě nic malovati, ani pro víru jeden druhého haněti nemá. Kdožby se toho dopustil, pokutau buď za nářek cti aneb za zhanění strestán bude; Práva městská Království českého a Markrabství moravského spolu s krátkou jich sumou od Pavla Krystyana z Koldína [Pavel Kristián’s of Koldín Town Laws of the Kingdom of Bohemia and Margraviate of Moravia along with their Brief Summary], ed. J. Jireček, Prague 1876, p. 370, art. R. VI.; cf. further Z. Marethová, Trest na cti [Punishment on the Honor of the Person], unpublished Master’s Thesis at the Faculty of Law, Masaryk University Brno 2012/13, p. 59, fn. 265; full text at https://is.muni.cz/th/h7vva/Trest_na_cti.pdf (last accessed: 2020/03/18). 21 For the legal framework against vituperation through images, cf. previously M. Šroněk, Obrazy u soudu [Images at court], in: D. Prix (ed.), Pro arte. Sborník k poctě Ivo Hlobila [… FS in Honor of Ivo Hlobil], Prague 2002, pp. 299–302, esp. pp. 300 f. 22 For extreme situations, cf. J. Hrdlička, Víra a moc. Politika, komunikace a protireformace v předmoderním městě ( Jindřichův Hradec 1590–1630) [Faith and Power. Politics, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 269 counter-current-repeated formulation of the idea of concord among religious and political parties in the town. The idea of the religious (as well as political) cohesion of the community was reflected in the iconography of objects and in urban space; e. g., the Classical theme of concordia took on a specific religious tint in Bohemia and entered the iconographic repertoire of Utraquist hymn books.23 Urban monuments communicating religious affiliation In the fifteenth and sixteenth centuries, public denominationally loaded images and symbols are documented in many Bohemian and Moravian towns, among them Utraquist Prague, Kutná Hora, Tábor, Litoměřice/Leitmeritz, Hradec Králové/ Königgrätz, Slaný/Schlan, Velké Meziříčí/Groß Meseritsch, Louny/Laun, Písek/ Pisek, and Nový Bydžov/Neubidschow, and Catholic Olomouc/Olmütz, Brno/ Brünn, and Jindřichův Hradec/Neuhaus.24 Inscriptions and images expressing denominational content were not only depicted on the façades of private houses in Kutná Hora, but also in such diverse towns as Prague, Tábor, Litoměřice, and Slavonice/Zlabings,25 in spite of legal measures against this loaded form of expression. Other images were used in the interiors of houses and town halls.26 A number of the Reformation monuments that caused indignation in the Counter-Reformation were funeral memorials, e. g., tombstones of non-Catholic priests and 23 24 25 26 Communication, and Counter-Reformation in a Premodern Town ( Jindřichův Hradec, 1590–1630)] (MH 14), České Budějovice 2013; Id., Public Expressions (as note 4); overview in Z. Winter, Život církevní v Čechách. Kulturně-historický obraz z XV. a XVI. století [The Church Life in Bohemia. A Cultural-Historical Depiction from the 16th and 17th Centuries], vol. 1, Prague 1895, pp. 213 ff.; Zikmund Winter characterises the situation around 1600 pointedly as: ‘[in Bohemia, rem. K. H.] a bloody religious storm was on the brink all the time. Where the Catholics were in the majority, there they oppressed the Protestants, where the Protestants were a majority, there the Catholics were put under duress’. Ibid., p. 214. Cf. M. Šárovcová, Svatopluk varující své tři syny před nesvorností jako obraz konfesní situace v Čechách? [‘Svatopluk Warning his Three Sons Against Discord’ as a Depiction of the Confessional Situation in Bohemia?], in: K. Horníčková / M. Šroněk (eds.), In puncto religionis (as note 4), pp. 205–216, esp. pp. 211 ff. I listed the monuments in the works mentioned in note 4; for more, cf. Z. Winter, Život církevní, vol. 1 (as note 22); of these images only a few fragments are preserved today, which makes it difficult to assess the impact of public denominational communication through images. For Slavonice, cf. Z. Míchalová, Self-Presentation (as note 4), pp. 198, 200. For Lutheran motifs in the interiors of Slavonice urban houses, cf. ibid., p. 202; for the interior of the Tábor town hall, cf. K. Horníčková, Insider’s Visions (as note 4), pp. 130 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 270 Kateřina Horníčková Italian bishops who consecrated Utraquist priests or epitaphs of non-Catholic noble or burgher families.27 Towns became increasingly fragmented over the course of the sixteenth century. Besides insisting on a good presentation of the town and houses,28 the lords, and the urban elite exercised direct influence on their burghers in denominational matters. In the seigneurial towns, the nobility either tolerated and protected dissenting groups (the existence of two or more separate religious communities within the town could be reflected in the territorial delineation in the topography of the town)29 or intensified pressure to make the burghers comply with the preferred faith, which inevitably grew into open conflict that often had a symbolic dimension.30 Topography and memory were increasingly used for symbolic territorial gains in the expansion of Catholics around 1600; commissions of artworks by prominent Catholic figures went to places in order to revive the memory of their Catholic past.31 As noted above, the symbol of the chalice was the key expression of Utraquist identity; its essential meaning was established from the theological perspective as a symbolic reference to communion under both kinds.32 The chalice (sometimes with the host and the inscription weritas vincit that was used by Hus as early as 1413) belonged to the popular Hussite symbolic repertoire,33 along with images of John Hus (ca. 1370–1415), Žižka, and other figures of the Bohemian 27 For the confessional controversy over epitaphs, cf. O. Jakubec, Epitaphs (as note 4), pp. 253 ff. 28 Cf. P. Vorel, Rezidenční vrchnostenská města v Čechách a na Moravě v 15.–17. století [Seigneurial Bohemian and Moravian Residential Towns from the 15th to the 17th Centuries], Pardubice 2001, p. 194. 29 Cf. K. Horníčková / V. Polnická, Symbolická komunikace v poddanském městě za konfesionalizace. Fundace náboženských památek v Dačicích v 16. až 17. století [Symbolic Communication in Seigneurial Town in the Confessionalisation Period: On the Patronage of Religious Monuments in Dačice in the 16th and 17th Centuries], in: Kuděj 19, no. 2 (2018), pp. 129–156. 30 Examples of such conflicts, cf. in: Z. Míchalová, Self-Presentation (as note 4); J. Hrdlička, Víra (as note 22); Id., Public Expressions (as note 4). 31 Cf. M. Šroněk, De sacris imaginibus. Patroni, malíři a obrazy předbělohorské Prahy [… Patrons, Painters and Images in Prague before the Battle of White Mountain] (Opera minora historiae artium 5), Prague 2013. 32 For the constitution of Utraquist identity in public space, cf. first M. Bartlová, Původ husitského kalicha z ikonografického hlediska [The Origin of the Hussite Chalice: A Study in its Iconography], in: Umění [Arts] 44 (1996), pp. 167–183; and my works, cf. note 4. 33 These are images of lay instruction rather than veneration; the chalice is not dissimilar to what Robert W. Scribner (1941–1998) calls “minimale Bildlehre” in German Reformation; R. W. Scribner, Das Visuelle in der Volksfrömmigkeit, in: Id. (ed.), Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (WF 46), Wiesbaden 1990, pp. 9–20, here p. 11. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 271 Reformation. Although it was appropriated from (Catholic) Christian imagery of the Eucharist, it became a Hussite visual statement by 1432 at the latest, when it was used on a banner during their embassy to Basel; there are reports of the indignation this symbol incited in Nurnberg/Nürnberg.34 It is apparent that even before the political consolidation of the official double faith in 1485, the chalice was also viewed as a political symbol of Utraquist communities.35 Evidence of this is, e. g., the representative decorative pavise shield from Kutná Hora, where the chalice is placed demonstratively above the figure of St. Wenceslas and the entire unit is lined with the text of a Hussite song.36 (Fig. 1) The chalice was depicted on gates, façades and interiors of churches, townhalls, fortifications, microarchitecture, and façades and interiors of private houses (e. g., on stove tiles).37 As pars pro toto, the front of the Our Lady of Týn church in Prague displays the enthroned statue of George of Poděbrady (1458–1471) with a sword and gilded chalice,38 and the inscription weritas vincit. The church’s twin towers, 34 Cf. F. Šmahel, Die Hussitische Revolution, translation from Czech into German by Thomas Krzenck, 3 vols. (MGH Schriften 43), Hannover 2002, vol. 3, pp. 1561–1563; as early as 1420 it identified Hussite warriors, cf. M. Bartlová, Pravda zvítězila. Výtvarné umění a husitství 1380–1490 [The Truth Prevailed. The Hussite Movement and Visual Arts, 1380–1490], Prague 2015, p. 103. 35 Cf. the latest overview ibid., p. 101; on chalices on important church fronts (Corpus Christi/ kaple Božího Těla/Fronleichnamskapelle in New Town Prague/Nové Město pražské/Prager Neustadt, Týn Church/Týnský chrám/Teynkirche in Old Town Prague/Staré Město pražské/ Prager Altstadt): ibid., p. 103; in general on the symbol: ibid., pp. 99–111; cf. also note 30 above. 36 Cf. M. Bartlová, Pavéza města Kutné Hory se sv. Václavem [Pavise Shield of the Town Kutná Hora with St. Wenceslas], in: K. Horníčková / M. Šroněk (eds.), Umění české reformace (as note 4), p. 204, Cat. no. VI/9. 37 Utraquist stove tiles motifs are: a priest blessing the chalice, Christ blessing the chalice, a chalice on St. Wenceslas’ flag, a chalice between the angels. 38 Cf. P. Hrachovec, O obrněných vážkách a opilých tyranech. Třicetiletá válka v soudobých žitavských městských kronikách [On Armoured Dragonflies and Drunken Tyrans. Thirty-Year War in Contemporary Zittau Town Chronicles], in: O. Fejtová / V. Ledvinka / M. Maříková / Jiří Pešek (eds.), Historiografie s městem spojená. Historiografie o městech a historiografie ve městech / Historiography connected with cities. Historiography of cities and in cities (DP 37), Prague 2018, pp. 457–478, here pp. 475 f., fn. 48; P. Hrachovec / J. Zdichynec, Der Dreißigjährige Krieg im Spiegel der zeitgenössischen Zittauer und Laubaner Chroniken bis zum Übergang der Oberlausitz von Böhmen an Kursachsen (1618–1635/37), in: L.-A. Dannenberg / M. Müller (eds.), Studien zur Stadtchronistik (1400–1850). Bremen und Hamburg, Oberlausitz und Niederlausitz, Brandenburg und Böhmen, Sachsen und Schlesien (Beihefte zum Neuen Lausitzischen Magazin 20), Hildesheim/Zürich/New York 2018, pp. 151–272, here pp. 264 f., fn. 208. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 272 Kateřina Horníčková together with other traditional Gothic forms, became a characteristic feature of Utraquist church façades.39 With the establishment of the Utraquism in the mid-fifteenth century (George of Poděbrady seized Prague 1448) the chalice’s symbolic function took on increased importance, serving to communicate its religious hegemony in the town. With the chalice the dominant symbol, publicly presented denominational iconography comprised also satirical images – on the house of Vaněk Valečovský of Kněžmost/Fürstenbruck († 1472) in Prague, anti-Brethren inscriptions (in Hradec Králové), and memorial objects (in Tábor), and portraits of Luther (in Slavonice). The Catholics, too, looked for symbols to bind them together in this divided society. They lacked strong unifying symbols such as the chalice and John Hus, however; the symbol of the cross was used, but it was not perceived as exclusively theirs until the archbishop banned its use by Protestants in 1605.40 Other Catholic symbols were either too specific or local and had limited impact. Visual reference to the Virgin Veil, the famous Prague relic, lessened by the mid-fifteenth century,41 the keys of St. Peter referred to papal obedience, and the figure of a camel in the coats of arms of Catholic Plzeň/Pilsen, commemorating the successful defence of the town against the Hussites, was tied to this specific event in history of the town. The symbol of the Eucharist as the host in a monstrance, the Virgin of the Apocalypse or Immaculata, and St. Michael fighting the devil did not take on Counter-Reformation meaning in Bohemia until the seventeenth century. Only the use of the Franciscan Observant (Bernadine) yhs symbol in the Bohemian towns in the footsteps of John of Capistrano’s (1386–1456) mission can be seen as an attempt at an adequate visual response to the appropriation of the chalice in the Hussite and Utraquist environments,42 but it was used only locally in towns 39 Cf. P. Vlček, Bohemian Protestant Church Architecture, in: K. Horníčková / M. Šroněk (eds.), From Hus to Luther. Visual Culture in the Bohemian Reformation (1380–1620) (MCS 33), Turnhout 2016, pp. 143–164, here p. 145. 40 Cf. Z. Winter, Život církevní, vol. 1 (as note 22), p. 235. 41 Cf. M. Šroněk, The Veil of the Virgin Mary. Relics in the Conflict between Roman Catholics and Utraquists in Bohemia in the 14th and 15th Centuries, in: Umění [Arts] 57 (2009), pp. 118–139. 42 Cf. I. Hlobil, Bernardinské symboly Jména Ježíš v českých zemích šířené Janem Kapistránem [The Bernardine Symbols of the Holy Name of Jesus Impetrated by John of Capistrano in the Bohemian Lands], in: Umění [Arts] 44 (1996), pp. 223–234; A. Kalous / J. Stejskal, The Image of John of Capistrano in Bohemia and Moravia, in: L. Pellegrini (ed.), The Mission of John Capestrano and the Process of Europe Making in the 15th Century: State of the Art in the History and Historiography of Danube and Balkan Europe, Rome (forthcoming); J. Stejskal, A Catholic City in the Hussite Era, 1400–1450s, in: A. Kalous (ed.), The Transformation of Confessional Cultures in a Central European City: Olomouc, 1400–1750 (Viella Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 273 Fig. 1: Pavise from Kutná Hora with St. Wenceslas, tempera on wood and animal skin, ca. 1480–90 [Národní museum Praha/The National Museum Prague, inv. no. H-482, Foto: Národní muzeum]. with Franciscan Observant foundations. This symbol was displayed on houses (in Olomouc) and city gates (in Brno) as not only denominational but also an apotropaic symbol. The Catholics also made use of the traditional pattern of symbolic identification through the figure of a saint, trying to foster specific cults (St. Wolfgang, St. Leonard the 14 helpers, St. John of Capistrano, monastic saints). Records even describe the public exhibition of a mocking image of the chalice that the Catholics used in Counter-Reformation agitation.43 Historical Research 2), Rome 2015, pp. 23–39, esp. p. 38; for the conflict, cf. J. Chlíbec, The Contest between the Utraquist Chalice and the Bernardino Sun, in: Umění [Arts] 61 (2013), pp. 494–519, esp. pp. 509 f. (with reservations owing to the author’s uncritical handling of the sources). The cult of saints was, however, by no means only Catholic practice. The Utraquists appropriated for themselves the Virgin Mary, the Bohemian patron saints, and a selection of other saints and used their images in churches and manuscripts in religious, and even political contexts. 43 Cf. Historia Profana. Historia o těžkých protivenstvích [… History of the Grievous Tribulations]. Historia persecutionum, in: Dílo Jana Amose Komenského / Johannis Amos Comenii opera omnia, vol. 9/1, ed. J. Popelová, Prague 1989, p. 401. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 274 Kateřina Horníčková Fig. 2: Altarpiece from St. James Church in Slavětín, tempera/oil tempera on wood and canvas, silver (washgold), ca. 1450s [Národní museum Praha/The National Museum Prague, inv. no. H-3.915, Foto: O. Trmalová]. Most of artworks commissioned by the Utraquists were made for churches. In the Hussite period, manuscripts and accounts of portable images yield information about artistic production in the revolutionary period.44 After the mid-fifteenth century, monumental works were commissioned for churches, including new church façades, murals, and altarpieces, (Fig. 2) liturgical equipment, hymn books (graduals), gravestones, and, in the sixteenth century, epitaphs. It should be noted that some of the most prominent commissions were completed for Utraquist urban churches during the second half of the fifteenth and early sixteenth century: 44 Cf. P. Kropáček, Malířství doby husitské. Česká desková malba prvé poloviny XV. století [The Painting of the Hussite Era. The Bohemian Panel Painting in the First Half of the 15th Century], Prague 1946; M. Bartlová, Poctivé obrazy. Deskové malířství v Čechách a na Moravě 1400–1460 [Virtuous Images. The Bohemian and Moravian Panel Painting, 1400– 1460], Prague 2001, pp. 56 f., 158 ff.; Ead., Pravda zvítězila (as note 34), p. 103; Iluminované rukopisy doby husitské [Illuminated Manuscripts of the Hussite Era], eds. K. Stejskal / P. Voit, Prague 1990. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 275 Fig. 3: Matěj Rejsek’s (ca. 1445– 1506) carved canopy over the grave of Bishop Augustin Luciani da Mirandola (ca. 1450–1493) in Virgin Mary of Týn Church, Prague, after 1493, inv. č. E2498 [Fototéka Ústavu dějin umění AVČR/Photo­ bank of the Institute of Art History. The Czech Academy of Sciences, Foto: Josef Ehm]. e. g., the representative façade and interior of the Týn church in Prague, and the church of St. Barbara in Kutná Hora. Large construction projects in churches in Louny, Slaný, or Tábor culminated around 1500, making claims to the past by referring to Parlerian forms such as net vaulting. (Fig. 3) Similar appropriation of the past appeared in the use of typological parallelism in the decoration of Utraquist hymn books.45 Representative buildings such as the town halls in Old Town Prague and Tábor, as well as the fountain in Hradec Králové and other secular monuments were also created in this period, when art for the Utraquists flourished under Jagiellonian rule. A specific Utraquist hagiographic iconography of St. John Hus and the Bohemian martyrs had been established by this period (Fig. 4)46 and typical liturgical objects 45 Cf. M. Šárovcová, Ikonografie česky psaných utrakvistických graduálů [Iconography of the Czech Written Utraquist Graduals], unpublished PhD. Dissertation at the Faculty of Arts, Charles University Prague 2011, p. 11; full text at https://is.cuni.cz/webapps/zzp/detail/25054 (last accessed: 2020/03/18). 46 The best overview of the ‘manifested difference’ of Utraquism is M. Bartlová, Pravda zvítězila (as note 34); focusing, however, on the period before Martin Luther (1483–1546); on the cult Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 276 Kateřina Horníčková Fig. 4: Predela of altarpiece Ascension of Christ from Chrudim, tempera on wood, ca. 1500 [Regionální museum v Chrudimi/Chrudim Regional Museum, inv. no. U-46, Foto: J. Gloc]. were commissioned, among them spoons for children’s communion and large chalices with a spout for serving mass to the community only one of which has been preserved. (Fig. 5a und 5b) Most of the objects commissioned for the Utraquist churches, however, bore no distinctive or openly denominational meaning (e. g., their preferred motifs of the Last Supper, the Man of Sorrows). There is also nothing like an exclusive ‘Utraquist formal language’ or ‘type’ in these artworks; Bohemian late Gothic is the formal style idiom in which these objects are rendered. In some cases, the iconography of the objects contained a faint indication of their denominational affiliation, e. g., denominationally-tinted details (a newly established iconography of Christ blessing a chalice). The denominational ‘message’ of these works can only be read in the context of local religious practice and the socio-religious context of the particular community. The objects often express a complex notion of urban communal identity in which religion (denomination) represented only one cohesive (or disruptive) force, but one with strong affective impact.47 Utraquist Eucharist iconography was inherited from the devotional movements of the fourteenth century and the Hussites. Although the issue of remanence (the presence of Christ’s body in the host) in Utraquism had been resolved, of saints in Utraquism, cf. O. Halama, Otázka svatých v české reformaci. Její proměny od doby Karla IV. do doby České konfese [The Issue of Saints in the Bohemian Reformation. Its Transformations from the Charles IV Era to the Epoch of “Confessio Bohemica”] (Pontes Pragenses 19), Brno 2002 (for texts); and K. Horníčková, Martyrs of “Our” Faith: Identity and the Cult of Saints in Post-Hussite Bohemia, in: N. H. Petersen / A. Mänd / S. Salvadó / T. R. Sands (eds.), Symbolic Identity and the Cultural Memory of Saints, Newcastle/Tyne 2018, pp. 59–90. 47 For the methodological background I am indebted to the Austrian FWF-SFB project 42 “Visions of Community”, whose methodology is summarised in C. Lutter, Comparative Approaches to Visions of Community, in: Hist Anthropol 26 (2015), pp. 129–143; for multiplicity of identifications, cf. ibid., p. 136; for affective aspect, cf. ibid., p. 140. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference Fig. 5a: Large Communion (?) chalice with a spout from Kadaň, left lower register on the historical photo of the exhibition in 1957, gilded copper, height 38 cm, ca. 1520 [Archiv Oblast­ ního muzea v Litoměřicích/Archive of Litoměřice Regional Museum, inv. no. SV 178]. Fig. 5b: Large Communion(?) chalice with a spout from Kadaň, stolen from the museum between 1997 and 2004, gilded copper, height 38 cm, ca. 1520 [Archiv Oblastního muzea v Litoměřicích/Archive of Litoměřice Regional Museum, inv. no. SV 178]. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 277 278 Kateřina Horníčková Fig. 6: Gravestone of the Bishop of the Unity of the Brethen Matouš Konečný (ca. 1569–1622), New Brethren cemetery, nad Orlicí, sandstone, ca. 1622 [Mu­ seum Mladoboleslavska/Mladá Boleslav Regional Museum, Foto: P. Sosnovec]. it was challenged around 1500 and in the first half of the sixteenth century by the Unity of the Brethren, which infiltrated urban space (visually) since before 1550 with buildings of their congregation houses and sepulchral monuments.48 (Fig. 6) The Unity and other sects threatened the fragile balance of Bohemian religious coexistence, inheriting the radicalism of the Taborites, among others, in their strict position on images, the denial of God’s representation, and teaching of remanence. It is no coincidence that the Utraquists commissioned a growing number of monumental altarpieces with the Eucharist tabernacle in the period between around 1500 until the 1540s. This period of the flourishing of Utraquist monumental art coincided not only with the consolidation of Utraquism in terms of the visual display of identity, but also with the public emergence of the Unity of the Brethren, Lutherans, and other dissenting religious groups, and the need for religious group identification, which affected the royal towns, which were bastions of Utraquism in particular. Typical markers of Utraquist religious culture are reredos showing a Eucharistic iconography of the angelic tabernacle, (Fig. 7) inspired by stone tabernacles 48 Cf. P. Vlček, Bohemian Protestant Church Architecture (as note 39), pp. 148 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 279 Fig. 7: Altarpiece from St. James Church in Libiš, tempera on wood, ca. 1500 [Římskokatolická farnost/Roman Catholic Parish Neratovice, Foto: J. Gloc]. in the walls of churches. The last items of this type of altarpiece were commissioned between the 1530s and 1540s (Fig. 8) and represent the last flowering of monumental Gothic reredos in Bohemia. Their anachronistic form may be understood as clinging to their own tradition while challenged by the spread of the German Reformation. The Unity ‘sect’ denied any holy substance in the consecrated host and thus denied the need to preserve and adore the Host in the church. The Lutherans were generally less radical and held that transubstantiation happens only in the context of the mass, however, preserving the Host in the church outside the mass (as the Utraquists did) made no sense to them as well.49 In a way, these reredos with the tabernacle, demonstrating an exposed Eucharist 49 In many Lutheran regions, however, the position on tabernacles as well as other church equipment and material objects of piety was decided by local communities or authorities, which led to much more diverse attitudes among the religious communities than suggested by their theological works, as shown in P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen (1300–1600). Zum Wandel religiöser Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig 2019, pp. 48 f.; for keeping the Host in pyxides after the mass by Zittau Lutherans, cf. ibid., p. 412, fn. 443, p. 632, fn. 270. I am indebted to the author and editor of this volume for pointing out to me his latest work. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 280 Kateřina Horníčková Fig. 8: Altarpiece from Černěves, tempera on wood, ca. 1540 [Oblastní muzeum v Lito­ měřicích/Litoměřice Regional Museum, inv. no. 346 (Dop-024), Foto: Pavlína Gutová]. (or implying a true presence of Christ in a tabernacle through a representation of Man of Sorrows, a clear anti-remanence reference), could be understood as visual statements of Utraquist orthodoxy threatened by these ‘novelties’. These objects once communicated the religious self-determination of the Utraquists. A relatively large number of Utraquist works that survived the cleaning of churches of works of the previous period by the Catholics between 1620 and 1624, however, testifies to the acceptability of these works in Catholic church interiors after their original denominational background was cloaked with new meaning. One reason, why this could happen, is that art for the Utraquists was firmly rooted in the past. The Utraquists saw themselves as a natural continuation of the Bohemian medieval church, which meant that they did not aspire to invent new forms; the traditional forms were perfectly suitable to their needs. Conforming to a medieval theory of image and late medieval Eucharistic and Christocentric traditions,50 insisting on local tradition, and refusing novelties of 50 Church fathers and religious authorities – Pope Gregory the Great (590–604), Gratian (ca. 1100–1160) – quoted in the Articles on the “Keeping of Compactates of 1437”, cf. M. Šroněk, Artikulové smluvení na držení kompaktát a teorie náboženského obrazu v době pohusitské [The Articles of the Compactate Accord and the Theory of Religious Images in the Post-Hussite Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 281 style or foreign inspiration makes Utraquist art appear backward-looking and conservative.51 From the point of view of style it would be a mistake to label as ‘early modern’ works with a late medieval form that were made for the Utraquists.52 Works for the Utraquists in the first half of the sixteenth century were made to look back to the Gothic tradition and resisted any effort to render visible any threshold between medieval and early modern times. As Milena Bartlová has pointedly noted, the fundamentals of Utraquist religious practice were laid down before the invention of book printing, still in the spirit of Central European late medieval idiom.53 This anchored Utraquist religious practice and communication in the traditional format, keeping images as important media of religious practice and communication. This appropriation of Bohemian church tradition defined Czech Utraquism against newly arrived denominations. Judging by the preserved material, the flourishing of Utraquist commissions in the first half of the sixteenth century seems to be followed by a sudden hiatus in monumental forms of altar structures in the second half of the sixteenth century, the period when Bohemian Utraquism split into lutheranized and conservative blocks. From the style point of view, the rare preserved works and fragments point to a radical break with the late medieval tradition prevalent to this point (Fig. 9), although Utraquist, as well as traditionally Catholic iconography motifs lived on. (Fig. 10) We observe a change from medieval to the ‘modern’ Renaissance forms and tendency to narrowing the iconography to a limited number of Christological Period], in: Umění [Arts] 58 (2010), pp. 384–387. In line with the authorities, the text frames the acceptable functions for Utraquist religious images: instruction, commemoration, and emotional effect. The document also states that art should focus on themes related to Christ’s sacrifice and glory. 51 The problem of anachronism of these works reaches far beyond the extent of this study and represents a broader problem, epitomized by A. Nagel / C. S. Wood, Anachronic Renaissance, New York 2010; Utraquists were not the only non-Catholic Church that claimed the tradition of the medieval Church for themselves; in fact conscious references to the ‘their’ past were typical for all new denominations, including the Bohemian Utraquists, Lutherans and the Unity of the Brethren. As Petr Hrachovec pointed in his comment to this text, my description of Utraquism applies to the Lutherans as well. In Bohemia, however, when the Lutherans met with conservative Utraquism, they were pushed towards more radical position of a ‘modern’ denomination. 52 Cf. M. Bartlová, Renaissance and Reformation in Czech Art History: Issues of Period and Interpretation, in: Umění [Arts] 59 (2011), pp. 2–19. 53 Cf. Ead., Pravda zvítězila (as note 34). Her medievalist’ perspective is twisted by her Marxist view on the Hussites, projecting Hussite ‘radicalism’ to Utraquism, cf. my critical review K. Horníčková, [review of ] Milena Bartlová, Pravda zvítězila. Výtvarné umění a husitství 1380–1490, Praha, Academia 2015, in: ibid. 65 (2017), pp. 293 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 282 Kateřina Horníčková Fig. 9: Transfiguration altarpiece from St. James Church in Slavětín, (oil?) tempera on wood, ca. 1571 [Národní museum Praha/The National Museum Prague, inv. no. H2-60802, Foto: O. Tlapáková]. and dogmatic themes – although it is too early to make clear conclusions from a very limited number of works. It seems that when Utraquism was profoundly transformed by influence from the European, in particular Lutheran Reformation, Bohemia finally opened to a new religious vision, accepted new forms, different compositions, and subjects. The style of these works is a conservative offshoot of late Renaissance (Mannierist) forms that conserve late Gothic elements in spatial and figural construction or compositions framed in Renaissance architectural frames. The images often ignore spatial depth, and are smaller in format, the altarpieces are decorated by small, stiff figures that do not communicate with the viewer. Overwhelmingly decorated Renaissance frames dominate these works as they would communicate their decorative rather than appellative or cultic function.54 Later, during the Counter-Reformation, this recognizable 54 It is this emotionally-void art, to which the Catholic commissions reacted after 1600, cf. M. Šroněk, Proměna vizuality obrazu v době rané protireformace [The Transformation of Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference 283 Fig. 10: Burning of St. John Hus, mural painting from Church of St. Wenceslas, Písek, fresco, after 1560 [Institute of Art History, Czech Academy of Sciences, Foto: M. Mádl]. formal difference led to the identification of this style with Protestantism, this often leading to the destruction of the works together with the memory of their commissioners. Medieval systems of decorating graduals slowly declined in this period and the number of private commissions of sepulchral monuments and epitaphs increased.55 Some commissions suggest that the religious background of the works was as complicated as the social context of their patrons. The Prague Lesser Town/Malá Strana/Kleinseite hymnbook of 1572 was commissioned for the literati religious confraternity at the church of St. Nicholas (Fig. 11) and funded by the socially diverse community of burghers, from newly created noble elites down to their less affluent neighbors. One of the prominent commissioners was the Lutheran Jan Image’s Visuality during the Early Counter-Reformation], in: O. Jakubec / P. Suchánek (eds.), Mariánský sloup na Staroměstském náměstí v Praze. Počátky rekatolizace v Čechách v 17. století [Marian Column in the Old Town Square in Prague. The Beginnings of the Recatholisation in Bohemia in the 17th Century], Prague 2019, pp. 136–165. 55 Cf. O. Jakubec, Kde jest, o smrti, osten tvůj? Renesanční epitafy v kultuře umírání a vzpomínání raného novověku [Where, oh Death, is Thine Thorn? Renaissance Epitaphs in the Early Modern culture of Dying and Commemorating], Prague 2015. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 284 Kateřina Horníčková Fig. 11: Prague Lesser Town Hymn book of 1572, illuminated manuscript on parchment, leather binding, fol. 363r [Národní knihovna České republiky Praha/ The National Library of the Czech Republic Prague, sign. XVII A 3, Foto: Národní knihovna/National Library]. Laštovička († 1579),56 who commissioned the illuminations on fol. 363r depicting the ‘Reformation succession’ in the margin: John Wycliff (ca. 1328–1384) strikes sparks, Hus lights a candle, Luther holds a torch and the John Hus is burnt at the stake.57 This succession breaks from the usual system of decoration elsewhere in the book towards communicating a ‘historical’ message that should be read as an attempt to reconcile the two faiths and create a sensible historical construction of their mutual relationship. Given his position among the burghers, Laštovička may have been in contact with Václav Vřesovec of/z Vřesovic/Wenzel Wrzesowetz von Wrzesowitz (1532–1583), a convinced Lutheran scholar and editor of the 1579 56 Cf. J. Doktorová, Malostranský graduál a jeho donátoři. Renesanční iluminovaný rukopis jako nástroj měšťanské reprezentace [Lesser Town Gradual and its Patrons. Renaissance Illuminated Manuscript as an Instrument of Burghers’ Representation], unpublished Master’s Thesis at the Faculty of Arts, University of South Bohemia in České Budějovice 2018, p. 94; full text at https://theses.cz/id/bo15g2/Malostrank_gradul_a_jeho_dontoi_Renesann_iluminovan_rukop.pdf (last accessed: 2020/03/18). 57 In an analogy to the other personal patron name saints in the illuminations of other folios, John Hus in the lower margin probably represented Laštovička’s patron name saint. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Framing the Difference Fig. 12a: Altarpiece from St. Catherine Church in Chrudim, tempera on wood, ca. 1500 [Římskokatol­ ická farnost – arciděkanství Chrudim/ Roman Catho­ lic Parish – Archdeanery Chrudim, Foto: J. Gloc]. Fig. 12b: Altarpiece from Nový Bydžov, tempera on wood, ca. 1531 [Městské muzeum v Novém Bydžově/ Municipal Museum Nový Bydžov, Foto: J. Gloc]. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 285 286 Kateřina Horníčková Bohemian Confession, who bequeathed a large sum to the St. Nicholas church in Lesser Town Prague and was also buried there.58 As this example shows, further detailed studies are needed into the patronage background of individual works to explain the transformation of artistic production in the non-Catholic environment during the second half of the sixteenth century and around 1600.59 So far, we can infer that the artworks of this period were recognizable in their appearance and ‘readable’ as such due to their original contexts in the Counter-Reformation. This prompted their removal, destruction or (occasionally) remaking and transfer, which helped re-code their meanings. In some cases, where the furnishings from the second half of the sixteenth century were eradicated, archaic looking Utraquist works were allowed to remain in churches and possibly even returned to liturgical function after necessary changes. (Fig. 12a and 12b) Contemporary Counter-Reformation authorities have re-interpreted these late medieval stylistically conservative Utraquist works either as Catholic works pre-dating 1420 – typically as works from the Charles IV (1346–1378) era – or as harmless works from the Catholic realm that miraculously survived the Reformation period. Images that once served to identify Utraquist or Protestant communities and determined their status in the denominational situation of the sixteenth century were clearly seen as dangerous reminders of the non-Catholic past after the defeat of the Protestants at White Mountain in 1620. They were extracted from their original religious contexts and their meaning(s) erased. After that, however, fragments of them were sometimes accepted in new contexts, whilst those works that were unproblematic in terms of iconography and looked more archaic and medieval, i. e., prevalently Utraquist works, had better chances to survive. Next to the explicit non-Catholic iconography, other factors were responsible for the patchy pattern of survival of Protestant artworks in Bohemia, among them the general outlook and form, style, and memory of their past contexts. 58 Cf. J. Doktorová, Malostranský graduál (as note 56), p. 41. 59 As a model for such a microstudy could serve P. Hrachovec, Zittauer und ihre Kirchen (as note 48). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Kai Wenzel Zirkulierende Zeichen Konfessionelle Codierungen im frühneuzeitlichen Kirchenraum In memoriam Prof. Dr. Michaela Marek (1956–2018) Die Kunstgeschichte diskutiert seit längerem über die Funktion von Bildwerken im frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsprozess. Zentrale Fragestellungen waren und sind dabei, welche Bedeutung Bildern für die Ausdifferenzierung der verschiedenen Konfessionskulturen zugesprochen werden kann und wie dies sich wiederum auf ihre Formen und Inhalte auswirkte. Wichtige Anregungen dafür lieferte das Konfessionalisierungsparadigma, das die Herausbildung der christlichen Bekenntnisse im frühneuzeitlichen Europa als einen Modernisierungsschritt von großer Reichweite beschreibt.1 Allerdings haben davon motivierte kunsthistorische Untersuchungen zu Bildproduktion und -gebrauch im konfessionellen Zeitalter auch die Grenzen einer Übertragbarkeit dieses Paradigmas auf Fragestellungen der Kunstgeschichte aufgezeigt, da sich visuelle Zeichen nicht immer den Intentionen der einzelnen Konfessionen bzw. ihrer meinungsführenden Akteure entsprechend eindeutig formen ließen.2 Diese Beobachtung eröffnet für die Kunstgeschichte das weite Arbeitsfeld der konfessionellen Codierungen. Es wendet sich den Fragen zu, ob und wie visuelle Zeichen eine spezifische konfessionelle Codierung erfahren konnten und welche Folgen sie für die Substanz 1 2 Vgl. H. Schilling, Das Konfessionelle Europa. Die Konfessionalisierung der europäischen Länder seit Mitte des 16. Jahrhunderts und ihre Folgen für Kirche, Staat, Gesellschaft und Kultur, in: J. Bahlcke / A. Strohmeyer (Hgg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur (FKGÖM 7), Stuttgart 1999, S. 13–62; L. Schorn-Schütte, Konfessionalisierung als wissenschaftliches Paradigma?, in: ebd., S. 63–77; T. Brockmann / D. J. Weiss (Hgg.), Das Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen (BHK 18), Münster 2013; A. Holzem, Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, 2 Bde., hier Bd. 1, Paderborn 2015; U. Lotz-Heumann: Confessionalization is Dead. Long Live the Reformation? Reflections on Historiographical Paradigm Shifts on the Occasion of the 500th Anniversary of the Protestant Reformation, in: J. Stievermann / R. C. Zachman (Hgg.), Multiple Reformations? The Many Faces and Legacies of the Reformation (CHT 4), Tübingen 2018, S. 127–140. Vgl. M. Deiters / E. Wetter, Einleitung, in: Diess. (Hgg.), Bild und Konfession im östlichen Mitteleuropa (SJL 11), Ostfildern 2013, S. 11–32. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 288 Kai Wenzel eines Bildzeichens zeitige. Führte sie zu formalen Modifikationen oder ließen sich konfessionelle Codes eher außerhalb des Bildes wirkungsvoll formulieren? Um die Rolle der Bildkünste im Zeitalter der Konfessionalisierung genauer fassen zu können, hat die Kunstgeschichte in jüngerer Zeit methodische Anregungen aus der Semiotik und der Soziologie aufgenommen. Vor allem das sozialkonstruktivistische Modell des relationalen Raumes, wie es von Martina Löw ausgearbeitet wurde,3 erwies sich dabei als anschlussfähig.4 Es geht davon aus, dass Räume nicht per se existieren, sondern sich lokal formieren und in einem ständigen Veränderungsprozess befinden. Auf diesem Konzept aufbauend, hat Silke Steets zuletzt eine Architektursoziologie vorgeschlagen, deren dreistufige Anlage sie auch für eine Anwendbarkeit auf historische Phänomene überprüft hat und die unter bestimmten Bedingungen auch auf Bildwerke übertragbar zu sein scheint.5 Darüber hinaus bietet die Medienwirkungsforschung neuere Ansätze, wie jenen des Framings, die für die kunsthistorische Diskussion um die Wirkung von Bildern als Medien im inner- und interkonfessionellen Diskurs anregend sein können.6 Die Funktionalisierung von Bildwerken im Prozess der Konfessionalisierung möchte ich als einen sich ständig neu austarierenden Vorgang betrachten und habe für dessen Beschreibung im Rahmen meiner Dissertation das Konzept der konfessionellen Codierung erarbeitet.7 Wesentliche methodische Anregungen dazu verdanke ich Michaela Marek, der dieser Text in dankbarer Erinnerung gewidmet ist. Der Begriff der konfessionellen Codierung beschreibt, wie Bildzeichen im inner- und interkonfessionellen Diskurs ein spezifischer, dem jeweiligen Bekenntnis sowie dessen theologischen und politischen Intentionen entsprechender Sinnhorizont zugeordnet sein kann. Ich analysiere konfessionelle Codierungen als objektivierende Zeichensetzungen, die innerhalb eines sakralen Raumes auf das jeweilige christliche Bekenntnis verweisen und durch die ein Raum in seiner Architektur, seiner Ausstattung, durch spezifische Praktiken bzw. auch in 3 4 5 6 7 Vgl. M. Löw, Raumsoziologie (STW 1506), Frankfurt a. M. 2001. Vgl. z. B. die Beiträge in: S. Wegmann / G. Wimböck (Hgg.), Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums in der Frühen Neuzeit (SKGMFN 3), Korb 2007; E. Wetter (Hg.), Formierungen des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa (FKGÖM 33), Stuttgart 2008. Vgl. S. Steets, Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt. Eine Architektursoziologie (STW 2139), Berlin 2015. Vgl. J. Matthes, Framing (Konzepte 10), Baden-Baden 2014; E. Wehling, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht (Edition Medienpraxis 14), Köln 2016. Die Arbeit entsteht unter dem Titel „Elemente und Strategien konfessioneller Codierungen im mitteleuropäischen Kirchenbau der Frühen Neuzeit“. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 289 der Rede über ihn zu einem Medium im inner- und interkonfessionellen Diskurs werden kann. Den eingangs angesprochenen relationalen Raumbegriff aufgreifend, verstehe ich dabei unter einem sakralen Raum nicht allein die materielle Hülle eines Gotteshauses, sondern jenes komplexe Phänomen, das sich aus der Interaktion von Akteuren und den von ihnen gestalteten Entitäten formiert und dabei immer wieder verändert wird. Konfessionelle Codierungen, die sich in sakralen Räumen beobachten lassen – das zeigen die bisherigen Untersuchungen, die ich anhand von Beispielen aus Böhmen und Süddeutschland unternommen habe –, bleiben jedoch zunächst auf einen eng umrissenen örtlichen und zeitlichen Rahmen beschränkt. Daraus lässt sich allgemein ableiten, dass konfessionelle Codierungen arbiträre und gleichzeitig dynamische Zeichensetzungen sind, bei denen Empfänger und Sender in einem dichten Verhältnis stehen müssen, um eine erfolgreiche Kommunikation zu gewährleisten. Um dies weiter abzusichern, konnte durch den Sender zusätzlich ein sprachlicher Bedeutungsrahmen gesetzt werden, was im Folgenden genauer zu zeigen sein wird. Ausgehend von den Ergebnissen meiner vor dem Abschluss stehenden Untersuchung möchte ich im Rahmen des vorliegenden Textes vor allem eine These exemplifizieren, nämlich wie sich durch konfessionelle Codierungen parallele Ikonologien herausbilden konnten. Bildwerke im lutherischen Sakralraum Betrachtet man die Konjunkturen der kunsthistorischen Forschung zu den Bildwerken der lutherischen Konfessionskultur, dann fällt auf, dass zumeist ikonografische Neuschöpfungen aus der Phase der Konfessionsbildung im Zentrum des Interesses standen. So wurde etwa die in der Werkstatt von Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553) in den 1520er Jahren entwickelte Bildallegorie von Gesetz und Gnade in großer Tiefe erforscht.8 Auch andere sog. lutherische Bekenntnisgemälde, wie die diversen Darstellungen des Abendmahlsgottesdienstes oder die Gedächtnisbilder zur Erinnerung an die Übergabe der Confessio Augustana waren vielfach Untersuchungsgegenstände.9 8 9 Vgl. M. V. Fleck, Ein tröstlich gemelde. Die Glaubensallegorie „Gesetz und Gnade“ in Europa zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit (SKGMFN 5), Korb 2010; H. Reinitzer, Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, 2 Bde., Hamburg 2006. Vgl. vor allem W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die illustrierte Confessio Augustana (Adiaphora 6), Regensburg 2007; A. Marsch, Bilder zur Augsburger Konfession und ihren Jubiläen. Mit einem Beitrag von Helmut Baier, Weißenhorn 1980. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 290 Kai Wenzel Angesichts dieser Interessenslagen könnte man meinen, ikonografische Neuschöpfungen seien bestimmend für die Bildkünste der lutherischen Konfessionskultur gewesen. Bereits ein oberflächlicher Blick zeigt aber ein bestehendes Ungleichgewicht zwischen dem fachwissenschaftlichen Interesse und der realen Objektüberlieferung. Tatsächlich begegnet man ikonografischen Neuschöpfungen wie Gesetz und Gnade und anderen bekenntnishaften Visualisierungen vergleichsweise selten in lutherischen Sakralräumen. Sie blieben ein exklusives Phänomen, das zwar in allen Regionen Mitteleuropas, in denen sich die lutherische Lehre verbreitete, zu finden ist, aber eben nur in einer überschaubaren Anzahl von Beispielen. Ihnen gegenüber steht die große Masse jener alt- und neutestamentlichen Bildthemen, die gewissermaßen den ikonografischen Standard im lutherischen Sakralraum der Frühen Neuzeit bildeten: an erster Stelle Themen aus der Passion Christi, an zweiter Stelle Szenen aus dem Marienleben.10 Beide gelten gemeinhin als ein interkonfessioneller Bildvorrat bzw. als ein ikonografisches Basismaterial, das sich Vereinnahmungen durch eine der Konfessionsparteien entzogen habe. Doch trifft ein solcher Befund zu? Dieser Frage, die Grundannahmen zur visuellen Kultur der verschiedenen Konfessionen berührt, möchte der vorliegende Text anhand ausgewählter Beispiele nachgehen. Dabei wird insbesondere das Zirkulieren von Bildzeichen über konfessionelle Grenzen hinweg von Interesse sein sowie daran anknüpfend die Frage, welche methodischen Schlüsse daraus zu ziehen sind, dass Bildzeichen in der Frühen Neuzeit die konfessionellen Grenzen vermeintlich problemlos überwinden konnten. Sogar für die Bildallegorie von Gesetz und Gnade, die gewissermaßen die Quintessenz der lutherischen Heilslehre zu repräsentieren scheint, war eine Übernahme in die katholische Konfessionskultur möglich.11 Mit Blick auf den hier zur Verfügung stehenden Rahmen werden sich die folgenden Betrachtungen aber nur auf eine Richtung des Zirkulierens von Bildzeichen konzentrieren, nämlich auf die Übernahme von Ikonografien, die der vorreformatorischen bzw. der nachtridentinisch-katholischen Bildkultur entstammten, in den lutherischen Sakralraum. In Erweiterung der Untersuchungsbeispiele meiner angesprochenen Dissertation sollen hier Befunde anhand von Bildwerken aus der lutherischen Konfessionskultur in Böhmen und den beiden böhmischen 10 Vgl. dazu grundlegend B. Kreitzer, Reforming Mary. Changing Images of the Virgin Mary in Lutheran Sermons of the Sixteenth Century (OSHT), Oxford 2004; B. U. Münch, Geteiltes Leid. Die Passion Christi in Bildern und Texten der Konfessionalisierung. Druckgraphik von der Reformation bis zu den jesuitischen Großprojekten um 1600, Regensburg 2009. 11 Vgl. M. V. Fleck, Ein tröstlich gemelde (wie Anm. 8), S. 401–405, 423–437. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 291 Kronländern Ober- und Niederlausitz vorgestellt und interpretiert werden, die zunächst ganz allgemein als Hybridisierungen zu bezeichnen sind. Zirkulierende Zeichen – Bilder diesseits und jenseits konfessioneller Grenzen Manche Bildfindungen des nachtridentinischen Katholizismus erlebten erst in der lutherischen Konfessionskultur eine breite Rezeption. Das gilt z. B. für eine Kreuzigungsdarstellung, die der Münchener Hofmaler Christoph Schwartz schuf und die durch einen Kupferstich von Aegidius Sadeler d. J. (ca. 1570–1629) aus dem Jahr 1590 Verbreitung fand.12 (Abb. 1) Vermittelt durch das Medium der Druckgrafik diente die Schwartz’sche Komposition bis ins 18. Jahrhundert hinein in allen lutherischen Territorien als Vorlage für unzählige Altarbilder und Epitaphgemälde. Allein aus den lutherischen Sakralräumen des früheren Markgraftums Oberlausitz lassen sich mehr als ein Dutzend Beispiele aufzeigen, die über einen Zeitraum von etwa 100 Jahren hinweg entstanden.13 (Abb. 2) In der katholischen Konfessionskultur hingegen, in der die Komposition ursprünglich entstanden war, ist ihr eine solche Popularität verwehrt geblieben. Es ist daher zu fragen, was ihren Erfolg in der lutherischen Konfessionskultur bedingte bzw. was sie aus der Masse ikonografisch gleichgelagerter Vorlagen heraushob und sowohl für Auftraggeber wie auch für Künstler als Maßstab und Inspirationsquelle attraktiv machte? Diese Frage lässt sich, da Auftraggeberintentionen trotz der Vielzahl der Rezeptionen, die dieses Bild erfuhr, nicht überliefert sind, lediglich hypothetisch beantworten. Vermutlich war es die weitgehend der Heiligen Schrift folgende und damit das sola scriptura-Prinzip der lutherischen Konfessionskultur einlösende, figurenreiche 12 Vgl. Aegidius Sadeler II, ed. I. van Ramaix (TIB 72/1), New York 1997, S. 86 f.; zu Christoph Schwartz (Schwarz) vgl. H. Geissler, Christoph Schwarz, ca. 1548–1592, Diss. masch., Freiburg i. Br. 1960; beispielhaft zur Wirkung seiner Werke im Konfessionalisierungsprozess vgl. G. Cerkovnik, Christoph Schwarz’s „Last Judgement“ and Counter-Reformation in Inner Austria, in: I. Unetič / M. Germ / M. Malešič / A. Vrečko / M. Zor (Hgg.), Art and Its Responses to Changes in Society, Newcastle/Tyne 2016, S. 49–62. 13 Einige Beispiele sind beschrieben bei K. Wenzel, Ausstattungsstücke des 17. Jahrhunderts in Oberlausitzer Kirchen. Eine Übersicht, in: U. Koch / Ders. (Hgg.), Unsterblicher Ruhm. Das Epitaph des Gregorius Mättig und die Kunst des 17. Jahrhunderts in der Oberlausitz (Memoria Maettigiana 1), Görlitz/Zittau 2013, S. 129–202, hier S. 134, 141, 144, 153, 164, 169; vgl. auch R. Bönisch, Die druckgrafischen Vorlagen der biblischen Gemälde auf den Zittauer Epitaphien, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien, Netzwerke, Reformation. Zittau und die Oberlausitz im konfessionellen Zeitalter, Görlitz/Zittau 2018, S. 329–356, hier S. 341 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 292 Kai Wenzel Abb. 1: Aegidius Sadeler (nach Christoph Schwartz), Die Kreuzigung Christi, Kupferstich, 1590 [Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr. 22559/512, Foto: Kai Wenzel]. Schilderung, die das Kreuzigungsgeschehen sowohl didaktisch als auch im verfeinerten Stil der bayerischen Hofkunst ästhetisch anspruchsvoll vortrug – eine Frage, auf die am Schluss dieses Textes noch einmal zurückzukommen sein wird. Dass Bilder aus vorreformatorischer Zeit und auch aus dem nachtridentinischen Katholizismus in lutherische Sakralräume integriert wurden, ist bereits vielfach Untersuchungsgegenstand der Kunstgeschichtsschreibung gewesen. So verblieben vorreformatorische Ausstattungsstücke häufig in lutherischen Kirchen und wurden weitergenutzt – ein Phänomen, für das ein vor rund zwei Jahrzehnten erschienener Sammelband die inzwischen zum stehenden Begriff gewordene Formulierung der bewahrenden Kraft des Luthertums gefunden hat.14 Dieses Bewahren erfolgte freilich nicht im Sinne einer modernen Denkmalpflege, sondern es wurde vorrangig das bewahrt, was sich im Rahmen der veränderten Liturgie und Frömmigkeit weiter nutzen ließ bzw. mit prägenden Erinnerungen der jeweiligen Gemeinde oder einzelner Mitglieder verbunden blieb. Dabei handelte es sich 14 Vgl. J. M. Fritz (Hg.), Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen Kirchen, Regensburg 1997. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Stefan Dornheim. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 293 Abb. 2: Friedrich Kremsier, Kreuzigung Christi, Öl auf Holz, 1668/69 [Altarbild in der Pfarrkirche von Friedersdorf an der Landes­ krone, Foto: Kai Wenzel]. zuallererst um die Prinzipalstücke; doch auch bei diesen ist zu konstatieren, dass sie spezifischen Veränderungen unterzogen werden konnten, die als Neucodierung ihrer Zeichenfunktion innerhalb des konfessionellen Rahmens des jeweiligen Sakralraums verstanden werden müssen. In der Ober- und Niederlausitz wie auch in allen anderen Kernlandschaften der lutherischen Konfessionskultur finden sich zahlreiche Beispiele für solche bewahrten und gleichzeitig in ihren Aussagen modifizierten Bildwerke. Aus dieser Vielzahl sei das Retabel der Stadtpfarrkirche von Senftenberg in der Niederlausitz herausgegriffen, das sich seit dem frühen 20. Jahrhundert in der ehemaligen Klosterkirche von Doberlug befindet.15 (Abb. 3) Im Kern handelt es sich um ein großformatiges Retabel, das um 1510 vermutlich in einer Oberlausitzer Werkstatt entstand.16 Seine Predella birgt die Figurengruppe der Anbetung 15 Vgl. S. Fink, Die Klosterkirche zu Doberlug, Görlitz/Zittau 2014, S. 88–94. 16 Vgl. P. Knüvener, Die Werkstatt des Senftenberger Hochaltarretabels und andere in den Lausitzen tätige Künstler um 1515, in: Ders. / W. Ziems (Hgg.), Flügelaltäre um 1515 – Höhepunkte mittelalterlicher Kunst in Brandenburg und in den Nachbarregionen (Arbeitshefte BLDAM 42), Berlin 2017, S. 201–216. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 294 Kai Wenzel Abb. 3: Altarretabel aus der Stadtkirche von Senftenberg, um 1510 und 1600 [heute in der Klosterkirche zu Doberlug, Foto: Kai Wenzel]. Christi durch die Heiligen Drei Könige. Darüber stehen im Schrein die überlebensgroßen Skulpturen der Gottesmutter mit dem Christuskind, flankiert von den Patronen der Senftenberger Kirche, den Aposteln Petrus und Paulus. Dieser vorreformatorische Objektkern wurde um 1600 modifiziert, wobei der Schrein eine neue architektonische Einfassung in Formen der Hochrenaissance erhielt und im oberen Teil mehrere figürliche Szenen hinzugefügt wurden: die Kreuzigung und Himmelfahrt Christi sowie als Bekrönung die Figur des Auferstandenen. Mit ihnen wurde die ursprüngliche mariologische Zentrierung christologisch überschrieben und so die Gesamtaussage des Werkes neu ausgerichtet. Maria bildete nun nicht mehr den Mittelpunkt der Bilderzählung, sondern trat hinter den Gottessohn zurück, dessen Leben das Retabel von der Geburt bis zur Auferstehung in einer sich von unten nach oben entwickelnden narratio visualisierte. Die Neucodierung des Senftenberger Retabels mittels neu hinzugefügter Bilder entsprach dabei in mehrfacher Hinsicht den Prämissen der lutherischen Theologie, sowohl in der Konzentration auf Christus als auch in der Subordination Marias.17 17 Vgl. B. Hamm, Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: ZHF 26 (1999), S. 163–202. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 295 Abb. 4: Altarretabel in der Zittauer Frauenkirche, 1619 [Foto: Friedemann Raatz]. Einen ähnlichen Befund liefert ein Retabel in der ehemals königlich böhmischen Stadt Zittau, in der die Reformation seit den 1520er Jahren Fuß gefasst hatte.18 Rund 100 Jahre später wurde in der vor den Toren gelegenen Frauenkirche ein neues Retabel aufgestellt.19 (Abb. 4) 18 Zur Reformation in Zittau grundlegend P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen (1300–1600). Zum Wandel religiöser Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig 2020, hier S. 317–737. 19 Zu diesem Retabel vgl. bereits K. Zinnow, Maria in der Kunst der Reformationszeit in Schlesien und der Oberlausitz, in: M. Winzeler (Hg.), Lausitzer Madonnen zwischen Mystik und Reformation (ZG 36), Görlitz/Zittau 2008, S. 30–33, hier S. 32; K. Wenzel, Ausstattungsstücke (wie Anm. 13), S. 167 f.; P. Hrachovec, Maria honoranda, non adoranda. Studie k poznání role obrazů a umělecké výzdoby v luteránském kostele éry konfesionalizace [… Studie zur Rolle der Bilder und des Kunstschmucks in der lutherischen Kirche der Konfessionalisierungsära] in: K. Horníčková / M. Šroněk (Hgg.), In puncto religionis. Konfesní dimenze předbělohorské kultury Čech a Moravy [… Die konfessionellen Dimensionen der Kultur Böhmens und Mährens in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg], Praha 2013, S. 233–251. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 296 Kai Wenzel Es entstand als Stiftung der Zittauer Bürgerin Martha Sihrer, die es als Epitaph für ihren verstorbenen Mann und sich selbst errichten ließ.20 Den Mittelpunkt des Retabels bildet, dem Patrozinium der Kirche entsprechend, eine Figur der Gottesmutter. Auch bei ihr handelt es sich um ein vorreformatorisches Kunstwerk, das zusammen mit zwei begleitenden Engeln und einem spätgotischen Schleierbrett aus einem älteren Altarwerk übernommen wurde. Ähnlich wie in Senftenberg erhielt dieser Objektkern eine neue Einfassung in zeitgemäßen Formen und wurde um mehrere Bilder ergänzt. Auf den Innenseiten der beweglichen Flügel flankiert die Szene der Verkündigung die Madonnenfigur. Im Auszug findet sich ein Schnitzrelief mit der Anbetung der Hirten sowie als Bekrönung die Figur des auferstandenen Christus. Anders als beim Senftenberger Retabel tritt die christologische Zentrierung hier nicht so deutlich in den Vordergrund. Stattdessen liegt der erzählerische Schwerpunkt in Zittau weiterhin auf der Person Mariens. Zwei über den Flügelreliefs angebrachte Zitate lassen sie sogar selbst zu Wort kommen mit ihrem im Lukasevangelium überlieferten Canticum Magnificat anima mea dominum et exultavit spiritus meus. Diese mariologische Ausrichtung des Zittauer Retabels ließ es wohl geboten erscheinen, den Gläubigen am Bildwerk selbst das von der lutherischen Theologie gewünschte Verständnis der Rolle Mariens unmissverständlich und dauerhaft in Erinnerung zu rufen. Und dieser Appell erfolgt durch die am Gebälk des zentralen Schreins angebrachten, sich allerdings eher an ein gelehrtes Publikum richtenden Worte Maria honoranda, non adoranda – Maria solle verehrt, aber nicht angebetet werden. Die Codierung der Madonnenfigur im Zittauer Retabel verstärkten zusätzlich die Ausführungen, die der Zittauer Pastor primarius Caspar Tralles (ca. 1580– 1624) in seiner Predigt anlässlich der Weihe des neuen Retabels 1619 wählte und wenig später auch im Druck erscheinen ließ.21 Schon in der Einleitung charakterisierte er das Stiften von Bildwerken für den Kirchenraum als gottgefälliges 20 Darauf verweist die in der Predella angebrachte Inschrift, zitiert nach C. Gurlitt, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, H. 30: Zittau (Stadt), Dresden 1907, S. 69. 21 Vgl. C. Tralles, MNHMOΣTNON. Das ist Denckmal Nützlicher erinnerungen / Auffgerichtet Bey Einweyhung einer newen Canczel vnd Altar Taffel […], Zittau 1619, zitiert nach dem Exemplar in: CWB Zittau, Sign. Zitt. 19/406; zu dieser Predigt vgl. bereits ausführlich P. Hrachovec, Slavnostní vysvěcení interiéru kostela Panny Marie v Žitavě 8. září 1619. Příspěvek k poznání raně novověkého luteránského sakrálního prostoru v zemích Koruny české [Die feierliche Weihe der Ausstattung der Frauenkirche in Zittau am 8. September 1619. Ein Beitrag zum frühneuzeitlichen lutherischen Sakralraum in den Ländern der Böhmischen Krone], in: Fontes Nissae 11 (2010), S. 11–46; Ders., Maria honoranda (wie Anm. 19). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 297 Handeln.22 In den weiteren Ausführungen wird eine ausgesprochen bilderfreundliche Haltung des Geistlichen deutlich, wenn er etwa von den schönen Figuren aus dem Alten und Neuen Testament spricht, mit denen die Frauenkirche verziert worden sei, und das es in warheit / ohne heucheley zu melden / einem eine lust giebt solches alles anzuschawen.23 Um aber dieser Lust des Anschauens einen disziplinierenden Rahmen zu setzen, habe Tralles die Predigt ausgearbeitet, die den Zuhörern und Lesern vermitteln soll: Was ihr Christliche Hertzen / bey anschawung des newerbawten […] Taffelwercks auffm Altar […] für gutte gedancken haben sollet. […] Christen Leute sollen nicht sein wie Roß vnd Mäuler die kei­ nen verstand haben / vnd die Gräber / Kirchen / Cantzeln / Altar vnd andere Kirchen geräthe vnd zierden anschawen / wie die Kuh ein new Thor / ohn alles nachdencken / sondern sollen dabey feine Christliche gedancken haben. Was sollen sie denn dabey gedencken vnd ihnen zu gemüt führen?24 Diese Frage beantwortete Tralles durch die Ausdeutung der einzelnen Ausstattungsstücke des Kirchenraums, was er auch als zentrale Aufgabe eines Geistlichen bezeichnete, der seiner Gemeinde durch Predigtworte den Verständnisrahmen zu Bildern und anderen visualisierenden Teilen des Interieurs vorzugeben habe. Für das in der Frauenkirche neuaufgestellte Retabel kam er dieser selbstgestellten Aufgabe nach, indem er mehrere Bedeutungen für die ältere Madonnenfigur formulierte. Zunächst solle bei ihrer Betrachtung nicht der Gedanke entstehen, dass sie wieder aufgestellt worden sei, um angebetet zu werden bzw. dass mit ihrer Betrachtung eine Heilserwartung verknüpft werden könne: Nein / Wir haben mit solchem Götzenwerck nichts zuthun / es ist / Gott lob / vor langst auß vnserer Kirchen allhier / vnd / ob Gott wil / auch aus aller zuhörer Hertzen explodiret und auß­ gemustert / vnd es stehet protestationis loco drüber / Maria honoranda non adoranda, Mariam sol man Ehren / aber nicht anbeten. Welche Worte aus der Epiphanio genommen sind / der da saget: Sit in honore Maria, sed Pater, Filius et Spiritus Sanctus adoretur, Mariam nemo adoret.25 Die Neuinszenierung der vorreformatorischen Madonnenfigur sollte die Gläubigen also, so Tralles, zunächst daran erinnern, dass die lutherische Konfession die Verehrung Mariens als göttliche Mittlerin überwunden habe. 22 23 24 25 Vgl. C. Tralles, MNHMOΣTNON (wie Anm. 21), fol. A4r f. Ebd., fol. B2v. Ebd., fol. B3v. Ebd., fol. D1v. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 298 Kai Wenzel Abb. 5: Epitaph des Zittauer Gerichtsnotars Michael Weise, 1615 [Städtische Museen Zittau, Leihgabe der Ev.-Luth. Kirchgemeinde St. Johannis, Foto: Jür­ gen Matschie]. Dass ihre Betrachtung die Konzentration der Gläubigen stattdessen auf Christus führen müsse, klingt im zweiten Bedeutungsfeld der Predigt an, wenn Tralles schreibt, dass das Christuskind auf dem Arm Mariens das eigentliche Zentrum des Bildes sei. Es zeige an, dass der Gottessohn ohne Sünden auf die Welt gekommen sei, um die Menschheit von ihren Sünden zu befreien, und dass der Apfel in seiner Hand ihn als Herrscher charakterisiere. Schließlich umriss Tralles noch ein drittes Bedeutungsfeld für die Marienfigur, indem er auf die Ikonografie des Bildwerks und deren Ursprung in der Apokalypse des Johannes verwies. Davon ausgehend sei Maria als Sinnbild der wahren Kirche und Braut Christi zu verstehen. Mit dieser mehrstufigen Auslegung verstärkte die Predigt des Zittauer Pfarrers die im Figurenprogramm des Retabels angelegte konfessionelle Codierung der aus vorreformatorischer Zeit stammenden Madonnenfigur. Aber nicht nur am jeweiligen Ort vorhandene vorreformatorische Bildwerke ließen sich in den lutherischen Sakralraum mit Hilfe einer konfessionellen Neucodierung integrieren. Auch zirkulierende Druckgrafiken aus vorreformatorischer Zeit dienten vielfach als Vorlagen für neue Bildwerke in lutherischen Sakralräumen. Ein bemerkenswertes Beispiel ist wiederum in Zittau zu finden mit dem ebenfalls aus der dortigen Frauenkirche stammenden Epitaph des Gerichtsnotars Michael Weise Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 299 Abb. 6: Meister E. S., Das Passionswappen, Kupferstich um 1460 [Staat­ liche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. A 370, Foto: Andreas Diesend]. (1577–1620).26 (Abb. 5) Es entstand 1615 vermutlich in der gleichen Werkstatt, die vier Jahre später die neuen Teile des eben beschriebenen Marienretabels schuf. Das Hauptbild des Epitaphs zeigt eine für lutherische Gedächtnismale jener Zeit ungewöhnliche Ikonografie: einen Wappenschild, der mit den Passionswerkzeugen gefüllt ist, auf dem Lamm Gottes ruht und von Christus und Maria sowie den vier Evangelisten und zwei Propheten präsentiert wird. Inschriften wie die unterhalb des Schildes platzierten Worte PER MORTEM IN VITAM und NOS REDEMPTI SAN­ GVINE AGNI verweisen auf die Erlösungshoffnung, die aus dem Tod Christi erwachse. Ikonografisch handelt es sich bei diesem Motiv um das sog. Passionswappen, eine Bildschöpfung, deren Wurzeln in der christlichen Mystik des späten Mittelalters zu suchen sind.27 In Zittau existiert dafür mit einem in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts datierten Wandgemälde im Chorraum der Kreuzkirche ein vorreformatorischer Vorläufer, der den Schmerzensmann flankiert vom Passionswappen 26 Vgl. P. Knüvener, Epitaphien (wie Anm. 13), S. 437–441, Kat.-Nr. 26. 27 Vgl. I. von Bredow-Klaus, Heilsrahmen. Spirituelle Wallfahrt und Augentrug in der flämischen Buchmalerei des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Kunstgeschichte 81), München 2005, S. 185 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 300 Kai Wenzel zeigt.28 Für die Darstellung am Epitaph Weises bildete allerdings ein Kupferstich des oberrheinischen Meisters E. S. aus den 1460er Jahren, der zur persönlichen Andacht und memoria des Kreuzestodes Christi aufforderte und wesentlich zur Verbreitung dieses Themas beitrug, die direkte Vorlage.29 (Abb. 6) Der namentlich nicht bekannte Maler übernahm daraus für das Epitaph Weises alle wesentlichen Elemente und fügte die bereits erwähnten Inschriften hinzu. Zusätzlich wurde das Gemälde in ein weiterführendes Bildprogramm mit den vollplastischen Figuren des Moses und des Aarons eingebunden. Oberhalb der Bildtafel ist zudem ein Gemälde mit der Darstellung der Aufrichtung der Ehernen Schlange platziert, während weitere Bilder unterhalb die Anbetung des Gekreuzigten, den Stifter und seine Familie sowie die Darstellung des Erzengels Michael zeigen. Vor allem die Trias der Figuren Mose und Aarons sowie der Erzählung von der Ehernen Schlange generieren einen typologischen Bezugsrahmen für die abstrahierende Schilderung der Passion Christi. Er reflektiert einen Kerngedanken der lutherischen Theologie, jene bekannte Gegenüberstellung von Altem und Neuem Bund als Zeitalter des Gesetzes und der Gnade. Doch anstatt die von Martin Luther (1483–1546) und Lucas Cranach d. Ä. entworfene Bildallegorie der 1520er Jahre aufzugreifen, ließ Michael Weise ein vorreformatorisches Bildwerk mit den alttestamentarischen Präfigurationen kombinieren, was eine entsprechende Bildung des Auftraggebers vermuten lässt. Das Passionswappen erscheint an seinem Epitaph nicht mehr nur als ein Bildzeichen zur Memorierung des Kreuzestodes Christi, sondern als gelehrte Formel für das theologische Konzept von Gesetz und Gnade. Dadurch ließ sich die kompilierende Komposition des vorreformatorischen Passionswappens in den lutherischen Sakralraum integrieren und sogar zu einem protestantischen Lehrstück fortentwickeln, dessen Rezeption freilich wiederum einen gewissen Bildungshorizont voraussetzte. Eine weitere lateinische Inschrift, die das Programm abrundet, kann vor diesem Bedeutungshorizont dann weniger als Ermahnung denn als eine Selbstvergewisserung des Auftraggebers verstanden werden: IN POTENTI MANV DEI FACTA EST NOBIS SALVS PER CRVCEM ET SANGVIS AGNI. Um einen ähnlich gelagerten, auf den ersten Blick vielleicht mehr noch als das Zittauer Beispiel irritierenden Fall handelt es sich beim Epitaph des Bürgermeisters Bartholomäus Koßwigk und seiner Familie in der Pfarrkirche von Finsterwalde. (Abb. 7) Das Gotteshaus der grundherrlichen Stadt in der Niederlausitz, in der 1540 die lutherische Reformation eingeführt wurde, repräsentiert mustergültig einen frühneuzeitlichen protestantischen Sakralraum.30 Denn der in 28 Vgl. P. Knüvener, Epitaphien (wie Anm. 13), S. 440, Kat.-Nr. 26. 29 Vgl. Early German Artists, ed. J. C. Hutchinson (TIB 8), New York 1980, S. 86 f. 30 Vgl. W. Jung / W. Spatz, Die Kunstdenkmäler des Kreises Luckau (KDPB 5/1), Berlin 1917, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 301 Abb. 7: Epitaph des Bürgermeisters Bartholomäus Koßwigk und seiner Familie in der Stadtkirche von Finsterwalde, um 1599 [Foto: Kai Wenzel]. der ersten Hälfte der 1580er Jahre in nachgotischen Formen errichtete Neubau besitzt in seinem Inneren noch eine Fülle an Ausstattungsstücken des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, zu denen auch das hier interessierende Koßwigk-Epitaph gehört.31 Das um 1599 entstandene Werk hat seinen Standort direkt neben der Kanzel an der Langhausostwand. Sein Hauptbild zeigt eine für den lutherischen Kontext zunächst eigenwillig scheinende Ikonografie: Das Zentrum bildet die Szene der Verkündigung an Maria, die sich im mittleren Bogen einer Arkatur abspielt. Darüber schweben Gottvater und die Heiliggeisttaube; vor der Arkatur hingegen sind sechs Propheten mit Schrifttafeln platziert, deren Texte mit S. 145–170; G. Vinken (Bearb.), Georg Dehio Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Brandenburg, Berlin/München 2000, S. 283; A. Beeskow, Finsterwalde und die St. Trinitatis-Kirche (Große Baudenkmäler 485), München/Berlin 1993. 31 Vgl. W. Jung / W. Spatz, Kunstdenkmäler (wie Anm. 30), S. 164. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 302 Kai Wenzel Abb. 8: Philipp Galle, Mariä Verkündigung mit sechs Propheten, Kupferstich, um 1580 [British Museum London, Inv.-Nr. 1857,0613.450, Foto: British Museum, CC BY]. Zitaten aus dem Alten Testament auf Präfigurationen Christi als Gottessohn und Mariens als seiner Mutter rekurrieren. Diese verweisende Symbolik wird in den seitlichen Bögen der Arkatur erweitert, wo der Blick in Landschaften fällt, in denen Bauwerke wie der fons vitae oder der hortus conclusus als traditionsreiche Christus- und Mariensymbole zu finden sind. Sein direktes Vorbild hat das Finsterwalder Gemälde in einem neuerdings der Antwerpener Werkstatt Philipp Galles (1537–1612) zugeschriebenen Kupferstich von ca. 1580.32 (Abb. 8) Dieses Blatt wiederum ist die Kompilation eines nur wenige Jahre älteren Kupferstichs von Cornelis Cort (1533–1578), aus dem alle wesentlichen Elemente übernommen wurden.33 (Abb. 9) Cort hatte mit sei32 Der nicht signierte Kupferstich galt ehemals als ein Werk des Hendrick Goltzius (1558–1617), vgl. Netherlandish Artists. Hendrick Goltzius, ed. W. L. Straus (TIB 3/2), New York 1982, S. 17; zur neuen Zuschreibung vgl. The New Hollstein. Dutch and Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts, 1450–1700, ed. H. Leeflang, Bd. 24, Hendrick Goltzius, T. 4, Ouderkerk aan den Ijssel 2012, S. 258 f. 33 Zum Kupferstich von Cort vgl. The New Hollstein, ed. H. Leeflang (wie Anm. 32), Bd. 8: Cornelis Cort, T. 1, Rotterdam 2000, S. 53–65. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 303 Abb. 9: Cornelis Cort (nach Federico Zuccari), Mariä Verkündigung, Kupferstich, 1571 [Wellcome Collection London, Inv.-Nr. 34405i, Foto: Wellcome Collection, CC BY]. nem Kupferstich das nicht erhaltene Deckenfresko in der ersten Jesuitenkirche SS . Annunziata in Rom dokumentiert. Geschaffen vom Maler Federico Zuccari (1539–1609) in den späten 1560er Jahren nach genauen Vorgaben der Patres, war es das erste öffentliche Lehrbild des noch jungen Jesuitenordens und gleichzeitig eine Visualisierung der Rechtmäßigkeit des katholischen Glaubens durch Kontinuität und Autorität. Es zeigte das Mysterium der Verkündigung sowie die beiden Zentralgestalten Maria und Christus im Verständnis der jesuitischen Theologie und Didaktik.34 Warum nun ausgerechnet ein lutherischer Bürgermeister in der Niederlausitz bzw. dessen Gemahlin als mögliche Auftraggeber die Kerngedanken dieses jesuitischen Programmbilds für ihr Epitaph wählten, bedarf weiterer Untersuchungen. Ein Grund könnte darin zu suchen sein, dass sich das vermeintlich katholische Bildprogramm bei genauerem Betrachten als anschlussfähig für die lutherische Theologie erweist. Denn seine einzelnen Elemente basieren nicht nur auf einer Genese der Heiligen Schrift, sondern stellen Altes und Neues Testament als Glaubensfundamente dar. Die Könige und Propheten des Alten Bundes, die 34 Vgl. R. Baumstark, Verkündigung an Maria, in: Ders. (Hg.), Rom in Bayern. Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten, München 1997, S. 477 ff., Kat.-Nr. 149. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 304 Kai Wenzel sich um Maria eingefunden haben, weisen genauso auf die Geburt des Gottessohns voraus wie die auf das Hohe Lied Salomos zurückgehenden Symbole der marianischen Lobpreisung. Dabei gibt die Komposition sowohl in der ausführlicheren Fassung Zuccaris als auch in der Kompilation des Kupferstichs von Galle keine definitiv konfessionell codierte Lesart vor. Vielmehr kann sie entweder als ein Loblied Mariens oder auch als ein Lehrbild für die Erlösungshoffnung, die der Menschheit durch die Geburt Christi erwachsen ist, verstanden werden. Letztere Lesart dürfte es auch gewesen sein, die den Finsterwalder Bartholomäus Koßwigk und seine Familie dazu veranlasste, dieses Bild für das Epitaph auszuwählen. Allgemein kann zu den Beispielen aus Zittau und Finsterwalde zunächst festgehalten werden, dass sich Epitaphien aufgrund der vordergründig auf die individuellen Präferenzen ihrer Auftraggeber ausgerichteten Programme als Experimentierfeld für das Bild im lutherischen Sakralraum erweisen und an ihnen Ikonografien vorgetragen werden konnten, die an den konsensual ausgerichteten Prinzipalstücken eher nicht vorstellbar gewesen wären. Dass aber auch an einem solch herausgehobenen Ausstattungsstück, nämlich am Gemälde des Abendmahls­ altars einer lutherischen Kirche, Maria die tragende Rolle spielen und gleichzeitig einer spezifischen Codierung unterzogen werden konnte, soll mit dem letzten Beispiel verdeutlicht werden. In den Jahren 1610 bis 1613 entstand auf der Prager Kleinseite der Neubau der lutherischen Pfarrkirche zur Heiligen Dreifaltigkeit.35 Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel (1589–1613), der als wesentlicher Förderer des Bauprojekts in Erscheinung trat, plante zunächst, ein Retabel für den Abendmahlsaltar der Kirche zu stiften. Nachdem sich dieses Vorhaben jedoch durch den plötzlichen Tod des Herzogs 1613 zerschlagen hatte, gelangte einige Jahre später ein anderes Kunstwerk auf den Altar. Es handelte sich dabei um das Gemälde „Verkündigung an Maria“ des kaiserlichen Hofmalers Hans von Aachen (1552–1615), das sich heute in der Prager Nationalgalerie befindet.36 (Abb. 10) Ursprünglich hatte es 35 Ausführlich dazu K. Wenzel, Konfese a chrámová architektura. Dva luteránské kostely v Praze v předvečer třicetileté války (II. díl) [Konfession und Kirchenbau. Zwei lutherische Gotteshäuser in Prag am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges (II. Teil)], in: PSH 37 (2009), S. 7–66. 36 Vgl. Ders., Abgrenzung durch Annäherung. Überlegungen zu Kirchenbau und Malerei in Prag im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Bohemia 44 (2003), S. 29–66, hier S. 49–65; Ders., Historisches Exempel oder ereignissteuernde Figur? Divergierende Codierungen der Gottesmutter in Prag zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, in: A. Gąsior (Hg.) / S. Samerski (Mitarb.), Maria in der Krise. Kultpraxis zwischen Konfession und Politik in Ostmitteleuropa (Visuelle Geschichtskultur 10), Köln/Weimar/Wien 2014, S. 197–218, hier S. 201–205. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 305 Abb. 10: Hans von Aachen, Mariä Verkündigung, Öl auf Leinwand, 1613 [Národní galerie Praha/ Nationalgalerie Prag, Inv.-Nr. VO 272, Foto: Národní galerie Praha]. als Stiftung eines kaiserlichen Beamten einen Seitenaltar in der Jesuitenkirche St. Salvator in der Prager Altstadt, der ersten Jesuitenkirche in den böhmischen Ländern, geschmückt. Nachdem jedoch die Patres während der Regierungszeit des reformierten böhmischen Königs Friedrich von der Pfalz (1619/20) aus Prag und Böhmen vertrieben worden waren, gelangte das Bild in die lutherische Pfarrkirche auf der Kleinseite. Zur Legitimierung dieser Übernahme des Gemäldes arbeitete der Pfarrer der Kleinseitner Gemeinde, Caspar Wagner (1582–1651), eine umfangreiche Predigt aus, in der er den Inhalt des Bildes in die lutherische Konfessionskultur einordnete und der versammelten Gemeinde Empfehlungen gab, was aus der Betrachtung für Schlüsse zu ziehen seien.37 Ausgehend vom Bildinhalt konzentrierte er 37 Vgl. C. Wagner, Das Ave Maria, Geprediget erkläret vnd Schrifftmessig außgelegt Zu Christlicher Einweihung oder Heiligung des newen Altars darauff der Engel Gabriel vnd die heilige hochgelobte Jungfraw Maria neben andern schönen Biblischen Figuren und Bildern auffs aller kunstreichest abgemahlet in der Evangelischen Deutschen Kirchen zur heiligen Dreyfaltigkeit der kleinern Stadt Prage, Leipzig 1620 (VD17 39:105308H); hier verwendet das Exemplar in: NK Praha, Sign. H 1227, přív. 4; allgemein zum Medium der lutherischen Festpredigt der Frühen Neuzeit vgl. V. Isaiasz, Architectonica Sacra. Feier und Semantik städtischer Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 306 Kai Wenzel sich dabei auf das Ave Maria, das er im lutherischen Sinn auslegte und dessen Verwendung als Gebet in der katholischen Konfessionskultur er scharf ablehnte. Mit hermeneutischer Genauigkeit setzte sich Wagner mit der Überlieferung des Verkündigungsgeschehens auseinander und argumentierte, warum der Englische Gruß nach dem Lukasevangelium nicht als Gebetstext gemeint sei, womit er einen zentralen Topos katholischer Frömmigkeit kritisierte. Denn in der katholischen Kirche sei, so Wagner: nichts mehr vnd öffter gehöret […] / als eben das Ave Maria, vnd wir [müssen, Anm. K. W.] vns / weiß nicht was für einer Impietet, vnd Vngottseligkeit […] beschuldigen lassen / wann wir die liebe Jungfraw Maria mit jhnen nicht anbeten.38 Seine Ausführungen resümierte Wagner mit der Feststellung, dass die Visualisierung der Gottesmutter innerhalb der lutherischen Konfessionskultur lediglich als Historiendarstellung verstanden werden dürfe. Eine solche Marienhistorie solle die Gläubigen ausschließlich zur Verinnerlichung der göttlichen Gnade und zur Anbetung Gottes führen: Wir sollen in vnserem Gebet nicht die Mutter Gottes: (viel weniger andere Heiligen) sondern Gott selbst anruffen, […] nicht die Jungfraw Maria für eine Fürsprecherin auffwerffen / sondern jhren lieben Sohn / den HERRN Christum / welcher ist zur Rechten Gottes vnd vertritt vns […]. Dahero sagt Johannes der heilige Evangelist vnd Apostel: Meine Kindlein / solches schreibe ich euch / auff daß jhr nicht sündiget / vnd ob jemand sündiget / so haben wir einen Fürsprecher (nicht eine Fürsprecherin) bey dem Vater / Jesum Christ (nicht die Jungfraw Mariam) der Gerecht ist / vnd derselbige (nicht sie) ist die versöhnung für vnsere Sünde / nicht allein aber für die vnsere / sondern auch für der gantzen welt.39 Mit diesem spezifischen Verständnis des ikonologischen Gehalts des Gemäldes, dass eben nicht Maria, sondern der im Bild gar nicht visualisierte, in der Erzählung aber implizierte Christus sein semantischer Mittelpunkt sei, ließ sich das aus der Jesuitenkirche translozierte Gemälde offenbar problemlos in den lutherischen Sakralraum integrieren. Diese Beobachtung soll abschließend nochmals zu der Frage führen, welche Praktiken konfessioneller Codierung im lutherischen Sakralraum der Frühen Neuzeit sich anhand der angeführten Beispiele feststellen Kirchweihen im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Dies. / U. Lotz-Heumann / M. Mommertz / M. Pohlig (Hgg.), Stadt und Religion in der Frühen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repräsentationen (Eigene und fremde Welten 4), Frankfurt a. M./New York 2007, S. 125–146. 38 C. Wagner, Ave Maria (wie Anm. 37), fol. 7v. 39 Ebd., fol. 13v. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 307 lassen und welche Auswirkungen konfessionelle Codierungen auf die Ikonografie und Ikonologie von Bildern zeitigen konnten. Konfessionelle Codierungen und parallele Ikonologien Das Zirkulieren von Bildzeichen von einer Konfessionskultur in eine andere und ihre damit einhergehende konfessionelle Codierung ist ein noch längst nicht hinreichend erarbeitetes Forschungsfeld, das hier auch nur anhand einer knappen Auswahl von Beispielen angerissen werden konnte. Dennoch lohnt es sich, an dieser Stelle einige resümierende Thesen zu den Prinzipien konfessioneller Codierung am Beispiel der beschriebenen zirkulierenden Bildzeichen zu formulieren: 1. Offensichtlich griff die lutherische Konfession neben den eingangs angesprochenen ikonografischen Neuschöpfungen ganz selbstverständlich und wiederholt auf die Bildkultur des Katholizismus zurück – sei es durch die Integration von Bildern aus vorreformatorischer Zeit, die eine Neucodierung erfuhren, oder durch Übernahmen aus der zeitgenössischen Bildkultur des nachtridentinischen Katholizismus. Silke Steets hat ein Modell für die Produktion und Rezeption von architektonischen Zeichen entworfen, das in drei Schritten – der Externalisierung, der Objektivation und der Internalisierung – aufgebaut ist.40 Es lässt sich verallgemeinernd auch auf Bilder und deren Codierung mit einem spezifischen politischen Inhalt übertragen, was anhand der oben vorgestellten Konkretisierungen frühneuzeitlicher Bilddiskurse nochmals verdeutlicht sei. Im ersten Schritt, der Externalisierung, wird in der Abgrenzung das spezifisch Eigene definiert. Bei den Retabeln von Senftenberg und Zittau erfolgte dies, indem den aus vorreformatorischer Zeit vorhandenen Bildern neue zur Seite gestellt wurden. Mit ihren spezifischen Aussagen sorgten sie für eine Abgrenzung von der Omnipräsenz Mariens und stattdessen für eine Fokussierung allein auf Christus als Zentrum des lutherischen Glaubensverständnisses. Eine ähnliche Strategie der konfessionellen Codierung durch semantische Überlagerungen lässt sich auch am Zittauer Epitaph Weises beobachten, bei dem das vorreformatorische Passionswappen, verstanden als Bildformel für Christus und seinen Kreuzestod, durch Darstellungen aus dem Alten Testament in das theologische Konzept von Gesetz und Gnade implementiert wurde. Eine spezifische konfessionelle Codierung erfolgte in den drei genannten Fällen also nicht, indem in die unmittelbare Substanz der vorhandenen Bilder eingegriffen wurde bzw. ihre Aussagen durch das Entfernen oder Hinzufügen ikonografischer Elemente verändert worden wären, sondern 40 Vgl. S. Steets, Sinnhafter Aufbau (wie Anm. 5), S. 106–244. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 308 Kai Wenzel lediglich durch eine Neugewichtung mit Hilfe von ihnen zur Seite gestellten Bildern. Diese Strategie der Überlagerung semantischer Felder hatte auch, wie noch anzusprechen sein wird, Auswirkungen auf das ikonologische Verständnis der zirkulierenden Bildzeichen. 2. Eine weitere Technik der konfessionellen Codierung von Bildzeichen ist in den Predigten sichtbar geworden, die die Pfarrer in Zittau und Prag ihren Gemeinden anlässlich der Einweihung neuer Altäre vortrugen und in denen sie bekenntnisgerechte Bedeutungshorizonte für diese Bildzeichen aufzeigten. Für eine weitergehende Interpretation dieser Vorgänge lohnt es sich, aktuelle Methoden der Medienwirkungsforschung in den Blick zu nehmen, die sich allgemein als anregend für die Diskussion um Bild und Sprache im konfessionellen Diskurs erweisen. So untersucht die Kommunikationswissenschaft Framing-Prozesse in aktuellen medialen Diskursen und kommt dabei zu der Erkenntnis, das Frames bzw. Bedeutungsrahmen „als ‚Sinnhorizonte‘ von Akteuren verstanden“ werden, „die gewisse Informationen und Positionen hervorheben und andere ausblenden“.41 Bedeutungsrahmen sind kommunikative Techniken, mit denen ein Diskurs erzeugt und konkreten Interessen folgend gesteuert werden soll. Genau dieses Prinzip wird in den Predigten von Caspar Tralles und Caspar Wagner deutlich. Sie führten den versammelten Gemeindemitgliedern sowie den Lesern der Druckfassungen ihrer Predigten ihre theologisch fundierte Lesart zu den im Kirchenraum aufgestellten, aus der katholischen Konfessionskultur übernommenen Bildwerken mit Hilfe strategischer Bedeutungsrahmen vor Augen. Dieser Schritt kann, um wieder auf das dreistufige Modell von Silke Steets zurückzukommen, als Objektivierung konfessioneller Codes verstanden werden. Begründet durch ihre Amtsautorität und getragen von der diese überragenden Autorität der Heiligen Schrift sowie der Schriften der Reformatoren, die Tralles und Wagner in ihren Predigten als Argumentationsgrundlagen anführten, formulierten sie ihre Auslegungen zum bekenntnisgerechten Bildverständnis nicht als Möglichkeiten, sondern als Tatsachen. 3. Den dritten Schritt des Steets’schen Modells, die Internalisierung konfessioneller Codierungen, nachzuvollziehen, scheitert im Fall des frühneuzeitlichen Sakralraums zumeist an fehlenden Quellen. Es bräuchte Ego-Dokumente von Rezipienten der exemplarisch angeführten Kunstwerke, aus denen deutlich würde, ob und wie diese Bilder mit den jeweiligen konfessionellen Codes assoziiert wurden. Weil solche Quellen aber nicht zur Verfügung stehen, ließe sich über diesen wichtigen Punkt nur spekulieren, was ein grundsätzliches methodisches Problem für das hier skizzierte Konzept der konfessionellen Codierung darstellt: Da sich 41 J. Matthes, Framing (wie Anm. 6), S. 10. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 309 nicht nur für die angeführten Beispiele, sondern ganz allgemein für den frühneuzeitlichen Sakralraum nur selten Zeugnisse über die Wahrnehmung von Bildern finden lassen, erweisen sich jene Kommunikationsvorgänge, die der vorliegende Text als konfessionelle Codierungen beschreibt, zumeist als nicht in Gänze rekonstruierbar. Fast immer bleibt im Dunkel der Geschichte, ob und wie bestimmte Setzungen im Umgang mit Bildzeichen tatsächlich verstanden wurden. Auch das Vorhandensein von normativen Dokumenten wie den Predigten von Caspar Tralles und Caspar Wagner kann über diese Kluft nicht hinwegtäuschen, da auch deren Wirkung sich uns letztlich nicht mehr erschließt. 4. Auch wenn sich diese Diskrepanz wohl kaum auflösen lässt, so ist es doch möglich, aus dem Konzept der konfessionellen Codierungen eine andere Erkenntnis abzuleiten, nämlich dass über die Grenzen der verschiedenen Konfessionskulturen hinweg zirkulierende Zeichen die Kunstgeschichte vor eine weitere methodische Herausforderung stellen: Einer gleichbleibenden Ikonografie muss, wenn dieser ein anderer Bedeutungshorizont zugewiesen wird, für einen bestimmten Zeitpunkt letztlich auch eine differierende Ikonologie zugesprochen werden.42 Das klassische Schema von Ikonografie und Ikonologie, wie es maßgeblich von Erwin Panofsky (1892–1968) entworfen wurde, sah einen solchen Fall kaum vor, sondern verstand Ikonologie als einem Bild bei seiner Entstehung einmalig zugeordnetes Bedeutungsfeld, das die kunsthistorische Forschung zu rekonstruieren habe.43 Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman (1906–1998) hingegen hat in seinem bereits 1978 erstmals erschienenen Werk „Ways of World­ making“ gezeigt, wie künstlerische Artefakte parallele Realitäten zu erzeugen vermögen, je nachdem, mit welchem Symbolsystem man sie erklärt.44 Ernst H. Gombrich (1909–2001) hat in seiner Kritik der ikonologischen Methode darauf hingewiesen, dass Bildthemen nicht einen einzigen Sinn, sondern mehrere Bedeutungsschichten bzw. komplexe Sinnreihen aufweisen, die in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext bzw. Rezipientenwissen mehr oder weniger wirkungsvoll sein können.45 42 Esther Meier hat unlängst auf dieses Phänomen anhand der Hofkunst der Dresdner Wettiner hingewiesen. Vgl. E. Meier, Sakralkunst am Hof zu Dresden. Kontext als Prozess, Berlin 2015. 43 Vgl. E. Panofsky, Ikonographie und Ikonologie, in: E. Kaemmerling (Hg.), Bildende Kunst als Zeichensystem, Bd. 1: Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme (DTB 83), Köln 1979, S. 207–225. 44 Hier verwendet in der deutschen Übersetzung. Vgl. N. Goodman, Weisen der Welterzeugung (STW 863), Frankfurt/Main 1990. 45 Vgl. E. H. Gombrich, Ziele und Grenzen der Ikonologie, in: E. Kaemmerling (Hg.), Ikonographie (wie Anm. 43), S. 377–433. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 310 Kai Wenzel Für die Frage nach der Wirkung von Bildern im konfessionellen Diskurs ließe sich daraus ableiten, dass der Vorgang der konfessionellen Codierung identischer Bildzeichen mit differierenden Sinngehalten als ein Weg beschrieben werden kann, parallele Sinnwelten zu erzeugen. Projiziert man diese These auf die ikonografisch-ikonologische Methode, dann ist zu konstatieren, dass sich durch konfessionelle Codierungen zur Ikonografie eines Bildes parallele Ikonologien herausbilden konnten, und zwar ohne dass dafür etwas an der Substanz des Bildwerks selbst verändert werden musste. Exemplarisch lässt sich dafür nochmals der Bedeutungsrahmen anführen, den Caspar Tralles für die spätmittelalterliche Madonnenfigur im Zittauer Retabel aufgespannt hatte. Obwohl Krone und Zepter fester Bestandteil der Ikonografie dieser Skulptur sind, identifizierte der Geistliche sie nicht als jene Himmelskönigin, als die sie in der zeitgleichen katholischen Marienhymnik glorifiziert wurde. Stattdessen schrieb er der mit den Attributen einer Herrscherin ausgestatteten Figur lediglich die Rolle einer Assistentin Christi zu. Ähnlich argumentierte Caspar Wagner in Prag, der in der Szene der Verkündigung nicht mehr Maria, sondern Christus als zentralen Sinngehalt ansah. Die Ikonologie der Verkündigungsdarstellung, die der katholischen Reformbewegung zur Legitimation des Dogmas der unbefleckten Empfängnis gegen reformatorische Zweifler diente, lehnte der protestantische Geistliche ab, um dem Werk eine neue, auf den im Bild nicht dargestellten Christus konzentrierte Bedeutung zuzuordnen. An seinem alten Standort in der Prager Jesuitenkirche dürfte das Gemälde damit noch eine völlig gegensätzliche ikonologische Interpretation erfahren haben und auch Gegenstand einer anderen Frömmigkeitspraxis (Rosenkranzgebet) gewesen sein, als sie ihm kurze Zeit später im lutherischen Sakralraum zugesprochen wurde. In beiden Fällen gingen diese Bedeutungsverschiebungen aber nicht mit Veränderungen an der Ikonografie der Bildwerke selbst einher, sondern die ikonologische Aussage wurde lediglich durch den strategischen Frame eines dominanten Kommunikators verschoben bzw. – mit Nelson Goodman gesprochen – es wurde ein anderes Symbolsystem für die Deutung der Ikonografie dieser Bildwerke herangezogen. Fazit Mit Blick zurück auf das am Anfang dieses Beitrags angeführte Beispiel der Bildkomposition von Christoph Schwartz und ihre breite Rezeption in der lutherischen Konfessionskultur lässt sich, da hierfür keine derart aufschlussreichen Schriftquellen zur Verfügung stehen, zumindest hypothetisch annehmen, dass Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Zirkulierende Zeichen 311 auch dieses Bild im katholischen und lutherischen Sakralraum verschiedene, jeweils den theologischen Prämissen beider Lager entsprechende ikonologische Bedeutungen besessen haben dürfte. Für die katholische Frömmigkeit des ausgehenden 16. Jahrhunderts wird dabei nicht allein der Kreuzestod Christi die zentrale Nachricht gewesen sein, sondern gleichermaßen die Leiden Mariens unter dem Kreuz. Christoph Schwartz schilderte diese eindrücklich, in dem er Maria an prominenter Stelle im unteren rechten Bildteil zusammengesunken zeigt. Ihre Schmerzen können als emphatische Brücke verstanden werden, die die Gläubigen zur compassio über die Leiden Mariens und damit über die Leiden Christi am Kreuz führen soll. Für einen lutherischen Sakralraum hätte eine solche Deutung wohl keine Rolle gespielt, sondern sich die Nachricht des Bildes gänzlich auf den Kreuzestod Christi und die allein aus ihm erwachsende Hoffnung der Menschheit auf Erlösung konzentriert. Die zusammengesunkene Gottesmutter hätte dabei allenfalls als Erzählung aus den Evangelien eine Bedeutung besessen, vermutlich verbunden mit der Ermahnung, das Leiden Mariens ausdrücklich nicht als emotionale Brücke für den Weg zum Leiden Christi zu verstehen, sondern sich bei der Betrachtung des Bildes ganz auf den Gekreuzigten zu konzentrieren. Das Phänomen paralleler Ikonologien, wie sie sich durch das Zirkulieren von Bildern zwischen den verschiedenen Konfessionen herausbilden konnten, wird an anderer Stelle auf breiterer Objektbasis weiter zu verifizieren sein. Bereits jetzt deutet sich jedoch die für zukünftige Diskussionen um Formen und Funktionen von Bildwerken im konfessionellen Diskurs nicht unerhebliche Erkenntnis an, dass die Bedeutungsrahmen bzw. Ikonologien von Bildern im konfessionellen Zeitalter keineswegs auf die Interessen eines Lagers festgelegt gewesen sein müssen, sondern als dynamische, auf die jeweiligen Deutungshorizonte hin adaptierbare Felder zu denken sind. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Marius Winzeler Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien als Spiegel des Reformationsprozesses Oberlausitzer Kunstwerke als Kommunikationsmedien im konfessionellen Zeitalter Daß aber gleichwohl die Herren Zittauer ihr Hungertuch über die Zeit behalten, kann ihnen darum keine Eigensinnigkeit vorgerücket werden, weil sie bisher das Gemälde nur zum Gedächtnis des Stifters, oder als eine historische Kirchentafel gebrauchet, welches sie mit seinen Bildern geleh­ ret, wie ihre alten Vorfahren die heilige Passions-Zeit […] nach Anweisung der alten Kirchen […] fleißig erwogen und betrachtet haben. Und solcher maßen, als nun von denen Zittauern obsagtes Hungertuch nur als ein Lehr- und Gedächtnis-Gemälde, insbesonders für die Kinder und Unge­ lehrten bis auf unsere Zeiten behalten, und solches, wenn es aufgezogen, für kein Stück des nötigen, und verdienstlichen Gottesdienstes ausgegeben werden, so muß man sie loben, daß sie des Herrn Lutheri Sinn und Lehre nach bei solchem […] ihre freie Hand lange genug sehen lassen, zumalen sie auch damit kein Gewissen verwirret haben.1 Als der evangelische Theologe und Historiker Abraham Frenzel (1656–1740) im frühen 18. Jahrhundert in seiner bislang nicht edierten Handschrift „Historia Populi et Rituum Lusatiae Superioris“ die Tatsache beschrieb, dass in Zittau ein vorreformatisches Fastentuch über die Zeit hinaus behalten und genutzt wurde, rechtfertigte er dies, indem er das Kunstwerk – das heutige Große Zittauer Fastentuch (Abb. 1) – als ‚historische Kirchentafel‘ und reines Lehr- und Gedächtnisgemälde charakterisierte. Es war ihm aber offensichtlich bewusst, dass die Zittauer Situation eine besondere war, was umso deutlicher wird, wenn man weiß, dass zum Zeitpunkt der Abfassung des Geschichtswerkes das besagte Tuch nicht mehr in Gebrauch war (seit 1672) und Frenzel somit eine bereits vergangene, aber lokal nach wie vor präsente Situation schilderte. Auf das jüngere und kleinere, nach der Reformation entstandene und nachweislich bis 1684 in Funktion gebliebene zweite Zittauer Fastentuch ging der Autor allerdings nicht ein. 1 CWB Zittau, Mscr. A. 33 (A. Frenzel, Historia Populi et Rituum Lusatiae Superioris. Kurz gefaßte Erzählung von der Oberlausitz Einwohnern und derselben Gewonheiten mit auch von etlichen Völkern, welche nur eine Zeitlang sich darinnen aufgehalten oder durchgereiset sind [ca. 1700]), S. 962 f., 965. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 314 Marius Winzeler Tatsächlich beschrieb der gelehrte Pfarrer der Oberlausitzer Gemeinde Schönau auf dem Eigen damit einen Fall, der seinesgleichen nicht hat.2 Es gibt keinen zweiten Ort, wo wie in Zittau zwei in einem signifikanten historischen Zusammenhang im 15. und 16. Jahrhundert entstandene Fastentücher erhalten blieben, eingebettet in eine vielfältige Sakraltopografie und einen bedeutenden kirchlichen Ausstattungsbestand des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.3 Die Stadt gehörte mit dem umliegenden Zittauer Land seit dem 13. Jahrhundert zum Bistum und späteren Erzbistum Prag und zur Oberlausitz, die bis 1635 ein Nebenland der Krone Böhmen war. Während der Hussitenkriege flüchtete ein Teil des Prager Domkapitels vor den Hussiten hierher, wo bis 1476 ein Weihbischof – Johannes von Grado – seinen Sitz hatte.4 Im Verlauf des 16. Jahrhunderts erfolgten Annäherungen an die Brüderunität, die Zürcher Reformation sowie an Martin Luther (1483–1546) und Philipp Melanchthon (1497–1560), wobei sich der reformatorische Prozess vom ersten reformatorischen Predigtgottesdienst 1521 bis zur vollen Übernahme des Kirchenregiments durch den Rat 1570 rund 50 Jahre hinzog und noch in den 1560er Jahren ernsthafte Überlegungen bestanden, eine langfristige Niederlassung der Jesuiten nicht nur in dem diesem Orden übergebenen ehemaligen Cölestinerkloster auf dem nahen Berg Oybin, sondern auch im ehemaligen Franziskanerkloster in der Stadt selbst zu etablieren.5 2 3 4 5 Zu Frenzel vgl. Abrahami Frenzelii Collectaneorum Lusaticorum. Sammlung Lausitzer Sachen des Abraham Frenzel. Findbuch mit Stichwort-, Personen- und Ortsregister, ed. T. Fröde, Olbersdorf 1999. Grundlegend zur Zittauer Kirchengeschichte P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen (1300–1600). Zum Wandel religiöser Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig 2020; zu den Zittauer Fastentüchern allgemein: Tüchleinmalereien in Zittau und Riggisberg (Riggisberger Berichte 4), Riggisberg 1996; D. Damzog / V. Dudeck / G. Oettel (Hgg.), 525 Jahre Großes Zittauer Fastentuch – und wie weiter? (MZGMV 27), Zittau/Görlitz 2000; vgl. auch Die Zittauer Fastentücher (ZG 38), Zittau/Görlitz 2009; P. Knüvener (Hg.), Epitaphien, Netzwerke, Reformation. Zittau und die Oberlausitz im konfessionellen Zeitalter. Mit einem Bestandskatalog der Zittauer Epitaphien, Zittau 2018. Zum Exil des Prager Domkapitels vgl. Z. Hledíková, Das Prager Domkapitel und die Diözesanverwaltung im Zittauer Exil, in: M. Winzeler (Hg.), Jan Hus. Wege der Wahrheit. Das Erbe des böhmischen Reformators in der Oberlausitz und in Nordböhmen (ZG 52), Görlitz/ Zittau 2015, S. 63–75; zum Weih- und angeblichen Titularbischof Johann von Gardar (in Grönland) vgl. E. A. Seeliger, Der Bischof von Grönland in Zittau, in: ZG 5 (1928), S. 44. Neuerdings stellte Zdeňka Hledíková (1938–2018) jedoch fest, dass es sich dabei um eine Fehlinterpretation handelt und das Titularbistum von Grado bei Aquileia gemeint war. Vgl. Svěcení duchovenstva v církvi podjednou. Edice pramenů z let 1438–1521 / Ordinationes clericorum in ecclesia „sub una specie“. Editio fontium ad Bohemiam Moraviamque spectantium annis 1438–1521, ed. Z. Hledíkova, Praha 2014. Vgl. P. Hrachovec, Die Männerklöster in Zittau und im Zittauer Land im Jahrhundert Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien 315 Abb. 1: Großes Zittauer Fastentuch, Tüchleinmalerei auf Leinen, 1472 [Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr. 2844/510, Foto: Abegg-Stif­ tung Riggisberg, Christoph von Viràg]. Obgleich die zeitgenössische Quellenlage zu den Fastentüchern und übrigen Kunstwerken dünn und unbefriedigend ist, wie Petr Hrachovec mehrfach ausgeführt hat, sind die Objekte an sich und der unmittelbar aus dem materiellen Bestand erschließbare Befund aussagekräftig.6 Eine entsprechende Betrachtung scheint mir auch deshalb wichtig und erforderlich, da es sich sowohl im Fall beider Fastentücher als auch des quantitativ heute einzigartigen Zittauer Epitaphienbestandes um Kunstwerke handelt, die lange verloren schienen bzw. vollkommen unzugänglich waren und erst seit kurzem durch ihre komplexen Restaurierungen überhaupt wieder materiell wahrnehmbar geworden sind.7 Deshalb gehe ich im vorliegenden Beitrag hauptsächlich von den Kunstwerken selbst aus und versuche, 6 7 der Reformation, in: P. Knüvener, Epitaphien (wie Anm. 3), S. 31–44, insbesondere S. 40 ff. Vgl. Ders., Zittauer und ihre Kirchen (wie Anm. 3), passim; vor allem auch Ders., Die Zittauer Fastentücher im Licht der Kirchenrechnungen der Zittauer Pfarrkirche und Frauenkirche (um 1470–1570), in: Zittauer Fastentücher (wie Anm. 3), S. 24 ff. Dazu vor allem Tüchleinmalereien (wie Anm. 3); sowie P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 316 Marius Winzeler sie aus dem und im historischen Kontext unter den Fragestellungen der diesem Tagungsband zugrundeliegenden Konferenz zu würdigen: Inwiefern können Fastentücher und besonders das nachreformatorische Kleine Zittauer Fastentuch als Kommunikationsmedien gesehen werden? Was sagt das über ihre historische Bedeutung aus und welche Rolle spielt eine solche Perspektive für die heutige Wahrnehmung des Kunstwerkes? Großes und Kleines Fastentuch Eine wichtige lokale Voraussetzung für das Verständnis des hier besonders interessierenden Kleinen Fastentuches ist sein 101 Jahre davor geschaffener Vorgänger, das Große Zittauer Fastentuch.8 Dieses historisch als Zittauer Hungertuch bezeichnete Werk war 1472 vom sonst nicht näher bekannten Getreide- und Gewürzhändler Jakob Gürtler gestiftet worden und stellt mit seiner Größe von 8,2 mal 6,8 Metern und seinem 90 Szenen umfassenden Zyklus eines der größten und großartigsten Beispiele für den Vielfelder-Typus der in der Fastenzeit vielerorts verbreiteten vela quadragesimalia dar.9 Das in Tempera auf eine zusammengenähte monumentale Leinwand gemalte Werk wurde von einer bisher nicht weiter fassbaren Werkstatt geschaffen, die sowohl mit den gerade aufkommenden druckgrafischen Vorlagen wie Einblattholzschnitten vertraut war als auch mit monumentalen Freskenzyklen. Einflüsse aus westlicher Richtung – Niederrhein, Burgund, Niederlande – dürften für die Genese des Werkes ebenso eine Rolle gespielt haben wie Verbindungen zur alpenländischen Malerei. Im böhmischen bzw. mitteleuropäischen historischen Kontext kann dem Großen Zittauer Fastentuch jedoch bisher kein konkretes Vergleichswerk zur Seite gestellt werden. 8 9 Zum Großen Zittauer Fastentuch grundlegend M. Wolfson, Das Zittauer Fastentuch von 1472, in: Tüchleinmalerei (wie Anm. 3), S. 38–69; F. Mennekes (Hg.), Die Zittauer Bibel. Bilder und Texte zum großen Zittauer Fastentuch von 1472. Mit Fotos von Christoph von Viràg und einem Nachwort von V. Dudeck, Stuttgart 32012; E. Bünz, Ein Zeugnis spätmittelalterlicher Frömmigkeit aus der Oberlausitz. Neue Forschungen zum Großen Zittauer Fastentuch von 1472, in: NASG 72 (2001), S. 255–273. Zur Geschichte der Fastentücher allgemein vgl. R. Sörries, Die alpenländischen Fastentücher. Vergessene Zeugnisse volkstümlicher Frömmigkeit, Klagenfurt 1988; K. Krause, Material, Farbe, Bildprogramm der Fastentücher. Verhüllung des Kirchenraumes des Hoch- und Spätmittelalters, in: B. Welzel / T. Lentes / H. Schlie (Hgg.), Das „Goldene Wunder“ in der Dortmunder Petrikirche. Bildgebrauch und Bildproduktion im Mittelalter (DMF 2), Bielefeld 22004, S. 161–181. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien 317 Abb. 2: Johann Daniel de Montalegre, Prospect der Haupt Kirche zu S: Johannis, Kupferstich, 1757 [Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr. 3125,2/32241, Foto: Jürgen Matschie]. Mit hoher erzählerischer Qualität, kompositorisch und auch in den Details souverän, führt das Tuch die christliche Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht vor Augen. Jeweils 45 Bilder sind dem Alten und dem Neuen Bund bzw. Testament gewidmet, wobei verschiedene ikonografische Besonderheiten von der Eingebungskraft und Originalität der Maler zeugen und auch den hohen Anspruch des Auftraggebers verdeutlichen. Auf dem wie in der spätgotischen Buchmalerei mit Blüten dekorativ gehaltenen Rahmen fassen Medaillons mit den Evangelistensymbolen und einer Darstellung des Moses als Autorenbilder die biblische Erzählung ein; auf dem unteren Rand ließ sich der Auftraggeber zudem selber darstellen, dazu die Wappen von Zittau sowie die Jahreszahl 1472. Helmut Hegewald konnte durch seine genaue sprachhistorische Analyse der jedem Bildfeld beigegebenen Verszeilen Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 318 Marius Winzeler Abb. 3: Karl Christian Eschke, Grundriss der Johanniskirche Zittau vor 1757, Kupferstich, um 1800 [Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr. 175/32241, Repro: Städtische Museen Zittau]. nachweisen, dass das Werk in der näheren Umgebung Zittaus entstanden sein muss und kein Import war.10 Bestimmungsort des Tuches war die Zittauer Hauptkirche St. Johannis, gleichzeitig auch die Kirche der Zittauer Johanniterkomturei, wobei der Prior des Böhmischen Priorats mit Sitz in Strakonitz/Strakonice das Patronat innehatte.11 (Abb. 2) Die Kirche war im Verlauf des 15. Jahrhunderts von einer dreischiffigen zu einer vierschiffigen Halle ausgebaut worden, wobei um 1480 diese Erweiterung vollendet wurde, sich weitere Bauarbeiten aber ins 16. Jahrhundert hinzogen.12 (Abb. 3) 10 Vgl. H. Hegewald, Die Inschriften auf dem Zittauer Hungertuch von 1472. Eine sprachhistorische Analyse, unpubl. Typoskript, Zittau 2015. 11 Vgl. P. Hrachovec, Männerklöster 2018 (wie Anm. 5), S. 31, 35–38. 12 Zu St. Johannis Zittau zusammenfassend G. Grosse (Hg.), Sankt Johannis Zittau. Kirchen, Kulturstätte, Baudenkmal. Eine kulturhistorische Dokumentation über die Johanniskirche von den Anfängen bis zur Gegenwart, Zittau 2016; darin für unseren Zusammenhang P. Hrachovec, Ausgewählte Aspekte aus der Geschichte der Johanniskirche in Spätmittelalter und Frühneuzeit, S. 9–30; H. Hegewald, Inschriften der alten Johanniskirche, S. 36–46; M. Winzeler, Die Fastentücher und andere Ausstattungsstücke aus der alten Johanniskirche. Gerettete und untergegangene Kunstwerke aus fünf Jahrhunderten, S. 47–59. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien 319 Jeweils zwischen Aschermittwoch und Karfreitag schirmte die monumentale textile Bilderwand den Chorraum von den Blicken der Laien im Langhaus ab: Sie hing im von Westen vierten Joch, nahm das gesamte Mittelschiff ein und verdeckte so das Geschehen am Hochaltar, um symbolisch das Fastengebot zum Ausdruck zu bringen. Mit der Verhüllung des gesamten Presbyteriums erhielt dieser Raumbereich gleichzeitig eine Betonung: Der Vorgang der Verhüllung veränderte den Raum und akzentuierte dessen sakrale Aufladung. Diesen theatralischen Effekt lehnten die Reformatoren ab, was zum Verlust der meisten Fastentücher führte. In Zittau allerdings überdauerte der Brauch, wie bereits gesagt, die Reformation und erfuhr sogar noch eine Steigerung, als ab Mitte des Jahrhunderts die Ausstattung der Kirche erneuert und in diesem Zusammenhang ein zweites Fastentuch geschaffen wurde, das fortan mit dem bereits vorhandenen gemeinsam in der Fastenzeit zum Einsatz kam – im Unterschied zum Großen Tuch nicht als Raumteiler, sondern als Verhüllung des damals eben neu geschaffenen Altars, der ein älteres Hochaltarretabel ersetzte, das 1489 – mithin 17 Jahre nach Entstehung des Großen Fastentuches – aufgestellt worden war. Mit der allmählichen Übernahme der Reformation ging eine umfassende Neugestaltung der Kirche einher. So erfolgte um 1550/60 eine Neuausmalung des wahrscheinlich reich figurierten spätgotischen Gewölbes und der Wände durch zwei aus Pirna nach Zittau gekommene Maler, Jakob Flechtener und Jobst Dorndorf mit seinem Sohn. Sie hatten zuvor die Deckenbilder der Pirnaer Marienkirche geschaffen, in deren Art man sich also auch die offenbar reiche Ausmalung in Zittau vorstellen darf.13 1557 malte Flechtener in der Johanniskirche einen (böhmischen?) Löwen, einen Delphin und Lilien, 1559 zudem das Stadtzeichen Z. 1563 ist überliefert, dass Dorndorf die Apostel, Salvator, ein großes Kruzifix, Pilatus mit Christus und eine Rose in der Kirche malte. 1564 war es wiederum Flechtener, der den Chor mit zahlreichen Wappen versah und zudem für Darstellungen der alttestamentlichen Geschichte von Elkana und seinen Söhnen, des heiligen Christophorus, eines Löwen und des Stadtzeichens Z bezahlt wurde. Gleichzeitig wurde auch die übrige Ausstattung erneuert, wobei die zeitliche Abfolge durchaus in Bezug auf die zunächst praktische und dann symbolische Relevanz des entsprechenden Mobiliars bzw. der Bilder zu sehen ist.14 Es erstaunt daher 13 Vgl. M. Kern, Tugend versus Gnade. Protestantische Bildprogramme in Nürnberg, Pirna, Regensburg und Ulm (BSK 16), Berlin 2002; Dies., Gesetz und Gnade – die reformatorische Predigt in den Deckenmalereien der Marienkirche, in: A. Sturm (Hg.), Die Stadtkirche St. Marien zu Pirna, Pirna 2005, S. 47–55. 14 Vgl. K. Wenzel, Transformationen sakraler Räume im Zeitalter der Reformation. Programmatische Ausstattungsstücke in den Stadtkirchen der Oberlausitz, in: L. Bobková / J. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 320 Marius Winzeler nicht, dass wie andernorts zuerst eine neue Kanzel entstand – in Zittau 1558 ein Werk des in Breslau geborenen und in Dresden ansässigen Bildhauers Christoph Walter II (1534–1584), der hier mit dem Steinmetz Hans Schorl zusammenarbeitete. 1560 folgte ein neuer zinnerner Taufstein, ein Gemeinschaftswerk des Bildhauers Jakob Felsch mit dem Zinngießer Paul Weise und dem Maler Jakob Flechtener. Dazu gehörten auch ein neuer Deckel und ein Gitter, wofür man offenbar den Lettner der Franziskanerkirche umgearbeitet hatte. 1566 wurde schließlich ein großer Renaissancealtar aufgestellt, ein 1572 vollendetes Werk des Bildschnitzers Jakob Felsch und des Malers Adam aus Jungbunzlau/Mladá Boleslav, das man sich nach erhaltenen Beschreibungen als Retabel mit einem viergeschossigen Mittelteil und zwei Flügeln vorstellen kann, dessen Bildprogramm die christliche Heilsgeschichte zusammenfasste: Außen auf den Flügeln war in etlichen Bildern die Passionsgeschichte dargestellt. Geöffnet zeigte der Mittelschrein unten das Abendmahl, darüber Kreuzigung, seitlich die Opferung Isaaks und die Aufrichtung der ehernen Schlange, im Auszug Auferstehung und Himmelfahrt Christi. Figuren der vier Evangelisten fassten den Schrein zusammen, der zudem die Wappen der damaligen Kirchenvorsteher aufwies sowie acht deutsche und lateinische Bibelverse, dabei an zentraler Stelle das auf Christus bezogene Wort Johannis: Ego sum Via, Veritas & Vita ( Joh 14, 6).15 Zur Verhüllung dieses Retabels diente das besagte, 1573 datierte zweite, sog. Kleine Fastentuch (4,3 m Höhe und 3,5 m Breite): (Abb. 4) Inngleichen ward in der Fasten vor das Altar ein Tuch aufgehänget […]. Dieses Tuch ist a[nn]o. 1573. Gemacht / und nachdem es a[nn]o. 1684. zu letzt gehangen, abgeschafft worden.16 Das kleinere Format des neuen Fastentuches bedingte eine andere bildliche Darstellungsart, als es beim Großen der Fall ist: In einem Rahmen mit den Arma Christi (den Instrumenta Passionis, den Marterwerkzeugen), Inschriften und der Datierung 1573 prangt ein einzelnes Bild, die monumentale Darstellung des Gekreuzigten.17 Dabei ist das Kreuz seitlich im Bild platziert. Ein Engel fängt das Konvičná (Hgg.), Náboženský život a církevní poměry v zemích Koruny české ve 14.–17. století [Religiöses Leben und kirchliche Verhältnisse in den Ländern der böhmischen Krone im 14.–17. Jahrhundert] (KZ 4), Praha 2009, S. 332–354. 15 J. B. Carpzov, Analecta Fastorum Zittaviensium […] Tle. I–V, Zittau 1716, hier T. I, S. 57; vgl. auch C. Gurlitt, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, H. 30: Zittau (Stadt), Dresden 1907, S. 5. 16 J. B. Carpzov, Analecta I (wie Anm. 15), S. 65. 17 Zum Kleinen Zittauer Fastentuch vgl. M. Wolfson, Das Zittauer Fastentuch von 1573, in: Tüchleinmalerei (wie Anm. 3), S. 100–106; V. Dudeck, Das Kleine Zittauer Fastentuch von 1573, in: L.-A. Dannenberg / M. Herrmann / A. Klaffenböck (Hgg.), Böhmen – Oberlausitz – Tschechien. Aspekte einer Nachbarschaft (NLM Beiheft 4), Görlitz/Zittau Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien 321 Abb. 4: Kleines Zittauer Fastentuch, Tüchleinmalerei auf Leinen, 1573 [Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr. 2834/510, Foto: Abegg-Stif­ tung Riggisberg, Christoph von Viràg]. Blut auf und umschwebt Jesus. Darüber öffnet sich der Himmel und Gottvater erscheint in einer Lichtglorie, getragen von Engeln, mit ausgebreiteten Armen, um den Sohn aufzunehmen – ein Motiv, das auf Michelangelos (1475–1564) Ausmalung der Sixtinischen Kapelle zurückgeht. Der Spannungsbogen vom Schädel als Symbol Adams in der linken unteren Ecke über den Gekreuzigten zu Gottvater fasst das Heilsgeschehen und Erlösungswerk zusammen. Am Fuß des Kreuzes kniet Maria Magdalena, während rechts vom Kreuz Johannes der Evangelist mit erhobenen Armen die Mitte der Komposition bildet, begleitet von der trauernden Muttergottes, die die Arme ausbreitet, um Johannes an Sohnes statt zu sich zu nehmen. Die erzählende Gestik illustriert die letzten Worte Jesu nach der Überlieferung des Johannes, womit das Bild eine Wortdarstellung geworden ist. Der bisher namentlich nicht fassbare Künstler, der wohl unter den Malern zu suchen ist, die im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die Neuausstattung der Kirche realisierten – Jakob Flechtener, Jobst Dorndorf, Meister Adam, Heinrich Bocksberger (ca. 1543–1600) –, griff für die ungewöhnliche Darstellung auf eine 2006, S. 109–118; V. Dudeck / M. Winzeler, Das Kleine Zittauer Fastentuch, in: Zittauer Fastentücher (wie Anm. 3), S. 18–23. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 322 Marius Winzeler Abb. 5: Hieronymus Cock, Kreuzigung Christi, Kupferstich nach einer Zeichnung von Lambert Lombard, Vorlage für das Kleine Zittauer Fastentuch, Antwerpen 1563 [Rijksmuseum Amsterdam, Inv.-Nr. RP-P-2000-6, Foto: Rijskmuseum Amsterdam]. Komposition des wallonischen Künstlers Lambert Lombard (1505/06–1566) zurück, die durch einen Kupferstich des Antwerpeners Hieronymus Cock (ca. 1510–1570) von 1563 vermittelt wurde.18 (Abb. 5) Der besondere Sinn dieser Darstellung erschließt sich, wenn man das Programm des vom Tuch verdeckten Altars dazu in Beziehung setzt: Während dort in mehreren Darstellungen die Heilsgeschichte erzählt wird, die in Auferstehung und Himmelfahrt kulminiert, konzentriert sich das Geschehen auf dem Mittelbild des Tuches auf ein einziges Ereignis: den Moment, in dem Christus stirbt. Alles Narrative ist auf die Marterwerkzeuge auf dem Rahmen reduziert, anhand derer das ganze Geschehen meditiert werden konnte. So forderte das Bildprogramm des Tuches die Gläubigen auf zum Innehalten und Nachdenken über Tod und Opfer 18 Vgl. G. Denhaene, Lambert Lombard. Renaissance et humanisme à Liège, Antwerpen 1990, S. 21, 100, 315, Nr. 31; I. Lecocq, Lambert Lombard et le voile de Carême de Zittau de 1573, in: RBAHA 68 (1999), S. 171–175; Dies., Un dessin de la Crucifixion attribué à Lambert Lombard et le vitrail de la Crucifixion de la cathédrale Saint Paul à Liège, in: H. Verougstraete / J. Couvert (Hgg.) / R. Van Schoute / A. Dubois (Mitarb.), La peinture ancienne et ses procédés. Copies, répliques, pastiches (Le dessin sous-jacent et la technologie dans la peinture. Colloque 15), Leuven/Paris/Dudley 2006, S. 258–265. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien 323 Christi. Und dabei wurden sie in besonderer Weise an den Schutzpatron ihrer Kirche erinnert, Johannes den Evangelisten, aus dessen biblischer Überlieferung die Bildszenerie entwickelt wurde.19 Entsprechend stammen auch die Inschriften auf den Schrifttafeln unten aus dem Johannesevangelium. Sie bezeichnen und kommentieren den Bildinhalt wie bei einem Emblem, wobei sie überraschenderweise wie schon am Altar in lateinischer Sprache gehalten sind: IOAN: II / ECCE AGNVS DEI ECCE QUI TOLLIT PECCATA MVNDI. (Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt – Johannes 1, 29) SIC DEVS DILEXIT MVNDVM, VT FILIVM SVVM VNIGENITVM / DARET VT OMNIS QUI CRE­ DIT IN EVM NON PEREAT SED HA-, / BEAT VITAM AETERNAM. IOAN: II. (Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben – Johannes 3, 16). Bild und Wort Da schon die erwähnte flämische Kupferstichvorlage für das Kleine Zittauer Fastentuch die gleichen Inschriften aufweist, scheint sich die Frage zu erübrigen, weshalb man 1573 für ein Fastentuch zur Verhüllung eines dezidiert evangelischen Altars lateinische Bibelworte verwendete. Man hätte sie, wenn sie denn Auftraggebern und Betrachtern unpassend erschienen wären, problemlos ins Deutsche übersetzen können, was allerdings nicht erfolgte. Man könnte anfügen, dass die Liturgie in Zittau bis ins späte 17. Jahrhundert in lateinischer Sprache gehalten wurde und diese Einsetzungsworte des Abendmahls deshalb selbstverständlich auch von jenen Gottesdienstteilnehmern verstanden wurden, die sonst des Lateinischen nicht mächtig waren. Trotzdem aber befriedigen diese Aussagen nicht vollends, weshalb hier ein etwas weiterer Blick auf den Kontext vom Gebrauch von Bild und Wort bei den Zittauer Fastentüchern und anderen Ausstattungsstücken gerichtet sei. Dabei ist zunächst nochmals hervorzuheben, dass auf dem Großen Fastentuch jedes der 90 Bilder von einem erläuternden Vers in deutscher Sprache begleitet 19 Die Zittauer Johanniskirche war ursprünglich sowohl Johannes dem Täufer als auch Johannes dem Evangelisten geweiht; im Verlauf des späten Mittelalters rückte jedoch Johannes der Evangelist zusehends in den Vordergrund, was sich noch an der bildlichen Ausgestaltung der heutigen Kirche Karl Friedrich Schinkels (1781–1841) äußert. Vgl. M. Winzeler, Mit so ge­ fälliger Bereitwilligkeit und dem völligen Vertrauen auf meinen Entwurf … durchgeführt. Zwei unbekannte Originalzeichnungen Karl Friedrich Schinkels für die Zittauer Johanniskirche, in: Macht und Ohnmacht. 250 Jahrestag der Zerstörung Zittaus am 23. Juli 1757 (ZG 34), Zittau/Görlitz 2007, S. 39 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 324 Marius Winzeler wird, woraus sich als Ganzes ein großes, bisher anderweitig nicht bekanntes Gedicht ergibt, das in seiner literarischen Form sehr eingängig die christliche Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht zusammenfasst. Die in schwarzen gotischen Minuskeln auf hellem Grund gemalten Buchstaben sind dabei auch aus der Ferne und auch bei reduziertem Raumlicht deutlich lesbar und waren so den des Lesens mächtigen Betrachtern zweifellos ebenso leicht zugänglich wie die bei aller künstlerischen Qualität geschickt auf das Wesentliche reduzierten und klug komponierten Bilder mit ihren gut erkennbaren wiederkehrenden Gestalten. Die didaktische und volkstümliche Funktion des Tuches als Bilderbibel wird durch die entsprechende Form akzentuiert. Dass das hier in Volkssprache realisierte Prinzip der vermittelnden und auslegenden Verbindung von Bild und Wort in Zittau offensichtlich gute Resonanz gefunden hat, populär war, zeigt sich nicht nur im Umstand der einzigartigen longue durée, die den Gebrauch des Werkes auszeichnet, sondern auch in den Nachfolgewerken. Dabei ist insbesondere an die 1561/62 vom Tischler und Schnitzer Bernd Schneider und dem schon genannten Maler Jobst Dorndorf im Auftrag des Stadtrichters Johann Rodochs († 1566) gelieferte Tafel mit Darstellungen der Zehn Gebote zu erinnern, die zwischen den Beichtstühlen im Chor der Kirche hing und schon 1686 entfernt wurde, aber wenigstens in ihrer Inschrift überliefert ist: In Ergänzung zu den bildlichen Darstellungen der Zehn Gebote, die man sich vielleicht wie auf der bekannten Tafel Lucas Cranachs d. Ä. (1472–1553) in der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg vorstellen darf, wurde in deutscher Sprache antithetisch jedem Gebot sein Gegenteil gegenübergestellt – eine recht sarkastische Form, die aber ihre Wirkung nicht verfehlt haben dürfte und sicherlich wesentlich dazu beitrug, die richtigen Gebote eingängig zu vermitteln.20 Ähnliches bezweckte man zweifellos auch mit dem nunmehr sogar lateinisch-deutschen Kommentar auf der 1586 datierten und leider ebenfalls verlorenen Bildtafel der Klugen und Törichten Jungfrauen, die bis 1757 erhalten blieb und mehrfach dokumentiert wurde.21 Schließlich sei auch auf die 42 Epitaphien der Johanniskirche verwiesen, die zwar gleichfalls verloren, jedoch in ihren Inschriften überliefert sind – wie bei diesem Bildtypus mit Bibelzitaten und biografischen Angaben, meist in deutscher Sprache.22 Sie waren an Pfeilern, an den Emporen und Wänden angebracht und 20 Vgl. die komplette Transkription nach CWB Zittau, Mscr. A 91 (C. Doering, Dies Caniculares) bei H. Hegewald, Inschriften (wie Anm. 12), S. 44. 21 Vgl. CWB Zittau, Mscr. A 91 (C. Doering, Dies Caniculares), S. 39; J. B. Carpzov I (wie Anm. 15), S. 67; H. Hegewald, Inschriften (wie Anm. 12), S. 45. 22 Helmut Hegewald unterzog sich der Mühe, alle in den handschriftlichen und gedruckten Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien 325 Abb. 6: Epitaph für Matthias Schemisch, ehemals in der Frauenkirche Zittau, 1586 [Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr. 7580/54, Foto: Jürgen Matschie]. oftmals von beträchtlicher Größe. Da es sich hauptsächlich um Denkmäler für Vertreter der bürgerlichen Elite – des Rates, wichtiger Geschlechter – handelte, dürften sie mindestens so prächtig gestaltet gewesen sein wie die herausragenden und größten Beispiele der rund 70 erhaltenen Epitaphien aus der Frauen-, Kreuz- und Klosterkirche.23 Das älteste Epitaph in St. Johannis war um oder kurz nach 1520 entstanden, die meisten stammten aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert, während die letzten im frühen 18. Jahrhundert eingebracht wurden (um 1706/1711). Als deutlicher Reflex auf die Wirkmächtigkeit des Großen Fastentuchs und somit als ein Beleg für dessen langanhaltende Popularität ist hier das 1586 datierte Epitaph für den Kürschner Matthias Schemisch zu nennen, in dessen Quellen nachweisbaren Epitaphien in St. Johannis zu dokumentieren und ihre Inschriften vergleichend zusammenzustellen. Vgl. H. Hegewald, Zittaus untergegangener Schatz. Anmerkungen zur Geschichte der Zittauer Epitaphien, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 249–263. 23 Vgl. M. Winzeler, Der Zittauer Epitaphienschatz und seine Rettung, in: U. Koch / K. Wenzel (Hgg.), Unsterblicher Ruhm: Das Epitaph des Gregorius Mättig und die Kunst des 17. Jahrhunderts in der Oberlausitz (Memoria Maettigiana 1), Görlitz/Zittau 2013, S. 183–202; P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 326 Marius Winzeler unterem Teil sechs der sieben Werke der Barmherzigkeit szenisch wiedergegeben sind, in quadratischen Feldern und jeweils mit einer erläuternden Inschrift versehen, formal genau wie auf dem Tuch von 1472 gelöst.24 (Abb. 6) Den Zittauer Fastentüchern, Bekenntnis- und Gleichnistafeln sowie Epitaphien ist gemein, dass auf ihnen Bild und Wort gleichermaßen wichtig sind, wodurch ihnen eine herausragende Rolle in der Vermittlung von Inhalten der Glaubenslehre zukommt – ein didaktischer Aspekt, der ebenso als Ausdruck humanistischer Bildung wie reformatorischer bzw. vorreformatorischer Gesinnung erkannt werden kann. Schon das deutlich vorreformatorische Große Fastentuch hat – wie schon Abraham Frenzel im frühen 18. Jahrhundert zu Recht hervorhob – Lehrcharakter, wobei die hier angewandte Didaktik Bibelexegese, Elemente der Devotio moderna und der franziskanischen Theologie vereint; Letztere in der obersten Bildreihe mit der kompositorisch besonders starken, auch auf weite Distanz gut lesbaren Wiedergabe der Schöpfungsgeschichte. Für eine bewusste Volkstümlichkeit der Darstellungen schreckte man auch vor kalkulierter Kirchenkritik nicht zurück, so in der Szene der Versuchung Christi in der Wüste, wo der Teufel in Gestalt eines Bettelmönches mit Rosenkranz dem Heiland entgegentritt (Bild VII /7). (Abb. 7) Man ist versucht, darin ein Dokument dezidiert vorreformatorischen Charakters zu sehen, wie das schon 1894 Franz Krohn25 und nach ihm 1988 Reiner Sörries hervorhoben,26 wobei Letzterer unter anderem daraus allgemein schloss, „daß die Fastentücher nicht nur ‚zufällig‘ reformatorischen Geist besitzen, sondern daß sie selbst mit dazu beigetragen haben, den Boden für die Erneuerung der Kirche vorzubereiten“.27 Um aber auf die Frage zurückzukommen, weshalb gerade bei den der Erneuerung des späten 16. Jahrhunderts entstammenden Ausstattungsstücken mehrfach und offensichtlich sogar mit einer besonderen Vorliebe lateinische Bibelzitate zur Anwendung kamen, so sehe ich dies im Einklang mit einer gewissen Entwicklung im Zittauer Reformationsprozess, in der die gut ausgebildete, zum Teil studierte und humanistisch orientierte städtische Elite eine wesentliche Rolle spielte. Nachdem anfangs die Impulse hauptsächlich von geistlicher Seite kamen und zwar von Laurentius Heidenreich (ca. 1484/85–1557), der Martin Luther in 24 Vgl. P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 391 ff., Nr. 4. 25 Mit Bezug auf ein aus dem Jahr 1852 stammendes Zitat von Heinrich Wilhelm Schulz (1808–1855), dem damaligen Vorsitzenden des Sächsischen Altertumsvereins. Vgl. F. Krohn, Das Hungertuch im städtischen Museum zu Zittau (Mitteilung der Gesellschaft für Geschichte Zittaus), Zittau 1894, S. 8. 26 Vgl. R. Sörries, Alpenländische Fastentücher (wie Anm. 9), S. 353 f. 27 Ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien 327 Abb. 7: Großes Zittauer Fastentuch, Bild VII/7: Versuchung Christi, Tüchleinmalerei auf Leinen, 1472 [Städ­ tische Museen Zittau, Inv.-Nr. 2844/510, Foto: Abegg-Stiftung Riggisberg, Christoph von Viràg]. Wittenberg und wahrscheinlich auch während dessen Leipziger Disputationen mit Johann Mayr von Eck (1486–1543) im Sommer 1519 gehört hatte, spielten nach 1533 vor allem von Philipp Melanchthon nach Zittau vermittelte Gelehrte eine wegweisende Rolle im Politik- und Geistesleben der Stadt: Konrad Nesen (1496–1560), Nicklaus Dornspach (1516–1580), Andreas Mascus und Martin Tektander (1506–1579). Dabei formten Bildung, Wohlstand und Macht eine Elite, deren Mitglieder auch als Auftraggeber von Kunstwerken eine nicht zu unterschätzende Bedeutung einnahmen.28 Für das ambitionierte Projekt des neuen Altars in der Johanniskirche samt des für ihn geschaffenen Fastentuches dürfte in diesem Zusammenhang durchaus entscheidend gewesen sein, dass es dieser humanistisch-protestantisch ausgerichteten Elite zwischen 1566 und 1570 gelang, die Patronatsrechte und -pflichten und damit das Kirchenregiment vollumfassend von den Johannitern zu erwerben und damit weltliche sowie kirchliche Macht zu vereinen. Der Rat übte fortan die 28 Zur Reformationsgeschichte Zittaus vgl. C. Stempel, Die Reformationszeit in Zittau, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 25–30; vor allem aber P. Hrachovec, Zittauer und ihre Kirchen (wie Anm. 3), S. 317–337. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 328 Marius Winzeler Abb. 8: Frauenkirche Zittau, Inneres mit Altar und Epitaphien des 17. Jahrhunderts, anonyme Fotografie um 1890 [Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr. 34 SG 32244, Foto: Städtische Museen Zittau]. Patronatsherrschaft aus, weshalb seine Mitglieder nun auch anstelle der Johanniter in deren hervorgehobenem Gestühl im Chorraum der Kirche ihren Platz einnehmen durften. In der Fastenzeit saßen sie nun allerdings hinter dem großen Hungertuch. Nachdem der neue Altar zweifellos als vornehmstes Zeichen der neuen Kirchenherrschaft vollendet war, könnte dies ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass zu seiner Verhüllung ein zweites Tuch in Auftrag gegeben wurde: Die städtische Elite im Chorraum verfügte damit über einen eigenen und exklusiven Anteil an der bedeutungsvollen theatralischen Verhüllung des Sakralraumes. Entsprechend ist auch die selbstverständliche Anwendung der lateinischen Sprache durchaus konsequent als Ausdruck eines bildungsorientierten innovativ-elitären bürgerlichen Selbstverständnisses zu werten und keineswegs als Reminiszenz an die vorreformatorische Zeit. Ein Beispiel, das auch für die unmittelbare Folgezeit belegt, wie intensiv man sich damals in Zittau mit Fragen der Wirkmächtigkeit von Bildern und einer entsprechenden Korrektur, Rechtfertigung bzw. Kommentierung durch das Wort – und dies erneut in lateinischer Sprache – auseinandergesetzt hat, ist der Altar der Frauenkirche, dem ältesten Gotteshaus der Stadt, das im Lauf des 16. Jahrhunderts baulich verkleinert zum Erinnerungsort und zur Begräbniskapelle umgestaltet Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien 329 Abb. 9: Madonna im Strahlenkranz, um 1510–1520, Schrein des Altars in der Frauenkirche Zittau von Lorenz Hertwig, 1617 [Foto: Jürgen Matschie]. worden ist.29 (Abb. 8) Anlässlich der Neugestaltung des Innenraumes mit Emporen, die auch Raum boten für eine schon fast überreiche Fülle von Epitaphien, wurde eine spätgotische Schreinmadonna aus der Johanniskirche in ein neues Flügelretabel integriert, dessen Ikonographie ganz auf die vorreformatorische Darstellung ausgerichtet ist, wobei das Programm in der mit großen Majuskeln verfassten Inschrift MARIA HONORANDA, NON ADORANDA seinen Schlüssel findet.30 (Abb. 9) 29 Vgl. P. Hrachovec, Slavnostní vysvěcení interiéru kostela Panny Marie v Žitavě 8. září 1619. Příspěvek k poznání raně novověkého luteránského sakrálního prostoru v zemích Koruny české [Die feierliche Weihe der Ausstattung der Frauenkirche in Zittau am 8. September 1619. Ein Beitrag zur Kenntnis des frühneuzeitlichen lutherischen Sakralraumes in den Ländern der Böhmischen Krone], in: Fontes Nissae 11 (2010), S. 11–46. 30 Vgl. K. Zinnow, Maria in der Kunst der Reformationszeit in Schlesien und der Oberlausitz, in: M. Winzeler (Hg.), Lausitzer Madonnen zwischen Mystik und Reformation (Z G 36), Zittau/Görlitz 2008, S. 30–33; P. Knüvener, Was bleibt? Was kann weg? Die Umwandlung mittelalterlicher Kirchenausstattungen nach Einführung der Reformation in Brandenburg und in den Lausitzen, in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.), Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (SBVL 20), Berlin 2017, S. 362–389, hier S. 377–383. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 330 Marius Winzeler Der Verzicht auf Fastentücher und Wandlungen im Bildverständnis Wie eingangs zitiert, hat Abraham Frenzel um 1700 nach Abschaffung der Fastentücher in Zittau deren Gebrauch durchaus legitimiert und retrospektiv hervorgehoben, dass die Zittauer ihre Fastentücher auch nach der Reformation benutzten. Ihm war aber offensichtlich das Verdikt Martin Luthers bekannt, der 1526 in seiner Schrift „Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes“ gegen den Fortgebrauch von Fastentüchern und ähnlichem ‚päpstischen Gaukelwerk‘ gewettert hatte: Die fasten, palmtag und marterwochen lassen wyr bleiben, nicht das wyr yemand zu fasten zwin­ gen, sondern das die passion und die Euangelia, so auff die selbige zeyt geordenet sind, bleyben sollen; doch nicht also, das man das hunger tuch, palmen schiessen, bilde decken und was des gau­ ckel wercks mehr ist, halten odder vier passion singen odder acht stunden am karfreytag an der passion zu predigen haben.31 1530 hatte er zwar in der „Vermahnung an die Geistlichkeit, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg“ seine Meinung zu den während der Quadragesima in den Kirchen benutzten Gegenständen wie folgt relativiert: In der Fasten. […], Hungertuch, Bilder verhüllen […]. Wohl ist’s wahr, dass unter obgezehlten Stücken etliche sind, die nicht zu verwerfen sind, und derselben etliche sind gefallen, die ich nicht wollt, dass sie gefallen wären, können aber leichtlich wieder aufkommen […]. Und dass ich kurz meine Meinung sage, so ist das die Summa davon: Wenn man hätte solche Stücke lassen bleiben ein Kinderspiel vor die Jugend und junge Schüler, damit sie hätten ein kindlich Bilde gehabt Christli­ cher Lehre und Lebens, wie man doch muss Kindern […] Puppen, Pferde, und ander Kinderwerk fürgeben, […] so wäre es wohl zu leiden, dass man Palmesel, Himmelfahrt und dergleichen viel ließe gehen, und geschehen; denn da wäre kein Gewissen damit verwirret.32 Im protestantischen Umfeld blieben Fastentücher jedoch fortan die Ausnahme – außer dem Zittauer Beispiel ist bislang nur als reformatorischer Sonderfall belegt, dass 1629 der evangelische Adlige Hans Khevenhüller († 1632) für die katholische 31 M. Luther, Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts. 1526, in: WA, Bd. 19, Weimar 1897, S. 44–113, hier S. 112. 32 SLUB Dresden, Mscr. Dresd. A 155 (Einige Schriften Luthers 1528–1540), hier: M. Luther, Vermanung an die Geistlichen versamlet auff dem Reichstage zu Augsburg Anno 1530, fol. 1r–40r, hier fol. 37r, 38v: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/156496/9/0/ (letzter Zugriff am 16.2.2020). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien 331 Pfarrkirche St. Georgen in Sternberg/Kärnten ein heute noch dort in Gebrauch befindliches Fastentuch stiftete.33 In Zittau schien der kirchlichen Obrigkeit gegen 1670 ein weiterer Gebrauch des Großen und bald darauf 1684 auch des Kleinen Fastentuches suspekt, wenngleich offensichtlich der Brauch in der Bürgerschaft weiterhin beliebt war. Deshalb griff man zu einer Notlüge und erklärte den Zustand des Großen Fastentuches als ungenügend und gefährlich. Der Zittauer Gymnasialrektor und bedeutende Autor Christian Weise (1642–1708) formulierte es 1672 so: So ist das Hunger=­ Tuch zurissen, Und hat die Zeit, so alles frisst, Auch diese Leimbt entzwey gebissen Daß sie nun voller Löcher ist Und dass man sie so hoch hinan Nicht ohne Schaden hengen kan.34 1716 übernahm der Historiker Johann Benedikt Carpzov (1675– 1739) diese Erklärung: Nachdem es 200. Jahr gehangen hatte, wurde es anno 1672. gar abgeschafft, weil es von dem Staube ziemlich verderbet und mürbe worden, daß zu befürchten war, es möchte einmahl unter dem Gottesdienste herabreißen, und durch seinen Fall Schaden und Lermen in der Kirchen anrichten.35 War auch das beschriebene Schadensbild tatsächlich mehr Dichtung als Wahrheit, wie der Befund im 19. und 20. Jahrhundert vor 1945 erwies – bis 1945 war das Tuch in ausgezeichnetem materiellen Zustand –, so ist doch gesichert, dass seither weder das hier gemeinte heutige Große, noch das Kleine Zittauer Fastentuch ihrer ursprünglichen Bestimmung gemäß in der Fastenzeit aufgehängt wurden. Sie waren seither nur noch bestaunte Zeugnisse besonderen Brauchtums, dem sich neben Abraham Frenzel, Christian Weise und Johann Benedikt Carpzov auch Reisende wie der 1741 in Zittau weilende Orgelbauer Johann Andreas Silbermann (1712–1783) zuwandten.36 Auf Carpzov geht der entsprechende Eintrag unter dem Begriff Hunger=Tuch in Johann Heinrich Zedlers (1706–1751) Universal-Lexicon zurück.37 Physisch verblieben beide Tücher bis ins 19. bzw. sogar bis ins 20. Jahrhundert aufgerollt auf lange Holzstangen im feuersicheren Gewölbe der Ratsbibliothek 33 Vgl. R. Sörries, Alpenländische Fastentücher (wie Anm. 9), S. 17, 104–107, Nr. 17. 34 Ein Autograf Christian Weises mit diesem, weitere Strophen umfassenden Gedicht ist nicht erhalten. Der Text ist überliefert in: CWB Zittau, Mscr. A 240 (C. Doering, Geschichte der Kirche zu St. Johannes), woher ihn J. B. Carpzov, Analecta I (wie Anm. 15), S. 65, übernahm. 35 Ebd. 36 Vgl. SLUB Dresden, Mscr. Dresd. App. 3091 ( J. A. Silbermann, Anmerckungen derer Auf meiner Sächsischen Reysse gesehenen Merckwürdigkeiten Wie ich solche an unterschiedenen Orten meist nur kürtzlich aufgeschrieben), fol. 49r–50r Digitalisat: digital.slub-dresden.de/ id425468852, letzter Zugriff am 16.2.2020). 37 J. H. Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon […], Bd. 13, Leipzig/Halle 1739, Sp. 1233. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 332 Marius Winzeler im ehemaligen Franziskanerkloster. Sie wurden somit vom kirchlichen Ausstattungsstück nahtlos Altertümer und Sammlungsgegenstände. Dies gilt ähnlich für weitere Ausstattungsstücke der Zittauer Kirchen wie den quantitativ mit ehemals 173 Stück herausragenden Epitaphienbestand. Bei allen diesen genannten Werken, die einen wichtigen Platz im öffentlichen Raum der frühneuzeitlichen Stadt einnahmen, ist in unserem Zusammenhang das Faktum bemerkenswert, dass es sich um Glaubenszeugnisse mit Bekenntnischarakter handelt, in welchen Bild und Text sich stets ergänzen und gegenseitig bedingen. Stand bei den Epitaphien das individuelle Zeugnis mit Bezug zur sozialen Gemeinschaft im Sinne einer Vorbildwirkung und zur Erinnerung im Vordergrund ihrer Entstehung, war es bei den Fastentüchern verstärkt der kollektive Aspekt von Belehrung, Unterrichtung, ja auch Unterhaltung. Zittau stellt mit seiner ganz eigenen und komplexen Reformationsgeschichte und dem einzigartig reichen Bestand an überlieferten Werken und Schriftquellen ein herausragendes Mikrosystem dar, das noch längst nicht erschöpfend erforscht ist. Zweifellos bieten die vorgestellten Bild- und Schriftzeugnisse für weitere Untersuchungen zum Thema Reformation als Kommunikationsprozess noch zahlreiche und vielfältige Ansatzpunkte. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Ondřej Jakubec Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? Nichtkatholische Grabmäler in den böhmischen Ländern als konfessionelle Objekte* Die Aussagekraft von Renaissance-Epitaphien Kein zur Reformationszeit forschender Historiker oder Kunsthistoriker kommt an den Sepulkralgemälden oder -skulpturen vorbei. Einige allgemein bekannte Beispiele, insbesondere aus der Cranach-Werkstatt, sind wohl in jeder Publikation oder jedem Ausstellungskatalog zu finden. Sie beeindrucken durch ihre eigenwillige visuelle Qualität, haben vor allem aber auch historische Aussagekraft. Welche Aussagen lassen sich durch ihre Analyse über die Vergangenheit gewinnen? Wie bei allen Quellen ist auch bei den Epitaphien und Sepulkralmonumenten der Frühen Neuzeit der Informationsgehalt sowohl nach Umfang als auch Aussage torsohaft. (Kunst-)Monumente und Bildquellen zugleich, konfrontieren sie den Historiker mit scheinbar objektiven Nachrichten über Leben, Tod und Glauben einer konkreten Person sowie über das Gedenken an diese. Gewiss, man kann an den Inschriften dieser Denkmale persönliche Daten ablesen, heraldische Attribute oder Porträts ausmachen und die Ikonografie studieren. Nach dem Vorbild Georges Didi-Hubermans muss man sich jedoch vor einer rein instrumentalen Nutzung der Bildmedien hüten: „Es ist übrigens eine sehr häufige, typisch positivistische Reduktion, in der Bilder schlicht für Dokumente für die Historie gehalten werden.“1 Sepulkralmonumente sind nicht nur ‚passive‘ und deskriptive ‚Bildquellen‘. Das Grabmal ist vor allem ein ‚Ort‘, der Erinnerungen an Verstorbene generiert oder reaktiviert und stets aufs Neue die Toten in der Kommunität der Lebenden vergegenwärtigt.2 Dieses fundamentale Gefühl der ‚Erinnerungsintegrität‘ wird gut durch eine Epitaphinschrift vom Ende des 17. Jahrhunderts * 1 2 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts der GAČR, Reg.-Nr. 18-09415S: „Die Gestaltung des Konvertiten. Sprachliche und visuelle Repräsentation der Konversion in der Frühen Neuzeit.“ G. Didi-Huberman, Před časem [Vor einiger Zeit/Devant le temps] (Dějiny a teorie umění [Geschichte und Theorie der Kunst]), Brno 2008, S. 22. Vgl. R. Wohlfeil / T. Wohlfeil / unter Mitarb. von V. Strobach, Nürnberger Bildepitaphien. Versuch einer Fallstudie zur historischen Bildkunde, in: ZHF 12 (1985), S. 129–180. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 334 Ondřej Jakubec aus Kuttenberg/Kutná Hora zum Ausdruck gebracht: „Dieses Epitaphium hat Herr Jiří [Georg, Anm. O. J.] Červený beschlossen und machen lassen […] zum ewigen Angedenken und ganzer Freundschaft der Lebenden und Verstorbenen.“3 Dieser kulturanthropologische Aspekt stellt die Forschung vor die Problematik der Konventionen und der Kommunikation im Rahmen der ‚Sterbe- und Erinnerungskultur‘. Er macht es notwendig, die Kategorie ‚Erinnerung‘ als selbstständige Funktion der Sepulkralien und folglich auch des historischen Forschungsgegenstands zu berücksichtigen. Und nicht zuletzt bietet sich der Aspekt des religiösen oder konfessionellen Charakters der Sepulkralmonumente in der Nachreformationszeit an. Dieser ist Thema des nachstehenden Textes, der insbesondere auf Bildepitaphien eingeht. Die Sprache der Sepulkralien ist einerseits normativ (standardisiert), ebenso aber elementar konzeptuell und manipulativ. Das Kunstwerk des frühneuzeitlichen Epitaphs ist also gewiss keine ‚Fotografie‘ (übrigens ist nicht einmal die Fotografie ein sonderlich objektivistisches Medium). Es liefert zwar in seinen Angaben (Inschriften, Porträts) eine vermeintlich unproblematische Aussage über wirkliche Menschen; gleichermaßen – wenn nicht noch mehr – informiert es aber auch über die zeitgenössischen Konventionen von Tod und Gedenken. Das haben die Epitaphien im Übrigen mit weiteren ‚Quellen‘ der memorialen Praxis – mit Testamenten und Leichenpredigten – gemein.4 Typisch ist dabei das Bestreben, eine Erinnerung an die Verstorbenen, aber auch die Rolle der lebenden Hinterbliebenen zu konstruieren, und zwar häufig in idealisierter Form. Darauf spielten schon die zeitgenössischen moralisierenden Autoren an, z. B. am Anfang des 17. Jahrhunderts u. a. der deutsche Jesuit Jeremias Drexel (1581–1638).5 Auch später verwies diese Kritik, beispielsweise Samuel Johnson (1709–1784) in seinem Essay „Upon Epitaph“ (1740), gerade auf diesen unglaubwürdig idealisierenden Gehalt der Grabdenkmäler, die der Autor als ‚konventionelle Fiktion‘ wahrnahm. 3 4 5 Nápisy města Kutné Hory. Kutná Hora, Kaňk, Malín a Sedlec včetně bývalého cisterciáckého kláštera [Die Inschriften der Stadt Kuttenberg. Kuttenberg, Gang, Malin und Sedletz einschließlich des ehemaligen Zisterzienserklosters], ed. J. Roháček (FHA 3; CIP 1), Praha 1996, S. 142. Vgl. R. Lenz (Hg.), Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Bd. 4, Stuttgart 2004. Vgl. J. Drexel, Herolt smrti neb předposel věčnosti k zdravým, nemocným, umírajícím pro zprávnou k smrti přípravu vyslaný […], Praha 1635 (K02100); Übersetzung aus dem Deutschen von Dems., Der Ewigkeit Vorbott / deß Todts Herold: So gesunden / Krancken und Sterbenden Menschen / sich wol Zum sterben Zuberaiten / Zugeschickt wirdt […], München 1628 (VD17 12:101457W), vgl. hier Kap. 3. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 335 Für religiöse Moralisten war das Grabdenkmal ein Synonym für Heuchelei und das Epitaph hatte den Stellenwert einer Lüge.6 Fraglos war es das vorrangige Ziel der Epitaphien, dem Betrachter eine strukturierte Mitteilung vorzulegen, dabei die Ikonografie mit dem Text zu kombinieren, der rhetorisch ein Idealbild des Verstorbenen definierte.7 Gleichwohl kann man die Sepulkralmonumente nicht als unglaubwürdige Quellen abtun. Sie sind gerade auch durch das wichtig, was sie nicht offen sagen oder was sie uns auf andere Weise sagen. Der Umstand, dass diese Denkmale in gewisser Weise ‚lügen‘, bedeutet nämlich nicht, dass ihre normativ-konventionellen Ausdrucksweisen nicht Gegenstand der historischen Forschung sein sollen und als ‚Tatsachen‘ genommen werden, mit denen sich die Zeitgenossen in gewissem Maße identifizierten, die sie wahrzunehmen vermochten und mit denen sie arbeiten konnten. In diesem Sinne kann es nützlich sein, das normative und formalisierte Prinzip der Epitaphien mit der Leichenpredigt der Frühen Neuzeit zu vergleichen. Ihr Wesen war nämlich nicht nur memorativ oder biografisch (deskriptiv), sondern vor allem repräsentativ. Leichenpredigten stellen ähnlich wie Epitaphien ‚konzeptuelle‘ Medien dar, die rhetorisch ein Idealbild von Verstorbenen konstruieren. Predigten sowie Epitaphien machen sich daher nicht selten auf eine konstruktive, selektive, wenn nicht sogar gezielt täuschende Weise an die Präsentation des Gedenkens;8 d. h. allerdings nicht, dass wir diesen Adorationsquellen und ihrer Manipulation mit der Erinnerung primär nur mit Misstrauen begegnen sollten. Es ist nämlich ein Wesenszug der ‚Erinnerungsarbeit‘, dass das Gedenken organisiert oder konstruiert wird. Im Fall der Epitaphien betrifft dieser Aspekt nicht allein die Texte. Auch die scheinbar ewige Sprache der Porträts von verstorbenen (bzw. zum Zeitpunkt der Errichtung des Epitaphs noch lebenden) Personen enthält in ihrem Zeichensystem eine vorsätzlich ‚theatralische‘ Kommunikation, dank derer die Abbildungen nicht nur das physische, sondern vielmehr das soziale Antlitz der Porträtierten festhalten.9 Die Anziehungskraft der Epitaphien auf Historiker kann also gerade darauf beruhen, dass durch Stilisierung, Normativität und Manipulation ein konzeptuelles Bild konstruiert wird und die Mentalität einer 6 7 8 9 Vgl. N. Craske, The Silent Rhetoric of the Body. A History of Monumental Sculpture und Commemorative Art in England, 1720–1770, New Haven/London 2007, S. 1–37. Vgl. A. Assmann, Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Dies. / D. Harth (Hgg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 13–35. Vgl. N. Llewellyn, Funeral Monuments in Post-Reformation in England, Cambridge 2000, S. 40. Vgl. P. Burke, Reflections on the Frontispiece Portrait in the Renaissance, in: A. Köstler / E. Seidl (Hgg.), Bildnis und Image. Das Portrait zwischen Intention und Rezeption, Köln/ Weimar/Wien 1998, S. 151–162. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 336 Ondřej Jakubec Zeit sowie deren Ideologie und Identitätsvorstellungen reflektiert werden.10 Bei Sepulkralmonumenten und ihrer visuellen Repräsentation ist es also hilfreich, diese vor dem Hintergrund anthropologischer Muster zu betrachten und danach zu fragen, welche allgemein verständlichen Topoi die Präsentation und Konstruktion des Gedenkens geformt haben und wie diese in ihrer Zeit wirken konnten.11 Epitaphien kombinieren dabei auf interessante Weise Informationen über das persönliche Naturell der porträtierten Person (sie thematisieren als Medium eine konkrete Individualität) mit konventionellen und typisierten Charaktereigenschaften (die sowohl durch gesellschaftliche und religiöse Normen als auch durch die häufig werkstattgebundene Produktionsstereotypie dieser Objekte vorgegeben waren). Epitaphien sind deshalb als ‚Bilder‘ im Kontext der zeitgenössischen visuellen Kultur und deren Konventionen kritisch zu analysieren, aber auch im Rahmen der Sepulkralkultur konsequent zum gedanklichen, sozialen, religiösen und politischen Milieu in Beziehung zu setzen, in dem sie zu einer konkreten Zeit und Situation entstanden sind.12 Das Epitaph und seine kommunikative Funktion Aktuell werden Sepulkralmonumente (nicht nur) der Frühen Neuzeit zu Recht als Produkt und gleichzeitig als Organisationsprinzip des Sozialen analysiert, in dem Individuen neben anderen Menschen verschiedene Rollen spielen – individuelle sowie kollektive, eigensinnige sowie konventionelle.13 Berücksichtigt werden kulturhistorische bzw. anthropologisch-historische Perspektiven, die auf eine Erforschung von Identität und (sozialer) Erinnerung abzielen (Memoria-Forschung). Das aktuelle „Requiem-Projekt“ (Horst Bredekamp, Arne Karsten) untersucht die Grabmonumente der römischen Päpste und Kardinäle als „exemplarische kulturhistorische Quelle“ und beruft sich dabei auf Methoden der 10 Vgl. I. Gaskell, History of Images, in: P. Burke (Hg.), New Perspectives on Historical Writing, Cambridge 1991, S. 168–192. 11 Vgl. J. Elsner, Introduction, in: Ders. / J. Huskinson (Hgg.), Life, Death and Representation. Some New Work on Roman Sarcophagi (MS 29), Berlin/New York 2010, S. 1–20, hier S. 13 f. 12 Vgl. N. Llewellyn, Funeral Monuments (wie Anm. 8), S. 33–36; P. Sherlock, Monuments and Memory in Early Modern England, Aldershot/Burlington 2008. 13 Vgl. A. Karsten / P. Zitzlsperger (Hgg.), Tod und Verklärung. Tod und Grabmalskultur in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2004; C. Behrmann / Diess. (Hgg.), Grab – Kult – Memoria. Studie zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerung. Horst Bredekamp zum 70. Geburtstag am 29. April 2007, Köln/Weimar/Wien 2007. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 337 Sozial- oder Kulturanthropologie.14 Der Rahmen für eine Analyse von Sepulkralmonumenten ist also nicht selten die anthropologisch orientierte Perspektive, die etwa Alfred Gell (1945–1997) formulierte, der die ästhetische Dimension des Kunstwerks hintanstellt zugunsten seines Verständnisses als Produkt der sozialen Praxis.15 Dabei stehen dem Kunsthistoriker im Gegensatz zu Anthropologen und anthropologieorientierten Historikern beim Studium der Todesrituale aussagekräftigere Objekte zur Verfügung, die die symbolischen Verhaltensäußerungen und Denkweisen in visueller und materieller Form verkörpern. Man kann die Sepulkralkunst also zusammen mit weiteren Todesritualen (Vorbereitung auf den Tod, Begräbniszeremonien, Trauerkonventionen und Erinnerungsnormen) als Äußerung kontrollierter, von der Gesellschaft geteilter Haltungen ansehen. Die Erinnerungskonstruktion des Sepulkralmonuments wurde zudem Bestandteil des öffentlichen Raums, den sie keineswegs zeitweilig oder schubweise (wie im Fall der Todesriten oder Memoria), sondern langfristig, im Idealfall ‚ewig‘ ausfüllte. Bilder der Toten hatten so die Macht, unausgesetzt die symbolische Kommunikation zu reaktivieren, die in der jeweiligen Sozialformation zwischen den Toten und den Lebenden geführt wurde. Das Epitaph erweiterte die ‚soziale Territorialität von Verstorbenen‘, hielt ihre Bindung zu den Lebenden (durch weitere Medien wie Seelenmessen und Ähnliches) aufrecht. Es sind Fälle bekannt, in denen eine Person in ihr Testament die Forderung einsetzte, ‚bei meiner Bank‘ beigesetzt zu werden, auf der sie zu Lebzeiten zu sitzen pflegte. Das verweist auf die offensichtliche Absicht der Verstorbenen, gemeinsam mit den Lebenden zu verweilen.16 Das Sepulkralmonument war mit seiner Platzierung, seinem Design, seinem Ikonografieprogramm, den Inschriften etc. gezielt an Betrachter adressiert, mit denen es in eine komplizierte ‚Matrix‘ von Rezeption und Durchleben des ‚Bilds des Verstorbenen‘ eintrat.17 Verstorbene haben vermittels ihrer ‚Sepulkralporträts‘ im physischen Sinne des Wortes ihr Wirken erweitert und ihren sozialen Rezeptionsbereich geschaffen.18 Die posthumen Porträts auf den Sepulkralmonumenten haben unausgesetzt ihr ‚Charisma‘ gemehrt und somit in der örtlichen 14 Requiem. Die römischen Papst- und Kardinalsgrabmäler der frühen Neuzeit. Informationen, vgl. http://requiem-projekt.de/informationen/ (letzter Zugriff am 20.3.2019). 15 Vgl. M. Rampley, Art History and Cultural Difference: Alfred Gell’s Anthropology of Art, in: AH 28 (2005), S. 524–551. 16 Vgl. N. Llewellyn, Funeral Monuments (wie Anm. 8), S. 42–48; P. Binski, Medieval Death. Ritual and Representation, London 1996, S. 93. 17 Vgl. G. A. Johnson, Activating the Effigy: Donatello’s Pecci Tomb in Siena Cathedral, in: E. Valdez del Alamo / C. Stamatis Pendergast (Hgg.), Memory and the Medieval Tomb, Aldershot/Burlington 2000, S. 99–127. 18 Vgl. R. Chartier, Les arts de mourir, 1450–1600, in: AHSS 31 (1976), S. 51–75, hier S. 75. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 338 Ondřej Jakubec Gemeinde ein ewiges Angedenken wachgehalten.19 Durch ihre Vermittlung wurde die auf einer Gemeinschaft der Lebenden und der Toten begründete vormoderne Gesellschaftsordnung präsentiert und erneuert.20 Das Epitaph – ein konfessionelles Medium? Eine der vielen Facetten von Sepulkralien der Nachreformationszeit, in denen sich ‚Sozialpraktiken‘ widerspiegeln, ist zweifellos deren konfessionsbedingter Charakter. Die Frage nach der konfessionellen Prägung frühneuzeitlicher Epitaphien wird jedoch ganz unterschiedlich beantwortet. Beispielsweise hält der polnische Kunsthistoriker Jan Harasimowicz die Sepulkralmonumente der Nachreformation im nichtkatholischen Umfeld für „Wort-Bild-Glaubensdeklarationen“.21 In dieser Perspektive nimmt er Sepulkralmonumente als einzigartige Quellen für die konfessionelle Identität und deren spezifische Ausdrucksformen wahr. Manche gehen noch einen Schritt weiter und halten Sepulkralkunstwerke und Epitaphien für Instrumente einer intensiven konfessionellen Rivalität, in der sie die Rolle von „konfessionellen und dogmatisch-erbaulichen Deklarationen“ spielen.22 Neben vergleichbaren Ansichten23 sind andere Wissenschaftler allerdings eher misstrauisch gegenüber der Suche nach konfessionellen Bedeutungen in der Ikonographie oder in den Inschriften von Sepulkralmonumenten. Ihrer Meinung nach war das ‚monument-making‘ in der Frühen Neuzeit eine im Wesentlichen standardisierte 19 Vgl. H. Belting, Image, Medium, Body: A New Approach to Iconology, in: CI 31 (2005), S. 302–319, hier S. 306. 20 Vgl. L. Symonds, Death as Window to Life. Anthropological Approaches to Early Medieval Mortuary Ritual, in: RA 38 (2009), S. 48–87, hier S. 48. 21 J. Harasimowicz, Lutherische Bildepitaphien als Ausdruck des ‚Allgemeinen Priestertums des Gläubigen‘ am Beispiel Schlesiens, in: B. Tolkemitt / R. Wohlfeil (Hgg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (ZHF Beiheft 12), Berlin 1991, S. 135–164, hier S. 136; Ders., Sichtbares Wort. Die Kunst als Medium der Konfessionalisierung und Intensivierung des Glaubens in der Frühen Neuzeit (KKFN 1), Regensburg 2017. 22 K. Tebbe, Epitaphien in der Grafschaft Schaumburg. Die Visualisierung der politischen Ordnung im Kirchenraum (MKKGNWD 18), Marburg 1996, S. 48. 23 Vgl. D. Zerbe, Memorialkunst im Wandel. Die Ausbildung eines lutherischen Typus des Grabund Gedächtnismals im 16. Jahrhundert, in: C. Jäggi / J. Staecker (Hgg.), Archäologie der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle Kultur (AKG 104), Berlin/New York 2007, S. 117–163; O. Meys, Memoria und Bekenntnis. Die Grabdenkmäler evangelischer Landesherren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter der Konfessionalisierung, Regensburg 2009, S. 268, 364–368. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 339 Produktion, was sie in gewissem Maß sicherlich war.24 Inga Brinkmann oder auch Margit Thøfner bestreiten deshalb, dass sich eine Repräsentation und Visualisierung des lutherischen Bekenntnisses in irgendeiner Form auf die Gestaltung nichtkatholischer Funeraldenkmäler niedergeschlagen habe. Sie heben eher den überkonfessionellen Charakter dieser Monumente und deren kontinuierliche Bindung an die vorreformatorische Tradition mit einem dominanten und allen Konfessionen gemeinsamen Wesenszug der Familienrepräsentation der Verstorbenen hervor.25 Wie lassen sich diese gegensätzlichen Positionen versöhnen? In der unlängst vorgenommenen Analyse von Sepulkralmonumenten in Großpolen hat Aleksandra Lipińska gezeigt, wie man das Prinzip der Konfessionalität wahrnehmen kann. Einerseits verweist sie darauf, dass diese Monumente in der Tat eher die Prinzipien der ständischen und politischen Identität der Verstorbenen präsentieren, andererseits ist sie sich allerdings auch des Vorhandenseins von konfessionell distinktiven Motiven bewusst. Diese manifestieren sich allerdings nicht als offenes Programm – Lipińska spricht von „nicht direkt geäußerten Inhalten“ –, sondern werden eher auf einer Meta-Ebene vermittelt, für die die zeitgenössischen, mit dem Entstehungskontext vertrauten Betrachter empfänglich waren;26 mit den Worten von Christian Hecht: „Der Kontext ist entscheidend, nicht das Einzelthema.“27 Bei den meisten Sepulkralmonumenten, von denen einige nachstehend vorgestellt werden, wird die konfessionelle Identität also nicht unbedingt in spezifischen ikonografischen Motiven oder Inschriften offensichtlich. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht existierte – allerdings auf andere Weise und vor allem produziert im Prozess der Rezeption. Die Anwesenheit der Konfessionalität musste dabei überhaupt keinen polemischen Charakter haben, oft ist sie ein konfliktfreier Ausdruck des religiösen Bekenntnisses oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder kann als Fortwirken einer künstlerischen Tradition bzw. von ikonografischen 24 Vgl. N. Saul, English Church Monuments in the Middle Ages. History and Representation, Oxford/New York 2009, S. 36 f. 25 Vgl. I. Brinkmann, Grabdenkmäler, Grablegen und Begräbniswesen des lutherischen Adels. Adelige Funeralrepräsentation im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert (KunstWsSt 163), Berlin/München 2010; M. Thøfner, Material Time. The Art of Mourning in Early Modern Europe, in: R. G. Bogner / J. A. Steiger (Hgg.), Leichabdankung und Trauerarbeit. Zur Bewältigung von Tod und Vergänglichkeit im Zeitalter des Barock (Daphnis 38/1,2), Amsterdam/New York 2009, S. 181–215, hier S. 189. 26 A. Lipińska, Novo stylo sepultus? Grabdenkmäler des großpolnischen Adels und hohen Klerus im Spannungsfeld von ständischer Repräsentation und konfessionellem Ethos, in: M. Deiters / E. Wetter (Hgg.), Bild und Konfession im östlichen Mitteleuropa (SJL 11), Ostfildern 2013, S. 105–188, hier S. 162 f. 27 C. Hecht, Katholische Bildertheologie der frühen Neuzeit. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren, Berlin 2012, S. 449. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 340 Ondřej Jakubec Stereotypen belegt werden. So führt Jan Harasimowicz an, wie in einem multikonfessionellen Umfeld Protestanten (Kryptocalvinisten) bei der Gestaltung von Grabdenkmälern Inschriften bevorzugten, während der katholische Klerus dem traditionellen Bildnisgrabmal den Vorzug gab. Harasimowicz merkt in diesem Zusammenhang an, dass Kunstwerke (auch Funeralkunstwerke) – sofern sie Medien der Konfessionalisierung waren – eher Ausdruck der sozial-religiösen Identitätssuche als der Konfrontation waren; es gelte also, „die kulturbildende Rolle des interkonfessionellen Dialogs“ zu betonen.28 Ist es somit überhaupt sinnvoll, nach dem konfessionellen Charakter von Epitaphien zu fragen? War es für den Menschen des 16. oder 17. Jahrhunderts wichtig, auf seinem Grabmal explizit seine Konfessionszugehörigkeit zu dokumentieren? Und muss man bei der Bejahung dieser Annahme bei nachreformatorischen Sepulkralien ähnliche konfessionsbedingte Konfrontationen suchen, wie sie die Sterbe- und Erinnerungskultur (Streit um Begräbnisse, Exhumierungen, Grabmalzerstörung) begleiteten?29 Oder sollte man davon ausgehen, dass die Epitaphienproduktion der Lutheraner wie auch anderer Konfessionen lediglich in gewissem Maße eine spezifische ‚konfessionsgebundene Bildhaftigkeit‘ reflektiert hat? Angesichts des Wandels, dem die religiöse Kunst (zu der die Epitaphien ja fraglos gehören) nach der Reformation unterlagen, sind solche Fragen sicher legitim.30 Daher werden im Kontext der spezifisch konfessionsbedingten Funktion der protestantischen Kunst auch Epitaphien als eine Ausdrucksweise des ‚sichtbaren Wortes‘ wahrgenommen.31 Das lutherische Epitaph konnte beispielsweise durch die Verwendung von Reformatorenporträts als rein lutherisches Bekenntnisbild auftreten: Bekannte Beispiele sind die Epitaphien von Johannes Bugenhagen (1485–1558) oder Paul Eber (1511–1569) in Wittenberg, aber auch das Epitaph (vor 1750) des schlesischen Adeligen Sigismund von Zedlitz (1536–1616), das 28 J. Harasimowicz, Visuelle Strategien der Identitätsbildung im multikonfessionellen Breslau, in: M. Deiters / E. Wetter (Hgg.), Bild und Konfession (wie Anm. 26), S. 32–103, hier S. 75 f. 29 Vgl. C. Koslofsky, Honour and Violence in German Lutheran Funerals in the Confessional Age, in: SH 20 (1995), S. 315–337. 30 Vgl. C. C. Christensen, Art and the Reformation in Germany (SR 2), Athens 1979; P. Poscharsky (Hg.), Die Bilder in den lutherischen Kirchen. Ikonographische Studien, München 1998; W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die illustrierte Confessio Augustana (Adiaphora 6), Regensburg 2007; J. L. Koerner, The Reformation of the Image, London 2004; B. Heal, Introduction: Art and Religious Reform in Early Modern Europe, in: AH 40 (2017), S. 246–255. 31 Vgl. M. Lampe, Zwischen Endzeiterwartung und Repräsentation. Das Epitaph des Heinrich Heideck (1570–1603) aus der Leipziger Universitätskirche St. Pauli, Leipzig 2009, S. 32. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 341 eine Allegorie auf die reformierte Kirche war. Gleichen Charakter haben die Epitaphien oder Epitaphaltäre mit Szenen vom Empfang der Sakramente im Milieu der lutherischen Glaubensgemeinde, die typologisch häufig biblische Vorbilder aufgreifen (Letztes Abendmahl, Taufe im Jordan usw.). Diese ‚Bekenntnisbilder‘ drücken sowohl die theologische Spezifik des Luthertums als auch eine lokale, aber auch überregionale lutherische Identität aus.32 Ähnlich signalisierten auch explizit lutherische Themen wie ‚Gesetz und Gnade‘ auf nichtkatholischen Epitaphien eine klar konfessionsgebundene Repräsentation.33 Eine lutherisch konfessionelle Bilderwelt begleitete auch vermeintlich neutrale Themen, wie z. B. das Thema der Kreuzigung Christi, dem eine nicht geringe Bedeutung zukam. Es behielt teilweise eine (noch spätmittelalterliche) emotionale Wirkung im Sinne einer Weckung ‚rechter Frömmigkeit‘ bei, diente aber auch als Abgrenzung gegenüber Calvinisten und ‚katholischer Götzendienerei‘ gleichermaßen. Ein Beispiel dafür ist das Epitaph (1589) der lutherischen Eheleute Georg I. von Hessen-Darmstadt (1547–1596) und Magdalene von Lippe (1552–1587) in Darmstadt mit dem Motiv des Gekreuzigten, auf dessen unerwünschte ‚Lesart‘ sich die Inschrift bezieht: Dis Creütz bedeüt kein Götze(n)die(n)st / […] Der Babst vnd sein geschorner hauff / Die richten stumme Götzen auff / […] Sie beten ahn kein steinern Bild / Sondern de(n) kern des Creutzes mild.34 Konfessionelle Distinktion bzw. eine konfessionell codierte ‚Bildkonfrontation‘ kam auf Epitaphien auch durch konfrontative oder satirische Motive zum Ausdruck.35 Das konnte bei Katholiken beispielsweise eine Darstellung Martins Luthers (1483–1546) und von dessen ‚gottloser‘ Ehefrau Katharina von Bora (1499–1552) sein, die vom Teufel in die Hölle geholt werden, wie es das unvollendete Epitaph des Vikars Havel/Gallus von Hartunkov/z Hartunkova († 1552) in Olmütz/Olomouc zeigt. Lutheraner hingegen konnten auf Epitaphien den apokalyptischen Drachen mit der päpstlichen Tiara zeigen, wie das auf dem Epitaph des Johann I. von Mansfeld-Hinterort (†1567) in St. Annen in der Eislebener Neustadt der Fall war, oder sie bildeten Vertreter des katholischen 32 Vgl. W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde (wie Anm 30), S. 61–82; B. Heal, A Magnificent Faith. Art and Identity in Lutheran Germany, Oxford/New York 2017, S. 187. 33 Vgl. A.-D. Ketelsen-Volkhardt, Schleswig-Holsteinische Epitaphien des 16. und 17. Jahrhunderts (SSHKG 15), Neumünster 1989. 34 DI, Bd. 49: Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau, Nr. 263 (†), vgl. www.inschriften. net/zeige/suchergebnis/treffer/set/9500/nr/di049-0263.html (letzter Zugriff am 20.3.2020). 35 Vgl. S. Michalski, Die lutherisch-katholisch-reformierte Rivalität im Bereich der Bildenden Kunst im Gebiet von Danzig um 1600, in: J. Bahlcke / A. Strohmeyer (Hgg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur (FGKÖM 7), Stuttgart 1999, S. 267–286. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 342 Ondřej Jakubec Klerus ab, die in den Schlund des Teufels stürzten.36 (Abb. 1) Das Bewusstsein einer abweichenden konfessionellen Prägung von Epitaphien (und natürlich auch von deren Protagonisten) stand auch hinter den Bilderstürmereien gegen Epitaphien und Sepulkralmonumente, zu denen es in den böhmischen Ländern um 1600 von katholischer Seite kam.37 In erster Linie sorgten dabei Attribute der ‚anderen Konfession‘ für Irritation. So wie Nichtkatholiken (insbesondere Calvinisten) Kruzifixe oder Heiligenstatuen zerstörten, liquidierten die Katholiken auf Grabmälern Kelchmotive (Symbol für das Abendmahl sub utraque); davon betroffen waren nicht nur Renaissancedenkmale, sondern auch ältere utraquistische Objekte (Altäre, Epitaphien) aus dem 15. Jahrhundert. Aussagekräftig ist ein Bericht aus dem Jahr 1624 in den Memoiren des böhmischen Ritters Mikuláš/ Nikolaus Dačický von Heslov/z Heslova (1555–1626), der in Kuttenberg, dem einstigen Zentrum der utraquistischen Kirche, die ‚jesuitische Reformation‘ verfolgte: „Sodann haben eben diese Jesuiten in besagter Kirche mehrere Epitaphien, zum Angedenken an gute verstorbene Menschen schön gemacht, entstellen und Zeichen nebst Bildern, Texten und Titeln dieser Menschen zerstörend, an diese Stellen ihre Sinne und Malereien anbringen lassen“.38 Dieser Bericht ist schon allein deshalb interessant, weil er zeigt, wie die Katholiken bemüht waren, manche Denkmale zu erhalten und durch Veränderung der konfessionellen Attribute zu adaptieren. Manchmal sollte es längere Zeit dauern, bis die nichtkatholischen Epitaphien endgültig aus den katholischen Kirchen entfernt waren. Davon berichtet die Instruktion des Olmützer Generalvikars und Weihbischofs Johann Joseph Breuner (1641–1710) für den Prossnitzer/Prostějov Dechanten aus dem Jahr 1679, die die Beseitigung von drei lutherischen Epitaphien (tria Lutheranorum epitaphia) aus der Pfarrkirche forderte. Im gleichen Jahr konstatierte die bischöfliche Visitationskommission beunruhigt, dass in der Pfarrkirche St. Jakobus in Brünn/Brno immer noch an die 40, zum Großteil lutherische Epitaphien vorhanden waren.39 Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang, dass davon einige noch bis ins 19. Jahrhundert an Ort und Stelle verblieben. Hier hat sicher auch die standesgemäße Ehrerbietung gegenüber den Vorfahren eine Rolle gespielt.40 36 Vgl. O. Jakubec, Kde jest, ó smrti osten tvůj? Renesanční epitafy v kultuře umírání a vzpomínání raného novověku [Wo ist, oh Tod, dein Stachel? Renaissance-Epitaphien in der frühneuzeitlichen Kultur des Sterbens und des Erinnerns], Praha 2015, S. 295. 37 Vgl. ebd., S. 166–169. 38 Ebd., S. 169. 39 ZOA Olomouc, fond [Bestand]: AKO, Kart. 671, Sign. B 12, Generalvisitation der Olmützer Diözese (1679–1682), fol. 22v. 40 Vgl. A. Lipińska, Grabdenkmäler (wie Anm. 26), S. 163. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 343 Abb. 1: Monogrammist HG, Epitaph einer unbekannten Familie, Öl auf Holz, 1568 [Mo­ ravská galerie Brno/Mährische Galerie Brünn, Inv.-Nr. A 375, Foto: Moravská galerie Brno]. Epitaphien in den böhmischen Ländern Das Studium von epitaphartigen Funeraldenkmälern aus dem lutherischen bzw. nichtkatholischen Umfeld in den böhmischen Ländern sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass deren Bestand im Vergleich zu Polen oder Deutschland verschwindend gering ist.41 Die Analyse wird überdies dadurch erschwert, dass man nur selten Lutheraner als Auftraggeber identifizieren kann. Das ist aber auch ein indirekter Hinweis darauf, dass Form und Ikonografie der Epitaphskulpturen sowie -gemälde in den böhmischen Ländern in den allermeisten Fällen keine konfessionell distinktiven Charakteristika aufweisen. Diese fehlende Eindeutigkeit gilt für alle Elemente, vor allem aber begleitet diese Ambivalenz die Ikonografie, denn Kreuzigung oder Auferstehung von den Toten stellen an sich überkonfessionelle Themen dar. So wurde beispielsweise die beliebte Komposition des Jüngsten Gerichts nach Stichen von Johann Sadeler I. (1550–1600), die auf Zeichnungen 41 Vgl. O. Jakubec, Konfesijní charakter sepulkrálních památek raného novověku jako problém s otevřeným koncem: Příklad žerotínských monumentů druhé poloviny 16. století [Der konfessionelle Charakter der frühneuzeitlichen Sepulkraldenkmäler als ein Problem mit einem offenen Ende. Das Beispiel der Monumente derer von Zierotin aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts], in: FHB 33 (2018), S. 47–67. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 344 Ondřej Jakubec Abb. 2: Epitaph für den Brünner lutherischen Bürger Wolf Brunlacher, Öl auf Leinwand, nach 1599 [Muzeum města Brna/Mu­ seum der Stadt Brünn, Inv.-Nr. 54.268, Foto: Muzeum města Brna]. (um 1580) des Münchener Hofmalers Christoph Schwartz (ca. 1548–1592) beruhte, sowohl von Lutheranern als auch von strenggläubigen Katholiken verwendet,42 wie man beispielsweise am Epitaph des katholischen Jiří/Georg Straka von Ehrenstein († 1645) aus dem Jahr 1649 erkennt, das sich ursprünglich in der Friedhofskirche der Heiligen Dreifaltigkeit in Neuhaus/Jindřichův Hradec befunden hat. Bei derselben Kirche war schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Grabkapelle der Familie der Čech von Kozmáčov/z Kozmáčova entstanden, über deren großem Altar das gleiche Thema prangte. Und zum Dritten wurde diese Komposition nach 1599 auch für das Epitaph des Brünner lutherischen Bürgers Wolf Brunlacher († 1599) gewählt.43 (Abb. 2) Die angesprochene Ambivalenz findet sich auch bei wesentlich spezifischeren Themen wie z. B. dem Gesicht des Hesekiel, das vor allem aus dem lutherischen Milieu bekannt ist, etwa auf dem Epitaph Jakob Heidelbergs (1561) aus Eisleben 42 Vgl. G. Cerkovnik, Christoph Schwarz’s Last Judgement and Counter-Reformation in Inner Austria, in: I. Unetič / M. Germ / M. Malešič / A. Vrečko / M. Zor (Hgg.), Art and its Responses to Changes in Society, Newcastle/Tyne 2016, S. 49–62. 43 Vgl. O. Jakubec, Renesanční epitafy (wie Anm. 36), S. 215 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 345 Abb. 3: Matouš Radouš, Epitaph der Marta Boleslavská von Kočice, Öl auf Holz, 1610 [Římskokatolické arciděkanství Chrudim, depozitář/Römisch-katholische Erzdekanei Chrudim, Depositar, Foto: Zdeněk Sodoma, Muzeum umění Olomouc/Kunstmuseum Olmütz]. oder in den böhmischen Ländern auf dem Epitaph der Marta Boleslavská von Kočice (1610) in Chrudim. (Abb. 3) In repräsentativer Gestalt findet man es aber auch auf dem Ende des 16. Jahrhunderts, also noch zu seinen Lebzeiten errichteten Grabmal des Bischofs Dietrich IV. von Fürstenberg (1546–1618) im Dom zu Paderborn, sowie aus der gleichen Entstehungszeit an der Grabkapelle des katholischen Adeligen Zacharias/Zachariáš von Neuhaus/z Hradce (1526/27–1589) in Schloss Teltsch/Telč. Ein ähnlich ambivalentes Motiv konnte auch die sog. allegorische Kreuzigung sein, die als lutherisches Thema par excellence gilt. In der Tat findet man es an einer Reihe lutherischer Denkmale (Epitaphien sowie Altären), desgleichen in den böhmischen Ländern (Troppau/Opava, Jägerndorf/Krnov, Chrudim), wobei für diese Fälle erwähnt werden muss, dass ihre Komposition von eindeutig ‚katholischen‘ Stichen des flämischen Kupferstechers Hieronymus Wierix (1553–1619) – „Allegorie der menschlichen Erlösung“ – abgeleitet war.44 (Abb. 4) Die Ermittlung der Kategorie ‚Konfessionalität‘ nur aufgrund ikonografischer Spezifika ist also nahezu unmöglich. Sie wird überdies durch den Umstand erschwert, dass in 44 Vgl. ebd., S. 315–324. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 346 Ondřej Jakubec verschiedenen katholischen Regionen in der Sepulkralkunst des 16. Jahrhunderts eine Abhängigkeit von der protestantischen Ikonografie erkennbar ist. Und Gleiches galt in umgekehrter Richtung.45 Kunstbetrieb, Werkstattpraxis, Standardisierung, Umstände der Auftragslage – all dies waren komplizierte Phänomene, die sich nicht in übersichtliche Konfessionskategorien zwängen ließen.46 Trotzdem lässt sich nicht abstreiten, dass auch in den böhmischen Ländern Epitaphien zu finden sind, die ihre nichtkatholische bzw. lutherische Charakteristik nicht verleugnen können. Solche Objekte findet man naturgemäß in den mehrheitlich lutherischen deutsch-böhmischen Grenzgebieten, wo der Einfluss der Reformation aus Sachsen spürbar war – nicht nur auf religiöser Ebene, sondern auch im Rahmen der Kunstbeziehungen und aufgrund des Umstands, dass auf der böhmischen Seite der Grenze eine Reihe deutscher Persönlichkeiten und Adelsfamilien lebte. Ein Beispiel dafür ist Joachimsthal/Jáchymov, wo die ‚goldene Ära‘ des 16. Jahrhunderts (unter dem Regiment der lutherischen Familie Schlik) auch von der Entstehung vieler Epitaphien begleitet wurde.47 Deren Ikonografie, aber auch die Inschriften bestätigen eindeutig die lutherische Konfession ihrer Protagonisten. Ein Epitaph aus der Allerheiligen-Friedhofskirche trägt den Vers aus dem Paulusbrief Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn (Phil 1,21), den Martin Luther in den Vorreden zu seiner Begräbnisliedersammlung (1542) für Grabmäler nachgerade als Idealtext empfohlen hatte.48 Ähnliche Monumente mit der gleichen Inschrift findet man auch in Westböhmen, z. B. auf dem Epitaph Adams von Steindorf (um 1579) in der St. Michaeliskirche von Buchau/ Bochov bei Karlsbad/Karlovy Vary.49 Ein Ausweis der lutherischen Orientierung können auch Zitate aus Luthers Bibelübersetzung sein, in der gleichen Region z. B. auf dem Epitaph des Heinrich Uttehofer von Uttenhof (um 1594) in der Mariä Himmelfahrtskirche von Koslau/Kozlov: Aber ich will sie erlösen aus der Hölle und vom Tod erretten. Tod, ich will dir ein Gift sein; Hölle, ich will dir eine 45 Vgl. A. Tacke, Der katholische Cranach. Zu zwei Großaufträgen von Lucas Cranach d. Ä., Simon Franck und der Cranach-Werkstatt (1520–1540) (BSK 2), Mainz 1992, S. 9–15. 46 Vgl. P. Benedict, Calvinism as a Culture? Preliminary Remarks on Calvinism and the Visual Arts, in: P. C. Finney (Hg.), Seeing beyond the Word. Visual Arts and the Calvinist Tradition, Grand Rapids/Cambridge 1999, S. 19–45, hier S. 42 f. 47 Vgl. A. Huczmanová, Die Stadt Joachimsthal und ihre Memorialkultur im 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zu Entstehung, Ikonographie und Auftraggebern der Bildepitaphien aus der ‚Spitalskirche‘, in: RHS 42 (2017), S. 93–114. 48 M. Luther, Die Vorrede zu den Begräbnisliedern von 1542, in: WA, Bd. 35, Weimar 1923, S. 304–308, 478–483. 49 Vgl. G. Träger, Denkmäler im Egerland Kreis Luditz. Eine Topographie, Eichstätt 1993, S. 23, 31. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 347 Abb. 4: Matouš Radouš, Epitaph des Tomáš Lvík von Domažlice/Taus (= allegorische Kreuzigung Christi), Öl auf Holz, nach 1619 [Kostel Nane­ bevzetí Panny Marie Chrudim/Mariä Himmelfahrtskirche Chrudim, Foto: Zdeněk Sodoma, Muzeum umění Olomouc/Kunstmuseum Olmütz]. Pestilenz sein.50 (Hos 13,14). Diese Beispielreihe ließe sich mit Hinweisen auf weitere Monumente problemlos fortsetzen. Zierotiner/Žerotíner Epitaphien: unterschiedliche Bildlichkeit/ Konfessionalität des frühneuzeitlichen Epitaphs Abschließend werden einige Sepulkralmonumente aus den böhmischen Ländern vorgestellt, die mit dem prominenten Zierotiner Adelsgeschlecht zusammenhängen. Dessen Bekenntnis war eindeutig nichtkatholisch und oszillierte zwischen Luthertum und Brüderunität. Die von dieser Adelsfamilie errichteten Grabmäler verbinden vier Geschwister, nämlich die Söhne des Paul/Pavel von Zierotin/ze Žerotína und auf Napajedl/Napajedla († 1549), und an ihnen lässt sich exemplifizieren, ob und wie sich an Sepulkral- und Memorialobjekten konfessionell-repräsentative Wesenszüge nachweisen lassen. 50 Ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 348 Ondřej Jakubec Die Steinmonumente der beiden Zierotiner Brüder Bedřich/Friedrich († 18. August 1568) und Bartholomäus/Bartoloměj († 3. November 1568) hatten deren Brüder Friedrich († 1598) und Hans Dietrich/Jan Jetřich für die Pfarrkirche St. Bartholomäus im ostmährischen Napajedl errichten lassen. (Abb. 5) Für ihre gleichzeitige Fertigung spricht ihre einheitliche Gestaltung, die eine standardisierte Werkstattarbeit andeutet.51 Die Grabmäler folgen einem stereotypen Muster: Das Mittelfeld zeigt übereinstimmende Figuren der in ihrer Rüstung knienden und das Kruzifix adorierenden Zierotiner, ohne Andeutung von porträtartigen Zügen. Der Aufsatz trägt das Familienwappen, die Sterbedaten im Sockel wurden bei beiden Grabmälern in identischer Weise als Inschrift angebracht, zusammen mit einem Zitat aus dem alttestamentlichen Buch Ijob (19,25–27). Dieses Bibelwort war in dem hier zur Rede stehenden Milieu zwar eher unüblich, ist aber sowohl auf Grabmälern von Lutheranern als auch auf solchen von Katholiken nachweisbar.52 Ein wesentlich interessanteres Denkmal als das zuletzt geschilderte ist das gemalte Epitaph der Mandalena/Magdalena von/ze Zástřizl († 1566), der ersten Ehefrau Friedrichs von Zierotin († 1598), des Mitauftraggebers der eben genannten Grabmäler für seine Brüder. (Abb. 6) Friedrich war als mährischer Landeshauptmann und Mitglied des Kriegsrats eine politisch einflussreiche Persönlichkeit, zugleich war er auch ein großer Gönner der Brüderunität. Das Epitaph wurde vier Jahre nach dem Tod der Mandalena für die Friedhofskirche in Groß Seelowitz/ Židlochovice angefertigt, wo es ein älteres Denkmal an ihrem Grab ergänzte.53 Dieses Epitaph wirkt auf den ersten Blick konfessionell indifferent: Mandalena, dargestellt durch ein standardisiertes Porträt einer Frau und identifizierbar durch das Familienwappen, kniet in der Nähe des Gekreuzigten und vermittelt ihre Frömmigkeit durch den starren Blick auf den Betrachter. Bei näherem Hinsehen kann man dann allerdings zwei wesentliche Details ausmachen: Zwei Gebäude im rechten Teil und Bäume mit zwei verflochtenen Stämmen zwischen dem gekreuzigten Christus und Mandalena. Erstere könnten ein verdeckter Hinweis auf den Auftraggeber Friedrich von Zierotin sein, ist doch über dem Eingang des größeren Gebäudes eine Rittergestalt mit dem Zierotiner Familienwappen gemalt. Der Bau im Hintergrund wiederum könnte ein Hinweis auf die von Friedrich gegründete 51 Vgl. H. Myslivečková, Mors ultima linea rerum. Pozdně gotické a renesanční figurové náhrobní monumenty na Moravě a v českém Slezsku [… Die Figuralgrabmonumente der Spätgotik und Renaissance in Mähren und im tschechischen Schlesien] (Memoria artis), Olomouc 2014, S. 181 ff. 52 Vgl. O. Jakubec, Konfesijní charakter (wie Anm 41). 53 Vgl. Ders., Renesanční epitafy (wie Anm. 36), S. 230 f. Heute befindet sich das Gemälde im Schloss Groß Ullersdorf/Velké Losiny. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 349 Abb. 5: Grabdenkmal des Friedrich/Bedřich von Zierotin/ze Žerotína († 1568), Sandstein, nach 1568 [Kostel sv. Bartoloměje Napajedla/St. Bartholomäus Kirche Napajedl, Foto: Jaroslav Holáň, Národní památ­ kový ústav Brno/Nationales Denkmalpflege-Institut Brünn]. Brüdergemeinde in Groß Seelowitz sein. Wichtiger ist aber das Motiv der Bäume mit den verflochtenen Ästen, deren Kronen zum Kreuz hin in grüner Farbe prangen und auf der abgewandten Seite verdorrt sind. Dieses ungewöhnliche Motiv erinnert an ein Detail des lutherischen Bildes „Gesetz und Gnade“ von Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553), auf dem als grundlegendes Kompositions- und Sinnelement ein zur Hälfte verdorrter und zur anderen Hälfte ausschlagender Baum erscheint.54 (Abb. 7) Dieser symbolisiert in Anknüpfung an die lutherische Theologie die ‚Seite des Gesetzes‘ und die erlösende ‚Seite der Gnade‘. Eine ähnliche Auslegung könnte auch auf Mandalenas Epitaph zutreffen, auf dem das grüne Geäst auf das Kreuz Christi als Ursprung von Gnade und Erlösung verweist. Gerade dieses auf den ersten Blick unauffällige Detail könnte ein – den Zeitgenossen verständliches – Indiz für die nichtkatholischen Konnotationen des Epitaphs gewesen sein. Ebenso könnte der nichtkatholische Charakter des Denkmals auch ex negativo durch das Fehlen ‚katholischer Attribute‘ (heilige Fürsprecher, Jungfrau Maria usw.) definiert werden. Sofern Friedrich von Zierotin dieses Epitaph in Auftrag gegeben hat, wäre diese konfessionelle Orientierung nicht sonderlich überraschend. Die Ehe ist das Thema des dritten Epitaphs aus Opotschno/Opočno, das als Schlüsselmonument der nichtkatholischen (lutherischen) Bildkultur in Böhmen vor der Schlacht am Weißen Berg (1620) gilt.55 (Abb. 8) Seine Entstehung hängt mit den einzigartigen Umständen der zwischen dem schon erwähnten Hans 54 Vgl. M. V. Fleck, Ein tröstlich gemelde. Die Glaubensallegorie „Gesetz und Gnade“ in Europa zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit (SKGMFN 5), Korb 2010, S. 511–531. 55 Vgl. W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde (wie Anm. 30), S. 75–78; O. Jakubec, Renesanční epitafy (wie Anm. 36), S. 281–285; Ders., Epitaphs in Bohemian Protestant Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 350 Ondřej Jakubec Abb. 6: Monogrammist HZ, Epitaph der Mandalena (Magdalena) von/ze Zástřizl († 1566), Öl auf Holz, 1570 [Zámek Velké Losiny/Schloss Groß Ullersdorf, Sign. VL 81, Foto: Zdeněk Sodoma, Muzeum umění Olomouc/Kunstmuseum Olmütz]. Dietrich/Jan Jetřich von Zierotin († 1599) mit Barbara von Biberstein/z Bibrštejna († 1585) im Jahr 1570 geschlossenen Ehe zusammen. Etwa 15 Jahre später übernahmen erneut die Trčka von Leipa/z Lípy die Herrschaft Opotschno, doch Hans Dietrich/Jan Jetřich engagierte sich weiterhin in der Region. Er wirkte als Hauptmann des Königgrätzer/Hradec Králové und Chrudimer Kreises, als kaiserlicher Rat und Kammergerichtsbeisitzer und schließlich als Landvogt in der Oberlausitz. Sein Bekenntnis war offensichtlich nicht katholisch; bekannt ist lediglich, dass er die Brüderunität unterstützte. Die deutlichsten Aussagen über seine religiöse Überzeugung liefert das Gemälde, das als Mitteltafel eines ursprünglich größeren Epitaphmonuments (eines Altars) fungierte, das sich in der Schlosskirche der Heiligen Dreifaltigkeit (der ursprünglichen St. Andreaskirche) zu Opotschno befand. Einen Gesamteindruck von diesem Monument erhält man dank eines bemerkenswerten malerischen Kunstgriffs, bei dem das Gemälde selbst im Rahmen dieses Denkmals als ‚Bild im Bilde‘ (‚mise en abyme‘) erscheint.56 Die Zentralszene im Bildvordergrund stellt die Vermählung des Hans Dietrich/Jan Jetřich mit Barbara dar und setzt das Hauptthema in Szene: die Herrschaftsübernahme über die Herrschaft Opotschno durch das Paar. Weitere Culture, in: K. Horníčková / M. Šroněk (Hgg.), From Hus to Luther. Visual Culture in the Bohemian Refomation (1380–1620) (MCS 33), Turnhout 2016, S. 247–280. 56 Vgl. S. Wegmann, Der sichtbare Glaube. Das Bild in den lutherischen Kirchen des 16. Jahrhunderts (SMHR 93), Tübingen 2016, S. 77–97. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 351 Abb. 7: Lucas Cranach d. Ä., Gesetz und Gnade, Öl auf Holz, 88,5 × 87 cm, 1529 [Národní galerie Praha/Nationalgalerie Prag, Inv.-Nr. O 9619, Foto: Národní galerie Praha]. bemerkenswerte Szenen heben nicht nur das Ehepaar, sondern vor allem dessen Anteil an den gottesdienstlichen Handlungen hervor, bei denen es nicht nur von adeligen Freunden und Verwandten begleitet wird, sondern vor allem auch vom nichtkatholischen (lutherischen) Geistlichen Jakub/Jakob Kunvaldský (1528– 1578). Dieser ist mehrfach zu sehen – wie er im Vordergrund das Paar traut, wie er den Sohn der Vermählten tauft, ferner ist er in der Rolle eines Predigers zu sehen, der das Abendmahl austeilt und Barbara die Beichte abnimmt. Das Ehepaar war in der ursprünglichen Konfiguration des Monuments auch auf der Predella in Form eines halbfiguralen Doppelporträts dargestellt. Die Eheleute traten hier zu Seiten des Tischs (Mensa) mit Kruzifix und aufgeschlagenem Buch auf – ein übliches nichtkatholisches, auf die Autorität der Heiligen Schrift verweisendes Motiv. Der nichtkatholische bzw. lutherische Bildcharakter wird auch durch zahlreiche, manchmal allerdings beträchtlich abgeänderte Bibelzitate in Form lateinischer Inschriften manifest, die auf die für das Luthertum charakteristische Verehrung des Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 352 Ondřej Jakubec Abb. 8: Epitaphmonument (= Mitteltafel des Epitaphaltars) des Hans Dietrich/Jan Jetřich von Zierotin/ze Žerotína († 1599) und der Barbara von Biberstein/z Bibrštejna († 1585), Öltempera auf Holz, nach 1570 [Zámek Opočno/Schloss Opotschno, Inv.-Nr. 4716, Foto: Národní památkový ústav/Na­ tionales Denkmalpflege-Institut Pardubice]. ‚Wortes‘ der Heiligen Schrift verweisen. Auf der Mitteltafel ist – die Zahl der auf das gesamte Monument verteilten Inschriften war ursprünglich viel größer – nur die Sockelinschrift zu entziffern; sie ist eine beredte Metapher für die weltliche wie religiöse Autorität der neuen Obrigkeit: Extructi [!] est super fundamentum prophetarum et apostolorum summo angulari lapide Jesu Christo (Eph 2,20). Die einzelnen Schriftzüge im eigentlichen Bildfeld nehmen Bezug auf einzelne religiöse Handlungen und Sakramente, von denen neben der Hochzeit bzw. Ehe vor allem vier akzentuiert werden: Taufe, Abendmahl, Beichte und Predigt. Genau diese findet man auch auf dem sog. kleinen Altar aus der Georgenkirche in Nördlingen.57 Auf der Tafel aus Opotschno werden die religiösen Handlungen und Sakramente von erläuternden Inschriften flankiert, was sich mit Luthers Auffassung „Bei Beichte, Abendmahl und Taufe kommt das Wort geradewegs zu uns“ deckt.58 Auf das eucharistische Sakrament des heiligen Abendmahls nimmt der Schriftzug über dem Chor aus dem Matthäusevangelium Bezug: Accipite, comedite, hoc est corpus meum, quod pro vobis datur. Bibite ex hoc omnes. Hic calix 57 Vgl. W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde (wie Anm. 30), S. 71 f. 58 Zitiert nach J. L. Koerner, Reformation (wie Anm. 30), S. 333. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 353 de novum testamentum sanguine meo, qui pro vobis effunditur [in] remissione[m] peccatoru[m] (Mt 26,26–28). Beim Taufstein wird ein weiteres Sakrament, die Taufe, mit Worten aus dem Markusevangelium – Quotquot vestru[m] baptizati sunt Christum induerunt (Mk 16,16) – sowie aus dem Brief an die Galater begleitet: Qui crediderit et baptizatus fuerit, salvus erit (Gal 3,27). Die Beichte wird mit zwei Versen aus dem Johannesevangelium kommentiert: Accipite Spiritum Sanctum, quorum remiseritis peccata, remittuntur eis: et quorum retinueritis, retenta sunt ( Joh 20,22–23). Von den weiteren Bibelzitaten sind schließlich noch zwei besonders beachtenswert, die dem Römerbrief des Paulus entnommen sind und ihre Bindung an die lutherische Ideenwelt nicht verleugnen können. Das erste war der Rückhalt für Luthers These von der christlichen Rechtfertigung und ist direkt über dem gekreuzigten Christus angebracht: Christus mortuus est propter peccata nostra et resurrexit propter justificationem nostram (Röm 4,24–25). Über der Kanzel fand dann die Paraphrase eines weiteren Paulusworts ihren Platz: Evangelium est potentia Dei ad salute[m] omni credenti. Es handelt sich hier um eine Abwandlung des ursprünglichen Wortlauts – richtig müsste es lauten: Non enim erubesco Evangelium. Vir­ tus enim Dei est in salutem omni credenti (Röm 1,16) –, die von grundlegender Bedeutung ist; die verwendete Variante entstammt nämlich unmittelbar dem Augsburger Bekenntnis.59 Die Zugehörigkeit der Eheleute Hans Dietrich/Jan Jetřich und Barbara zum lutherischen Bekenntnis spricht allein schon aus der eigentlichen Werkkomposition, mit der – wie auf vielen zeitgenössischen Darstellungen gottesdienstlicher Handlungen – die Grundidee der Kirchengemeinde zum Ausdruck gebracht wird, indem das religiöse Bekenntnis der Protagonisten veranschaulicht wird.60 Zumal im deutschen Umfeld finden sich weitere Beispiele für solche Bekenntnisbilder wie z. B. das Epitaph des Pfarrers Peter Strupp in Gelnhausen (1571) oder der Epitaphaltar Abrahams von Nostitz († 1592) in Görlitz. Der Tafel aus Opotschno ähnelt auch das Epitaph von Johann von Kötteritz (1534–1609) und seiner Frau Caritas Distelmeier (1554–1615) aus der Berliner Nikolaikirche (1615), das auch mit dem Prinzip seiner eigenen Einfügung in den ‚realen‘ Raum der dargestellten Kirche operiert, in dem sich dieselben kirchlichen Handlungen (Altarsakrament, Taufe, Vermählung, Predigt) wie auf dem Bild vollziehen. Auch hier werden also suggestiv der reale Raum und die Bildrepräsentation miteinander verschränkt, 59 Vgl. Confessio Augustana variata secunda 1540 (W40R), in: BSELKQuM, Bd. 1: Von den altkirchlichen Symbolen bis zu den Katechismen Martin Luthers, ed. I. Dingel, Göttingen/ Bristol, CT, 2014, S. 119–167, hier S. 162. 60 Vgl. W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde (wie Anm. 30), S. 61–69. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 354 Ondřej Jakubec konkrete Einzelpersonen des realen Sakralraums werden im ‚fiktiven‘ Bildfeld dargestellt. Dieses illusionistische Verfahren ist kein Selbstzweck – es präsentiert die bei gottesdienstlichen Handlungen versammelte Kirchengemeinde. Der Betrachter konnte also das Kircheninnere in realer sowie auf dem Epitaphienbild in repräsentierter Form sehen. Ähnlich haben auch die Porträtierten durch ihre Anwesenheit im ‚realen‘ Kirchenraum ihre ‚ewige‘ Zugehörigkeit zur ‚lebenden‘ Kirchengemeinde betont, die der elementare Wesenszug der lutherischen Ekklesiologie war.61 Auf dem Gemälde ist ferner die Darstellung des Geistlichen Jakub Kunvaldský wichtig, der den typisch lutherischen Kommunikationsaspekt der gottesdienstlichen Handlungen präsentiert, wie ihn Luther in der Gottesdienstordnung „Deutsche Messe“ (1526) definiert hatte: Beim rechten Gottesdienst wahrer Christen sollte der Altar nicht dort bleiben, wo er ist und der Priester sollte stets den Gläubigen zugewandt stehen, wie es Christus beim Letzten Abendmahl tat.62 Das Epitaphienbild aus Opotschno weckt mit seiner illusionistischen ‚mise en abyme‘-Technik Assoziationen an den Altar in der Marienkirche (1586) in Mühlberg an der Elbe von Heinrich Göding d. Ä. (1531–1606). Zentralmotiv ist dort das letzte Abendmahl, das auch auf der Predella erscheint. Festgehalten ist die Szene vor dem Altar, auf dessen Mensa die betreffende Predella mit derselben Szene und wieder ad infinitum erscheint. Das Prinzip der auf den Altar gemalten gottesdienstlichen Handlungen ist bereits vom Wittenberger Altar (1547) Lucas Cranachs d. Ä. bekannt, wo auch die Predella den Eindruck des realen Raumes der Wittenberger Stadtkirche suggeriert. Laut Joseph Leo Koerner ist im Fall des Mühlberger Altars dieses Wiederholungsprinzip weder Zufall noch malerische Spielerei, es ist vielmehr – ähnlich wie in Opotschno – in religiösen bzw. vielmehr theologischen Kontexten zu sehen. Die Glaubensperspektive ist die Unsterblichkeit und Auferstehung von den Toten bzw. das ewige Leben in Christo, eventuell ist das Bild im Bilde auch eine Metapher für Christi Allgegenwärtigkeit.63 Das Bild aus Opotschno ist also ein Beleg dafür, wie im lutherischen Milieu der Altar, hier ein Epitaphienaltar, originell umgeformt wurde. Mit seiner Konzeption und Ikonografie verkörperte er vor allem die Prinzipien der neuen Konfession und Kirche: Vor diesem Altar versammelt sich eine Gemeinde, welche nach dem Augsburger Glaubensbekenntnis die „heilige christliche Kirche, die eine Versammlung aller Gläubigen ist, in der das reine Evangelium gepredigt wird und 61 Vgl. M. Deiters, Epitaphs in Dialog with Sacred Space. Post-Reformation Furnishing of St Nicolai and St Marien in Berlin, in: A. Spicer (Hg.), Lutheran Churches in Early Modern Europe, Farnham/Burlington 2012, S. 63–96, hier S. 79–96. 62 Zitiert nach J. L. Koerner, Reformation (wie Anm. 30), S. 171. 63 Vgl. ebd., S. 432–438. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 355 fromm die Sakramente gespendet werden“.64 Die Einbeziehung aller Gläubigen in die Ikonografie der Altäre, vor denen die Gemeinde zusammenkommt, ist eine der wesentlichen Innovationen der lutherischen religiösen Kunst.65 Das Denkmal aus Opotschno ist bzw. war (in seinem ursprünglichen vollständigen Zustand) ein prunkvolles Monument seiner Protagonisten Hans Dietrich/Jan Jetřich von Zierotin und dessen Frau Barbara. Es kombinierte dabei elementar die sepulkral-memorialen mit den konfessionellen Prinzipien. Einerseits manifestierte der Auftraggeber mit diesem höchst originellen Bekenntnisbild seine Konfession in einer sehr anschaulichen, narrativen, ja didaktischen Art und Weise. Anderseits präsentierte der neue Grundherr durch die prunkvolle Installierung des Monuments in der Schlosskirche von Opotschno die Macht über seine Herrschaft. Sein Porträt wurde im Raum der Schlosskirche zum ‚unverzichtbaren Einrichtungsgegenstand‘ und repräsentierte die sakrale Legitimität seiner Herrschaft und seine konfessionelle Autorität.66 Diese beiden Aspekte lassen sich nicht voneinander trennen und das Gemälde aus Opotschno zeigt eindrücklich, wie Hans Dietrich/ Jan Jetřich in seiner neuen Herrschaft weltliche und geistliche Macht visualisierte.67 Schluss Bridget Heal schließt in ihrem Buch über die lutherische visuelle Kultur ihre Überlegungen zu Sepulkralmonumenten mit dem Hinweis auf die auch in diesem Beitrag deutlich gewordene Ambivalenz ab: „Lutheran memorials to the dead were about both representation and devotion“ und betont dabei den Aspekt des „conjoining of politics and piety“.68 Möglicherweise ist es paradox, dass diese Ambivalenz auch beim Zierotiner Epitaph aus Opotschno als markantestem Monument der lutherischen Bildkultur in den böhmischen Ländern ein grundlegender Wesenszug ist. In solchen Fällen ist zweifellos die Frage legitim, in welchem Maß Sepulkralkunst und visuelle Kultur der Nachreformationszeit von der Herausbildung 64 Ebd., S. 80. 65 Vgl. W. A. Dyrness, Reformed Theology and Visual Culture. The Protestant Imagination from Calvin to Edwards, Cambridge/New York 2004, S. 56 f. 66 Vgl. R. Slenczka, Politische Porträtkultur im Dienst der Konfessionalisierung: Die Zerbster Taufe Christi (1568) von Lucas Cranach d. J., in: E.-B. Krems / S. Ruby (Hgg.), Das Porträt als kulturelle Praxis (TV 4), Berlin/München 2016, S. 192–210, hier S. 206. 67 Vgl. M. Wisłocki, Standeskonfessionalismus und Herrscherethos. Retabelstiftungen der Herzöge von Pommern, in: M. Deiters / E. Wetter (Hgg.), Bild und Konfession (wie Anm. 26), S. 189–281, hier S. 223. 68 B. Heal, Magnificent Faith (wie Anm. 32), S. 188. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 356 Ondřej Jakubec einer spezifischen ‚Konfessionskultur‘ geprägt waren. Damit ist es zugleich notwendig, auf das Paradigma der Konfessionalisierung von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard einzugehen, das mittlerweile ja bereits modifiziert wurde. Eine solche Modifizierung bzw. Revision verlangt eine Ergänzung der makrohistorischen durch eine historisch-anthropologische und mikrohistorische Perspektive.69 Diese Perspektive hat auch die Kunstgeschichte bei der Erforschung des komplexen Kunstbetriebs und der Distribution von Kunstwerken einzunehmen, wo sich Künstler, Auftraggeber und Rezipienten in unterschiedlichen sozialen und transkonfessionellen Netzwerken bewegten.70 Eine der Leitfragen könnte dabei sein: Gab es in Zeiten der Reformation und Gegenreformation einen starken individuellen Bedarf, auf Epitaphien die Konfession zur Schau zu stellen? Ja – so könnte die Antwort lauten –, aber nur bis zu einem gewissen Grad bzw. der Konfessionsaspekt war (bis auf Ausnahmen) nicht fundamental. Sofern man nur diesem nachginge, könnte man möglicherweise zu einem verzerrten Ergebnis gelangen, denn wir würden diese Konfessionalität gerade aus der Perspektive des modernen Konfessionalisierungskonzepts ‚enthüllen‘. In ihrer Zeit verbanden sepulkral-memoriale Objekte untrennbar die Prinzipien von Erinnerung und Frömmigkeit, was ziemlich genau dem zeitgenössischen Begriff christliches gedechtnüß entspricht.71 Repräsentation, Frömmigkeit, eschatologische Hoffnung, gesellschaftliches Wirken sowie private Motivation, individueller Glaube und die Konventionen von Sterben und Erinnerung – all das bildete ein unzertrennliches Amalgam von Motivationen bei der Produktion und Perzeption solcher Denkmäler. Im Prinzip musste deren Charakter aus katholischer sowie nichtkatholischer Sicht nicht so stark divergieren, zumal bei ihrer Gestaltung die (mentale und künstlerische) Tradition eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte.72 Auch die ‚lutherische‘ Tafel aus Opotschno weist eine solche Ambivalenz bzw. Bipolarität auf, die insbesondere mit der religiösen und 69 Vgl. W. Reinhard, Abschied von der „Gegenreformation“ und neue Perspektiven der Forschung, in: Zeitsprünge 1 (1997), S. 440–451. 70 Vgl. B. U. Münch, Geteiltes Leid. Die Passion Christi in Bildern und Texten der Konfessionalisierung. Druckgraphik von der Reformation bis zu den jesuitischen Großprojekten um 1600, Regensburg 2009, S. 259 f.; T. Packeiser, Katholische Kunst angesichts der Reformation. Notizen zu Konfessionalisierung, konfessioneller Identität und Kontextforschung anläßlich einer Neuerscheinung, in: RQA 103 (2008), S. 188–214. 71 Christliche gedechtnüß, oder Grabschriefften, weylandt der Christlichen, Erbarn, und tugent­ reychen Frawen, Marie Cleophe, Herrn Georgen Voglers, Marggreuischen Raths, [et]c. ehlichen haußfrawen. Erstlich inn Latein beschrieben, und auß dem selben, inn teutsch Re[ue] men gebracht […], Nürnberg 1543 (VD16 E 1751). 72 Vgl. B. U. Münch, Geteiltes Leid (wie Anm. 70), S. 253 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern? 357 sakralen Erinnerungskultur adeliger Kreise verknüpft ist.73 Die vorgestellten Zierotiner Monumente wiesen dabei verschiedene Formen der ‚Sprache‘ der nichtkatholischen Epitaphienproduktion auf – von der typisierten (Napajedl) über die Symbolsprache visueller ‚Codes‘ (Groß Seelowitz) bis zum offensichtlich manifestartigen Gemälde in Opotschno. Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit war in konfessioneller Hinsicht gespalten und stand zahlreiche Konflikte durch, lebte aber auch in Koexistenz. Die Sterbe- und Erinnerungskultur konnte gewiss ein „konfessionell zugespitzter Raum“ oder geradezu ein „Teil der religiösen Propaganda“ sein, konnte Hass, Gewalt, Exhumierungen und Zerstörung von Sepulkralmonumenten mit sich bringen.74 Gleichermaßen, ja offensichtlich überwiegend herrschte aber die Praxis einer überkonfessionellen Toleranz oder pragmatischen Verträglichkeit. Diese Spannweite findet man auch auf den Epitaphien – und vielleicht auch in den Absichten ihre Auftraggeber und Schöpfer. Hier haben wir ein breites Spektrum von universaler und christlich überzeitlicher, dabei nicht sonderlich ideologisierter Ikonografie ebenso vor uns wie eine subkutane Sprache der Anspielung auf konfessionelle Identität, aber auch – eher als Ausnahme – konfessionell programmatische Monumente, die einen demonstrativen und streitbaren Charakter hatten. Bei der überwältigenden Mehrzahl der Sepulkralmonumente findet man allerdings offensichtlich keine dezidierte Konfessionalität, auch wenn es – durchaus nicht unwichtige – Ausnahmen gibt. Sofern man also eindeutig konfessionalisierte Text- oder Bildbeweise erwartet (die es durchaus gibt), dürfte man in den meisten Fällen enttäuscht sein. Die Abwesenheit von konfessioneller Distinktion oder Konfrontation bedeutet natürlich nicht die Nichtexistenz dieser Unterschiede, auch lassen sich eigenwillige individuelle Moden nicht leugnen, die von der jeweiligen Konfessionskultur hervorgebracht wurden. Prinzipiell wurde aber die Konfessionalität eines Werks nicht nur von Form, Text oder Ikonografie bestimmt, sondern in weit erheblicherem Maße vom Umfeld und von der Funktion des Objekts. Sofern an diesem etwas geändert wurde oder verloren ging, veränderten sich auch Bedeutung und Aussagen. Dieser Wandel und der mehr oder weniger starke Verlust der ‚Lesart‘ sind allerdings unvermeidbar, denn selbst das wesentlichste Element im Wahrnehmungsprozess von Bedeutungen, also der Betrachter, wandelt sich, und mit ihm auch die Fähigkeit der visuellen Perzeption und Kommunikation. An dieser Perzeption haben im Übrigen viele 73 Vgl. M. Deiters / E. Wetter, Einleitung, in: Diess. (Hgg.), Bild und Konfession (wie Anm. 26), S. 11–32, hier S. 17. 74 R. Pavlíčková, „Da ligt nu alles an der kunst wol zu sterben“. Die Sammlung „Catholische Leichpredigen“ des Matthias Tympius, in: WBN 36 (2009), S. 65–79, hier S. 78. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 358 Ondřej Jakubec verschiedenartige Rezipienten teilgenommen: „Number of eyes and minds in a given place and time might have operated.“75 Diesem Wandel bei der Entschlüsselung der Monumente zum Trotz kann man zusammenfassen, dass Epitaphiendenkmale im katholischen sowie nichtkatholischen Umfeld im Grunde einen gemeinsamen Nenner hatten: Mehr als die Polarisierung und der Ausdruck der persönlichen Konfessionsidentität war das die universale „eschatologische Kommemoration“.76 Dieser Befund ist nicht Ausdruck von Resignation, sondern im Gegenteil ein Aufruf, bei der Entschlüsselung von Denken und Handeln des Menschen die Relevanz von Bildern nicht außer Acht zu lassen. (Übersetzung: Jürgen Ostmeyer) 75 S. Lingo, Federigo Barocci. Allure and Devotion in Late Renaissance Painting, New Haven/ London 2008, S. 4. 76 B. Emich, Günstlinge, Gräber, Günstlingsgräber. Versuch einer Bilanz, in: A. Karsten (Hg.) / A. Ladegast (Mitarb.), Das Grabmal des Günstlings. Studie zur Memorialkultur frühneuzeitlicher Favoriten (HSKBG 15), Berlin 2011, S. 309–314, hier S. 312. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 DIE VERBREITUNG DER REFORMATION – RÄUME UND WISSENSTRANSFER Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Martin Rothkegel Mähren als Gelobtes Land Migrationserfahrung und Heilsgeschichte bei den Hutterischen Brüdern Dem Andenken von Gottfried Seebaß (1937–2008) und Werner O. Packull (1941–2018) gewidmet. Religiöse Deutungen von Migrationserfahrungen in der Frühen Neuzeit Migration und Flucht waren im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 höchst aktuelle, in der europäischen Öffentlichkeit breit und kontrovers diskutierte Themen. Es lag daher nahe, die Stichworte ‚Reformation‘ und ‚Flucht‘ miteinander verknüpfend im Zuge des Jubiläumsjahrs 2017 mit der Reformation zusammenhängende Migrationsphänomene in den Blick zu nehmen, was unter Aufnahme aktueller Forschungsdiskussionen zur Migration in der Frühen Neuzeit1 unter anderem in Ausstellungen und zahlreichen weiteren Veranstaltungen der von staatlicher und kirchlicher Seite opulent ausgerichteten deutschen Jubiläumsfeierlichkeiten geschah.2 1 2 Aus der umfangreichen Literatur seien genannt K. J. Bade / P. C. Emmer / L. Lucassen / J. Oltmer (Hgg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn/München/Wien/Zürich 2007; J. Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4), Berlin/Münster 2008; Ders. / R. Bendel (Hgg.), Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive (FQKKGOd 40), Köln/ Weimar/Wien 2008; C. Absmeier / M. Asche / M. Fata / A. Röder / A. Schindling (Hgg.), Religiös motivierte Migrationen zwischen dem östlichen Europa und dem deutschen Südwesten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (VKGL B 219), Stuttgart 2018. Erwähnt seien „Reformation und Flucht. Emden und die Glaubensflüchtlinge im 16. Jahrhundert“, Gemeinsame Ausstellung der Johannes a Lasco Bibliothek und des Ostfriesischen Landesmuseums Emden, 14.5.–5.11.2017; C. Absmeier / A. Röder (Hgg.), Flucht vor der Reformation. Täufer, Schwenckfelder und Pietisten zwischen dem deutschen Südwesten und dem östlichen Europa. Begleitband zur Ausstellung, Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart 2016. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 362 Martin Rothkegel Angesichts der Diversität der Fluchtbewegungen des Reformationsjahrhunderts wäre es problematisch, eine ‚Reformation der Flüchtlinge‘ als zusammenhängendes Phänomen darstellen zu wollen.3 Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass sich die vielfältigen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung in der theologischen Lehrbildung, der Frömmigkeitspraxis und im Selbstverständnis religiöser Gruppen widerspiegelten. Bekannt ist die von Heiko Augustinus Oberman (1930–2001) nachdrücklich vertretene These, die Erfahrung von Flucht und Asyl habe Lehrbildung und Spiritualität Johannes Calvins (1509–1564) und des Calvinismus maßgeblich geprägt.4 Ähnliche Interpretationsansätze würden sich für die ‚unsichtbare Kirche‘ des inkognito bei Basel lebenden niederländischen Exulanten David Joris (1501/02– 1556)5 oder für den ortlosen Spiritualismus des seit 1529 an wechselnden Orten verborgen im süddeutschen Exil lebenden Schlesiers Kaspar Schwenckfeld (1489/90–1561) anbieten.6 Auch ein Beispiel aus dem zeitgenössischen Judentum sei erwähnt: Die katastrophale Erfahrung der Vertreibung der Juden aus Spanien stand – laut der Interpretation von Gerschom Scholem (1897–1982) – im Hintergrund der komplexen Lehre vom Exil Gottes und vom Prozess der Erlösung, zu der Isaak Luria (1534–1572) die esoterischen Traditionen der Kabbala umgebildet hatte und die im 17. Jahrhundert eine erstaunliche Verbreitung und Popularisierung in der gesamten jüdischen Diaspora erfuhr.7 Mit den biblischen Motiven des Exodus der Israeliten aus Ägypten, der Wüstenwanderung des Gottesvolkes, des Gelobten Landes und der Landnahme, des 3 4 5 6 7 Einen anspruchsvollen und anregenden Versuch einer solchen Darstellung unternahm N. Terpstra, Religious Refugees in the Early Modern World. An Alternative History of the Reformation, New York 2015. Vgl. H. A. Oberman, Europa afflicta. The Reformation of the Refugees, in: ARG 83 (1992), S. 91–111; Ders., Zwei Reformationen. Luther und Calvin. Alte und Neue Welt, ed. M. Schulze, übersetzt von C. Wiese, Berlin 2003, S. 163–169; Ders., John Calvin and the Reformation of the Refugees, ed. P. A. Dykema (THR 464), Genève 2009. Zu Joris vgl. R. H. Bainton, David Joris. Wiedertäufer und Kämpfer für Toleranz im 16. Jahrhundert (ARG ErgBd. 6), Leipzig 1937; G. K. Waite, David Joris and Dutch Anabaptism, 1524–1543, Waterloo 1990. Zu Schwenckfeld vgl. R. E. McLaughlin, Caspar Schwenckfeld, Reluctant Radical. His Life to 1540 (YHP, Series 3, Miscellany 134), New Haven/London 1986; C. Gritschke, ‚Via Media‘: Spiritualistische Lebenswelten und Konfessionalisierung. Das süddeutsche Schwenckfeldertum im 16. und 17. Jahrhundert (CA 22), Berlin 2006; H. Weigelt, Von Schlesien nach Amerika. Die Geschichte des Schwenckfeldertums (NFSG 14), Köln/Weimar/Wien 2007. Vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, S. 267–314; kritisch zu Scholems Ansatz M. Idel, Kabbalah. New Perspectives, New Haven/London 1988. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Mähren als Gelobtes Land 363 Babylonischen Exils, des prophetisch-apokalyptischen Rufs Geht hinaus aus Babylon! ( Jes 48,20; Jer 50,8 und 51,6.45; 2 Kor 6,17; Offb 18,4), der Rückkehr aus dem Exil, des Wiederaufbaus des von den Gottlosen zerstörten Tempels, der Völkerwallfahrt zum Zion und der Vision des Neuen Jerusalem als Ziel der Heilsgeschichte (Offb 21 und 22) war christlichen Gruppen der Frühen Neuzeit ein gemeinsamer Vorrat an Metaphern und Deutungsmustern zur religiösen Verarbeitung von Flucht- und Migrationserfahrungen vorgegeben. Nicht selten kam es dabei zu Gleichsetzungen des Migrationsziels mit dem Gelobten Land oder gar dem Neuen Jerusalem, teils im Sinne einer unverbindlichen rhetorischen Metaphorik, teils aber auch mit recht konkreten Implikationen. Neben den französischen Glaubensflüchtlingen, die in Calvins Genf ein Neues Jerusalem sahen, seien die puritanischen Siedler genannt, die in Neuengland theokratische Gemeinwesen gründeten, um dort die Wiederkunft Christi zu erwarten,8 oder auch die niederländisch-reformierten Siedler, die seit dem 17. Jahrhundert nach Südafrika kamen und ihren Anspruch auf den Besitz des Landes mit einer aus biblischen Texten hergeleiteten Bundestheologie legitimierten.9 Zu einer vergleichbaren geographischen Konkretisierung – typologisch-ek­ klesiologisch verstandener – alttestamentlicher Motive kam es im 16. Jahrhundert bei täuferischen Flüchtlingsgemeinden, die auf adligen Grundherrschaften in Südmähren Asyl fanden. Zu beachten ist allerdings der entscheidende Unterschied, dass die Täufer, von denen in den folgenden Abschnitten die Rede sein wird, keinen Anspruch auf den Besitz des Landes, das sie als den ihnen von Gott angewiesenen Ort ansahen, erhoben. Die hutterische Kirche in Mähren Auffällige Analogien zur Theologisierung von Migrationserfahrungen bei den Neuengland-Puritanern des 17. Jahrhunderts – die durch den Rückgriff auf dieselben biblischen Motivkomplexe zu erklären sind und hier nicht analysiert werden sollen – lassen sich bei den Hutterischen Brüdern beobachten. Diese hatten 8 9 Vgl. S. Bercovitch, The Puritan Origins of the American Self, New Haven/London 21976; A. Zakhai, Exile and Kingdom. History and Apocalypse in the Puritan Migration to America (Cambridge Studies in Early Modern British History), Cambridge 1992; N. Bunker, Making Haste from Babylon. The Mayflower Pilgrims and Their World. A New History, London 2010. Vgl. J. N. Gerstner, The Thousand Generation Covenant. Dutch Reformed Covenant Theology and Group Identity in Colonial South Africa, 1652–1814 (SHCT 44), Leiden/New York/København/Köln 1991. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 364 Martin Rothkegel sich 1533 als selbstständige Gemeinde konstituiert und waren von den 1540er Jahren an bis zum Verbot täuferischer Gemeinden in Mähren 1622 die mitgliederstärkste täuferische Glaubensgemeinschaft in der Markgrafschaft.10 Der Anteil der einheimischen Deutschmährer an der ‚Gemeinde Gottes in Mähren‘ war gering.11 Vielmehr handelte es sich bei den Mitgliedern der hutterischen Kirche ganz überwiegend um Migranten der ersten Generation oder deren bereits in Mähren geborene Nachfahren. In den Anfangsjahren der Gemeinschaft schlossen sich den Hutterern häufig Einzelpersonen und Gruppen an, die durch spontane Flucht vor akuter Verfolgung nach Mähren gelangt waren. Die hutterische Bruderschaft begann aber schon früh mit der gezielten Aussendung von Emissären in die deutschsprachigen Nachbarländer, die dort in den klandestinen täuferischen Netzwerken für die Emigration warben. Der Großteil der hutterischen Konvertiten wurde durch systematische Missionsaktivitäten nach Mähren geführt. Herkunftsländer waren vor allem die österreichischen Erblande, der gesamte süddeutsche Bereich, Schlesien, die Pfalz und die Rheinlande. Ab den 1580er Jahren wurden auch regelmäßig hutterische Missionare zu den bedrängten Täufern in der Schweiz ausgesandt.12 In kleinerem Maße traten täuferische Flüchtlinge aus Norditalien, Slowaken und einzelne Polen der Gemeinschaft bei, für die eigens italienische und slowakische Prediger ordiniert wurden.13 Die Vielfalt der in der Gemeinde gesprochenen Dialekte und 10 Zu den Hutterischen Brüdern vgl. A. von Schlachta, Hutterische Konfession und Tradition 1578 bis 1619. Etabliertes Leben zwischen Ordnung und Ambivalenz (VIEG AARG 198), Mainz 2003; J. Pajer, Studie o novokřtěncích [Studien über die Täufer], Strážnice 2006; R. Kobe, Täuferische Konfessionskultur in der Frühen Neuzeit. Mennoniten am Niederrhein (Krefeld) und Hutterische Brüder in Mähren und Ungarn 1550–1750 (SVRKG 185), Bonn 2014, S. 166–318; zur Vielfalt täuferischer Kirchenbildungen in Mähren vgl. M. Rothkegel, Anabaptism in Moravia and Silesia, in: J. D. Roth / J. M. Stayer (Hgg.), A Companion to Anabaptism and Spiritualism, 1521–1700 (BCCT 6), Leiden/Boston 2007, S. 163–215. 11 Zu den Beziehungen der Hutterer zur einheimischen deutschmährischen Bevölkerung vgl. J. K. Zeman, The Anabaptists and the Czech Brethren in Moravia 1526–1628. A Study of Origins and Contacts (Studies in European History 20), The Hague/Paris 1969, S. 304–307. 12 Vgl. A. von Schlachta, „Searching through the Nations“: Tasks and Problems of Sixteenth-Century Hutterian Mission, in: MQR 74 (2000), S. 27–49; Dies., Hutterische Konfession (wie Anm. 10), S. 340–387; M. Rothkegel, Kollektive Zucht und individuelle Heilsgewißheit. Zur Emigrationswerbung der Hutterischen Brüder, in: J. Bahlcke / R. Bendel (Hgg.), Migration (wie Anm. 1), S. 133–144; zur hutterischen Mission in der Schweiz vgl. U. B. Leu / C. Scheidegger (Hgg.), Die Zürcher Täufer 1525–1700, Zürich 2007, S. 131–144. 13 Zu den italienischen Hutterern vgl. A. Stella, Dall’anabattismo veneto al „Sozialevangelismus“ dei Fratelli Hutteriti e all’illuminismo religioso sociniano (Italia Sacra 54), Roma 1996, S. 106–135; zu den Beziehungen der Hutterer nach Polen zuletzt M. Luszczynska, The Polish Brethren versus the Hutterites: A Sacred Community?, in: JEMC 4 (2017), S. 21–46; Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Mähren als Gelobtes Land 365 Sprachen (die ‚offizielle‘ Schriftsprache der Gemeinde war ein bairisch-österreichisch gefärbtes Frühneuhochdeutsch)14 trug zu dem Bewusstsein der Hutterer bei, das aus allen Völkern berufene und versammelte endzeitliche Gottesvolk (Offb 7,9) zu sein. Die Hutterischen Brüder verstanden sich als die in der letzten Periode der Heilsgeschichte wiederaufgerichtete wahre apostolische Kirche. Ihr tendenziell exklusives Selbstverständnis wird insbesondere in der 1581 kompilierten Gemeindechronik deutlich, die mit der Weltschöpfung beginnt und nach einem knappen Durchgang durch die biblische Geschichte und die Kirchengeschichte die Erzählung in der Gründung der hutterischen Gemeinde 1533 gipfeln lässt und von da an deren Geschicke bis zur Gegenwart der Chronisten weiterverfolgt.15 Wie andere separatistische Gruppen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit griffen die Hutterer die waldensische Verfallstheorie auf,16 wonach die Kirche seit der Zeit Konstantins des Großen (306–337) unter die Herrschaft des Antichrist geraten sei. Seither gab es keine wahre Kirche mehr, sondern höchstens einzelne Personen oder Gruppen, die einen kleinen Schein der Wahrheit hatten.17 Erst mit dem Auftreten Martin Luthers (1483–1546) und Huldrych Zwinglis (1483–1531) begann das Licht der Wahrheit durch das barmherzige Eingreifen 14 15 16 17 zu den slowakischen Hutterern vgl. Geschicht-Buch der Hutterischen Brüder, ed. R. Wolkan, Standoff-Colony bei MacLeod/Wien 1923, S. 131, 313, 329, 361, 425, 427. Vgl. H. Scheer, Sprachliche Untersuchung der „Ältesten Chronik der hutterischen Brüder“, Masch. Diss. Edmonton (Alberta) 1962. Die 1581 von Hauprecht Zapff (1545/46–1630) im südmährischen Neumühl/Nové Mlýny, dem Sitz der hutterischen Kirchenleitung, kompilierte „Große Chronik“ ist in zwei Exemplaren überliefert, die sich beide im Besitz der Hutterischen Brüder in den USA befinden. Auf einer der beiden Handschriften beruht die kritische Ausgabe: Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder. Ein Sprachdenkmal aus frühneuhochdeutscher Zeit, ed. A. J. F. Zieglschmid, Ithaca 1943; im Folgenden wird nach der orthografisch modernisierten Ausgabe: Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), zitiert. Neben der „Großen Chronik“ existieren zahlreich kleinere hutterische Chronikhandschriften, in denen teilweise ältere, vor 1581 entstandene hutterische chronistische Texte, die in der „Großen Chronik“ verarbeitet sind, überliefert sind; von diesen ‚kleinen‘ Chroniken liegt eine gekürzte, aus mehreren Handschriften kompilierte Edition vor: Die Geschichts-Bücher der Wiedertäufer in Oesterreich-Ungarn. Betreffend deren Schicksale in der Schweiz, Salzburg, Ober- und Nieder-Oesterreich, Mähren, Tirol, Böhmen, Süd-Deutschland, Ungarn, Siebenbürgen und Süd-Russland in der Zeit von 1526–1785, ed. J. Beck (FRA DA 43), Wien 1883, ND: Nieuwkoop 1967. Zu dieser vgl. W.-F. Schäufele, „Defecit Ecclesia“. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichte des Mittelalters (VIEG AARG 213), Mainz 2006; G. Dipple, „Just as in the Time of the Apostles“. Uses of History in the Radical Reformation, Kitchener 2005. Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 28. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 366 Martin Rothkegel Gottes wieder zu scheinen. Den Abschnitt über Luther und Zwingli beginnt der Chronist mit einem Blick hinter die Kulissen der Weltgeschichte: Weil aber Gott das menschliche Geschlecht je und allweg geliebet hat und nicht zum Verderben beschaffen, dem Irrtum, Schaden und Betrug des Teufels für zu kommen, hat er aus großem Mit­ leiden den hellen Schein und Glanz der göttlichen Wahrheit, aber doch gar fein gemächlich ange­ fangen aufzublasen und mit großer Bescheidenheit das Licht aus der Finsternis herfür getragen.18 Allerdings kam es noch nicht zur Wiederaufrichtung der wahren Kirche. Weder Luther noch Zwingli wurden ihrem göttlichen Auftrag gerecht, da sie sich zur Durchsetzung ihrer Lehre der weltlichen Macht bedienten und ihre Anhänger nicht von Sünde und weltlichem Lebenswandel abhielten, als ob einer einen alten Kessel flicket, das Loch nur ärger wird, und haben ein ganz frech Volk zu sündigen erzogen und hinter ihnen gelassen. Gleichnisweis zu reden, dem Papst den Krug aus der Hand geschlagen, die Scherben selbst darinnen behalten.19 Es bedurfte daher weiterer Interventionen Gottes, damit die Wiederaufrichtung der wahren Kirche ihren Anfang nehmen konnte. Der erste Schritt dazu waren die ersten Taufen von erwachsenen Gläubigen Anfang 1525 in Zürich im Kreis um Konrad Grebel (ca. 1498–1526), Felix Mantz (ca. 1498–1527), Georg Blaurock (ca. 1492–1529) und Wilhelm Reublin (ca. 1484–nach 1559). Die Schilderung der Zürcher Taufhandlung beginnt wiederum mit einem ‚Prolog im Himmel‘: Weil aber Gott ein einigs Volk, abgesündert von allen Völkern, haben wollt, hat er den wahren, rechten Morgenstern, das Licht seiner Wahrheit, in völligem Schein wieder herfür wollen bringen im letzten Alter dieser Welt, besonders in deutscher Nation und Landen, dieselben mit seinem Wort heimzusuchen und den Grund göttlicher Wahrheit zu offenbaren.20 Für die acht Jahre zwischen den Zürcher Anfängen der Täuferbewegung 1525 und der vollständigen Wiederherstellung der wahren Kirche im Jahr 1533 in Auspitz/Hustopeče durch den aus Tirol stammenden Hutmacher und täuferischen Laienprediger Jakob Hutter (ca. 1500–1536) verlagert sich der Erzählstrang der Chronik nach Mähren. 1526/27 führte der gelehrte Theologe Balthasar Hubmaier (ca. 1485–1528), der 1528 in Wien auf dem Scheiterhaufen starb, auf der Grundherrschaft Nikolsburg/Mikulov eine täuferische Lokalreformation durch.21 18 19 20 21 Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33 f. Vgl. ebd., S. 36. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Mähren als Gelobtes Land 367 Die Nikolsburger Täufer bekannten sich aber nicht zum Pazifismus, den die Hutterer als notwendiges Merkmal der wahren Kirche ansahen, sondern behielten das Schwert, daher sie Schwertler genennt.22 1527 zog der täuferische Wanderprediger Hans Hut (ca. 1490–1527) durch Nikolsburg und wurde dort auf Hubmaiers Betreiben vorübergehend verhaftet; laut Darstellung der Chronik, die in diesem Punkt wahrscheinlich unzutreffend ist, vertrat Hut pazifistische Grundsätze und war darüber in Konflikt mit der Nikolsburger Obrigkeit geraten.23 Weiter berichtet die Chronik, dass Anhänger Huts, die aus Niederösterreich nach Mähren geflohen waren und sich dort nicht der Nikolsburger Täuferkirche anschließen wollten, 1528 eine pazifistische Gemeinde in Austerlitz/Slavkov u Brna gründeten, aus der die Austerlitzer Brüder, eine der täuferischen Denominationen in Mähren, hervorgingen.24 Von der Austerlitzer Gemeinde, die – so jedenfalls die hutterische Darstellung – in ihrer Frühzeit versuchte, die Gütergemeinschaft einzuführen, ohne jedoch konsequent das Privateigentum abzuschaffen, spaltete sich Anfang 1531 eine streng kommunitäre Gemeinde ab, die sich in Auspitz niederließ. Die Auspitzer Gemeinde wuchs durch den Zuzug täuferischer Flüchtlinge schnell und bildete mit anderen täuferischen Flüchtlingsgemeinden in Südmähren einen Gemeindeverband, dem auch eine Gemeinde in Rossitz/Rosice u Brna unter der Leitung des aus Nürnberg stammenden Kürschners Gabriel Ascherham († nach 1548) angehörte, von dem unten noch einmal die Rede sein wird.25 1533 kam es jedoch zu Rivalitäten zwischen den Leitern der vereinigten Gemeinden. In dem Machtkonflikt setzte sich Jakob Hutter, der seit 1529 der Austerlitzer und anschließend der Auspitzer Gemeinde angehört hatte, als alleiniger ‚Bischof und Hirt‘ der Auspitzer Gemeinde und der mit dieser verbundenen 22 Ebd., S. 62. 23 Vgl. ebd., S. 37 f.; zu Huts Haltung zum Schwert, d. h. zum Kriegsdienst und zur Ausübung obrigkeitlicher Ämter, vgl. J. M. Stayer, Anabaptists and the Sword, Lawrence, 1972, S. 141–187; G. Seebass, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut (QFRG 73), Gütersloh 2002, S. 370 f., 488–494. 24 Vgl. Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 61–63; zu den Austerlitzer Brüdern vgl. M. Rothkegel, Die Austerlitzer Brüder oder Bundesgenossen – Pilgram Marpecks Gemeinde in Mähren, in: A. Schubert / A. von Schlachta / M. Driedger (Hgg.), Grenzen des Täufertums / Boundaries of Anabaptism. Neue Forschungen (SVRG 209), Gütersloh 2009, S. 232–270; Ders., Pilgram Marpeck and the Fellows of the Covenant: The Short and Fragmentary History of the Rise and Decline of an Anabaptist Denominational Network, in: MQR 85 (2011), S. 7–36. 25 Vgl. Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 67–73; sowie auch die präzise Analyse der in der hutterischen Chronik dargestellten Vorgänge der Jahre 1527 bis 1533 durch W. O. Packull, Hutterite Beginnings. Communitarian Experiments during the Reformation, Baltimore/London 1995, S. 133–158. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 368 Martin Rothkegel Zweiggemeinden durch und erklärte alle Prediger und Gemeindemitglieder, die sich ihm nicht unterordnen wollten, für exkommuniziert.26 Mit dem Antritt der alleinigen Gemeindeleitung durch Jakob Hutter, der sich von Gott als Apostel zur Wiederherstellung der apostolischen Kirche berufen wusste,27 war nach hutterischer Auffassung die seit der Zeit Kaiser Konstantins zerstörte wahre Kirche nach zwölf Jahrhunderten der geistlichen Finsternis vollständig wiederhergestellt. Hutter hatte die Gemeindeleitung nur für kurze Zeit inne. Als es in Mähren 1535 zu einer vorübergehenden Verfolgung der Täufer durch König Ferdinand I. (1526–1564) kam, begab er sich – anscheinend in Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Weltendes – auf eine letzte Missionsreise nach Tirol, wurde dort verhaftet und starb am 24. Februar 1536 in Innsbruck auf dem Scheiterhaufen.28 Die von Hutter gegründete Kirche überstand die Verfolgung von 1535 ebenso wie eine weitere Verfolgungswelle in den Jahren 1547 bis 1552. Für das ausgehende 16. Jahrhundert sind 54 Gemeinschaftssiedlungen der Hutterer bezeugt, die sich teils innerhalb von untertänigen Städten, teils innerhalb von Dörfern oder auf Meierhöfen und um Mühlen außerhalb geschlossener Ortschaften befanden.29 Von gewählten ‚Dienern des Worts‘ (Predigern) und ‚Dienern der zeitlichen Notdurft‘ (Haushaltern) geleitet, bildete die hutterische Kirche ein von den Personenverbänden und administrativen Strukturen ihrer kleinstädtischen und dörflichen Umgebung weitgehend unabhängiges, selbstverwaltetes Gemeinwesen, das nach außen von einem Vorsteher oder Bischof und seinem Mitarbeiterstab vertreten wurde. Nach einer Berechnung des Archäologen Jiří Pajer waren die hutterischen ‚Haushaben‘ oder ‚Bruderhöfe‘ von etwa 20.000 Personen bewohnt; zeitgenössische Angaben über die Mitgliederzahl der Hutterischen Brüder waren teilweise sogar wesentlich höher.30 In Hinblick auf Einwohnerzahl und ökonomische Leistungsfähigkeit standen die hutterischen Haushaben der Gesamtheit der königlichen Städte in Mähren (Olmütz/Olomouc, Znaim/Znojmo, Brünn/ Brno, Iglau/Jihlava, Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště und Mährisch Neustadt/Uničov) anscheinend nicht nach.31 Den Hutterern ging es nicht darum, in Mähren Land zu erwerben, sondern sie lebten mit einem besonderen, vertraglich geregelten Status gewissermaßen 26 27 28 29 30 31 Vgl. Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 75–87. Vgl. ebd., S. 100, die Selbstbezeichnung Hutters als ‚Apostel und Knecht Gottes‘. Vgl. ebd., S. 118 f. Vgl. J. Pajer, Studie (wie Anm. 10), S. 19–40. Vgl. ebd., S. 61–68. Zu Schätzungen der Einwohnerzahlen Böhmens und Mährens im 16. Jahrhundert vgl. J. Janáček, České dějiny [Tschechische Geschichte], Buch 1: Doba předbělohorská [Die vorweißenbergische Zeit], T. 1: 1526–1547, Praha 1968, S. 160–165. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Mähren als Gelobtes Land 369 als Gäste der Grundherren auf adligen Grundherrschaften. Ökonomische Grundlagen der hutterischen Niederlassungen waren kapitalintensive Gewerbe wie die handwerkliche Produktion von Luxusgütern für den Adel32 und qualifizierte Dienstleistungen für die adlige Großgüterwirtschaft, z. B. als Müller, Kellermeister oder Gutsverwalter.33 Die hutterischen Handwerksbetriebe waren nicht in die Zünfte der mährischen Städte eingebunden und waren durch Nichtbeachtung der Produktionsbeschränkungen und Preisbindungen des zünftischen Handwerks konkurrenzfähig: Trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer kommunistischen Produktionsweise waren die Hutterer in der Lage, eine frühe Sonderform kapitalistischen Wirtschaftens zu praktizieren.34 Die hutterische Konfessionskultur hatte, der Herkunft des Großteils ihrer Konvertiten aus dem lesefähigen städtischen Handwerkerstand entsprechend, einen genuin städtischen Charakter.35 Der hutterischen Kirche konnten nur Erwachsene, freiwillig und nach gründlicher Vorbereitung, beitreten. Nicht alle in der Gemeinschaft geborenen Kinder ließen sich, sofern sie das Erwachsenenalter erreichten, taufen. Daher dürfte die demographische Reproduktivität der Hutterischen Kirche deutlich unter der der Mehrheitsbevölkerung gelegen haben. Auch durch den rigorosen Ausschluss von Mitgliedern, die gegen die strenge Disziplin verstießen, verlor die Gemeinschaft ständig Mitglieder. Um ihren Mitgliederstand halten zu können und wirtschaftlich zu prosperieren, waren die Hutterischen Brüder auf den 32 Zur hutterischen Handwerksproduktion vgl. P. Horváth, Die handwerkliche Erzeugung auf dem Habanerhof in Soblahov in den Jahren von 1649 bis 1658, in: ZSNM 61, Etnografia 8 (1967), S. 135–166; V. Vokáčová, Habánské příbory ve sbírce UPM [Habaner Bestecke in der Sammlung des Kunstgewerbemuseums], in: Acta UPM 15, Reihe C: Commentationes 2 (1980), S. 114–123; J. Pajer, Studie (wie Anm. 10), S. 79–224; Ders., Anabaptist Faience from Moravia 1593–1620. Catalogue of Documents from Institutional and Private Collections, Strážnice 2011; J. E. Horváth / M. H. Krisztinkovich, A Canadian Collection of Hungarica, Bd. 4: A History of Haban Ceramics. A Private View, Vancouver 2005. 33 Vgl. F. Hrubý, Die Wiedertäufer in Mähren, Leipzig 1935, Sonderdruck aus dem ARG 30–32 (1933–1935), S. 23–36. 34 Vgl. H.-J. Goertz, Religiöser Nonkonformismus und wirtschaftlicher Erfolg. Die Gütergemeinschaft der Täufer in Mähren – eine neue Deutung, in: Ders., Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen (FKDG 93), Göttingen 2007, S. 343–362. 35 Dies zeigt sich insbesondere an der Buchkultur der Gemeinschaft, die am Ziel der Alphabetisierung aller männlichen und weiblichen Mitglieder ausgerichtet war. Vgl. M. Rothkegel, Zur Buchkultur der Hutterischen Brüder in Mähren und Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert, in: T. Katona / D. Haberland (Hgg.), Kultur und Literatur der Frühen Neuzeit im Donau-Karpatenraum. Transregionale Bedeutung und eigene Identität (Acta Germanica 14), Szeged 2014, S. 261–300. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 370 Martin Rothkegel ständigen Zustrom von Menschen und von Kapital angewiesen – auch dieser Umstand stand anscheinend im Hintergrund der aufwändigen und riskanten Missionsaktivitäten der hutterischen Sendboten, die für die Auswanderung ins ‚Gelobte Land‘ Mähren warben. Nikolsburg als religiös markierter Ort bei Balthasar Hubmaier und Hans Hut Bereits vor der Entstehung der Hutterischen Brüder gab die – angesichts der Kriminalisierung der ‚Wiedertaufe‘ in den Nachbarländern – erstaunliche Tatsache, dass Leonhard I. (1482–1534) und Hans VI . von Liechtenstein (1500–1552) Hubmaier 1526/27 bei der Einführung der Taufe der Gläubigen in den Kirchen von Nikolsburg und der umliegenden Grundherrschaft aktiv unterstützten, Anlass zu Spekulationen über eine besondere Bedeutung dieses Ortes im Kontext der religiösen Umbrüche der Zeit (so bei Hubmaier selbst) oder gar im Kontext eines universalen apokalyptischen Szenarios (so bei Hut). In der Vorrede einer seiner 1526 in Nikolsburg gedruckten Schriften schmeichelte Hubmaier seinen adligen Gönnern, in ihrem Gebiet sei das liecht evange­ lischer klarhayt so hell auf den Leuchter gesetzt (Mt 5,15), dergleych ich noch an kainen ortt wayß noch gesehen auff erden, denn die Liechtensteiner seien nit allain mit dem außwendigen namen des liechts, sunder auch inwendig an der seel […] ent­ zündt und sunderlich begnadt. Nicht nur mit dem Licht, sondern auch mit dem wort ‚stain‘ in dem namen Liech­ tenstein habe es eine besondere Bewandtnis, wann wie das liecht seinen schein hat in dem wort Gottes [ Joh 1,5, Anm. M. R.], also auch der stain, wann ye Christus selbs geredt: Wölcher hört mein wort und thut das selb, wirt vergleicht einem weysen man, der da bawet sein hauß auff ain stayn oder felsen. Ob gleych regen und güssen kommen und die wind wehen unnd auff das hauß fallen, fellt doch darumb das hauß nit, dann es ist auff ein festen stain gebawen [Mt 7,24–27, Anm. M. R.], […] wann das hauß ist liecht nnd auff einem felsigen Stain gebauen, wölcher ist Christus [1 Kor 10,4, Anm. M. R.], derhalb die anstöß und wellen diser welt jm nit schaden mügen. Weiter spielte Hubmaier darauf an, dass der prominenteste unter den Nikolsburger Täuferpredigern, der ehemalige Prämonstratenserpropst Martin Göschl (vor 1480–nach 1533), Titularbischofs von Nikopolis-Emmaus in Palästina war: Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Mähren als Gelobtes Land 371 […] so ich hin vnnd wider gedenck, kan ich nit anders finden, wann das Nicolspurg Nicopolis ist […]. Nun wirdt aber Nicolspurg unnd Nicopolis auch gehaissen Emaus von den cosmographen, demnach wol zu gedencken, wie Christus den zwayen jungern Luce unnd Cleophe erschinen auff dem weg, als sy gen Emaus gangen, wölche in gebeten, das er bey jnen bleybe, es werde abent unnd hab sich der tag genaiget [Lk 24,13–35, Anm. M. R.]. Also sey eben Christus nach der freyden­ reychen ursteend seins lebendigen worts newlicher jaren under dem allerchristenlichsten fürsten und herren, herrn Friderichen, hertzogen in Sachsen etc., durch D. Martinum Luther anfencklich beschenen, und darnach gen Emaus, das ist Nicolspurg, gewalfartet […]. Und ebenso, wie die beiden Jünger von Emmaus sich aufmachten, um die Botschaft von der Auferstehung anderen zu verkündigen, sollen sich auch die Liechtensteiner in jrer landtschafft und allenthalb bey fürsten, herrn, regenten und underthanen dafür einsetzen, dass das wort Christi fridlich unnd freündlich verkündt unnd die warhayt klar, hell unnd lautter […] an den tag kumme.36 In diesen rhetorischen Wortspielereien drückte sich ein selbstbewusster Anspruch aus, denn Hubmaier behauptete damit ja nicht weniger, als dass Nikolsburg an die Stelle Wittenbergs als Zentrum der Reformation getreten sei – und er selbst, Hubmaier, an die Stelle Luthers. Was Hubmaier zu der Deutung des liechtensteinischen Nikolsburg als weithin leuchtendem Licht und Haus auf dem Steingrund inspirierte, war wohl nicht nur der Name der Grundherren, sondern auch die Lage der Stadt, da die direkt neben der Stadt aus der umgebenden Ebene aufragenden Pollauer Berge/Pálava (die zeitgenössisch ‚der Stein bei Nikolsburg‘ genannt wurden)37 eine weithin sichtbare Landmarke für die Reisenden auf der Fernstraße zwischen Wien und Brünn darstellten. Auch der aus Thüringen stammende Wanderprediger Hans Hut, der im Zuge seiner weitausgedehnten Missionsreisen im Mai 1527 nach Nikolsburg kam, um dort seine von Thomas Müntzer (ca. 1489–1525) inspirierte mystisch-apokalyptische Botschaft zu verkündigen, war vermutlich vom Anblick der Pollauer Berge beeindruckt. Er verstand sich und die von ihm ausgesandten Helfer als die in der Offenbarung des Johannes (Offb 7,3 und 9,4; Hes 9,4.6) angekündigten ‚Engel‘ oder vielmehr Boten, die vor dem Endgericht die Auserwählten, die von 36 B. Hubmaier, Schriften, edd. G. Westin / T. Bergsten, die Einleitung vom Schwedischen übersetzt von H. Bergsten (QFRG 29; QGT 9), Gütersloh 1962, S. 288 f. 37 So etwa in dem Glaubensbekenntnis der Nikolsburger Täuferkirche von 1535: Bekantnus und rechenschafft der getauffte in den namen Jesu Cristi, zu Nicolspurg und umb den Stain bey obge­ melten Nicolspurg im Margraffthuem zu Merhern; ediert in: M. Rothkegel, Die Sabbater. Täuferischer Sabbatarismus in Mähren im 16. Jahrhundert, in: A. Schubert (Hg.), Sabbat und Sabbatobservanz in der Frühen Neuzeit (SVRG 217), Gütersloh 2016, S. 114–166, hier S. 146–166. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 372 Martin Rothkegel den anstehenden Katastrophen verschont werden sollen, mit einem Thau- oder Kreuzeszeichen ‚versiegeln‘, d. h. durch ein auf die Stirn aufgezeichnetes Wasserkreuz bezeichnen oder taufen.38 Hut, der am 6. Dezember 1527 in Augsburg im Gefängnis starb, erwartete, dass zwischen Neujahr und Pfingsten 1528 das endzeitliche Strafgericht mit einer türkischen Invasion einsetzen würde. Die Auserwählten sollten sich beim Herannahen der Türken an bestimmten Orten sammeln und sich in den Bergen, Wäldern und Höhlen verstecken (Hes 7,16; Mt 24,16). Einer der Sammelpunkte, die Hut seinen engsten Anhängern nannte, war Nikolsburg,39 wobei konkret an die Pollauer Berge als Zufluchtsort zu denken ist. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Johannes Cochlaeus (1479–1552) in seiner als Anhang zur „Cosmographia“ des Pomponius Mela (1. Jh. n. Chr.) 1512 in Wien erschienenen „Brevis Germaniae descriptio“ in dem knappen Abschnitt über Mähren berichtete, die Hussiten hätten sich in Mähren an Orten, die von Natur aus befestigt sind, und in den Bergen in gewaltiger Menge verborgen, so lange, bis ihre Feinde abzogen.40 Möglicherweise waren Überlieferungen dieser Art Hut bekannt und beflügelten seine Phantasie. Hubmaier und Hut standen einander theologisch so fern wie himmel unnd hell, oriennt und occident, Cristus und Belial, wie Hubmaier selbst es ausdrückte.41 Zwar wurden auch Hubmaiers Schriften von den Hutterern gelesen und überliefert,42 das wortspielerische Lob der Liechtensteiner und des ehemaligen Weihbischofs Göschl hatte jedoch keinerlei Nachhall in hutterischen Texten. Umso nachhaltiger waren die Hutterer von der Lehre Hans Huts geprägt und führten sich in ihren Chroniken direkt auf Gruppen von Hut-Anhängern zurück, die seit 1527 nach Mähren einwanderten. Das für 1528 angekündigte apokalyptische Szenario blieb zwar aus, aber in den täuferischen Flüchtlingsgemeinden, aus denen 1533 die hutterische Kirche entstand, blieb die Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden osmanischen Invasion angesichts der Feldzüge Süleymans I. des Prächtigen 38 Vgl. G. Seebass, Müntzers Erbe (wie Anm. 23), S. 428–437; W. O. Packull, The Sign of Thau: The Changing Conception of the Seal of God’s Elect in Early Anabaptist Thought, in: MQR 61 (1987), S. 363–374. 39 Für die aus Verhöraussagen von Anhängern Huts zusammengestellten Belege für das von Hut erwartete Endzeitszenario vgl. G. Seebass, Müntzers Erbe (wie Anm. 23), S. 366–372. 40 J. Cochlaeus, Brevis Germaniae descriptio (1512). Mit der Deutschlandkarte des Erhard Etzlaub von 1501, ed., übersetzt und kommentiert von: K. Langosch (AQDG 1), Darmstadt 31976, S. 115. 41 B. Hubmaier, Schriften, edd. G. Westin / T. Bergsten (wie Anm. 36), S. 487. 42 Vgl. M. H. Rauert / M. Rothkegel (Bearb.), Katalog der hutterischen Handschriften und der Drucke aus hutterischem Besitz in Europa, ed. G. Seebass (QFRG 85/1-2; QGT 18/1–2), Gütersloh 2011, S. 1295 (Index unter dem Stichwort: Hubmaier, Balthasar). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Mähren als Gelobtes Land 373 (1520–1566) von 1529 und 1532 lebendig.43 Auch Jakob Hutter ging 1535, als Ferdinand I. Verfolgungsmaßnahmen gegen die Täufer in Mähren erzwang, davon aus, dass das Weltende unmittelbar bevorstünde.44 In der Folgezeit bildeten die Hutterer die Geheimlehre Huts von Mähren als apokalyptischem Zufluchtsort in der Weise um, dass sie Mähren als den von Gott erwählten Ort zur Wiederaufrichtung der wahren Kirche ansahen. Sie gründeten daher – abgesehen von einzelnen Außenposten jenseits der Grenze zum Königreich Ungarn (d. h. auf westslowakischem Gebiet) – im 16. Jahrhundert keine Niederlassungen außerhalb der Markgrafschaft Mähren. Nach der Schlacht am Weißen Berge richteten sich 1622 die ersten Maßnahmen der Gegenreformation in Mähren gegen die Täufer. Vor die Wahl gestellt, zum Katholizismus zu konvertieren oder das Land zu verlassen, wanderten zwischen 10.000 und 15.000 Hutterer ins Königreich Ungarn aus, wo sie sich überwiegend in der Westslowakei, zu einem kleineren Teil auch im Burgenland und in Siebenbürgen niederließen.45 Mähren als Ort der endzeitlichen Kirche bei den Hutterern Über frühe Missionsaktivitäten der Hutterer in Schlesien berichtete der Breslauer/Wrocław Reformator Ambrosius Moibanus (1494–1554) 1537 in seiner Schrift „Das herrliche Mandat Jhesu Christi unsers Herrn und Heilandes“, einer gegen Altgläubige, Wiedertäufer und Schwenckfelder gerichteten Auslegung des Missionsbefehls Mk 16,15 f. Moibanus klagte, der Teufel sende Sendboten nach Schlesien aus, die sich als Engel des Lichts ausgeben und aus allen Schichten der Bevölkerung, von einfältigen Bauern bis zu gelehrten Pfarrern, die Leute bereden und verführen: Wo füret er sie hin, so er sie nu alles beredt hat? Zum Vater oder inns gelobte land und zu dem rechten volck Gottes, wie sie sagen. Also hat er jr viel inn Merhern (nicht allein aus der Schlesien, sondern aus viel andern lendern) gefürt und hat sie heissen ein neue und heilige samlunge anrichten, 43 Vgl. M. Rothkegel, Antihabsburgische Opposition und täuferischer Pazifismus. Die Auslegung von Römer 13 des David Burda aus Schweinitz, 1530/31, in: MGB 69 (2012), S. 7–44. 44 Vgl. W. O. Packull, Hutterite Beginnings (wie Anm. 25), S. 238 f.; M. Rothkegel, Ana­ baptism (wie Anm. 10), S. 184 f. 45 Vgl. H. Prickler, Brüderische Handwerker und Bruderhöfe. Zur Geschichte der Wiedertäufer im Burgenland, in: Ders. (Red.), Burgenland in seiner pannonischen Umwelt. FS August Ernst (BF Sonderbd. 7), Eisenstadt 1984, S. 297–312; T. Winkelbauer, Die Vertreibung der Hutterer aus Mähren 1622: Massenexodus oder Abzug der letzten Standhaften?, in: J. Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge (wie Anm. 1), S. 207–233; J. Pajer, Studie (wie Anm. 10), S. 67 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 374 Martin Rothkegel darin kein böse wort gehort würde, auch da nicht einer unter jnen den kleinsten bösen begir und gedancken haben solt, wenn gleich Gott noch so scharff merckte und sehe auff jre hertzen, so müste er nichts böses darin finden, das er tadelte.46 Die nachdrückliche Aufforderung, sich dem ‚wahren Volk Gottes‘ anzuschließen, das in Mähren ein gottgefälliges Leben führe, stand in der Tat im Mittelpunkt der hutterischen Emigrationswerbung, soweit diese sich in den sog. Bußbriefen, die die Hutterer an potenzielle Konvertiten zu verschicken pflegten, schriftlich niederschlug.47 Nach hutterischer Auffassung war allein in Mähren (und auf einigen Außenposten auf ungarischem Gebiet) die wahre Kirche vorhanden, die den Gläubigen einen sicheren Weg zum ewigen Seelenheil weisen konnte. Die Hutterer schlossen zwar nicht aus, dass man auch außerhalb ihrer Gemeinschaft errettet werden könne, tendenziell sahen sie aber die Auswanderung als Vorbedingung zum Heil an. Vier Hutterer, die 1579 auf polnischem Gebiet verhaftet und verhört wurden, antworteten auf die Frage, ob Gott denn nur in Mähren wohne: O nein, er ist nicht allein darinnen; wir lehren das niemand. Gott und sein Wort ist an keinen Ort gebunden, Gott will bei dem wohnen, der von Sünden absteht. Aber also steht geschrieben [Ps 18,26 f., Anm. M. R.]: Bei den Heilgen wirst du heilig sein, bei den Reinen wirst du rein sein und bei den Verkehrten wirst du verkehrt.48 Der geographische Raum Mähren war für die Hutterer heilsgeschichtlich konnotiert als das Land, welches ihnen Gott sonderlich verordnet und fürgesehen hatte: Es wurden ihnen Flügel gegeben von dem großen Adler, daß sie allda hinflögen an ihr Ort, so ihnen von Gott bereit war [Offb. 12,14, Anm. M. R.], ernähret und erbauen wurden daselbst, so lang es Gott gefallet.49 Die biblischen Motive, mit denen die Hutterer die Vorstellung, Mähren sei von Gott zum Ort der endzeitlichen wahren Kirche bestimmt, ausdrückten, begegnen in besonderer Dichte in einem Schreiben, in dem die hutterische Kirchenleitung 46 A. Moibanus / M. Luther, Das herrliche Mandat Jhesu Christi vnsers Herrn vnd Heilandes […], Wittenberg: Georg Rhau 1537 (VD16 M 5929), fol. H1v. 47 Vgl. M. Rothkegel, Kollektive Zucht (wie Anm. 12). 48 Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 395. 49 Ebd., S. 332. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Mähren als Gelobtes Land 375 1556 die Frage rheinländischer Täufer, warum man in das Mährenland ziehen soll, beantwortete: Weil Gott durch seinen Geist die Frommen allzeit geführt hat (Num. 9) nach seinem Wort und Willen an das Ort, da es ihm gefallen hat oder das er ihnen fürgesehen zu wohnen (Genes. 12. Exod. 19. Actor. 11), und noch also führt und absündert (Exod. 12. Actor. 2. 9. 10; 2. Kor. 6), daß er ihr Herrscher und Regierer sein will (Eccl. 7; 1. Kor. 12) […] und die Seinigen aus allerlei Sprach, die unter dem Himmel ist (Actor. 2), gesammelt, darinnen sein himmlisches Werk und Regiment, auf Erden angerichtet (Eph. 2. Psalm 48. Esa. 2), sehen lasse und seiner Braut ihr bestimmt Ort (Actor. 2. 11. Apok. 12) in der Wüsten, wo es ihm auf Erden wohl gefallet, geordnet hat, daß sie von dem Drachen ein Zeit ruhen könnt, ihre Kinder zu gebären (Actor 2. Apok. 12), derhalben Gottes Geist in den Frommen ein herzliche Begierd hat, daselbst zu wohnen (Psalm 26. 42. Actor. 2).50 Das Passa- und Exodusmotiv (Ex 12; Num 9) und der Verweis auf die Verheißung des Gelobten Landes (Gen 12,7) sind nicht in dem Sinne zu verstehen, als hätten die Hutterer einen Besitzanspruch auf Mähren erhoben. Vielmehr deutet die Anspielung auf die Sonnenfrau (d. h. die Kirche), der in der Wüste für eine begrenzte Zeitspanne ein Ruheort angewiesen wird (Offb 12,6), an, dass die Hutterer Mähren nur als einen zeitweiligen Ort der Sammlung der Gläubigen vor einer noch ausstehenden letzten großen Verfolgung der Auserwählten ansahen. Als Ferdinand I. 1545 den Versuch unternahm, die Täufer aus Mähren zu vertreiben, richtete die hutterische Kirchenleitung ein langes Protestschreiben an den Landeshauptmann und die Stände, in dem sie darlegten, daß uns Got nit on ursach in dis land gefüeret habe, dem er sunderlichen vil freihaiten den glauben betreffend für vil anderen landen geben hat, also daß weder künig noch kaiser yetzt macht habe, dem selbigen regel unnd ordnung zu geben, sunder ein itzlicher seines glaubens leben mag, unnd wie er waiß auf das treulichest Got zu dienen. Nur um des Schutzes und der Glaubensfreiheit willen, die die Stände den Hutterern gewähren, habe Gott Mähren bisher vor türkischen Angriffen verschont. Daher warnten die Hutterer, daß kainer durch anlegung seiner händen an die frummen jm selbs das urtel Gottes samle unnd auf sich selbs hauffe. Dan es ye und ye gewesen ist, daß, ye mer die völcker tirannesiert haben, ir straf genahet hat. Widerumb auch, wo mitleiden mit dem volck Gottes getragen worden ist, da hat Got derselben orten umb seines volcks willen verschonet, wie auch lange zeit her disem land geschehen 50 Ebd., S. 276 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 376 Martin Rothkegel ist. Wie dan Gottes straf, nämlich der Thürck, umb und umb gewesen, Österreich durchstreifft, aber doch in dis land nit kummen ist. Unnd das aber nit darumb, daß dies landt fest füer allen ande­ ren landen im hatte widersteen mögen, allain daß Got seines volcks darinen verschonet, und umb desselbigen willen das land errettet hat, wie auch die statt Zoar allein umb des ainigen frummen Loths willen, da er Sodoma mit den umbligenden gegenden mit schwebel unnd fheur verderbt hat.51 Im zweiten Teil der 1545 und 1565 gedruckten hutterischen Bekenntnisschrift, der von Peter Riedemann (ca. 1506–1556) verfassten „Rechenschaft unserer Religion, Lehre und Glaubens“, wird die separatistisch-exklusive hutterische Ekklesiologie in Form einer typologischen Auslegung der Esra- und Haggai-Texte über den Bau des Tempels nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil dargestellt.52 Zwar wird Mähren von Riedemann nicht ausdrücklich erwähnt, aber es legt sich die Schlussfolgerung nahe, die hutterische Kirche in Mähren sei die konkrete Erfüllung alttestamentlicher Texte, etwa des von Riedemann zitierten Edikts des Perserkönigs Kyros II. (559–530 v. Chr.) in Esra 1: Wer nun unter euch seines Volkes ist, mit dem sei der Herr, sein Gott, und ziehe hinauf gen Jerusa­ lem in Juda und baue das Haus des Herrn, des Gottes Israels: er ist der Gott, der zu Jerusalem ist. Wer nun noch übrig ist an allen Orten, da er ein Fremdling ist, dem helfen die Leute seines Ortes mit Silber, Gold, Gut und auch aus freiem Willen zum Hause Gottes zu Jerusalem. Also zogen hinauf, denen der Herr, ihr Gott, das Herz traf, zu bauen an seinem Haus.53 Die auch in anderen konfessionellen Kontexten geläufige typologische Deutung Jerusalems und Zions als Typos der christlichen Kirche – bei der zwischen Verheißung und Erfüllung eigentlich der kategoriale Unterschied besteht, dass die neutestamentliche Erfüllung im Unterschied zum alttestamentlichen Vorbild nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist – erfährt bei den Hutterern eine eigenartige geographische Konkretisierung. Ähnlich wie später die Puritaner in Neuengland und die niederländischen Siedler in Südafrika entwickelten die Hutterer einen mit alttestamentlichen Wendungen gesättigten, ausgeprägt ‚zionistischen‘ Sprachcode zur Beschreibung ihrer Migrationserfahrung. 51 AMB, Hab 12, fol. 216v f., 220r f. 52 Vgl. P. Riedemann, Rechenschafft vnserer Religion / Leer vnd Glaubens, o. O. 1545 (VD16 R 2338); der zweite Druck von 1565 ist nicht im VD16 verzeichnet, benutzt ist ein moderner ND: Ders., Rechenschaft unsrer Religion, Lehre und Glaubens. Von den Brüdern, die man die Huterischen nennt, Bern 1902; vgl. den oben erwähnte Abschnitt ebd., S. 136–167; sowie W. O. Packull, The Origins of Peter Riedemann’s Account of Our Faith, in: SCJ 30 (1999), S. 61–69. 53 P. Riedemann, Rechenschaft (wie Anm. 52), S. 152. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Mähren als Gelobtes Land 377 Gabriel Ascherhams Kritik der hutterischen Zion-Mähren-Typologie Auf das Erscheinen der Riedemannschen „Rechenschaft“ 1545 antwortete Jakob Hutters einstiger Rivale Gabriel Ascherham mit mehreren Traktaten, die er handschriftlich unter seinen inzwischen an mehreren Orten verstreut lebenden Anhängern verbreitete.54 Ascherham hatte sich während der Täuferverfolgung von 1535 aus Mähren nach Schlesien zurückgezogen. Seine Anhänger wies er an, die Erwachsenen- bzw. Wiedertaufe einzustellen und sich, sofern nötig, äußerlich konform gegenüber der Mehrheitskonfession zu verhalten: Die Taufe sei weder heilsnotwendig noch heilswirksam. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Täufertum und insbesondere mit den Hutterischen Brüdern entwickelte Ascherham eine eigenwillige spiritualistische Erlösungslehre und eine chiliastische Theorie der Heilsgeschichte. In einem umfangreichen Römerbriefkommentar, der in einer Handschrift von 1548 überliefert ist,55 beschrieb Ascherham den mit der Inkarnation Christi anhebenden letzten Teil der Heilsgeschichte als eine Abfolge von drei Reichen, nämlich zweierlei Reichen Christi und einem darauf folgenden dritten, ewigen Reich Gottes. Nur wer auf eine besondere Weise mit dem prophetischen Geist begabt sei, könne die Aussagen der heiligen Schrift diesen drei Reichen richtig zuordnen. Das erste der drei Reiche sei das reich Christi im heiligen Geist vorsamlett hy auff erden.56 Dieses Reich sei innerlich und geistlich (Lk 17,21), keinesfalls eine äußerliche Kirche (derlei habe Christus nie gegründet), und gehöre den Gläubigen aus den Heiden. Die rein geistliche, innerliche Gemeinschaft der christusgläubigen Heiden sei noch der Anfechtung durch den Teufel unterworfen und dauere von der irdischen Wirksamkeit Jesu bis zu dessen Wiederkunft an. Das zweite Reich sei das Reich, das Christus nach seiner Wiederkunft zu Jerusalem aufrichten werde. Dieses werde ein irdisches Friedensreich von tausend Jahren Dauer (Offb 20) sein, das den Gläubigen aus dem Volk Israel gehören und nicht mehr der Anfechtung durch den Teufel unterliegen werde. Zwar sei Israel in der Gegenwart noch unter den Unglauben beschlossen, aber die Verheißungen an Israel gelten weiter und werden sich zukünftig erfüllen. Um am zweiten Reich 54 Zu Ascherham vgl. W. O. Packull, Hutterite Beginnings (wie Anm. 25), S. 289–302; M. Rothkegel, Himmlische Weisheit, astrale Determination und chiliastische Hoffnung bei den schlesisch-mährischen Gabrielitern. Eine unbekannte Täuferhandschrift von 1548 in Wiener Privatbesitz, in: MGB 59 (2002), S. 43–62; Ders., Gabriel Ascherham, in: R. Wood­ bridge / S. Looss / Ders., Gerhard Westerburg, Valentin Ickelshamer, Gabriel Ascherham (BBA 230; BD 27), Baden-Baden/Bouxwiller 2012, S. 139–180. 55 Vgl. Wien, Sammlung Drews, Ascherham-Codex, fol. 5r–111v. 56 Ebd., fol. 39r. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 378 Martin Rothkegel teilzuhaben, werden die Gläubigen aus den Heiden in der ersten Auferstehung auferstehen und die Völker der Erde nach Jerusalem ziehen.57 Als Abschluss der Heilsgeschichte werde schließlich nach Ablauf der tausend Jahre das ewige Reich des Vaters anheben, wenn der Son dem Vater das reich uberanttworten wirt, oder das Gott von hymel khomen wirt und sein wonung bey den menschen auff erden machen haben, ja das das neu Jerusalem aus dem hymel steyget (Offb 21 und 22; 1 Kor 15,55). Dies alles ist geredt von dem reich des ewigen lebens.58 Eine scharfe Polemik gegen die Hutterer und gegen die in Riedemanns „Rechenschaft“ implizierte Zion-Mähren-Typologie enthält der kurze, hinten unvollständig überlieferte Traktat „Vom Reich Israel zu Jerusalem“.59 Darin führt Ascherham seine im Römerbrief-Kommentar skizzierte Lehre vom irdischen Tausendjährigen Reich der Juden in Palästina breiter aus und verteidigt sie gegen – reale oder fiktive – Einwände. Gegen die Lehre vom Tausendjährigen Reich erhebe sich, so Ascherham, Widerspruch vonseiten derer, die kein zukünftiges irdisches Friedensreich erwarten. Diese Einwände sind dreierlei: Einige sagen, die Prophezeiungen des Friedensreiches seien bereits in der Vergangenheit ‚geistlich‘ erfüllt (dies richtet sich gegen eine typologische Deutung, nach der die Zionsverheißungen durch Christus bereits erfüllt sind). Andere sagen, sie würden ‚täglich im Geist‘ erfüllt (dies richtet sich gegen ein rein allegorisches Verständnis der Zionsverheißungen). Drittens sagen die Hutterischen Brüder, sie bauen solchs Jerusalem ym Mehrerland und sind schon auff den berg Syon komen. Gegen diese Einwände verteidigt Ascherham sein dreistufiges Schema der Heilsgeschichte, nicht als set­ zett ich ein gebott der seligkeit oder verdamnus dorein, als der solches glaubt oder nicht glaubt, sunder zu einem trost und frolichen hoffnung allen, so den Geist sol­ cher erkantnus haben.60 Die Einwände derer, die von einer ‚geistlichen Erfüllung‘ reden, sei es – erstens – typologisch in der Vergangenheit, sei es – zweitens – allegorisch ‚täglich im Geist‘, lohnen laut Ascherham kaum der Widerlegung, denn die Heilige Schrift rede deutlich von drei verschiedenen Dingen: Von einem unsichtbaren, geistlichen Reich Christi unter den Gläubigen aus den Heiden, das seinen Anfang mit dem Kommen Christi genommen hat, von einem irdischen, jüdischen, tausend 57 Zu chiliastischen Vorstellungen zeitgenössischer (radikal-)reformatorischer Verfasser von einer zukünftigen irdischen Heilszeit für die Juden vgl. R. Voss, „Jüdische Irrlehre“ oder exegetisches Experiment? Die Restitution Israels im 16. Jahrhundert, in: FNI 22: Thema Jüdische Studien (2011), S. 5–22. 58 Wien, Sammlung Drews, Ascherham-Codex, fol. 40v. 59 Vgl. ebd., fol. 139r–161v. 60 Ebd. fol. 140v. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Mähren als Gelobtes Land 379 Jahre währenden Reich in Jerusalem, das noch zukünftig ist, und vom ewigen Reich Gottes nach Vollendung der Weltzeit. Ebenso töricht sind – drittens – die Hutterischen Brüder, die meinen, sie hätten ihr Zion in Mähren gefunden. Laut der Heiligen Schrift sei aber nirgendwo anders als in Palästina das zukünftige irdische Friedensreich zu erwarten: Nun merck, in Jerusalem, und nicht im Mererlandt, wie ettliche treumer sagen! Die Verheißungen des Friedensreiches gelten nicht den Gläubigen aus den Heiden, sondern unmissverständlich den Juden, und itzund hott kein Jud solchen frid. Daher müssen sich die Aussagen über die Rückkehr der Juden ins Gelobte Land, den Wiederaufbau des Tempels und die Völkerwallfahrt auf die Zukunft beziehen: Nun sich, wie sicht diese prophetzey diser zeit so enlich, gleich wie schwartz und weiß […] Und es ist offentliche unworheit, das sich die vermainten Christen und die vermainten bruder [die Hutterer, Anm. M. R.] itzund ym geist solches reich annemen [anmaßen, Anm. M. R.].61 Für Ascherham bleibt somit keinerlei biblische Grundlage bestehen, die die eigenmächtige Aufrichtung einer sichtbaren Gemeinde der Gläubigen in der Gegenwart rechtfertigen könnte. Ascherhams Schriften illustrieren, wie stark die Vorstellung, Mähren sei der von Gott erwählte Ort, an dem allein die Aufrichtung der wahren Kirche möglich sei, das Bewusstsein der täuferischen Glaubensflüchtlinge prägte: Aus der Feststellung, dass Mähren nicht das Gelobte Land sei, die sich ihm aus seinem intensiven Studium der einschlägigen Bibelstellen ergab, konkludierte Ascherham – dass Kirche überhaupt nicht möglich sei. 61 Ebd., 158v, 149v, 150r f., 154v. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Gabriela Wąs Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen Kommunikation und Transfer von Ideen und Personen Die religiöse Strömung, die nach ihrem Hauptgründer Kaspar Schwenckfeld (1489/90–1561) Schwenckfeldertum genannt wurde, und das – mit dem religiösen Gedankengut Sebastian Francks (1499–1543) und einiger Täufer – entwickelte Phänomen des Spiritualismus als der sich von der Welt absondernden Variante der Reformation waren kein Massenphänomen. Und abgesehen von den etwa vier Jahren zwischen 1525 und 1529, als der Herrscher des Fürstentums Liegnitz/ Legnica in Schlesien, Friedrich II. (1499/1505–1547), in seinem Territorium die Reformation der Kirche im Geiste der Schwenckfeld’schen Ideen anordnete, war diese Strömung nie wieder eine Basis für eine legale, d. h. durch eine weltliche Gewalt anerkannte Kirchenreform. Trotzdem ging das Schwenckfeldertum nicht nur dauerhaft – als religiöser Gedanke und als die Geschichte seiner Befürworter – in die Reformationsgeschichte ein, sondern existiert auch bis heute als die Schwenckfelder Kirche in den USA weiter.1 Im 16. Jahrhundert kann die Strömung geographisch hauptsächlich in drei Anhängerkreise, die jeweils soziologische und kommunikative Besonderheiten aufwiesen, unterteilt werden: Über spezifische Netzwerke verfügten die Schwenckfelder in Schlesien, wo diese Glaubensrichtung entstanden war, im Herzogtum Preußen und im Südwesten des Alten Reiches. Die Gründe für den Stellenwert der Schwenckfelder in der Reformation selbst, aber auch in der Reformationshistoriografie können mit dem Kommunikationsparadigma ermittelt werden. Angesprochen ist damit die intensive Nutzung nahezu sämtlicher traditionellen und neuen Kommunikationsmittel, die in der Epoche der Reformation für die Übermittlung des Schwenckfeld’schen Gedankenguts sowohl nach außen als auch innerhalb der eigenen Gruppen verfügbar waren. Es gelang den Schwenckfeldern, die von ihnen vertretene religiöse Option schriftlich und mündlich in die Kommunikationsabläufe der reformatorischen Kreise einzubringen. Unabhängig davon, wie groß diese Strömung war und wie diese in bestimmten Reformationsmilieus wahrgenommen wurde, forderten die abgesendeten Informationen von anderen Teilnehmern am reformatorischen Kommunikationsprozess eine Stellungnahme. 1 Vgl. H. Weigelt, The Emigration of the Schwenkfelders from Silesia to America, in: P. C. Erb (Hg.), Schwenkfelders in America, Pennsburg 1987, S. 5–19. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 382 Gabriela Wąs Um eine Vorstellung vom Umfang der Kommunikationsaktivitäten der Schwenckfelder zu geben, ist es erwähnenswert, dass alleine der schriftliche Nachlass gedruckter und ungedruckter Werke Schwenckfelds, der im 20. Jahrhundert unter dem Titel „Corpus Schwenckfeldianorum“ – als eine Nachahmung der „Weimarer Ausgabe“ der Werke Martin Luthers (1483–1546) und gleichzeitig als eine gewisse Konkurrenz zu dieser gedacht – veröffentlicht wurde, 19 Foliobände zählt; jeder Band umfasst ca. 1.000 Seiten).2 Unter Schwenckfelds Schriften gibt es ein paar Dutzend (60), meistens mehrere hundert Seiten umfassende Traktate, Hunderte von Notizen und kleine Schriften, zudem etwa 630 Briefe, die Schwenckfeld für seine Anhänger verfasste und an alle Personen, die für die Reformation von Bedeutung waren, richtete. Ebenso verfassten andere Schwenckfelder der ersten Generation in Schlesien und im Herzogtum Preußen Traktate, Erbauungsschriften, Bekenntnisschriften, auch in Form eines Katechismus – einem der ersten in der Reformation – oder einer Postille, sowie Briefe mit religiöser Thematik. Von ihnen sollten zumindest Valentin Krautwald (ca. 1465/90–1545), Fabian Eckel († 1546), Peter Zenker († ca. 1535), Bernhard Egetius (ca. 1475–1537) oder Johann Sigismund Werner (1491–1561) genannt werden. Manche ihrer Schriften wurden publiziert und waren somit ein Teil der öffentlichen Kommunikation, manche waren als Abschriften im Umlauf und dienten daher hauptsächlich der Kommunikation unter der Anhängerschaft. Krautwald – jener Theologe, der eine schriftliche Exegese des Schwenckfeld’schen Abendmahls anfertigte – verfasste z. B. elf Traktate, die als Drucke veröffentlicht wurden, und dazu 32 umfangreichere Schriften, die als Handschriften kursierten.3 Auch Personen, die sich nach der Herauskristallisierung der Schwenckfeld’schen Reformationsströmung dieser anschlossen, hatten ihren Anteil an der Vermehrung der im Umlauf befindlichen schriftlichen Informationen über Schwenckfelds Ideen, da sie untereinander in regem Briefwechsel standen. Somit kann gesagt werden, dass die Initiatoren und Anhänger dieser spiritualistischen Reformationsbewegung in erheblichem Maße mit dem geschriebenen Wort vertraut waren. Es ist zwar schwer, eine exakte statistische Vergleichsanalyse zum Verhältnis zwischen der Anzahl der Schriften und der Zahl der Anhänger der verschiedenen Reformationsrichtungen vorzunehmen. Zweifelsohne kann jedoch festgestellt werden, 2 3 Vgl. CS, edd. C. D. Hartranft / E. E. Schultz Johnson / S. G. Schultz / A. S. Berky, 19 Bde., Norristown/Pennsburg/Leipzig 1907–1961. Vgl. P. C. Erb, Valentin Crautwald, in: Ders. / W. Urban / I. Backus, Valentin Crautwald, Andreas Fischer, Jan Kalenec, Sigmund Salminger (BBA 100; BD 6), Baden-Baden 1985, S. 9–70. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen 383 dass im Vergleich zu anderen Reformationsströmungen bei den Schwenckfeldern die Textproduktion und die schriftliche Mitteilung ihrer religiösen Gedankenwelt deutlich über dem Durchschnitt lagen. Das Schwenckfeldertum kann als eine durch die Kultur der Schriftlichkeit geprägte Reformationsrichtung gesehen werden, die regional wie überregional mittels ‚schriftlicher Wortverkündigung‘ kommuniziert wurde und sich damit in die reformatorische Öffentlichkeit einfügte.4 Alle namentlich genannten Schwenckfelder nahmen auch an der mündlichen Verkündigung der reformatorischen Lehre und dem Meinungsaustausch mittels Predigten und religiöser Vorlesungen teil oder waren an religiösen Gesprächen beteiligt – Aktivitäten, die heute jedoch meistens schwer nachgewiesen oder schriftlich belegt werden können. Stützt man sich bei der historischen Erforschung der Schwenckfelder auf eine „kulturalistische Auffassung der Kommunikation“, so ist es nicht ausreichend,5 den sozialen und historischen Rahmen der Kommunikationsbedingungen zu eruieren und die Kommunikation nur im Transmissionssinne zu betrachten.6 Es sollte also nicht nur nach der Rezeption der übertragenen Kulturideen gefragt werden.7 Schrifterzeugnisse, die im Kommunikationsverlauf entstanden, hatten auch für die Schwenckfelder selbst eine identitätsstiftende Funktion,8 die Korrespondenz diente als ein Surrogat für die nicht-existierende institutionelle Kirche 4 5 6 7 8 Vgl. R. Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, S. 123–133. M. Wendland, Historia idei komunikacji. przesłanki do badań nad przekształceniami zbiorowych wyobrażeń o komunikacji [Die Geschichte der Kommunikationsidee. Voraussetzungen der Forschung über den Wandel der kollektiven Vorstellungen über die Kommunikation], in: Lingua ac Communitas 23 (2013), S. 41–68, hier S. 46 f. Zur Transmission von ‚Strukturen‘ und ‚Kulturen‘ vgl. W. Schmale, Einleitung: Das Konzept „Kulturtransfer“ und das 16. Jahrhundert. Einige theoretische Grundlagen, in: Ders. (Hg.), Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert (WSGN 2), Innsbruck/Wien/München/ Bozen 2003, S. 41–61, hier S. 45. Vgl. H. Mitterbauer, Kulturtransfer – ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht, in: Newsletter Moderne 2 (1999), H. 1, S. 23–25; T. Fuchs / S. Trakulhun, Kulturtransfer in der Frühen Neuzeit. Europa und die Welt, in: Diess. (Hgg.), Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturtransfer in Europa 1500–1850 (Aufklärung und Europa 12), Berlin 2003, S. 7–24. Vgl. B. Moeller, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: H. Boockmann (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts (AAWG 3. Folge, Nr. 206), Göttingen 1994, S. 148–164, hier S. 149; M. Arnold, Die Rolle der Korrespondenz bei Kommunikation und Transfer. Zu einer evangelischen Identität in der Frühen Neuzeit, in: I. Dingel / W.-F. Schäufele (Hgg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der frühen Neuzeit (VIEG AARG Beiheft 74), Mainz 2007, S. 33–47. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 384 Gabriela Wąs und hatte so einen gemeinschaftsbildenden Charakter.9 In diesem Sinne waren auch Kommunikationsaktivitäten wie Dispute und Verhöre von Wichtigkeit, weil für die Schwenckfelder die Darlegung ihrer religiösen Überzeugungen die evangelische Legitimität ihrer Lehre untermauerte. Die Präsenz im medialen Raum versorgte das intellektuell-religiöse Phänomen der Schwenckfelder mit Merkmalen des ‚Seins‘ und befreite es außerdem – auf jeden Fall in hohem Maße – von sozialen und politischen Rahmenbedingungen. Die ungemein hohe Intensität der Kommunikation und deren Ausweitung, machte aus den Schwenckfeldern ein ‚mediales Phänomen‘, d. h. ein solches, dessen Existenz auf der Auskunft über dieses, und erst in zweiter Instanz auf seiner realen Dimension gründete. Unabhängig von der tatsächlichen Größe ihrer Gruppierungen konnten sie dank intensiver Inanspruchnahme von Kommunikationsmitteln und -praktiken eine bedeutende Rolle im virtuellen Medienraum und einen Platz in den intellektuellen Gemeinschaftsvorstellungen über das Phänomen der Reformation einnehmen, sowohl in der Reformationsepoche als auch in der Reformationshistoriografie. Allein diese generellen Bemerkungen bezüglich des Charakters der Strömung zeigen, dass die Geschichte der Schwenckfelder und ihrer religiösen Gedankenwelt in besonderer Weise für Analysen im Kontext der Kommunikationsgeschichte geeignet ist. Andererseits stellt das Schwenckfeldertum einen Forschungsfall dar, der auch Skepsis gegenüber dem Paradigma der Reformation als Kommunikationsprozess hervorruft. Ein solcher Forschungsansatz könnte – angesichts der aus der Epoche stammenden und von den Schwenckfeldern hergestellten Informationsmenge – leicht deren Wichtigkeit für die Reformation überbewerten. Dies gilt umso mehr, als seit den 1540er Jahren die Schriften der Schwenckfelder mehr und mehr aus der reformatorischen Öffentlichkeit – und das bedeutet, aus der öffentlichen Kommunikation der reformatorischen Kreise – herausgenommen wurden. Umgekehrt aber kann die Nichtbeachtung des schriftlichen Erbes der Schwenckfelder zu einer Unterschätzung ihres realen Einflusses und der religiös-geistigen Auswirkungen ihrer Gedanken auf viele wichtige protestantische Religionsdenker bis ins 20. Jahrhundert führen. Gleiches gilt für den Beitrag, den diese Ideen für die Entstehung unterschiedlicher religiöser Erneuerungsbewegungen im Protestantismus, wie z. B. den Pietismus, leisteten.10 Dies alles waren wichtige Auswirkungen der spezifischen intellektuellen Kommunikationsform 9 Vgl. C. Gritschke, ‚Via Media‘: Spiritualistische Lebenswelten und Konfessionalisierung. Das süddeutsche Schwenckfeldertum im 16. und 17. Jahrhundert (CA 22), Berlin 2006, S. 139–144. 10 Vgl. G. Maron, Individualismus und Gemeinschaft bei Caspar von Schwenckfeld. Seine Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen 385 der Schwenckfelder, die fast ausschließlich durch Schriften erfolgte und einen elitären Charakter hatte. Eine weitere Überlegung bezüglich des Paradigmas ‚Reformation als Kommunikationsprozess‘ betrifft das Faktum, dass im Konzept des Kulturtransfers, das aus methodischer Sicht für das Kommunikationsparadigma von Wichtigkeit ist, der Akzent meistens auf der Kulturmitteilung des Absenders liegt. Dementsprechend ist der Fokus dann auf die Untersuchung der Auswirkung gerichtet, welche die Originalmitteilung im neuen kulturellen Milieu hatte. Bei den Forschungen zum Schwenckfeldertum ist als ein weiterer Aspekt der Kommunikationsprozesse aber eine integral mit dem Kulturtransfer verbundene, jedoch selten als neuer, gesonderter Wert gesehene ‚Transformation der Mitteilung‘ hervorzuheben, die in einer anderen kulturellen Umgebung im Prozess der Assimilation der ursprünglichen Ideen erfolgte. Im Fall der Schwenckfelder wurde die Mitteilung – summarisch als ‚Ideen der Reformation Luthers‘ zu verstehen – nicht nur selektiv und spezifisch aufgenommen, wie das häufig vorkam, sondern sie führte, entgegen der Absicht des Absenders, d. h. Luthers, zur Entstehung einer neuen, gegenüber Luther als oppositionell wahrgenommenen religiös-kulturellen Formation des Schwenckfeldertums. Religiöse Ideen dieser Strömung, bereits von lutherischen Kreisen als antagonistisch empfunden, wurden dann öffentlich verbreitet und in Kommunikationsprozessen auf andere Kulturgebiete übertragen. Mit einem Wort, sie wurden selbst zum Objekt des Kulturtransfers und wurden – um die Hauptrichtungen dieser Übertragung zu nennen – zum einen ab 1525 aus Schlesien ins Herzogtum Preußen transferiert, in dessen Kirche seit einigen Jahren eine Adaption der Grundsätze der lutherischen Reformation im Gange war. Zum anderen erfolgte dieser Transfer sporadisch seit 1527, konsequent seit 1529, nach Kaspar Schwenckfelds Auswanderung in den Süden des Heiligen Römischen Reiches, in das sog. Oberdeutschland, wobei der Schwerpunkt auf wichtigen städtischen Reformations- und Kulturzentren wie Straßburg/Strasbourg, Augsburg und Ulm sowie einigen Adelslandschaften lag. In die Zeit dieses intensiven Transfers der Schwenckfeld’schen Gedanken fällt in den Kirchen dieser Regionen auch der Prozess der Hinwendung zum Luthertum und der Trennung von außerlutherischen Einflüssen wie insbesondere der Reformation Huldrych Zwinglis (1484–1531) und der Täufer.11 Theologie dargestellt mit besonderer Ausrichtung auf seinen Kirchenbegriff (KiO Beiheft 2), Stuttgart 1961, S. 16–22. 11 Vgl. M. Brecht, Bucer und Luther, in: C. Krieger / M. Lienhard (Hgg.), Martin Bucer Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 386 Gabriela Wąs Der unter solchen Bedingungen in beiden Regionen erfolgte Transfer Schwenckfeld’scher Gedanken ermöglicht es, noch einen diese Kommunikationsphänomene begleitenden Aspekt zu beobachten, der als ‚ungewollter Kulturtransfer‘ bezeichnet werden kann – ‚ungewollt‘ deshalb, weil das Empfängermilieu die Ziele der Botschaft nicht teilte und ihre Inhalte als fremd wahrnahm. Preußische und süddeutsche kirchliche Oberhäupter schätzten nämlich die zu ihnen vordringenden Schwenckfeld’schen Ideen nicht nur als kulturelle und religiöse Antagonismen gegenüber den bereits als wertvoll empfundenen lutherischen Ideen ein. Sie wurden zudem vor die Aufgabe gestellt, ihre eigenen kirchlichen Gemeinschaften vor dem Transfer der Schwenckfeld’schen Gedanken zu schützen und Mittel zur Abwehr der fremden Kommunikationsbotschaft zu ersinnen. Die Kommunikationsaktivitäten der Schwenckfelder waren somit einer der wesentlichen Gründe für die Ausarbeitung neuer Präventivmaßnahmen durch die reformatorisch gesinnten weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten gegen die unerwünschte Übermittlung der religiös fremden Botschaften. Solche Zensurmaßnahmen riefen aufgrund der Beschränkung des ‚medialen Raums‘ auf obrigkeitlich tolerierte Inhalte und Ideen Gegenreaktionen der inkriminierten religiösen Gruppen hervor. Als Antwort auf die Zensur entwickelten die Schwenckfelder Praktiken wie z. B. den Druck ohne Ortsangabe und/oder ohne Namen der Drucker und Verleger. Anonyme oder unter Pseudonym erschienene Ausgaben sowie die Verbreitung der Schriften mittels eines Netzwerks von Vertrauensleuten sorgten für die Entstehung des bis heute bekannten Phänomens eines zweiten (heimlichen) Umlaufs der Informationen (Schriften), der sich der Kontrolle der öffentlichen Gewalten zu entziehen versuchte und trotzdem auf breitere gesellschaftliche Schichten abzielte. Nach 1517 war dieses Phänomen durch Luthers Schriften ausgelöst worden. Jetzt standen die lutherischen Obrigkeiten selbst vor der Aufgabe, einen Operationsmodus gegen die Verbreitung heterogener und unerwünschter Religionsansichten ausarbeiten zu müssen. Gleichzeitig befassten sich die Schwenckfelder in ihren Schriften auch intensiv mit der Unzulässigkeit der Unterdrückung des religiösen Meinungsaustausches. Ihrer Meinung nach waren die Bibelforschung und Gespräche der Christen über Unstimmigkeiten bei der Interpretation der Bibel der einzige richtige Weg zu der von ihnen ersehnten Erkenntnis Gottes. Die Reformationskommunikation war somit nicht nur der Beginn von Auseinandersetzungen um die Freiheit der Verkündung des Wortes Gottes, sondern auch der Anfang des für die europäische Kultur bedeutenden Diskurses über die Freiheit des Meinungsaustausches in der and Sixteenth Century Europe (SMRT 52/53), 2 Bde., Leiden/New York/Köln 1993, hier Bd. 1, S. 351–367. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen 387 öffentlichen Kommunikation. Die religiös motivierte Argumentation der Schwenckfelder zugunsten der Freiheit trug auch zu deren Genese als kulturellem Wert bei. Um die Übertragung unerwünschter Informationen zu verhindern, setzten die Behörden verschiedene Mittel gegen die Schwenckfelder ein, die für die Epoche typisch waren und von Bücherverbrennungen, Beschlagnahmungen von Auflagen bzw. Druckereiwerkstätten bis hin zu Verhaftungen und Verbannungen von Personen reichten. Es ist für die politisch-kirchlichen Verhältnisse der Zeit signifikant, dass zu Beginn der 1530er Jahre die Umsetzung der prohibitiven Maßnahmen in erster Linie auf die Initiative der kirchlichen Gewalten zurückzuführen war, die weltlichen hingegen eher zurückhaltend agierten. Am Beispiel der Schwenckfelder kann beobachtet werden, dass die kirchliche Obrigkeit die Einführung einer Kommunikationsaufsicht (im Herzogtum Preußen sowie in süddeutschen Gebieten) anstrebte und versuchte, solche Praktiken bei der Übermittlung ihres eigenen Standpunkts anzuwenden, die unerwünschte Kommunikationsinhalte in den Hintergrund rückten.12 Gleichzeitig hatten diese Praktiken – z. B. Verhöre vor kirchlichen Synoden und innerprotestantische Religionsgespräche – den Reformationsstandards zu entsprechen. Bei beiden Formen wurden Reformationsgrundsätze angewendet: Die Falschheit der kontroversen Ansichten musste anhand der Heiligen Schrift nachgewiesen und dem eigenen Milieu als Besiegung des Gegners mithilfe des Evangeliums mitgeteilt werden. Diese performativen Akte waren auch eine Art symbolischer und visueller Kommunikation der Obergewalten, die auf die eigenen Kreise abzielte, um zu veranschaulichen, welche religiösen Meinungen als gottgewollt und legal, d. h. obrigkeitlich gebilligt, galten. Aus der Sicht der in den beiden erwähnten Regionen dominierenden lutherischen Gewalten hatten diese Formen der Abwehr der Schwenckfeld’schen Ideen nur teilweise Erfolg. Gespräche und Verhöre endeten nicht mit dem Beweis ihres aufrührerischen und schriftwidrigen Charakters, sondern mit eher gütlichen oder unentschiedenen Resultaten, die sich nicht wirklich als effiziente Instrumente für die Verlautbarung der negativen Haltung der Obrigkeiten gegenüber den Schwenckfeldern eigneten. Aus der Geschichte der vorbeugenden Maßnahmen, die eine Verbreitung von Schwenckfeld’schen Ideen verhindern sollten, können Ereignisse angeführt werden wie das Verhör von Kaspar Schwenckfeld durch die Straßburger Synode im 12 Vgl. T. Fuchs, Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit (NuS 4), Köln/Weimar/Wien 1995, S. 9; I. Dingel, Streitkultur und Kontroversschrifttum im späten 16. Jahrhundert. Versuch einer methodischen Standortbestimmung, in: Dies. / W.-F. Schäufele (Hgg.), Kommunikation und Transfer (wie Anm. 8), S. 95–111, hier S. 105. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 388 Gabriela Wąs Jahr 1533 oder die Vorladung spiritualistischer Geistlicher durch die Synode der Preußischen Kirche im Juni 1531.13 Als Beispiele für Religionsgespräche können genannt werden das Tübinger Kolloquium von 1535 zwischen Schwenckfeld und Martin Frecht (1494–1556), Martin Bucer (1491–1551) und Ambrosius Blarer (1492–1564)14 oder das Kolloquium vom Dezember 1531 in Rastenburg/ Kętrzyn im Herzogtum Preußen, das auf Anordnung Albrechts I. von Hohenzollern (1511/23–1568) den Charakter irenischer Gespräche haben sollte.15 Das – unerfüllte – Ziel des letztgenannten Treffens war die Beilegung des Streites zwischen Lutheranern und Schwenckfeldern im Herzogtum Preußen. Die Konsequenzen der Rastenburger Gespräche von 1531, an denen alle lutherischen Bischöfe des Herzogtums Preußen und weitere wichtige Geistliche des Landes teilnahmen, reichten gleichzeitig weit über die Grenzen des Herzogtums hinaus: Martin Luther, Philipp Melanchthon (1497–1560) und Heinrich Bullinger (1504–1575) wurden auch zur Stellungnahme veranlasst, was eine allgemeinreformatorische Dimension dieser Gespräche – an denen die Schwenckfelder als eine der Parteien mitgewirkt hatten – offenkundig macht. Die Bedeutung der Ulmer Gespräche liegt dagegen darin, dass sie in Verbindung mit dem fünf Jahre späteren Urteil von 1540 zu sehen sind, in dem die in Schmalkalden versammelten lutherischen Theologen, unter anderem Melanchthon und Bucer, die Lehre Schwenckfelds definitiv verurteilten und ihre Vereinbarkeit mit der Reformation öffentlich ausschlossen.16 Die Kreise der Schwenckfelder im Südwesten des Alten Reichs waren unter Berücksichtigung ihrer Kommunikationsnetzwerke und -mittel vor nicht allzu langer Zeit Gegenstand der Untersuchung von Caroline Gritschke.17 Diese 13 Vgl. G. Wąs, Rozmowy chrześcijańskie w nurcie reformacji. Legniccy i pruscy ewangelicy wobec wczesnoreformacyjnych problemów [Die christlichen Gespräche im Laufe der Reformation. Die Liegnitzer und die preußischen Protestanten angesichts frühreformatorischer Probleme] (AUWr. 3286; Historia 181), Wrocław 2011, S. 155–185, hier die ältere Literatur und ein Bericht über ältere Forschungen. 14 Vgl. J. Endriss, Kaspar Schwenckfelds Ulmer Kämpfe, Ulm 1936, S. 19 f. 15 Vgl. G. Wąs, Rozmowy chrześcijańskie (wie Anm. 13), S. 186–240. 16 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, praefationes, consilia, iudicia, schedae academicae […], in: Philippi Melanthonis opera, quae supersunt omnia, ed. C. G. Bretschneider (CR 3), Halle 1836, Sp. 983–986, Nr. 1945. 17 Vgl. C. Gritschke, Via Media (wie Anm. 9); vgl. auch die Forschungen – obwohl mit anderen methodologischen Prämissen – von H.-P. Mielke, Kirche im Geheimen. Orthodoxes und liberales Schwenckfeldertum in Süddeutschland und seine Auswirkung auf Geistesgeschichte und politisches Handeln in der Spätrenaissance, Bd. 1: Abhandlung und Studie, Nordhausen 2012; R. Gouldbourne, The Flesh and the Feminine. Gender and Theology in the Writings of Caspar Schwenckfeld (SCHT), Milton Keynes 2006. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen 389 hat dabei nicht nur das Phänomen der Schwenckfeld’schen Briefkultur analysiert, sondern auch festgestellt, dass reger Briefaustausch unter den Anhängern ein Substitut für die institutionelle Kirche war und damit eine große Bedeutung für die Binnenstruktur der Schwenckfeld’schen Gemeinschaft hatte. Da diese auf modernen Ansätzen beruhende Forschung über die Schwenckfelder im Südwesten des Alten Reichs leicht zugänglich ist, wird an dieser Stelle näher über den Transfer der Schwenckfeld’schen Ideen ins Herzogtum Preußen und von den dabei eingesetzten Kommunikationsmedien die Rede sein. Der Meinungsaustausch zwischen den Schwenckfeldern und preußischen Lutheranern dauerte von 1525 bis 1544, d. h. etwa 20 Jahre, innerhalb derer sich hinsichtlich der Kommunikationsmittel und -formen verschiedene Etappen unterscheiden lassen. Die Verbindung zwischen den zwei reformatorischen Kreisen des schlesischen Liegnitzer Fürstentums auf der einen, des Herzogtums Preußen auf der anderen Seite wurde durch persönliche Treffen und Gespräche Friedrichs II., Fürst von Liegnitz, und Albrechts von Hohenzollern, noch als Hochmeister in Preußen, in den Jahren 1524/25 hergestellt. Albrecht, der während der Verhandlungen über die Säkularisation des Ordensstaats und die Ablegung seines Lehneids als weltlicher Herzog gegenüber dem polnischen König Sigismund I. (1506–1548) einige Monate im Liegnitzer Fürstentum weilte, hatte die Gelegenheit, mit Personen aus dem Umfeld Friedrichs Kontakt aufzunehmen. Durch Quellen konnte belegt werden, dass er Predigten Schwenckfelds hörte und von dessen Überlegungen zu Glaubensfragen tief beeindruckt war.18 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Schwenckfeld zu diesem Zeitpunkt noch fest auf dem Boden des Luthertums stand. Aller Wahrscheinlichkeit nach sah Albrecht in Schwenckfeld den wichtigsten Helfer Herzog Friedrichs II. bei der Umsetzung der Reformation, die im Liegnitzer Fürstentum seit 1520 allmählich erfolgte. Die Jahre 1525 bis 1528 markieren die erste Etappe der Kontakte zwischen den preußischen und schlesischen Anhängern der Reformation. Wahrscheinlich informierte Albrecht nach seiner Rückkehr nach Preußen im Jahr 1525 eine Gruppe eigens versammelter lutherischer Geistlicher über Schwenckfelds Aktivitäten. Ohne zu wissen, dass Schwenckfeld ab Mitte 1525 eine spiritualistische Position zu vertreten begann, nahm Paul Speratus (1484–1551), damals noch 18 Vgl. C. Krämer, Beziehungen zwischen Albrecht von Brandenburg-Ansbach und Friedrich II. von Liegnitz. Ein Fürstenbriefwechsel 1514–1547: Darstellungen und Quellen (VAPK 8), Köln/ Berlin 1977, S. 83–90; CS, Bd. 1: A Study of the Earliest Letters of Caspar Schwenckfeld von Ossig, ed. C. D. Hartranft, Norristown/Leipzig 1907, S. 97–103, Nr. 164, S. 105, Nr. 165; CS, Bd. 14: Letters and Treatises of Caspar Schwenckfeld von Ossig (1554–1556), ed. E. E. Schultz Johnson, Pennsburg/Leipzig 1936, S. 287–296, Nr. 922. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 390 Gabriela Wąs Pfarrer in der Königsberger Altstadt/Kaliningrad, mit ihm eine Korrespondenz auf, indem er versuchte, vor dem Hintergrund des aufgedeckten Konfliktes Luthers mit Andreas Karlstadt (1486–1541) und Huldrych Zwingli zum Thema des Letzten Abendmahls ein Bündnis lutherischer Kräfte zu schmieden.19 Der Wendepunkt der Kommunikation in dieser Periode waren die Briefe von 1526. Auf den sog. Rundbrief vom Frühjahr 1526 über die Aufhebung des Letzten Abendmahlrituals in Liegnitz zusammen mit einer spiritualistischen Auslegung der Eucharistie, den ihm Schwenckfeld mit Unterschriften anderer Liegnitzer Spiritualisten zuschickte,20 folgte die Antwort preußischer Geistlicher, Judicium genannt, vom 13. November 1526, die eine solche Interpretation ablehnte.21 Schwenckfeld wandte sich in diesem Stadium des Briefgesprächs direkt an Herzog Albrecht und schickte ihm 1527 einen weiteren Brief mit Erklärungen und Traktaten, darunter der Traktat Contra Schwermeros über Luthers zwölf Fehler. Albrecht, Schwenckfeld grundsätzlich wohlwollend gesonnen, schloss sich jedoch dieser Auseinandersetzung persönlich nicht an. Er ließ seine Theologen dessen Schriften bewerten. Im theologischen Bereich hielt er ihre Antworten für verbindlich und schlug Schwenckfeld vor, sich mit solch komplizierten Problemen an Luther zu wenden. Die Kontakte von 1525 bis 1528 hatten somit den Charakter einer Korrespondenzdiskussion, in der der Briefaustausch mit angehängten Traktaten, Sendbriefen und an breitere Schichten gerichteten offenen Briefen die Rolle eines Kommunikationsmediums spielte. Der Briefwechsel mit den preußischen Geistlichen erfolgte parallel zum Briefwechsel mit Albrecht und wurde von der schlesischen Seite hauptsächlich von Schwenckfeld geführt. Die Korrespondenzsammlung, die die Zeiten überlebt hat, besteht heute aus 13 Briefen unterschiedlichen Umfangs und Charakters. Gleichzeitig liefen die Kontakte zwischen den schlesischen Schwenckfeldern und Preußen auch über Personen, die mit Schwenckfeld persönlich verbunden waren: Am Hofe Albrechts diente sein Neffe, der Sohn seines Bruders Hans, zu nennen ist ferner der fürstliche Rat und damalige Bischof von Pomesanien/Pomezania (bis 1529), Erhard von Queis (1490–1529). Letzterer hatte mit Schwenckfeld in Frankfurt an der Oder studiert und später von 1521 19 Der erste bis heute erhaltene Brief Schwenckfelds ist eine Antwort auf den Brief von Speratus. Vgl. CS, Bd. 2: Letters and Treatises of Caspar Schwenckfeld von Ossig ( June 11, 1524–1527), ed. C. D. Hartranft, Norristown/Leipzig 1911, S. 120–125, Nr. 10; UBRGHP, Bd. 2: Urkunden, T. 1.: 1523 bis 1541, ed. P. Tschackert (PPrStA 44), Leipzig 1890, S. 124, Nr. 366. 20 Vgl. CS, Bd. 2, ed. C. D. Hartranft (wie Anm. 19), S. 327–333, Nr. 28. 21 Vgl. GStAPK Berlin, XX. HA, StA Königsberg, HBA, Kasten 1393, Nachlass Speratus, Sign. IV. 22. 13; UBRGHP, Bd. 2, T. 1, ed. P. Tschackert (wie Anm. 19), S. 178 f., Nr. 522a. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen 391 bis 1523 wie Schwenckfeld als Höfling Herzog Friedrichs II. zur Einführung der Reformation im Fürstentum beigetragen.22 Die Ankunft dieser Personen im Herzogtum Preußen war jedoch nicht direkt mit der Absicht verbunden, dort die Schwenckfeld’schen Ansichten zu verbreiten. Auf die Jahre 1530/31 folgte die nächste Etappe der Kontakte, die durch die Missionstätigkeit Friedrich von Heydecks († 1536), des engsten politischen Beraters Herzog Albrechts, der sich zum Schwenckfeldertum bekehrte, im Herzogtum Preußen gekennzeichnet war.23 Die Bekehrung hatte während Heydecks Aufenthalts in Schlesien in den Jahren 1529/30 stattgefunden, als er zeitweise als Diplomat für Herzog Friedrich II. tätig war und Kontakt zur Gruppe der Liegnitzer Schwenckfelder aufgenommen hatte.24 Nach seiner Rückkehr nach Preußen im Jahr 1530 begann er, Schwenckfeld’sche Geistliche auf seine Güter kommen zu lassen und diese als Pfarrer einzusetzen. Die Quellen belegen, dass er mindestens zwei Geistliche, Peter Zenker (ursprünglich in Danzig tätig) und Sebastian Schubart, aus Schlesien nach Preußen holte, die dort dann spiritualistische Ansichten vertraten. Heydeck engagierte sich zudem bei der Gewinnung des lokalen Adels für die Schwenckfeld’schen Ideen, indem er nicht nur persönliche Gespräche mit diesem führte, sondern unter den Adeligen auch spiritualistische Schriften, die er aus Schlesien bezog, verbreitete. Proselytische Aktivitäten entfaltete er ferner gegenüber den preußischen Bischöfen von Pomesanien und Samland sowie Herzog Albrecht selbst. Er übermittelte den Bischöfen Schwenckfeld’sche Traktate und schickte zudem den erwähnten Sebastian Schubart zu ihnen, der die Theologie Schwenckfelds mündlich erläutern sollte.25 Dies alles führte 1531 zu der spektakulären Konfrontation der lutherischen und Schwenckfeld’schen Glaubensrichtungen, die die nächste Etappe der schlesisch-preußischen Kontakte und zugleich eine neue Kommunikationsmethode einläutete. Paul Speratus, der damals bereits von Herzog Albrecht zum Bischof von Pomesanien (1530–1551) ernannt worden war, erreichten nicht nur Informationen über Heydecks Wirken. Auch Krautwalds und Schwenckfelds Traktate, die in Preußen 22 Vgl. A. Clos, Persönliche und literarische Beziehungen zwischen der preußischen und der Liegnitzer Reformation. Eine Untersuchung zum Eindringen der schweckfeldschen Lehre in Preußen, in: JOPKG 6 (1940), S. 23–63. 23 Vgl. T. Besch, Friedrich von Heydeck, ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und Säkularisation Preußens, Königsberg 1897, S. 9–36. 24 Die Entsendung Heydecks nach Liegnitz war wahrscheinlich eine Gegenleistung Albrechts für die Zustimmung Friedrichs zum Übertritt Erhards von Queis in seinen Dienst. Vgl. G. Wąs, Rozmowy chrześcijańskie (wie Anm. 13), S. 121. 25 Vgl. Die Chronik des Johannes Freiberg, in: Die Königsberger Chroniken aus der Zeit des Herzogs Albrecht, ed. F. A. Meckelburg, Königsberg 1865, S. 1–286, hier S. 225 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 392 Gabriela Wąs kursierten, geriten in seine Hände. Zwecks Disziplinierung der Pfarrgeistlichkeit berief Speratus für Juni 1531 eine Synode ein.26 Er forderte all jene, die er im Verdacht hatte, Schwenckfeld’sche Positionen zu vertreten, zur Ablegung eines schriftlichen Glaubensbekenntnisses und zum persönlichen Erscheinen auf der Synode auf. Eine persönliche Einbestellung erhielten unter anderem Peter Zenker, Pfarrer in Johannisburg/Pisz, Melchior Kranich, Pfarrer in Lyck/Ełk, Georg Landmesser, Pfarrer von Bialla/Biała, Martin, Pfarrer von Passenheim/Pasym und Jakob Knothe († ca. 1564), Pfarrer in Neidenburg/Nidzica. Es wurde von ihnen verlangt, Erläuterungen zu vier Fragen schriftlich zu überreichen: de verbo externo, de Eucharistia, de lavacro regenerationis und de peccato originali.27 Einige Schwenckfelder präsentierten ihre spiritualistischen Glaubensbekenntnisse. Von diesen Schriften sind die von Peter Zenker und Georg Landmesser bis heute erhalten. Mit der Überreichung von Bekenntnisschriften an die Synode versuchten die preußischen Schwenckfelder, eine innenkirchliche Diskussion anzustoßen. Das stieß bei Speratus auf Ablehnung. Stattdessen wollte er diese Geistlichen aus Preußen verbannen oder wenigstens von ihren Ämtern suspendieren. Ziel der Synode war es somit, die Integrität der Landeskirche zu verteidigen. Für seine Disziplinarmaßnahmen bekam Speratus jedoch nicht die Zustimmung von Herzog Albrecht. Als Verteidigungsmaßnahme der Schwenckfelder gegenüber diesem Druck der lutherischen Obergewalt war die auf Heydeck zurückgehende Idee eines Treffens beider Parteien zu direkten Gesprächen gedacht. Ein solches für Dezember 1531 einberufenes Religionsgespräch war letztendlich dem Herzog zu verdanken, der dieses zu organisieren befahl. Nach dem Willen des Herzogs sollte das Treffen keine streitbare Diskussion, sondern ein moderates Kolloquium sein; gemäß dem von Speratus selbst nach dem Kolloquium verfassten Bericht verordnete der Herzog eine freundliche, stille, bruderliche, christliche unndterre­ dung.28 Der Herzog erlaubte es auch nicht, ein offizielles, zur Veröffentlichung vorgesehenes Protokoll der Gespräche zu erstellen. Zur Teilnahme lud er beide 26 Vgl. P. Tschackert, Einleitung, in: UBRGHP, ed. Ders., Bd. 1, Leipzig 1890, S. 191 f.; C. J. Cosack, Paulus Speratus, Leben und Lieder. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte, besonders zur Preußischen, wie zur Hymnologie, Braunschweig 1861, S. 127–134. 27 C. J. Cosack, Paulus Speratus (wie Anm. 26), S. 374–382; vgl. auch G. Wąs, Rozmowy chrześcijańskie (wie Anm. 13), S. 157. Im Lichte dieser Forschungen stimmt die in der Literatur oft wiederholte Bewertung des preußischen Schwenckfeldertums grundsätzlich als Laienbewegung nicht. Vgl. W. Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490–1568 (SGP 8), Heidelberg 1960, S. 170. 28 Die unterredung mit Fabian Eckeln gehalten zu Rastenburg am freitag penulima Decembris und sonnabend darnach anno [15]31; GStAPK Berlin, XX. HA, StA Königsberg, HBA, Nachlass Speratus, Kasten 1394, Sign. IV.22. 9 (II), 63I, alte Sign.: Schrank IV, 22.77, 1531, fol. 47; Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen 393 Bischöfe – Speratus und Georg von Polentz (1478–1550), Bischof von Samland (1518/23–1550) –, sowie die drei Königsberger Pfarrer bzw. Prediger Johannes Poliander (1487–1541), Johannes Briesmann (1488–1549) und Michael Meurer († 1537) ein. Zum festgesetzten Termin am 29. Dezember 1531 kam er in Begleitung wichtiger Politiker Preußens persönlich nach Rastenburg und war während der Gespräche anwesend. Seitens der Schwenckfelder beteiligten sich Friedrich von Heydeck, Peter Zenker und Fabian Eckel, der eigens für das Kolloquium aus Liegnitz gekommen war.29 Die Gespräche wurden hauptsächlich zwischen Eckel auf der einen Seite, Speratus und Poliander auf der anderen Seite geführt. Während des Treffens in Rastenburg wurde zwei Hauptthemen verhandelt: Zum einen die Art und Weise, in der der Leib und das Blut Jesu während des Sakraments des Letzten Abendmahls anwesend sind, zum anderen ging es darum, ob das ‚äußere‘, d. h. in Predigten verkündete Wort Gottes Wort ist. Zu beiden Fragen äußerten sich die Schwenckfelder im spiritualistischen Sinn.30 Ein formelles Urteil über den Sieg einer Partei blieb – gemäß dem vermittelnden Charakter des Kolloquiums und dem Wunsch des Herzogs – aus. Es wurde weder ein Sieger ausgerufen noch wurde verkündet, wessen Argumente mehr Gewicht hatten. Dies bestätigt den ‚synodalen‘ Charakter des Treffens, das nicht als eine kontroverse Diskussion ausgerichtet war.31 Zudem stellte Herzog Albrecht zum Fragmente dieser unterredung mit Fabian Eckeln sind veröffentlicht in: C. J. Cosack, Paul Speratus (wie Anm. 26), S. 383–404. 29 Dank Schwenckfeld wirkte er seit 1521 als evangelischer Geistlicher in Liegnitz. Er gehörte zu den aktivsten Schwenckfeld’schen Geistlichen. Vgl. A. Clos, Persönliche und literarische Beziehungen (wie Anm. 22), S. 31; C. A. Salig, Vollständige Historie der Augsburgischen Confeßion und derselben Apologie […], 3 Bde., Halle/Saale 1730–1745, Bd. 3, S. 1102, 1108. 30 In der Antwort der Schwenckfelder auf die erste Frage waren drei Komponenten wichtig: Erstens, im Sakrament bekomme der Gläubige das Blut und den Leib Christi, aber nicht auf reale und materielle Art, sondern spirituell. Zweitens, wichtig für die Exegese des Abendmahls sei – außer den Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas – auch das sechste Kapitel des Johannesevangeliums. Drittens, alle vier Stellen in den Evangelien, wo über Christi letztes Abendmahl berichtet wird, sollen metaphorisch verstanden werden. Zur zweiten Frage hätten sie behauptet, dass Gottes Wort nur in einer Weise zu verstehen sei, d. h. als Christus selbst, wie es am Anfang der Heiligen Schrift steht. Christus könne nur sich selbst verkünden. Er spreche sein Wort direkt in das Herz des Menschen. Das Wort Christi sei mit der Gnade des Glaubens gleichzusetzen. Die Diener der Kirche predigen nur den Inhalt der Botschaft Christi, also die Worte, die in der Heiligen Schrift aufgeschrieben wurden. Sie können kein Wort Christi und so auch keinen Glauben vermitteln. 31 Vgl. M. Hollerbach, Das Religionsgespräch als Mittel der konfessionellen und politischen Auseinandersetzung im Deutschland des 16. Jahrhunderts (EHS.G 165) Frankfurt a. M./Bern 1982, S. 1–7, 82–107; T. Fuchs, Konfession und Gespräch (wie Anm. 12), S. 16–34. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 394 Gabriela Wąs Ende der Unterredungen in Rastenburg fest, dass die religiösen Angelegenheiten nicht endgültig geklärt werden konnten, und forderte beide Parteien zur schriftlichen Fortsetzung des Meinungsaustausches auf. Albrechts Haltung war also eindeutig vermittelnd und versöhnend und bezweckte eine Abmilderung der theologischen Auseinandersetzung. Er rechnete vermutlich damit, dass eine schriftliche Weiterführung der Diskussion dieser zunehmend eine intellektuelle Dimension verleihen würde, die zugleich den Kreis der Rezipienten einschränken würde. Gleichzeitig sollte keine Verschärfung der Positionen provoziert werden, was sowohl auf Seiten der Lutheraner als auch der Schwenckfelder hätte der Fall sein können, falls eine Partei öffentlich als ‚siegreich‘ ausgerufen oder des Irrtums bezichtigt worden wäre. Da ein abschließendes Urteil von Anfang an nicht vorgesehen war, hatte der Herzog auch kein Protokoll erstellen lassen. Anscheinend wollte der Herzog keiner der Parteien Gründe zur Radikalisierung liefern. Falls eine der Parteien – höchstwahrscheinlich die Schwenckfelder – als ‚geschlagen‘ befunden worden wäre, wollte er nicht in die Situation geraten, sich mit Forderungen nach Zwangsmaßnahmen und Restriktionen gegen die Unterlegenen konfrontiert zu sehen. Es gibt jedoch keinen Grund für den Vorwurf der preußischen Lutheraner, dass er die Schwenckfelder stützte. In gewissem Maße ging die vermittelnde Haltung des Herzogs auf seine Loyalität gegenüber Heydeck zurück, der zu jenem engen Personenkreis gehörte, der für Albrecht in Preußen die Erblichkeit im Herzogtum vorbereitete. Gewiss bewog ihn aber auch die Solidarität gegenüber Herzog Friedrich II., mit dem er damals gemeinsame politische Ziele verfolgte und der zu dieser Zeit noch die Schwenckfeld’sche Reformation in seinem Fürstentum implementierte, zur zurückhaltenden Haltung gegenüber den Schwenckfeldern in Preußen. Auf der anderen Seite hatte Albrecht stets Interesse an Glaubensfragen, wie es für denkende, intellektuell und geistig sensible Menschen dieser Epoche kennzeichnend war.32 Nach dem Treffen schrieb Speratus seinen Bericht über die Gespräche in Rastenburg nieder, um damit der angeblichen Verbreitung falscher Gerüchte durch die Schwenckfelder über ihren Rastenburger Sieg entgegenzutreten. Er sammelte dafür die Unterschriften der anderen lutherischen Teilnehmer und ersuchte den Herzog um die Veröffentlichung seines Berichts, d. h. um die öffentliche Bekanntmachung der Auseinandersetzung sowie um eine Bestätigung des Herzogs, dass das Urteil zugunsten der Lutheraner ausfiel. Nach der Absage des Herzogs versuchte 32 Vgl. M. Leckner, Geistfrömmigkeit und Enderwartung. Studien zum preußischen und schlesischen Spiritualismus, dargestellt an Christoph Barthut und Quirin Kuhlmann (KiO Beiheft 1), Stuttgart 1959, S. 25. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen 395 Speratus, auf diesen durch die Einschaltung Luthers als theologischer Autorität Druck auszuüben. Speratus’ Handlungen hatten ausdrücklich zum Ziel, den Glauben zu vereinheitlichen, die Kirche, den Staat, die Geistlichkeit und die Glaubensgemeinschaft zu homogenisieren und alle Untertanen des Herzogs auf eine Konfessionsvariante zu verpflichten – durch kirchliche Maßnahmen ebenso wie durch Beschlüsse der weltlichen Obrigkeit. Die ersten Impulse für eine Konfessionalisierungspolitik gingen demzufolge im Herzogtum Preußen auf die Initiative der kirchlichen Machthaber zurück, während die weltliche Macht mit dem Modell eines Herzogtums mit unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften der antirömischen Opposition klarkam. Nach Rastenburg erlaubte der Herzog zwar eine Suspendierung der Schwenckfelder Geistlichen von einigen Ämtern, ließ aber zu, dass sie in der Pfarrei Johannisburg, der Residenz von Heydeck, weilten und wirkten. Speratus hielt er vor radikalen Auftritten gegenüber Andersgläubigen zurück. Nach Rastenburg entwickelte sich die Situation in zwei Richtungen. Gemäß dem beim Abschluss der Unterredungen in Rastenburg geäußerten herzoglichen Wunsch dauerte in der nächsten Konfliktphase, d. h. in den Jahren 1532 bis 1537, der Austausch von Traktaten zwischen Lutheranern und Schwenckfeldern an. Seitens der Schwenckfelder traten dabei Krautwald, Schwenckfeld und Eckel als Verfasser von Briefen und Traktaten hervor, die sie nach Preußen schickten.33 Gleichzeitig wurden auf Initiative der preußischen Lutheraner, vor allem Speratus’, Luther und Melanchthon für die Bekämpfung Schwenckfeld’scher Einflüsse in Preußen eingeschaltet. Nach dem nach Wittenberg geschickten Bericht von Speratus über das Rastenburger Religionsgespräch und nachdem Krautwald 1533 oder Anfang 1534 einen weiteren Traktat an Speratus geschickt hatte, schaltete sich Melanchthon direkt in die Diskussion ein und verfasste eine umfangreiche Antwort auf Krautwalds Traktat.34 Luther dagegen schrieb einen Brief an Herzog Albrecht, den er in gedruckter Form unter dem Titel „An den Durchleuchtigen Hochgeborenen Fürsten und Herrn, Herrn Albrecht“ herausgab, womit die Angelegenheit gleich publik wurde.35 Luthers Deutung des Streits zwischen Lutheranern und Schwenckfeldern im Herzogtum Preußen wurde somit ein Teil des öffentlichen, 33 Vgl. G. Wąs, Rozmowy chrześcijańskie (wie Anm. 13), S. 249–257. 34 Vgl. ebd., S. 254–257. 35 Vgl. M. Luther, Sendschreiben an Herzog Albrecht von Preußen. 1532, in: WA, Bd. 30/3, Weimar 1910, S. 541–553, hier S. 547–553; UBRGHP, Bd. 2, T. 1, ed. P. Tschackert (wie Anm. 19), S. 281, Nr. 847. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 396 Gabriela Wąs allgemeinreformatorischen Diskurses. Zum Ersten tadelte er im Brief von 1532 die spiritualistische Interpretation des Abendmahls und die Hinzufügung des sechsten Kapitels aus dem Johannesevangelium für dessen Exegese. Dabei berief er sich hauptsächlich auf die Autorität der Kirche, d. h. auf die Tradition, indem er schrieb, dass die Kirche sich unmöglich 1500 Jahre lang irren konnte, wenn sie die Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi verkündete. Folglich wurde der Brief als Ausdruck „der konservativsten“ Ansichten Luthers seit 1517 empfunden.36 Zum Zweiten tadelte Luther auch die Aufnahme des Disputs mit Nichtlutheranern durch Albrecht. Zum Dritten verurteilte er sehr deutlich Albrechts Religionspolitik, also das Tolerieren der Nichtlutheraner im politischen Leben des Herzogtums sowie seine Genehmigung der Ansiedlung nichtlutherischer Gruppen in Preußen, hatte er doch Flüchtlingen aus den Niederlanden die Errichtung von Siedlungen genehmigt. Der Weg, den Luther für Albrechts Verhalten gegenüber religiösen Dissidenten vorsah, bestand in der Ablehnung jeglicher Gespräche mit diesen. Herzog Albrecht sollte seine weltliche Macht nutzen, Andersgläubige aufzufordern, die ihm unterstehenden Gebiete zu verlassen, und brachte sogar die Suggestion von ‚Gottes Rache‘ für den Fall religiöser Zweifel ins Spiel. Die Hauptkritik Luthers galt dabei nicht den Schwenckfeldern, auch nicht den Gesprächen in Rastenburg – in der Historiografie wird deshalb dieser Brief Luthers oft nicht mit den Rastenburger Ereignissen verknüpft –, sondern der Theologie und der Religionsauffassung Zwinglis. Er sah in diesem die Bündelung sämtlicher nichtlutherischen Theorien. Luther machte diesen, in deutlicher Anlehnung an die Marburger Gespräche von 1529, sowie auch Karlstadt und Thomas Müntzer (ca. 1489–1525) für die Spaltung der reformatorischen Bewegung verantwortlich. Schließlich beinhaltete der Brief noch eine rachsüchtige Aussage Luthers über die Bestrafung Zürichs durch Gottes Hand. Er meinte damit den Tod Zwinglis, der kurz zuvor 1531 im zweiten Kappeler Krieg, den die Zwinglianer provoziert hatten, umgekommen war. Der Brieftraktat Luthers an Herzog Albrecht war eine weitere Gelegenheit zur öffentlichen Ablehnung der Theologie Zwinglis und ein Beleg dafür, dass die Diskrepanzen zwischen Luthertum und Zwinglianismus weiterbestanden – allen Gerüchten über ein 1529 in Marburg geschlossenes Konkordat zum Trotz. Der durch Luthers Brief hervorgerufene Eindruck, das Herzogtum Preußen sei ein Territorium, in das Häretiker und Unruhestifter freien Zugang hätten, traf Herzog Albrecht in politischer Hinsicht deutlich. Der Brief wurde drei Monate nach der am 19. Januar 1532 erfolgten Verhängung der Reichsacht wegen der Beschlagnahmung der Güter des Deutschen Ordens und der Verletzung des 36 P. Tschackert, Einleitung (wie Anm. 26), S. 197. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen 397 Ordensgelübdes veröffentlicht.37 Luthers Aktion nahm auf diese heikle politische Lage Albrechts keine Rücksicht. Der Druck des Briefes von 1532 diente vor allem dem Zweck einer Konfrontation mit dem theologischen Konzept Zwinglis und provozierte eine Reaktion der Züricher Geistlichen. Heinrich Bullinger, aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Verfasser, redigierte im Juni 1532 deren Antwort in einem Brief an Herzog Albrecht, in dem er sämtliche Argumente für die Ablehnung von Luthers Thesen anführte.38 Er schrieb diesen Brief quasi im Namen aller nichtlutherischen Strömungen und schützte dadurch z. B. die niederländischen Siedler in Preußen, über die bekannt war, dass sie keine Zwinglianer, sondern sog. Sakramentierer waren. Ähnlich wie Luther erwähnte Bullinger die Schwenckfelder nicht namentlich, obwohl er im Brief deren spirituelle Theologie unterstützte, und bezog sich auch nicht auf die Unterredung in Rastenburg. Beide Parteien, sowohl Zwinglianer als auch Lutheraner, nutzten also den in Preußen ausgetragenen Konflikt für ihre eigenen Absichten und als Instrument zur Darlegung ihrer Position im Abendmahlsstreit. Die Kommunikationsmittel der Korrespondenz und der gedruckten Briefe dienten in diesem Fall nicht der Erwiderung auf Speratus und auch nicht dem spezifischen Dialog mit dem Absender über das meritum des Problems. Sie wurden vielmehr dafür genutzt, eigene Ansichten mitzuteilen und in die Öffentlichkeit zu tragen. Der geschilderte Umlauf von Informationen zwischen Preußen, Wittenberg und Zürich kann als ein Beispiel für unterschiedliche Auslegungen einer Nachricht durch deren Adressaten (Luther, Bullinger) dienen – Auslegungen, die mit den Intentionen der Urheber dieser Botschaften nur mehr wenig gemein hatten. Dies ist auch ein Beleg dafür, dass ein stark intentional geprägtes Verständnis von Informationen kein Spezifikum der heutigen Medienlandschaft ist, sondern zu allen Zeiten öffentlichen Mitteilungen inhärent war. Luthers öffentlicher Brief an Herzog Albrecht hatte für die Schwenckfelder ernsthafte Folgen. Er war einer der entscheidenden Faktoren, die Martin Bucer in Straßburg – dort weilte Schwenckfeld seit 1529 in der Emigration – zu einer Politik im Sinne von Luthers Empfehlungen veranlassten. 1533 wurde eine Synode einberufen, auf der Straßburger Dissidenten, u. a. Schwenckfeld, ihre religiösen Auffassungen nicht mehr nur vorzustellen und zu diskutieren, sondern den Nachweis zu führen hatten, dass die von ihnen verkündeten Lehren keine schädlichen, den öffentlichen Frieden in der Stadt störende Inhalte verbreiteten.39 Es 37 Vgl. A. Bues, Die Apologien Herzog Albrechts (DHIWQS 20), Wiesbaden 2009, S. 15–18. 38 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 2: Briefe des Jahres 1532, ed. U. Gäbler, Zürich 1982, S. 138–148, Nr. 106; UBRGHP, Bd. 2, T. 1, ed. P. Tschackert (wie Anm. 19), S. 284, Nr. 861. 39 Vgl. R. E. McLaughlin, The Politics of Dissent: Martin Bucer, Caspar Schwenckfeld, and Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 398 Gabriela Wąs handelte sich also nicht um erläuternde Gespräche, sondern um den Ausschluss heterodoxer Meinungen aus der Straßburger Kirchengemeinde. Dass Schwenckfelds religiöse Auffassungen die öffentliche Ordnung zersetzten, wurde zwar nicht offiziell bewiesen. Auf Druck Bucers bat ihn der Stadtrat 1534 jedoch insgeheim, die Stadt zu verlassen; dies würde, so die Begründung, die öffentliche Stimmung beruhigen. Indirekt wurde also suggeriert, dass Schwenckfelds Ideen in der Stadt Unruhe verbreitet hätten. Auch in Schlesien begann Herzog Friedrich von 1532 bis 1534 auf die Schwenckfeld’schen Geistlichen massiven Druck auszuüben. Manche verließen deshalb von sich aus sein Territorium. Am häufigsten wichen sie dabei in die benachbarte Grafschaft Glatz/Kłodzko aus, die zwar nicht zu Schlesien gehörte, diesem jedoch in soziokultureller Hinsicht ähnlich war.40 Dort errichteten die schwenckfeldisch gesinnten Geistlichen nun in einigen Städten und Regionen für mehrere Jahrzehnte neue Gemeinschaften. Der Transfer von Personen war in diesem Fall für den Transfer religiöser Ideen entscheidend. Der bedeutende Beitrag von Menschen mit Expertenwissen bei der Verbreitung religiöser Ideen in der Frühen Neuzeit lässt sich auch daran erkennen, dass es nach dem Aussterben dieser Emigrantengeneration von Geistlichen im Glatzer Gebiet zu einer deutlichen Reduzierung des Schwenckfeldertums kam. Die Nachwirkungen der Auseinandersetzung der preußischen Lutheraner mit den Schwenckfeldern reichten im Herzogtum Preußen bis ins Jahr 1544. Zu diesem Zeitpunkt entstand das letzte Schreiben von intellektueller Bedeutung in der Diskussion zwischen beiden Religionsparteien. Es wurde von Johannes Dötschel, dem damaligen Königsberger Schlossprediger (seit 1541), als Antwort auf die Frage Herzog Albrechts bezüglich der Auffassung Schwenckfelds über die zwei Naturen Christi verfasst. Dötschel gelangte dabei zu einer völligen Verurteilung Schwenckfelds. Das ist der letzte Beleg, dass Informationen über Schwenckfelds Ansichten direkt an den preußischen Herzog gelangten. Die Schwenckfeld’schen Ideen wurden durch fast alle in der Epoche der Reformation typischen Kommunikationsmedien nach Preußen übertragen. Wie erläutert, wurden im Bereich der schriftlichen Medien religiöse Ideen in privaten Briefen an eine Person bzw. an Personengruppen sowie in sog. offenen Briefen, Sendbriefen, Brieftraktaten oder – zumeist unveröffentlicht the Schwenckfelders of Strasbourg, in: Ders., The Freedom of Spirit, Social Privilege, and Religious Dissent (BDSS 6), Baden-Baden/Bouxwiller 1996, S. 233–254; über die Politik Bucers gegenüber den Schwenckfeldern vgl. Ders., Martin Bucer and the Schwenckfelders, in: C. Krieger / M. Lienhard (Hgg.), Martin Bucer (wie Anm. 11), S. 615–626. 40 Vgl. H. Weigelt, Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien (AKG 43), Berlin/New York 1973, S. 181–194. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen 399 gebliebenen – Korrespondenztraktaten vermittelt. Dazu kam der Austausch von gedruckten Traktaten, die den Briefen hinzugefügt waren oder gesondert an Personen, die ‚missioniert‘ werden sollten, bzw. an Anhänger verschickt wurden. Der Transfer des Schwenckfeld’schen Gedankenguts erfolgte aber auch durch Personen, vor allem Geistliche, durch mündliche Verkündigung von den Kirchenkanzeln sowie durch persönliche Treffen mit lutherischen Opponenten. Diese Treffen hatten sowohl privaten als auch öffentlichen Charakter. Von besonderer Wichtigkeit waren dabei direkte öffentliche Diskussionen wie die Anhörungen der Schwenckfelder durch den lutherischen Bischof auf der Synode in Rastenburg vom Mai/Juni 1531 sowie Gespräche während des Kolloquiums in Rastenburg im Dezember 1531. Eines der wichtigsten Mittel, das die Übertragung von Ideen und Nachrichten förderte, war die Protektion durch weltliche Personen mit einer gewissen politischen Macht, die für die Schwenckfeld’sche Lehre gewonnen wurden. In dieser Hinsicht sollten besonders die Aktivitäten Friedrich von Heydecks hervorgehoben werden, mit dessen Tod 1536 das Schwenckfeldertum im Herzogtum Preußen einer seiner wichtigsten Stützen beraubt wurde und rascher zum Erliegen kam. Etwas früher, einige Monate vor dem Tod Heydecks, veränderte sich auch die Glaubenspolitik Herzog Albrechts. Am 1. August 1535 gab er ein an die Landesbischöfe gerichtetes Mandat aus, mit dem er die Einführung einer einheitlichen Lehre und Konfession im Herzogtum forderte.41 Im gleichen Jahr stimmte er auch einige Male der Ausweisung von Personen aus seinem Territorium zu, darunter auch Schwenckfelder, die sich der Konfession der Landeskirche nicht unterordnen wollten. In der Literatur wurde auf einen Grund für diese Änderung der Religionspolitik Albrechts hingewiesen: die Nachrichten über die Täuferherrschaft in Münster.42 Der Herzog soll seither ein starkes Misstrauen gegenüber radikalen religiösen Strömungen entwickelt und diese verdächtigt haben, gesellschaftlich umstürzlerisch zu sein und die Landeskirche vernichten zu wollen. Aber auch eine andere Erklärung ist möglich: Die infolge der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung reicher und mächtiger gewordenen Stände im Herzogtum Preußen gewannen mehr und mehr Einfluss auf verschiedene Bereiche, auch auf die Kirche, denn Religionsangelegenheiten waren von Anfang an Verhandlungsgegenstand auf den Ständeversammlungen. Diese Entwicklung ging zu Lasten der politischen Macht Herzog Albrechts. Er war bei der Realisierung seiner Innen- und Außenpolitik immer stärker auf die Kooperation der Stände angewiesen.43 Die Bischöfe, 41 Vgl. UBRGHP, Bd. 2, T. 1, ed. P. Tschackert (wie Anm. 19), S. 317, Nr. 975. 42 Vgl. W. Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach (wie Anm. 27), S. 166. 43 Vgl. J. Małłek, Ustawa o rządzie (Regimentsnottel) Prus Książęcych z roku 1542. Studium Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 400 Gabriela Wąs die einer der Hauptstände waren, nutzten aller Wahrscheinlichkeit nach diese neue Machtkonstellation aus und strebten in Zusammenarbeit mit den übrigen Ständen die konfessionelle Homogenität im Sinne einer eindeutigen lutherischen Glaubenspolitik in Preußen an. Trotz der Nutzung aller zur Verfügung stehenden Mittel für den Transfer von Ideen und trotz des Wirkens von Personen mit Wissen und Macht schlug die Schwenckfeld’sche Lehre im Herzogtum Preußen keine Wurzeln. Dies zeigt die Grenzen der Kommunikation bei der Übertragung soziokultureller Phänomene. Der Fehlschlag bei der dauerhaften Durchsetzung des Schwenckfeldertums in Preußen ist umso auffälliger, wenn man die Assimilierungsprozesse in Süddeutschland betrachtet; dort existierten in der Frühen Neuzeit durchwegs kleine Gruppen und schwach verbundene Netzwerke von Individuen, die die religiös-intellektuelle Gedankenwelt Schwenckfelds tradierten. Kommunikation nicht nur im Sinne der Vermittlung von Informationen, sondern auch des Transfers kulturell-geistiger Werte von einer Personengruppe an eine andere ist nicht als autonomer Prozess anzusehen. Sie ist von vielen, für eine bestimmte soziale Umgebung temporären und einmaligen Faktoren abhängig, die von der Einstellung der politischen Machthaber bis zu zeitbedingten Reaktionen der Empfängerkreise reichen, und führt zur Verflechtung mit vielen dort bestehenden soziostrukturellen wie auch kulturellen und geistigen Phänomenen. z dziejów przemian społecznych i politycznych w lennie pruskim [Das sog. Regimentsnottel des Herzogtums Preußen vom Jahr 1542. Eine Studie aus der Geschichte des gesellschaftlichen und politischen Wandels im preußischen Lehen] (RTNT 72 (1967), H. 2), Toruń 1967, S. 81–114. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Martin Wernisch Der Adiaphoristische Streit in Böhmen Ein Beitrag zum Verständnis des spezifischen Verlaufs der böhmischen Reformation 1. Einführung in die Problematik Aus dem Blickwinkel der allgemeinen Reformationsgeschichte stellt die böhmische Reformation einen echten Sonderfall dar, was ihr auch besondere Attraktivität verleihen kann. Sie ist schon darin außergewöhnlich, dass der Lutherimpuls, der für die Reformation als europäisches und weltgeschichtliches Ereignis grundlegend ist, in Böhmen nicht das erste Stadium inländischer Bestrebungen um die Erneuerung des Christentums einleitet, die bereits früher den Rahmen des ‚Reformkatholischen‘ sprengten und mit der Papstkirche in einen heftigen Konflikt gerieten. Völlig ohne Parallelen ist diese Ausnahme freilich nicht. Es gab bekanntlich auch andere mittelalterliche Bewegungen, die aus der Sicht des römischen Lehramtes Häresien repräsentierten und deshalb verfolgt wurden, die aber trotzdem bis in die Ära der europäischen Reformation überdauerten, diese förderten und sich in protestantische Gruppierungen umgestalteten. Beispiele dieser Art liefern die Waldenser, vor allem im Piemont, oder die englischen Lollarden.1 In diesen beiden Fällen ging es allerdings um Gemeinschaften, die sogar in ihren heimatlichen Standorten im Verborgenen eine Minoritätsexistenz fristeten. Und in dieser Hinsicht unterschied sich das böhmische Hussitentum auf entscheidende Weise. Wirklich unikat ist es darin, dass es imstande war, sich bereits in der vorreforma­ torischen Phase in einer Landeskirche und an einer Universität fest zu etablieren, womit es manche der Veränderungen im kulturellen, sozialen und verfassungsrechtlichen Bereich stiftete, die für die europäische Reformation kennzeichnend sind. Das Hussitentum bereitete also in Böhmen den Boden für die Reformation. Doch aus einem anderen Blickwinkel verkomplizierte es auch deren Ansatz. Spezifische inländische Traditionen, die sich während eines ganzen Jahrhunderts herausgebildet hatten und verwurzelt waren, konnten nicht umgehend den Einflüssen unterliegen, die von den reformatorischen Zentren in Sachsen und 1 Alle genannten Phänomene behandelt auf vergleichende Weise M. Lambert, Medieval Heresy. Popular Movements from the Gregorian Reform to Reformation, Oxford 21992. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 402 Martin Wernisch anderen Ländern ausgingen. Auch dort, wo diese begeistert empfangen wurden, und zwar als eine Bereicherung und Vervollkommnung dessen, was man im hussitischen Anlauf erreicht hatte, wurden sie dennoch sozusagen auf einheimische Jungpflanzen gepfropft. Und die Zurückhaltenderen konnten sie immerhin an den bestehenden heimatlichen Mustern messen. Der Ansatz der europäischen Reformation verstärkte in der Tat gewissermaßen ältere innere Streitigkeiten unter den Utraquisten, die nie restlos ausgeräumt und wiederholt aufgelebt waren. Sie hingen eng mit der Tatsache zusammen, dass die verschiedenen Schulen und Parteien des Hussitismus nicht nur ein tragfähiges Übereinkommen untereinander suchen, sondern – vollständig umgeben von der römisch-katholischen Welt – mit dieser zumindest einen Kompromiss schließen mussten. Die Kirche sub utraque fand eine gesetzliche Legitimation ihrer Existenz in den Kompaktaten, die man seinerzeit mit dem Basler Konzil ausgehandelt hatte und die von den böhmischen Königen in ihren Wahlkapitulationen angenommen worden waren. Doch auch diese Kompaktaten unterlagen unterschiedlichen Deutungen. Sofern sie von der römischen Seite überhaupt anerkannt waren, dann gemeinhin lediglich im Hinblick auf die rituelle Konzession des Laienkelches – und es ist zuzugestehen, dass der Wortlaut der weitschweifigen und zugleich inhaltlich abgeschwächten Urkunde, der nur den Wenigsten bekannt war, dieser Interpretation entgegenkam.2 Dagegen gingen die Utraquisten von Anfang an vielmehr von der bloßen Realität des Friedensabkommens aus, das sie dann als Garantie ihrer Autonomie verstanden – wiewohl sie zugleich stolz waren, dass die Kompaktaten die Kirche sub utraque als Teil der allgemeinen Kirche anerkannten, was eine wirkliche Entspannung mit sich brachte. Einerseits sprachen die Utraquisten also der römischen Kurie ab, Jurisdiktion über sie auszuüben, doch andererseits akzeptierten sie in der Regel, dass sie eine römisch garantierte Priesterweihe brauchten, bis sie einen eigenen Bischof bekommen würden. Doch die Kurie war aus naheliegenden Gründen klug genug, nie einen utraquistischen Bischof zu approbieren, der befugt wäre, Priester zu weihen; somit behielt sie ein starkes Mittel, etwa um die Selbstverwaltung der Kirche sub utraque, ja sogar deren inneres Leben einzuschränken. Derselbe Kompromiss, der dieser Kirche anfangs zum Überleben half, beschränkte sie mit der Zeit immer mehr. Ein 2 Eine vollständige kritische Ausgabe des Textes fehlte bis vor Kurzem. Vgl. die neueste kritische Edition in: Die Basler Kompaktaten mit den Hussiten (1436). Untersuchung und Edition, ed. F. Šmahel (MGH SuT 65), Wiesbaden 2019; zu ihren Voraussetzungen monografisch auch die ältere tschechische Teilfassung des neuesten Buches von Dems., Basilejská kompaktáta. Příběh deseti listin [Die Basler Kompaktaten. Eine Geschichte von zehn Urkunden] (Knižnice ĎaS [Bücherei der ĎaS] 45), Praha 2011. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 403 Teil der Utraquisten – und die Mehrheit der Brüderunität, die sich aus besagten Gründen noch im 15. Jahrhundert aus der Gemeinschaft der Kirche sub utraque faktisch ausgegliedert hatte – hieß also die europäische Reformation als Gelegenheit willkommen, um sich aus der einengenden Situation zu befreien; doch stießen diese Anhänger der neuen reformatorischen Bewegung zugleich auf eine innerkirchliche Opposition, die eher einen Status quo bevorzugte. Zahlenmäßig wurden solche Opponenten zwar immer schwächer, nichtsdestoweniger hatten sie einen ausgesprochen starken Unterstützer auf ihrer Seite: Das Kompaktatengesetz hatte einen Garanten in den römisch-katholischen Königen. Besonders Ferdinand I. von Habsburg beharrte während seiner langen Regierungszeit (1526–1564) programmatisch und konsequent auf der ‚althergebrachten Ordnung‘. Dieser Druck bremste die Protestantisierung der Kirche wesentlich stärker als ein Konservativismus des Volkes, geschweige denn der Theologen. Zugleich trug dies in beträchtlichem Maße zur Erhaltung etlicher der überkommenen äußeren Formen auf Seiten der Evangelischen bei, die durch die Zugeständnisse im Bereich der Adiaphora für sich einen einigermaßen legalen Status bewahrten. Der Begriff ist hier umso eher am Platz, als dass sich die Evangelischen in Böhmen die reformatorische Adiaphora-Lehre tatsächlich aneigneten und diese für inländische Verhältnisse adaptierten. Wohlgemerkt geschah dies, bevor sie durch den Interimistischen Streit diskreditiert wurde. In der Melanchthon’schen Form brachte man die Lehre auf ähnliche Weise und in einem analogen Zusammenhang zur Geltung wie die Strategie der „Invocavit-Predigten“ Martin Luthers (1483–1546), die ihren Widerhall bereits 1524 in den Lichtmessartikeln fand – dem Beschluss der ersten utraquistischen Synode, die auf Anregungen der Wittenberger Reformation reagiert hatte.3 Diese beiden Denkmuster in den Invocavit-Predigten sowie die Adiaphora-Lehre knüpften organisch aneinander an, denn im böhmischen Kontext ging es eben um eine allmähliche und nicht überstürzte Aufklärung, die zu einem freieren Gebrauch und schließlich vielfach auch zu einer Abschaffung des zeremoniellen Überbaus führen sollte. Auch hier arbeitete man demnach mit einem Konzept der Vorläufigkeit, doch in einer gegensätzlichen Ausrichtung als beim Augsburger Interim. Dennoch diente die Adiaphora-Lehre auch in Böhmen manchmal ebenso als Mittel eines taktischen Rückzuges und es lässt sich natürlich darüber streiten, wie 3 Vgl. die tschechische Originalfassung der sog. Lichtmessartikel in: Kronika pražská Bartoše písaře [Die Prager Chronik des Schreibers Bartoš], ed. J. V. Šimák (FRB 6) Praha 1907, S. 1–296, hier S. 21–25; eine spätere lateinische Übersetzung in: Des Bartholomäus von Sct. Aegidius Chronik von Prag im Reformationszeitalter. Chronica de seditione et tumultu Pragensi 1524–1531, ed. C. Höfler, Prag 11859, S. 21–26. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 404 Martin Wernisch harmlos oder gefährlich dieser war. Auf alle Fälle wäre dabei mit zu bedenken, dass man das Ausmaß der eventuellen Verluste vor allem daran messen sollte, was inzwischen in Böhmen selbst erreicht wurde und nicht so sehr an den Standards jener evangelischen Landeskirchen, die sich als solche in Eintracht mit ihren Magistraten und unter deren Schutz entwickelten. Der spezifische böhmische Kontext spielte bei der Adaption der Adiaphora-Lehre immer die Hauptrolle, stärker als ein Interesse an der Verwirklichung einer abstrakten Theorie. Das spiegelt sich allerdings auch in der Tatsache wider, dass dieses Phänomen in den Quellen zwar wiederholt auftaucht, doch unter verschiedenen Bezeichnungen und häufig ohne eine direkte Berufung auf die Reformatoren oder eine verbale Übereinstimmung mit ihnen. Die Zustände im Land, wo zwar nicht die ganze Universität, aber immerhin eine reguläre theologische Fakultät ausfiel und sich die Zensuraufsicht gegen jede auffällige reformatorische Ausprägung richtete, trafen auch die Buchproduktion. Letztere war zwar unter diesen Umständen sogar verhältnismäßig reich und spiegelte die relative Überlegenheit evangelischer Richtungen wider, nichtsdestoweniger überwog jedoch die allgemein geprägte christliche erbauliche Literatur die konfessionell eindeutig profilierten dogmatischen Traktate. Über die adiaphoristische Strategie und Taktik belehren uns mithin viel weniger systematische Abhandlungen als Amtsakten – und zwar größtenteils aufgrund von Klage- und Verteidigungsschriften. Bei solchen Anlässen konnten böhmische Evangelische sich zwar auf die lutherisch-melanchthonische Lehre stützen, aber in der Regel war es nicht angebracht, dies allzu explizit zu tun, weil sie nicht so sehr ihre Übereinstimmung mit dieser Lehre beweisen brauchten, sondern vor der Forderung bestehen mussten, sich angesichts der ketzerischen Neuerungen an die althergebrachte Religion zu halten. Doch allein die Tatsache, dass diese Forderung immer wieder und vorwiegend gerade auf diese Weise formuliert wurde, öffnete gewisse Verteidigungsmöglichkeiten. Das grundsätzliche Bewusstsein, dass die Evangelischen in der Tat das alte, ursprüngliche und lediglich aktuell erneuerte Christentum verfechten, war in der Reformation allgemein verbreitet. Aber der Umstand, dass in Böhmen eben die Religion sub utraque gleich wie die sub una als eine solche althergebrachte Religion gesetzlich anerkannt wurde, war wiederum ein besonderer Glücksfall, den die einheimischen Evangelischen nicht ungenutzt ließen. 1562 bekannten sie während eines Gerichtsverfahrens – worauf später noch einmal zurückzukommen sein wird – förmlich und feierlich Antiquam et Constantem Confessionem Fidei. Um bei solchen oder ähnlichen Fällen kein Missverständnis aufkommen zu lassen, muss nochmals betont werden: Die Evangelischen konnten dies aus Überzeugung und nicht nur aus Opportunismus tun. Dass die Beibehaltung der althussitischen Gebräuche teilweise der Notwendigkeit entsprang, die durch Regierungsdruck Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 405 vorgegeben wurde, lässt sich allein schon durch einen Vergleich der böhmischen Verhältnisse mit den mährischen nachweisen, denn der gegenreformatorische Druck wirkte sich in Mähren aus verschiedenen Gründen schwächer aus, und folglich ließen sich dortige Evangelische umso schneller und einfacher als Protestanten erkennen. Es ist aber ebenso gut belegt, dass ihre böhmischen Glaubensgenossen im Großen und Ganzen die feste Meinung artikulierten, wonach sie tatsächlich an das hussitische Programm anknüpften. In dieser Ansicht wurden sie übrigens durch Luther unterstützt, denn er selbst sah den Zusammenhang zwischen seiner und der Sache Hussens (ca. 1371–1415) und rief in seinen Schriften die Böhmen zum Befolgen beider Vorbilder auf.4 Natürlich war dabei das Ausgangsprogramm gemeint, das einer weiteren Erfüllung und einer breiteren Entfaltung bedurfte, doch der Rückgriff auf das Arsenal älterer heimatlicher Autoritäten, der sich daraus ergab, war unübersehbar. Diese Quellen vermengten sich dann mit den Anregungen der europäischen Reformation des 16. Jahrhunderts zu einer bemerkenswerten Mischung. Doch kam beiden Komponenten dasselbe Gewicht zu? Oder wurde eine von ihnen faktisch zum entscheidenden Substrat und die andere vielmehr zu einem Zierrat oder Beiwerk? Und welche der beiden konnte die Oberhand gewinnen? Oder verlief es bei unterschiedlichen Gruppen gegensätzlich? Wie änderte sich die Lage im Laufe der Zeit? Antworten auf diese Fragen sind gewiss nicht einfach, was sich auch im aktuellen disparaten Meinungsbild widerspiegelt. Hinsichtlich der Identität der Spätutraquisten gehen die Ansichten auf verwirrende Weise auseinander, nicht zuletzt im Hinblick auf die Terminologie. Dabei verwende ich die Bezeichnung Spätutraquisten, weil sie den Vorzug hat, dass sie eine ungefähre zeitliche Abgrenzung vornimmt, aber auch auf verschiedene kirchliche Flügel anwendbar ist. Nicht unbegründet ist auch die gängigere Einteilung in Alt- und Neuutraquisten, breit kommuniziert durch Ferdinand Hrejsa (1867–1953) und Kamil Krofta (1876–1945). Dabei legte Hrejsa Nachdruck auf das einheimische Substrat, wiewohl in einem Bündnis mit der europäischen Reformation,5 worin er seinen entschiedenen Opponenten in František Hrubý (1887–1943) fand, der die Akzente umgekehrt setzte.6 Aber im Umgang mit diesen Terminologien 4 5 6 Zu einem komprimierten Gesamtbild vom Verhältnis zwischen dem Reformator und den Böhmen vgl. M. Wernisch, Luther and Medieval Reform Movements, Particularly the Hussites, in: R. Kolb / I. Dingel / Ľ. Batka (Hgg.), The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, Oxford/New York 2014, S. 62–66. Grundlegend dazu F. Hrejsa, Česká konfesse, její vznik, podstata a dějiny [Die Confessio Bohemica, ihre Entstehung, ihr Wesen und ihre Geschichte] (Rozpravy [Abhandlungen] ČAVU I/46), Praha 1912. F. Hrubý, Luterství a kalvinismus na Moravě před Bílou Horou [Luthertum und Calvinismus Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 406 Martin Wernisch sollten wir stets im Blick behalten, dass die beiden Lager eben für eine lange Zeit koexistierten und die Übergänge zwischen ihnen häufig so fließend waren, dass es kaum möglich ist, sie lediglich in zwei Blöcke einzuteilen, ohne eine von beiden Seiten durchdrungene und stark besetzte Mitte mitzubedenken. Die Komplexität eines solchen Befundes kann zwar verwirrend sein, aber Bestrebungen, sie zu vereinfachen, wären irreführend. Ein Beispiel dafür bietet Ilja Burian (1919–1990), indem er die beiden Flügel als bereits im 15. Jahrhundert mehr oder weniger klar profiliert schilderte, wobei er die Evangelischen des 16. Jahrhunderts vereinfacht für direkte Nachfolger der Taboriten hielt.7 Noch deutlicher zeigt sich dies bei Zdeněk V. David (* 1931), der die Existenz zweier Flügel innerhalb der Kirche sub utraque überhaupt bestreitet und die ‚Radikalen‘ wie einen Fremdkörper daraus ausschließt, um dadurch jegliche bedeutsame und nicht bloß äußerliche Verbindungen zwischem dem ‚eigentlichen‘ Utraquismus und dem Protestantismus zu leugnen.8 Damit übt der Autor einen suggestiven Einfluss auf jene aus, die kaum über genauere Quellenkenntnisse verfügen, wobei diese Ideen über weiten Strecken methodische Mängel ausweisen. Vor allem vermisst man eine theologische Kompetenz, die bei Verarbeitung dieses Stoffes erforderlich wäre. Eine Alternative dazu bietet Winfried Eberhard (* 1941),9 der von Links(und damit implizit auch von Rechts-)Utraquisten gesprochen hat. Das deutet eine bestimmte Kräfteverteilung an, deren strukturelle Elemente bei aller Entwicklungsdynamik eine beträchtliche Stabilität aufweisen und die es ermöglichen, die Kontinuität wahrzunehmen. Zugleich verweist dies auf eine Relativität der Abgrenzung von Gruppierungen und geht nicht von unüberschreitbaren Schranken zwischen ihnen aus. Überdies erlaubt dieses Herangehen, Meinungsänderungen im Laufe der Zeit zuzulassen, vornehmlich zum beweglicheren linken Flügel. Für die Jahre bis 1547, die Winfried Eberhard eingehend behandelt hat, zeigt er auf, wie die ursprünglichen hussitischen und taboritisch-brüderischen Inhalte zuerst von einer eher allgemeinen Sympathie für die lutherische Reformation begleitet waren, die dann allerdings neue und allmählich auch dominierende Komponenten lieferte. 7 8 9 in Mähren vor der Schlacht am Weißen Berg], in: ČČH 40 (1934), S. 265–309; 41 (1935), S. 1–40 und 237–268. Vgl. I. Burian, Philipp Melanchthon, die Confessio Augustana und die tschechischen Länder, in: ARG 73 (1982), S. 255–284. Vgl. Z. V. David, Finding the Middle Way. The Utraquists’ Liberal Challenge to Rome and Luther, Washington/Baltimore/London 2003. Vgl. W. Eberhard, Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530 (VCC 38), München/Wien 1981; Ders., Monarchie und Widerstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystem Ferdinands I. in Böhmen (VCC 54), München 1985. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 407 Eigene Beiträge zu einer Erklärung dieser Sachverhalte wurden bereits an verschiedenen Stellen publiziert.10 Die vorliegende Studie soll sich erneut einem entscheidenden Moment zuwenden:11 Für ein adäquates Verständnis der böhmischen Reformation ist es unerlässlich, präzise Ergebnisse sowohl zur europäischen Reformationsgeschichte als auch zur hussitischen Vorgeschichte (und der böhmischen Landes- und Kulturgeschichte) herauszustellen. Die Tendenz, die sich in der bisherigen Forschung allzu oft durchsetzt, sich nur auf einen der beiden genannten großen Sinnzusammenhänge zu konzentrieren und sich bei dem anderen auf eher allgemeinere Vorstellungen zu beschränken, führt mitunter zu schweren Verzerrungen des Geschichtsbildes. 2. Das Fallbeispiel des Viktorin Anxiginus Zur Illustration sei hier die Geschichte eines utraquistischen Priesters gewählt, die sich in der spätreformatorischen Zeit ereignet hat, in einer Periode der Verunsicherung und der Orientierungskämpfe nach dem Tod Martin Luthers. Die Informationen zu dieser Lebensgeschichte sind spärlich, wie es übrigens sogar bei den literarisch tätigen Gestalten des Zeitalters zu beobachten ist. Im Fall des Viktorin Anxiginus fehlen selbst die grundlegenden biografischen Daten zum Geburts- und Todesjahr. Alles, was wir über das Leben von Anxiginus wissen, umspannt einige wenige Jahre, die einen kurzen Abschnitt zwischen seinen zwei erhaltenen Druckwerken markieren. Gleichwohl sind diese Angaben nicht so dürftig, um bloße disiecta membra zu bleiben. Mindestens für die Jahre, die Anxiginus aus dem Dunkel der Geschichte geholt haben, ergibt sich immerhin ein recht abgerundetes Bild, das weder uninteressant noch alltäglich wirkt. Um einen echten Aussagewert zu gewinnen, muss man die direkten Zeugnisse in einen breiteren Kontext einfügen. 10 Auf deutsch vgl. zuletzt M. Wernisch, Zur Orientierung in der böhmischen Reformationsgeschichte. Einleitende Problemhinweise, in: J. B. Lášek / P. Kónya (Hgg.), Reformation in Mitteleuropa. Beiträge zur Reformationsgeschichte in den Ländern der Donaumonarchie, Prešov 2017, S. 9–17; eine anschließende Studie von Dems., Konfessionelle Verhältnisse in Böhmen und Mähren um 1580 im Spiegel zeitgenössischer Berichte, wird zum Druck für den Tagungsband zum Jahrestag des Dreißigjährigen Krieges in Preschau/Prešov vorbereitet. 11 Auf eine andere Weise habe ich diese Fragen bereits früher verfolgt. Vgl. Ders., „Ein glimpflich sich benehmender Nachbar und Untertan“. Johannes Mathesius als deutscher evangelisch-lutherischer Pfarrer und Theologe in Böhmen, in: A. Kohnle / I. Dingel (Hgg.), Johannes Mathesius (1504–1565). Rezeption und Verbreitung der Wittenberger Reformation durch Predigt und Exegese (LStRLO 30), Leipzig 2017, S. 105–143. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 408 Martin Wernisch 2.1 Die Vorgeschichte 2.1.1 Die 1530er Jahre Viktorin Anxigin(us) unterzeichnete seine Werke auch mit einem dritten Namen: Skutečský, eventuell Schuthius – ein Herkunftsname, der auf die Untertanenstadt Skutsch/Skuteč in Ostböhmen, unweit der mährischen Grenze, hinweist. Aus kirchengeschichtlicher Sicht ist dieser Ort als Wirkungsstätte des Pfarrers Václav Řezník/Wenzel Fleischer von Bedeutung. Sofern Anxiginus hier aufwuchs, hätte er in den 1530er Jahren eine Katechese bei Řezník durchlaufen können. Doch dieser Zusammenhang wäre auch dann erwähnenswert, falls Anxiginus kein direkter Schüler Řezníks gewesen war; die genaueren Verbindungen zwischen den beiden werden wir nach und nach kennenlernen. Seinerzeit gehörte Řezník zu den führenden Persönlichkeiten der evangelischen Bewegung, die in Böhmen dank der Reformation hervortraten. Dabei ist es nicht ohne Interesse, dass er allem Anschein nach nicht zu denjenigen gehörte, die aufgrund einer persönlichen Nähe zu den Reformatoren auf ausländischen Schulen ausgebildet worden waren. Er stellte übrigens auch keinen ausgeprägt akademischen Typ dar, sondern war vielmehr einer jener Vertreter der kirchlichen Praxis, die die neuen Anregungen zwar begierig aufsogen, aber dies durch eigene Lektüre und fremde Vermittlung. 1535 gestand er selbst vor dem Prager Konsistorium sub utraque, er habe aus ‚Lesen von Büchern und Gesprächen mit Leuten verschiedener Sekten und mit den Pikarden‘ geschöpft, was ihn zugleich auch verwirrt hätte.12 Etwas konkreter informiert uns in dieser Hinsicht eine Polemik, die gerade die sog. Pikarden, genauer genommen die Böhmischen Brüder, gegen Řezník führten. Damit gerät schlagartig ein weiterer Faktor der böhmischen Reformationsgeschichte ins Blickfeld: Die beiderseitige Beeinflussung durch die europäische Reformation eröffnete eine Gelegenheit, die Utraquisten und die Brüder näherzubringen; doch es gelang recht lange Zeit nicht, das Schisma zu beseitigen, und im Bestreben um eine weitere Erneuerung der Kirche konnten die beiden Gruppierungen zu erbitterten Rivalen werden. Für die wiederholt aufflammende Kontroverse zwischen den Brüdern und Řezník ist es bezeichnend, dass sich beide Seiten auf dieselben Autoritäten beriefen, allen voran auf Martin Luther und 12 Vgl. Jednání a dopisy konsistoře katolické i utrakvistické [Verhandlungen und Briefe des katholischen sowie utraquistischen Konsistoriums], 2 Bde., Praha 1869/69, ed. K. Borový (MHB), Bd. 1, Akta konsistoře utrakvistické [Akten des utraquistischen Konsistoriums], Praha 1868, S. 107 f., Nr. 167. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 409 Philipp Melanchthon (1497–1560). Dies tat jedoch jeder von ihnen mit einem anderen Schwerpunkt und deshalb mit Bezug auf jeweils unterschiedliche Aussagen dieser Autoritäten. Namentlich in ekklesiologischen Fragen gingen die Meinungen so weit auseinander, dass die Beteiligten sie gegenseitig als unverträglich und unannehmbar wahrnahmen. Řezník störte sich an der eigenwilligen Absonderung von „Rotten und Sekten“;13 er bestand auf einer universalen (Volks-)Kirche, um welche im Inneren gerungen werden sollte. Die Betonung einer ‚vorbildlichen‘ organisatorischen Ordnung und eines disziplinarischen Systems, die für die Unität bezeichnend war, kam ihm auch unter einem ganz wesentlichen Gesichtspunkt bedenklich vor: Weise die Brüderunität – so Řezník – nicht eine gefährliche Neigung auf, sich selbst ‚durch Ketten menschlicher Erfindungen‘ binden zu lassen, wobei sie das Heil dort sucht, ‚wo es Christus nicht bestimmt und die [Heilige] Schrift nicht verkündigt hat?‘.14 Gegen eine solche „tyrannische Religion“15 verteidigte Řezník folglich eine christliche Freiheit, die es vermag, ohne Ängstlichkeit um der Liebe und der Einheit willen mancherlei Zeremonien zu ertragen und sie bona fide evangelica zu bewahren. Die Brüder hingegen sahen eine Befreiung in der Möglichkeit, fragwürdige Zeremonien als fremde Bürde abzulegen und lieber das „süße Joch der Zucht“ auf sich zu nehmen. Sie erinnerten daran, dass es Luther ebenso gelehrt hatte, zwischen der vermeintlich falschen und der wahren Kirche, die voneinander getrennt werden müsse, zu unterscheiden. Und mit besonderem Nachdruck riefen sie in Erinnerung, dass der Reformator die Böhmen eindringlich vor der päpstlichen Weihe 13 Vgl. S. Martinius z Dražova, Obrana M. Samuela Martinyusa z Dražova. Proti Ohlášení starších kněží bratrských, na ten čas v Lešně polském se zdržujících […] [Die Verteidigung des M. Samuel Martinius von Dražov. Gegen die Meldung der Priestersenioren der Brüder, die sich im polnischen Lissa aufhalten …], Pirna: Jan Ctibor Kbelský, dědicové [Erben] 1636 (K05380), S. 151. 14 Vgl. V. Řezník, Listové a psání kněze Václava [Řezníka, Anm. M. W.], pana děkana nyní na Horách Kutnách, a Kašpara Soukeníka, měštěnína litomyšlského, kterážto tehdy [1532] se mezi nimi zběhla, když byl farářem v Litomyšli [Briefe und Schreiben des Priesters Václav (Řezník / Wenzel Fleischer), des jetzigen Kuttenberger Dekans, und des Kaspar Soukeník (Tuchmacher), des Leitomischler Bürgers, die zwischen ihnen damals (1532) gewechselt wurden, als er Pfarrer in Leitomischl war], Olomouc [?]: Jan Olivetský z Olivetu starší [?] [ Jan/ Johann Olivetský von Olivet d. Ä.] 1542 (K15187), fol. 1r. 15 J. Černý, Paměti jednoty bratrské z let 1530–1547. Poznamenání některých skutků Božích obzvláštních etc. [Denkwürdigkeiten der Brüderunität von 1530 bis 1547. Aufzeichnung einiger merkwürdiger Werke Gottes etc.], in: NK Praha, Sign. XVII C 3 (Handschrift), fol. 196r: tyranské náboženství. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 410 Martin Wernisch gewarnt hatte, nämlich in seiner Schrift „De instituendis ministris ­ec­clesiae“,16 wo er ihnen bereits 1523 empfohlen hatte, einen Bischof oder Superintendenten ohne römische Vormundschaft zu wählen; denn Luther hatte ja genauso wie schon Hus im Papst den Antichristen erkannt.17 Řezník wandte wiederum ein, dass den Böhmen in dieser Hinsicht aufgrund des Drucks der Umstände bisher nicht das Gleiche wie den Sachsen gelungen war; nichtsdestoweniger steht die Ordination in der apostolischen Sukzession an sich in keinem Widerspruch zum Evangelium und gehört mithin nicht zu den wesentlichen Sachen, derentwegen eine Teilung der Kirche nötig gewesen wäre. Ihre Erneuerer hatten die Priesterweihe angenommen – und sie erfüllten sie mit bestem Gewissen. Die rechtmäßige Weihe ist also eine Sache, die andere ist die Tatsache, wie der Ordinand mit ihr umging: ob angemessen als Prediger des Evangeliums oder wie ein Antichrist. Řezník ließ sich dabei auch nicht durch die Erwiderung überzeugen, die Römer beauftragten ja keine Prediger des Evangeliums, sondern nur Opferpriester und falls er selbst sein Amt anders auffasste, erfülle er den ergriffenen Beruf nicht, sondern verletze ihn.18 Schließlich konnte er aus eigener Erfahrung die Vorstellungen der Brüder zurückweisen, „dass die utraquistischen Priester bei ihrer Weihe dem Papst Gehorsam geloben und das Abendmahl sub una empfangen müßten“.19 Mit dieser Einstellung stand Řezník nicht allein. Mit seinen Entgegnungen, die er Anfang der 1540er Jahre schrieb, durfte er bereits als Sprecher eines ganzen Flügels des Utraquismus gelten. Zu einem solchen Sprecher wurde er zwar eher informell, doch auch wiederum nicht ganz inoffiziell, als es 1536 nach einiger 16 Vgl. M. Luther, De instituendis ministris ecclesiae. 1523, in: WA, Bd. 12, Weimar 1891, S. 160–196, hier S. 170–178, namentlich im Kapitel Dehortatio a suscipiendis ordinibus papi­ sticis; vgl. auch Ders., De instituendis ministris ecclesiae, ad clarissimum senatum Pragensem Bohemiae/Wie man Diener der Kirchen einsetzen soll, an den hochangesehenen städtischen Rat zu Prag in Böhmen (1523), in: Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 3: Die Kirchen und ihre Ämter, edd. G. Wartenberg / M. Beyer, Leipzig 2009, S. 575–647, hier S. 578–599. 17 Vgl. V. Řezník, Listové (wie Anm. 14), fol. 13r f.; und A. Šturm z Hranic, Dialog, to jest Dvou formanů rozmlouvání, Peterky a Valoucha, přepotřebné: o učení a víře kněze Václava, děkana na Horách Gutnách […] [Dialog, das ist die sehr notwendige Unterhaltung der beiden Fuhrleute Peterka und Valouch über die Lehre und den Glauben des Priesters Wenzel, des Kuttenberger Dekans …], Prostějov: Jan/Johann Olivetský z Olivetu starší [ Jan Olivetský von Olivet d. Ä.] 1543 (K16003), fol. F1v. 18 Vgl. V. Řezník, Listové (wie Anm. 14), fol. 14v f. 19 W. Eberhard, Monarchie (wie Anm. 9), S. 255. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 411 Mühe gelang, ihn ins Amt des Erzdekans an der ‚hohen Kirche‘ St. Jakob in Kuttenberg/Kutná Hora einzusetzen.20 Diese königliche Bergstadt war sowohl politisch als auch kirchlich von großer Bedeutung. Seit Anfang des 16. Jahrhunderts verfügte sie sogar über ein eigenes Konsistorium. Der Erzdekan bzw. das Kollegium der örtlichen Pfarrer agierte demnach gewissermaßen als eine eigenständige Macht – nicht ganz souverän, doch immerhin förmlich anerkannt. Es versteht sich, dass die Praxis dieser organisatorischen Struktur für die Festigung der Reformation in der Stadt von erheblichem Belang war. Doch dies allein hätte nicht ausgereicht. Um Řezník einzusetzen und ihn in dieser Stelle zu halten, trug die gemeinsame und beharrliche Unterstützung seitens der Stadtgemeinde und ihrer Selbstverwaltungsorgane wohl entscheidend mit bei – freilich zugleich eingedenk der Tatsache, dass die königliche Kammer von dieser Gemeinde wirtschaftlich überaus abhängig war.21 Das heißt allerdings nicht, dass der König nicht versucht hätte, Řezník ähnlich wie andere evangelische Exponenten auf gewisse Weise unschädlich zu machen. Der Fortgang der Reformation beunruhigte Ferdinand I. generell sehr und daher bemühte er sich, cura religionis auszuüben, sowohl persönlich als auch durch seine Beamten – mit taktischen oder sogar strategischen Überlegungen, wobei er sich nicht vor Aktionen scheute, die in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht in einem Widerspruch mit Landesgesetzen und Rechtsgewohnheiten standen, zumal er seine diesbezüglichen Möglichkeiten für viel zu gering erachtete und daher nach ihrer Erweiterung strebte. Sobald also die Regierung feststellte, dass die Stadt Kuttenberg unter geistlicher Führung Řezníks zum Brennpunkt der Reformation wurde, die immer breiter in die Umgebung ausstrahlte, begann eine ganze Serie wiederholter Schikanen, unter Einschluss von Versuchen, den Erzdekan vor Gericht zu stellen, und von Predigtverboten. Řezník fand jedoch nicht nur bei den Kuttenberger Bürgern Rückhalt, 20 Vgl. Náboženské poměry při kutnohorské konsistoři r. 1464–1547 (Z kutnohorského archivu) [Die religiösen Verhältnisse im Kuttenberger Konsistorium von 1464 bis 1547 (Aus dem Kuttenberger Archiv)], ed. F. Trnka (VKČSN TFHJ), 4 Bde., Praha 1931–1934, Bd. 2, Praha 1932, hier bes. S. 38–122; weitere Archivbelege vermittelt auch W. Eberhard, Monarchie (wie Anm. 9), S. 57; diese beiden Quellen sind ebenso für die unten folgenden Peripetien der Kontroversen um Řezník ergiebig, keine von ihnen reicht jedoch bis in die letzten Jahren seiner Tätigkeit in Kuttenberg. 21 Es ist nicht rein zufällig, dass die herausragende Gestalt des deutschböhmischen Protestantismus, Johannes Mathesius (1504–1565), die Regierung Ferdinands I. gleichfalls in einer Bergstadt ersten Ranges (St. Joachimsthal/Jáchymov) überstand. Er war sich dessen übrigens auch bewusst. Vgl. M. Wernisch, Johannes Mathesius (wie Anm. 11), S. 135 (mit einem Quellenbeleg). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 412 Martin Wernisch sondern ebenso bei den Landständen – und sogar beim Prager Konsistorium, obwohl dieses außerstande war, dem König auf so direkte und energische Weise entgegenzutreten, wie es den utraquistischen Ständen möglich war. Die Stände standen damals unter der Führung eines dezidierten Förderers der evangelischen Bewegung, den mährischen Landeshauptmann Johann von Pernstein/Jan z Pernštejna (1487–1547), der unter den „Gravamina“ von 1538 auch eine Beschwerde gegen die „Einmischung in geistliche Lehrfragen“ einbrachte.22 Das geschilderte Zusammenwirken ist nicht nur im konkreten Fall Řezníks, sondern ebenso in einer allgemeineren Dimension von Belang. Dahinter stand, dass die evangelische Strömung, die nach ihrem ersten Aufschwung während der 1520er Jahre jäh unterdrückt und in den ‚Untergrund‘ getrieben oder in die Provinz versprengt wurde, in der zweiten Hälfte der 1530er Jahre wieder spürbar erstarkte. Nicht zuletzt setzte sie sich fast unbemerkt erneut in der Hauptstadt durch, wo sie vordem im offenen Konflikt beträchtliche Verluste erlitten hatte. Unter solchen Umständen war sie nicht nur in der Lage, sich defensiv zusammenzuschließen, sondern sie bemühte sich nunmehr, auch auf Landesebene die Initiative zu ergreifen. Das Pernstein’sche Memorandum deutet die Bestrebung an, die Linie zu festigen. Es berührt nämlich auch das Haupthindernis, das man überwinden musste: den Unwillen des Herrschers, unter dessen Kuratel auch die kirchliche Organisation der Utraquisten gestellt wurde, denen er eine geistliche Selbstbestimmung abstritt, indem er versuchte, sie mit allen Mitteln an Rom zu binden. Dabei erreichte die Partei der sub utraque eine selbstständige Wahl des Administrators des Konsistoriums als Verwaltungsoberhaupt dieser Kirche, und zwar in eigenen Zusammenkünften, ohne jegliche Mitwirkung der Kurie. Von hier aus fehlte nur noch ein letzter Schritt, der allerdings ausblieb: Gemeint ist die Wahl des Bischofs, der die utraquistischen Geistlichen ordinieren durfte. Luther hatte bekanntlich bereits 1523 empfohlen, dies umzusetzen, und es ist offenbar, dass die meisten Utraquisten in der Tat nur nach einer passenden Gelegenheit Ausschau hielten. Eine theologische Vorarbeit leistete namentlich eine 1539 abgehaltene Synode sub utraque.23 Dort beschlossene Richtlinien „De ordine bono“24 tragen begreiflicherweise Züge eines allgemein akzeptablen Kompromisses, doch bei näherem Hinsehen ist zu erkennen, dass es vor allem die Evangelischen waren, welche die 22 W. Eberhard, Monarchie (wie Anm. 9), S. 286; zur Datierung und der Quellenlage vgl. ebd., S. 284–289. 23 Vgl. SČ, ed. Královský český archiv zemský [Königlich-böhmisches Landesarchiv], Praha 1877, Bd. 1: 1526–1545, S. 463–469, Nr. 274 f., hier bes. S. 464, Nr. 274. 24 Lateinische Fassung in: Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 130– 135, Nr. 227. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 413 Richtung vorgaben. Obwohl der Text nämlich auf den ersten Blick den Status quo bestätigt, scheint darin doch vielmehr ein Ausgangspunkt auf, der Umwandlungen im reformatorischen Sinne notwendig machte, so wie es seinerzeit bereits die Lichtmessartikel gezeigt hatten. Die Priester wurden darin verpflichtet, den Unterschied ‚zwischen den wesentlichen und zufälligen Sachen in der christlichen Religion‘25 zu erkennen und zu lehren, wobei es der von Christus gegebene Glaube sowie die Lehre nach dem Gotteswort und den Beschlüssen der alten Kirche sind, die für das Wesentliche erklärt wurden. Die herkömmlichen Zeremonien, die damals noch immer als gültig bestätigt wurden (insoweit sie „nicht gegen das Gesetz und gegen den christlichen Glauben sind“),26 fielen demnach grundsätzlich unter die Kategorie der Dinge, ‚die zusätzlich und behelfsmäßig sind und ohne Sünde gehalten oder unterlassen werden können‘27 (d. h. der Adiaphora).28 Damit wurde fortan immerhin eine gewisse Freiheit postuliert, pro con­ ditione locorum, temporum, personarum.29 Überdies beschloss man aber ausdrücklich, dass in Zukunft über diese sekundären Angelegenheiten erneut entschieden werde, und zwar so, um sie noch besser mit der Heiligen Schrift abzugleichen.30 2.1.2 Die 1540er Jahre 1541 erstarkte die Stellung der Reformationsanhänger im Prager Konsistorium weiter. Als Administrator wurde Jan Mystopol († 1568) gewählt, als dessen rechte Hand Wenzel/Václav Mitmánek (ca. 1510–vor 1564) fungierte, der genauso wie 25 SČ, Bd. 1 (wie Anm. 23), S. 465, Nr. 275: mezi věcmi podstatnými a případnými v náboženství křesťanském; Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 131, Nr. 227: essentialium et accidentalium rerum. 26 SČ, Bd. 1 (wie Anm. 23), S. 464, Nr. 274: nejsou proti zákonu a víře křesťanské; vgl. auch das Priestergelübde in: Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 136, Nr. 228: In sacramentis vero aliis ac ceremoniis consuetis, at verbo Dei non repugnantibus ritum nostrae religionis observet. 27 SČ, Bd. 1 (wie Anm. 23), S. 465, Nr. 275: za přidané a zadní a za ty, kteréž se držeti neb zan­ echati bez hříchu mohou. 28 Vgl. Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 131, Nr. 227: Accidentalia vero aut intermedia pro additis et posterioribus rebus habeat. In diesem Zusammenhang macht W. Eberhard, Monarchie (wie Anm. 9), S. 307 f., auf eine auffällige Nähe aufmerksam, in der die genutzten Formulierungen zu den Melanchthons „Loci communes secundae aetatis“ (1535) stehen. 29 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 133, Nr. 227. 30 Vgl. SČ, Bd. 1 (wie Anm. 23), S. 465, Nr. 275; und Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 130, Nr. 227: ad futuram synodum ac aliam et quidem meliorem se­ cundum scripturam sacram institutionem. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 414 Martin Wernisch sein Vorgesetzter ein Prager Pfarrer, aber zugleich ein ehemaliges Mitglied der Brüderunität war, der es nach seinen Studien in Wittenberg vorgezogen hatte, dem Evangelium zum Durchbruch in der Landeskirche zu verhelfen. Beide spielten 1543 zusammen mit Johann von Pernstein die Hauptrolle bei einem Versuch, in allen wichtigen Punkten voranzukommen. Im Frühling dieses Jahres fand eine neue Synode statt, wo eine Mehrheit der Anwesenden die neue Betonung des Gotteswortes sowie die Aufhebung oder ‚Verminderung‘31 einer Reihe von Zeremonien vereinbarte – für die nachfolgende Geschichte ist von Belang, dass unter anderem die Sakramentsausstellung abgeschafft werden sollte, sofern sie noch mancherorts praktiziert wurde.32 Und mehr noch: Es wurden deutliche Konturen einer vereinigten evangelischen Landeskirche entworfen. Konkret lud man die Brüderunität zu Gesprächen über Beseitigung der Spaltung ein und zugleich fand jetzt das Vorhaben, einen eigenen Bischof zu wählen, wie es ‚die Pikarden bereits vorher und nach ihnen die Lutheraner getan haben‘, eine offene Zustimmung.33 Die Bekundung des Mehrheitswillens reichte jedoch nicht aus, vielmehr war es die autokratische Gewalt, die entscheiden sollte. Der König forderte unnachgiebig, ‚alle althergebrachten Zeremonien zu halten und zu bewahren, die früher gehalten wurden‘ (explizit einschließlich der Sakramentsausstellung).34 Die Bestrebungen für eine institutionelle Reformation der Kirche sub utraque waren in eine Sackgasse geraten und die Evangelischen mussten schließlich individuell entscheiden, welche der möglichen Taktiken einer ‚Überwinterung‘ mit Blick auf bessere Zeiten sie wählen würden. Johann von Pernstein zog sich weitgehend in die Abgeschiedenheit zurück. Mystopol bemühte sich gemeinsam mit Mitmánek noch eine Weile, die Stimmung allgemeiner Entschlossenheit und Mobilisierung wachzuhalten und griff dazu zum traditionellen Mittel aufrüttelnder Predigten. Aber der König reagierte abermals schnell und hart. Dem Administrator erlegte er für einige Zeit ein Predigtverbot auf. Noch schlimmer erging es Mitmánek, der auf Dauer aus allen 31 J. Černý, Poznamenání (wie Anm. 15), fol. 222v: umenšiti. 32 Vgl. ebd., fol. 226r. Schon in den Lichtmessartikeln von 1524 hatte man ausdrücklich die Freiheit deklariert, von der Ausstellung abzulassen. Nur dort, wo das Volk auf ihr bestand, sollte es „durch Christi Lektion allmählich und in aller Liebe“ (čtením Kristovým povlovně a v lásce) davon abgeführt werden; Kronika pražská Bartoše písaře, ed. J. V. Šimák (wie Anm. 3), S. 24; vgl. auch Des Bartholomäus von Sct. Aegidius Chronik, ed. C. Höfler (wie Anm. 3), S. 25: donec per lectionem piam successive in omni charitate abinde avertantur. 33 J. Černý, Poznamenání (wie Anm. 15), fol. 226r: sou tak učinili již prvé pikharté a po nich luteryáni. 34 Ebd., fol. 235v: aby všecky starodávní ceremonye držali a zachovávali, kteréž prvé držali. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 415 habsburgischen Ländern ausgewiesen wurde – als Strafe dafür, dass er es gewagt hatte, dem König entgegenzuhalten: ‚Dazu belieben sie nicht von Gott berufen zu werden, die geistlichen Sachen zu verwalten.‘35 Das Schicksal Mitmáneks schüchterte den weniger selbstständigen Mystopol endgültig ein und sein Verhalten veränderte sich auffällig. Manche zeitgenössische Beobachter urteilten sogar, er hätte seine vorige Überzeugung schlichtweg aufgegeben. Das bestätigen die Quellen nicht, aber es ist offensichtlich, dass er ein Opportunist wurde, der künftig möglichst jeden offenen Widerstand und direkte Zusammenstöße mied. In der Kirche wollte er nunmehr eher die Strömung der Mitte vertreten und eine integrative Stellung einnehmen. Auch über die entschiedeneren Evangelischen hielt er immer noch eine schützende Hand – falls sie imstande waren, sich wenigstens minimal anzupassen –, eine Anforderung, der selbst Wenzel Řezník gerecht wurde. Inzwischen hatte dieser mit gefährlichen Konflikten wiederholte Erfahrungen gemacht und sich die Kunst angeeignet, nur so weit zu gehen, wie man es noch hatte dulden können. Unmittelbar nach der unglücklichen Synode war er nicht so kämpferisch wie die Prager Konsistorialräte. Das beweist ein Zwischenfall unter der Kuttenberger Geistlichkeit, der sich auf die Sakramentsausstellung bezog. Damals hatte der Pfarrer an der Bergmannskirche St. Barbara, Matthäus/Matouš Hradecký, einigen Unmut auf sich gezogen, da er die Sakramente nicht ausstellen wollte. Vorwürfe und Ermahnungen kamen von allen Seiten. Für das Verständnis der Situation muss man feststellen, dass die örtlichen Kollegen und der Stadtrat Hradecký weniger mangelnde Ehrfurcht vor dem Sakrament vorhielten als vielmehr Undiszipliniertheit und riskantes Benehmen zu falscher Zeit. Die Linie, die er überschritten hatte, wurde klar beschrieben: ‚Herr Dekan möchte dies, in Ansehung der Obrigkeit, vorläufig halten“ und nicht „so eilig abschaffen‘.36 Aus den Entgegnungen Hradeckýs ergibt sich übrigens, dass er ‚die Ausstellung des Abendmahls des Herrn mit dem Kelch‘ eher stillschweigend gemieden hatte, als sich gegen sie ostentativ aufzulehnen.37 Schließlich war er seinerzeit von Königgrätz/Hradec Králové (von daher der Beiname Hradecký) nach Kuttenberg übergewechselt, und zwar auf Einladung Řezníks, um nicht unter papistischen Irrgläubigen verweilen zu müssen.38 In der neuen Wirkungsstätte hatte er dann umgehend gebeten, sich von Prozessionen fernhalten zu dürfen, nichtsdestoweniger 35 Ebd., fol. 251r: k tomu od Boha povoláni neráčíte býti, abyšte duchovní věci zpravovali. 36 Vgl. Náboženské poměry, ed. F. Trnka (wie Anm. 20), Bd. 3, Praha 1933, S. 84, Nr. 433: pan děkan, šetře vrchnosti, do času chtěl by toho podržeti / tak kvapně složiti. 37 Ebd., S. 85, Nr. 433: vystavení s kalichem večeře Páně. 38 Vgl. ebd., S. 80 f., Nr. 428. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 416 Martin Wernisch ‚die Ausstellung tut er und hebt sie nicht auf ‘.39 Dies zu vergessen sei allerdings umso leichter, da sowieso ‚mitunter keiner komme‘.40 Etwas später gestand er zwar, er wolle sich damit wahrlich nicht verhindern und am liebsten möchte er es seinem Kaplan überlassen.41 Aber man kann wohl voraussetzen, dass tatsächlich bereits damals die Unlust der Pfarrer mit einem nur geringen Interesse des Kirchenvolks korrespondierte. Die Festlegung auf die Predigt des Evangeliums war also in Kuttenberg im Prinzip beschlossene Sache. Doch die landesweite adiaphoristische Strategie erforderte noch einen längeren Atem. Einen dramatischen Wendepunkt brachte vor allem der Schmalkaldische Krieg (1546/47). Dieser spitzte den Widerspruch zwischen den ständischen und königlichen konfessionspolitischen Interessen so weit zu, dass es zu einem Aufruhr kam. Wäre dieser erfolgreich gewesen, hätte das entscheidende Hindernis der reformatorischen Bestrebungen mit einem Mal beseitigt werden können. Der Krieg endete jedoch mit der Niederlage der protestantischen Allianz und der Aufstand brach zusammen, was die Stellung der böhmischen Evangelischen natürlich noch verschlechterte. Der König nutzte die allgemeine Verunsicherung und Angst, um Pläne zu entwickeln, die in vielen Punkten analog, wenn nicht gar koordiniert, mit der ‚interimistischen‘ Politik Karls V. (1519–1558) waren. Er brauchte dazu allerdings einen längeren zusammenhängenden Aufenthalt in Böhmen, welchen er erst 1549 verwirklichen konnte.42 Zum Kreis seiner Mitarbeiter gehörte etwa der berühmte gegenreformatorische Polemiker Johannes Cochläus (1479–1552), aber zeitweise auch der utraquistische Prager Pfarrer Paul/Pavel Smetana Bydžovský (1496–1559). Letzterer erwies sich bereits 1543 als Denunziant, und jetzt erneut. Auf seine Anzeige hin musste sich Wenzel Řezník noch vor dem Abschluss der Verhandlungen wegen Übertretung gewohnter Ordnungen verantworten – allerdings vor dem Prager Konsistorium, wobei ihm der Administrator Mystopol als gültige Norm immer noch die Artikel von 1539 vorlegte. Zu diesen nahm der Beklagte gern seine Zuflucht. Er unterschrieb sogar einen Revers: ‚Ich will mich nach den Artikeln halten‘43 – eine Formulierung, die an sich bezeichnend ist, Ebd., S. 85, Nr. 433: vystavování činí a neskládá. Ebd.: někdy žádný nepřijde. Vgl. ebd., S. 92, Nr. 438. Vgl. die wichtigste Quellensammlung zu diesen Ereignissen: SČ, ed. Královský český archiv zemský [Königlich-böhmisches Landesarchiv], Bd. 2: 1546–1557, Praha 1880; vgl. auch: Nuntiatur des Bischofs Pietro Bertano von Fano. 1548–1549, ed. W. Friedensburg (NBD I/11), Berlin 1910. 43 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 251, Nr. 430: chci držeti podle týchž artykulův. 39 40 41 42 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 417 weil die Frage lautete, ‚ob ich die Artikel halte und bei ihnen stehe oder ob ich bei ihnen stehen will‘.44 Man kann dem entnehmen, dass der Dekan keine genaue Befolgung des einstigen Wortlauts beteuerte und insgeheim immerhin so manches erlaubt haben mag, und zwar nicht nur dem Pfarrer Hradecký, sondern auch anderen, einschließlich sich selbst. Am Schluss des Textes schrieb er ausdrücklich, er bekenne sich zu den Artikeln ‚besonders deswegen, weil sie die Lehren des Heiligen Evangeliums und der Schrift des Testamentes des Herrn wie auch der Heiligen Doktoren gewähren und bestätigen‘.45 An diesen Artikeln gefiel ihm demnach, dass sie die Adiaphora als Schutzschild für die evangelische Lehre nutzten – was freilich eine Deutung war, die nicht alle teilten und zuallerletzt der Ankläger Smetana. In dem Moment musste allerdings auch er sich mit der genannten Antwort abfinden. Die vorläufigen Verhandlungen über die künftige Ordnung führten der König und sein Gefolge jedoch ausschließlich mit der Prager Geistlichkeit (samt den Konsistorialräten), die unter direkter und strengster Kontrolle der Behörden stand und damit auch die schwächste Stelle der Gegenpartei darstellte. Und tatsächlich traten ihre Repräsentanten nun äußerst nachgiebig auf. Von Anfang an baten sie um nichts mehr, als dass sie bei den alten Gewohnheiten, wie sie der König bisher verfochten hatte, nichts an dem ändern müssten, was sie seit hundert Jahren bewahrt hatten. Doch mit diesem Ansatz war es nur folgerichtig, dass gerade die herkömmlichen Abweichungen der Kalixtiner von Rom zum Gegenstand der Verhandlung wurden. Die zwölf Artikel, die der Administrator in der Konvokation der sub utraque im Dezember 1549 präsentierte, stellte eine weitgehende Kapitulation dar, und zwar nicht nur aus der Sicht der streng Evangelischen. Gerade diese Maßlosigkeit erweckte jedoch neuen, unerwartet starken Widerspruch. Als erste äußerte ihn die Universität (ein Hort der Evangelischen in Prag) ebenso wie die Vertreter der adligen Laien.46 Dadurch ermutigt, traten nun auch Pfarrer hervor, die sich durch die vorgebliche Stellungnahme der gesamten Geistlichkeit nicht repräsentiert fühlten. Wenzel Řezník gehörte wieder einmal zu den wichtigsten Wortführern, und zwar erneut Seite an Seite mit Matthäus Hradecký. Ebenso beriefen sich Vertreter der Prager und Kuttenberger Stadtbürger auf Christus als Haupt der Kirche, wie auch auf die Lehre Hussens, Luthers und Melanchthons. 44 Ebd., S. 250, Nr. 430: držím-li a stojím-li nebo chci-li státi při těch artikulích. 45 Ebd., S. 251, Nr. 430: zvláště proto, poněvadž se v nich propůjčují a potvrzují učení sv. Evangelia a písma zákona Páně i doktorův svatých. 46 Akten zu der Konvokation sind versammelt in: SČ, Bd. 2 (wie Anm. 42), S. 604–618, Nr. 218–222. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 418 Martin Wernisch Der Kuttenberger Erzdekan äußerte sich vor der Versammlung sogar mit bemerkenswerten und belehrenden Worten, zu denen Mystopol bei seinem Versuch gegriffen hatte, die geistlichen Abgesandten aus der Provinz zum Schweigen zu bringen. Mystopol hatte sie folgendermaßen zu überzeugen versucht: ‚Wenn wir in die Artikel nicht einwilligen, würden wir keinen Bischof haben können, wobei wir doch nicht so predigen werden, wie diese Artikel formuliert sind, allein nach dem Wort Gottes und aus der Heiligen Schrift, wie bisher, lediglich des Friedens und der einfacheren Bestellung eines Bischofs halber sollten wir auf sie eingehen, sodass die auf ihre Weise verfassten Artikel nur dann verwendet werden, falls es nötig wäre, einen Streit zu führen und zur Abwehr zu greifen; doch dem Volk in den Gemeinden sollte man über sie nicht predigen und wir werden es nicht tun.‘47 Kurzum: ‚Dass sie sich jetzt nur dazu bequemen, denn alsdann können sie auf diese Weise weder glauben, noch lehren, allein dass sie den Willen des Königs und sein Ersuchen erfüllen.‘48 Es sei ja weiterhin möglich, die Artikel in Übereinstimmung mit den Richtlinien vom Jahr 1539 auszulegen, erklärte der Administrator den Laienvertretern, doch sollte das Abkommen scheitern, ‚werden wir weder Bischof, noch Priester haben und in was für eine Gefahr die Scholaren geraten, die für die Priesterweihe ins Welschland gehen‘.49 So weit ging also der böhmische ‚Interimismus‘ – sein Taktieren war kaum mehr von einem Opportunismus zu unterscheiden. Er erlitt allerdings eine Niederlage: Sobald der König feststellte, dass eine Bewilligung der Propositionen, die er selbst formuliert hatte, en bloc ausgeschlossen wurde, vertagte er lieber alle weiteren Verhandlungen darüber ad infinitum und kehrte zur Forderung der Beachtung von bestehenden Gewohnheiten zurück. Auch daraus geht jedoch hervor, wer diesen ersten Teilsieg nach dem Schmalkaldischen Krieg erlangte, nämlich einmal mehr vor allem die böhmischen ‚Adiaphoristen‘, die zwar eine prinzipienfestere Einstellung als die ‚Interimisten‘ bewahrten, aber nach wie vor hinter dem Schutz der 47 Ebd., S. 616, Nr. 222: jestliže těm artikulům nesvolíme, že biskupa nebudem moci míti a že ne­ budem kázati, tak jak sou ti artikulové sepsáni, než podle slova božího a z písma svatého, jako i prvé, toliko abychom pro samý pokoj a snadnější zjednání biskupa k nim přistoupili, a tak toho artikule tak sepsaného, že toliko tehdaž užíváno bude, kdyžby toho k jakým hádkám a odporům potřeba kázala; než lidu obecnímu, že o tom tak kázati nemáme a nebudem. 48 NA Praha, Bestand Nr. 106, Ochranov [Herrnhut], AUF, Bd. 8, fol. 13r; vgl. auch ebd., fol. 17r: aby jedné tak nyní povolili, že potom mohou tak nevěřiti, ani neučiti toliko aby vuoli královskou, a žádost jeho v tom naplnili. 49 SČ, Bd. 2 (wie Anm. 42), S. 615, Nr. 222: biskupa ani kněží míti nebudem, žáci v jakém nebez­ pečenství budou, kteříž pro kněžstvo do Vlach půjdou. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 419 Artikel von 1539 bessere Zeiten abwarten wollten. Es ist nötig, diese Tatsache im Gedächtnis zu behalten, um die folgende Geschichte zu verstehen. 2.2 Die eigentliche Geschichte 2.2.1 Unterwegs zum geistlichen Amt (1550/51) Anxiginus erschien nun in der oben geschilderten Situation auf dem geschichtlichen Parkett. Genauer gesagt, erschien 1550 in Wien sein erstes heute bekanntes Buch, das wahrscheinlich auch sein Erstlingswerk war. Der Druck umfasst zwei lateinische Elegien über die verdorbene Menschennatur und den Triumph von Christus dem Heiland.50 Auf welchem Wege der Verfasser in die österreichische Metropole gekommen war, deutet eine der Widmungen des Buches an: Mecaenati & patrono suo, Petro Pisnensi (so im gedruckten Text, richtig aber Pilsnensis/Petr Plzeňský), damals Pfarrer im südmährischen Strassnitz/Strážnice.51 Von Böhmen aus nahm er den Weg über Mähren. Aus seinen Versen ergibt sich allerdings nicht, ob Anxiginus in Strassnitz nur kurz verweilte oder ob er sich dort über eine längere Zeit aufhielt. Dagegen geht daraus ein weiterer bedeutsamer Umstand hervor: Die charakteristische Bezeichnung des Pfarrers als Evangelii Christi Fidelis Praeco zeigt diskret, aber deutlich an, dass Plzeňský ein Evangelischer war – und damit zugleich, dass wir Anxiginus selbst bereits damals zu einem Anhänger dieser Richtung zählen dürfen. Dass er sein Werk in Wien veröffentlichte, spricht nicht gegen diese Orientierung, zumal auch die österreichische Residenz Ferdinands I. damals durch den Protestantismus weitgehend durchsetzt war, nicht zuletzt in ihren Bildungsinstitutionen. Die örtlichen Evangelischen mussten zwar eine gewisse Zurückhaltung bewahren und in der Öffentlichkeit ihre Orthodoxie und Katholizität anstatt ihre Zuneigung zu den Reformatoren betonen, aber umso eher konnte sich hier ein Utraquist geradezu heimisch fühlen. Eine Bevorzugung allgemein christlicher Motive ist auch in den Gedichten von Anxiginus unverkennbar. Bezeichnend ist übrigens allein schon die gewählte literarische Form, die sich vor allem auf Ovid’sche Vorbildern stützt. Anxiginus trat also in Wien als Träger der humanistischen Bildung auf – ein wichtiger gemeinsamer 50 Vgl. V. Anxiginus, Triumphus Salvatoris Nostri Iesu Christi Scriptus Carmine Elegiaco à Victorino Anxigino Schuthio. Addita Est Declamatio Invectiva De Homine Et eius corrupta natura eiusdem Autoris […], Wien: Johann Singriener d. J. 1550 (VD16 A 3012 f.). 51 Ebd., fol. A4r. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 420 Martin Wernisch Nenner, der Grenzen in der konfessionell geteilten Gesellschaft zu überschreiten half. Unter den schwierigen böhmischen Verhältnissen war dies bereits erprobt worden und eröffnete zugleich einen Zugang zu ausländischen Kreisen. Dies gilt in erster Linie für Vertreter aus dem akademischen Milieu, wie im Buch eine in Versform gesetzte Empfehlung von Georg Mitkreuch († 1566) bestätigt, der später eine Professur des römischen Rechts innehatte. Anxiginus war demnach auf gewisse Weise auch mit der Wiener Universität verbunden. Es ist allerdings nicht klar, ob er am ‚Erzgymnasium‘ seine Studien fortsetzte, zumal er nicht einmal in der Matrikel der zuständigen (‚ungarischen‘) Nation eingeschrieben worden war.52 Daraus kann man noch nichts Bestimmtes schlussfolgern, doch es ist wahrscheinlich, dass Anxiginus vielmehr zu jener Zeit schon danach strebte, die erworbene Bildung anzuwenden. Und in dieser Hinsicht ist der Name des Adressaten seiner Hauptwidmung von einiger Bedeutung, gemeint ist der damalige Wiener Bischof Friedrich Nausea (1541–1552).53 Dies kann jedoch auch verwirren, denn es passt nicht so einfach in das Profil des Verfassers. Nausea gehörte zu den reformgesinnten Repräsentanten des römischen Katholizismus, was allerdings noch keine Offenheit dem Protestantismus gegenüber implizierte. Unter den gegebenen Verhältnissen in seiner Diözese ging er zwar verhältnismäßig vorsichtig vor, doch enthielt er sich nicht einer Polemik, und eventuelle Zugeständnisse (namentlich zum Laienkelch und zur Priesterehe) wollte er sich vom Papst bewilligen lassen. In diesem Sinne war er 1549 auch im Umfeld von Ferdinand I. tätig, als einer der Haupturheber des ‚böhmischen Interims‘. Zugleich war er jedoch bemüht, Utraquisten und Protestanten durch einen umgänglichen persönlichen Umgang zu gewinnen – als Beispiel dafür sei sein einstiger Versuch zur ‚Bekehrung‘ Melanchthons genannt.54 Daher setzten diejenigen Utraquisten, die in einem wenigstens äußerlich und formal durch Kurie abgesegneten Abkommen einen Ausweg aus der aktuellen Notlage sahen, ihre Hoffnung zeitweise auf den Wiener Bischof. Wenn die Priesterkandidaten nicht direkt auf heimatlichem Boden geweiht werden konnten, wäre es dann nicht wenigstens im näher gelegenen Wien möglich? 52 Vgl. Die Matrikel der ungarischen Nation an der Wiener Universität 1453–1630, ed. K. Schrauf, Wien 1902. 53 V. Anxiginus, Triumphus (wie Anm. 50), fol. A2r–A3v; zu seiner Person monografisch H. M. Gollob, Bischof Friedrich Nausea (1496–1552). Probleme der Gegenreformation, Nieuwkoop 21967. 54 Vgl. G. Kawerau, Die Versuche, Melanchthon zur katholischen Kirche zurückzuführen (SVRG 73), Halle 1902. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 421 Bekanntlich lag gerade hier der wunde Punkt der utraquistischen Existenz. Und weil es bereits vor dem Krieg nicht gelungen war, mit diesem Problem voranzukommen, half nun auch nicht die Bannung der Gefahr des ‚böhmischen Interims‘. Obwohl die Anzahl der Pfarrer, die im protestantischen Ausland ordiniert wurden, in den böhmischen Pfarrgemeinden zumindest allmählich wuchs, waren diese aus der Sicht der Regierung unordentliche ‚Winkelpriester‘; um 1550 mussten sie sich im Land und in Grenzgebieten unmittelbar bedroht fühlen. Wer als Träger eines geistlichen Amtes in bedeutenderen Städten wirken und Einfluss auf die Gesamtentwicklung nehmen wollte, konnte der gesetzlich geforderten Weihe nicht ausweichen. Auch Wenzel Mitmánek und andere Anführer der evangelischen Bewegung, welche die Lenkung der Kirche nicht den Gegnern der Reformation überlassen wollten, mussten sich in Italien weihen lassen. Nur dort konnte eine Zeit lang ein Kompromiss realisiert werden, der für beide Seiten gerade noch annehmbar war: auf der Basis des Uniatismus (auf der Grundlage einer Abmachung von 1439 auf dem Konzil von Florenz), der die Einheit in der Lehre forderte (und freilich auch die Anerkennung des päpstlichen Primats) und zugleich Abweichungen im Ritus erlaubte, einschließlich der Darreichung des Laienkelchs beim Heiligen Abendmahl. Darauf stützte sich etwa in Venedig eine griechische Gemeinschaft, die sogar über eigene Bischöfe verfügte – und gerade sie weihten auch den Großteil der utraquistischen Geistlichen jener Zeit. Diese Lösung konnte jedoch die meisten Utraquisten lediglich als Notlösung zufrieden stellen. Immer wieder findet man in zeitgenössischen Urkunden – wie zuvor auch schon in der Rede Mystopols festgestellt – Klagen über Beschwerlichkeit, Gefährlichkeit und Kostspieligkeit dieses Weges, wodurch die Zahl der Anwärter für den geistlichen Dienst rigoros reduziert wurde.55 Dass dabei auch ethische Dilemmata mit im Spiel waren, konnte man zunächst nicht offen ansprechen, umso schärfer wurden sie aber von Außenstehenden geäußert, namentlich aus den Reihen der Brüderunität. Von daher rühren die Versuche, eine Abhilfe beim Wiener Bischof zu finden, der fortwährend die böhmischen Priesterkandidaten sub una weihte; eine Fürsprache in dieser Sache kam übrigens gelegentlich sogar vom König. Überlieferte offizielle Gesuche des Konsistoriums sub utraque an Nausea stammen von 1548, aber selbst ihr Ton verrät, dass sie kaum Gehör fanden.56 Dabei verlangten die Konsistorialräte nicht mehr als von den Venezianern, lediglich ne adolescentes, 55 Vgl. z. B. Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 333 f., Nr. 520. 56 Vgl. ebd., S. 224 ff., Nr. 385, S. 238 f., Nr. 407; vgl. auch F. Nausea, Epistolarum miscellanearum ad Fridericum Nauseam Blancicampianum, episcopum Viennensem, etc. singularium personarum, Libri X, Basel: Johann Oporinus 1550 (VD16 E 1736, VD16 N 251), S. 449 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 422 Martin Wernisch qui aliquando a nobis mitterentur, ad communionem unius speciei teneantur aut obligentur, donec de hac re a tota Ecclesia certo aliquid conclusum aut consentum fuerit.57 Hätten sie sogar diesen Vorbehalt fallengelassen, dann würden sie jede noch so enge Begriffsbestimmung ihrer Kirchengemeinschaft untergraben. Trotzdem ist es mehr als zweifelhaft, ob Nausea ihnen in dieser Sache je entgegenkam. Für ihn wäre wohl erst eine Entscheidung von gesamtkirchlicher Verbindlichkeit die Grundvoraussetzung für eine solche vertragsmäßige Vereinbarung gewesen. Dennoch weihte er in den nachfolgenden Jahren Utraquisten; aber die Art und Weise, auf welche sie dann vom Konsistorium sub utraque in den Dienst angenommen wurden, zeigt, dass diese Kandidaten auf eigene Faust handelten und wahrscheinlich auch zu größeren Konzessionen gezwungen wurden als es für die Kirchenleitung bei all ihrer Gefügigkeit annehmbar war. In Prag musste ein Kandidat nämlich nicht nur obedientiam Deo et consistorio („und dies durch Handschlag“) versprechen – nach einer Formel, die ebenso bei den in Venedig Geweihten geläufig war –, sondern ‚desgleichen, dass er die übrigen christlichen Kirchenordnungen der Partei unter beiderlei Gestalt halten wird‘, was im Gegenteil für die Prozedur des förmlichen Übertritts jener Priester typisch war, die ursprünglich zur Obödienz gegenüber dem Konsistorum sub una verbunden waren.58 Es scheint also, dass Nausea konsequent genug war, um einzuhalten, was er selbst in seinem 1551 gedruckten Leitfaden zur Ordination vorschrieb. Das dort enthaltene Formular gab sich keineswegs nur mit allgemeinen Formulierungen zufrieden, sondern es untersuchte streng, ob die Kandidaten häretische Bücher verwendeten usw.59 Inwieweit wir gerade Anxiginus verdächtigen sollten, dass er nur sondierte, ob er selbst durch so ein ‚Nadelöhr gehe‘, ist recht fraglich. Auch wenn dies geschehen wäre, dann müssten wir feststellen, dass es ihm nicht gelungen war bzw. dass er selbst die gestellten Bedingungen für nicht akzeptabel befunden hatte. Denn auf jeden Fall steht fest, dass er tatsächlich in Venedig geweiht wurde. Sein Gedicht für Nausea lässt sich noch auf eine andere Weise erklären: Er konnte sich an den Bischof lediglich als Humanist wenden, der in einem reifen Gelehrten den Musarum vere patronum schätzte oder suchte.60 Dementsprechend 57 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 239, Nr. 407. 58 Ebd., S. 302, Nr. 485: a to ruky dáním, též že jiné pořádky církevní a křesťanské strany pod obojí zachovávati bude. 59 Vgl. F. Nausea, De Clericis in Ecclesia ordinandis Isagoges Libri V. Additus est sub finem Lib. I. Inquisitionum Pastoralium, unà cum Ecclesiasticae ordinationis Decreto, eiusdem Episcopi Viennensis, Wien: Aegidius Adler 1551 (VD16 N 220, VD16 W 2634), fol. 79r. 60 V. Anxiginus, Triumphus (wie Anm. 50), fol. A3r. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 423 hatten tatsächlich auch einige böhmische Evangelische Erfolg, welche die Gunst des Bischofs erwarben. Sie galten bei ihm lediglich als Mitglieder der societas lit­ terarum, wobei er ihre Sympathien für protestantische Reformatoren überhaupt nicht erkennen musste, zumal sie diese auch eher in ihren privaten Aufzeichnungen und Korrespondenzen denn in gedruckten Versen äußerten. Ein gutes Beispiel liefert für den gleichen Zeitraum vor allem Simon Ennius Klatovský (1520–1561). Dabei ging es zwar vorrangig um größere Handlungsspielräume, aber auch um finanzielle Unterstützungen. Und Anxiginus brauchte für die Reise nach Venedig Geld, genauso wie dimissorium vom Prager Konsistorium. Ein Beitrag von Nausea wäre denkbar, er ist jedoch auf keine Weise nachgewiesen. Bei denjenigen, die in geordneten Gruppen den rechtlich legitimsten Weg gingen, waren vielmehr Spenden von den Gemeinden die Regel, denen die zukünftigen Priester dienen sollten; vielfach wurden sie von mehreren Sponsoren erbeten. Althergebrachte Beziehungen spielten anscheinend öfters auch eine Rolle bei der Ortswahl, wohin die Neugeweihten als Kapläne oder Diakone gesandt wurden. Sogar dort, wo keine solche Beziehungen sicher nachweisbar sind, lässt sich oft eine ähnliche Anschauung zwischen den Kaplänen und ihren Pfarrern beobachten; die Mentoren durften vermutlich im Voraus ihr Interesse an konkreten Helfern äußern. Nicht ganz zufällig mutet auch die Unterbrigung von Anxiginus an, der am 19. Juni 1551 in Prag obedientiam Deo et consistorio gelobte, zusammen mit drei Reisekameraden, die wahrscheinlich auch mehr oder weniger evangelisch orientiert waren. An erster Stelle wurde hier Victorinus Skutečenus genannt, der damals für drei Jahre Saaz/Žatec, einer alten königlichen Stadt im Nordwesten Böhmens, zugewiesen war.61 2.2.2 Stärkende Impulse (1551–1554) Wenn sich auch eine gegenseitige Affinität bereits vor der Ankunft von Anxiginus in Saaz ahnen lässt, ist es immerhin nahe liegend, dass der Aufenthalt im dortigen Pfarrhaus einen erheblichen Einfluss auf ihn ausüben musste und stark zu Schärfung seines Profils beitrug, das später weitaus eindeutiger als zuvor hervortrat. Eine Rolle spielte dabei sowohl der allgemeine genius loci als auch konkrete Personen – in beiderlei Hinsicht überragte die Stadt den damaligen Durchschnitt. Bereits im 15. Jahrhundert gehörte sie zu den Bollwerken des Hussitismus. Und weil dort die Zonen der beiden Landessprachen einander durchdrangen, entwickelte Saaz ebenso eine internationale Ausstrahlung. Amedeo Molnár vermutete in der 61 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 300, Nr. 482. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 424 Martin Wernisch Stadt den Sitz einer ganzen hussitisch-waldensischen Schule.62 Noch deutlicher sind Belege aus der Zeit der lutherischen Reformation, als Saaz wieder zu einem wichtigen Vermittlungsort zwischen dem tschechischen Binnenland und dem vorwiegend deutschsprachigen Grenzgebiet wurde, das durch die sächsische Kultur stark mitgeprägt war. Daraus entstand mit Saaz einer der Hauptmittelpunkte der Evangelischen in der Kirche sub utraque, direkt verbunden sowohl mit Prag als auch mit Wittenberg, wobei es Wittenberg war, das den theologischen Kompass bot. Unter den Personen mit Führungsqualitäten verdient chronologisch gesehen an erster Stelle Nikolaus Artemisius/Mikuláš Černobýl (1495–1556) Erwähnung, ein Kind der Stadt aus der Generation Melanchthons und ein Wittenberger magister artium, der in seiner Heimat sukzessive als Schulrektor, Ratschreiber, Stadtrat und Bürgermeister tätig war und der ähnlich Gesinnte in die Stadt zog, und diese wiederum andere. Einer von ihnen, Matěj Lounský/Matthias von Laun, wurde in der Mitte der 1530er Jahre örtlicher Dekan. In Wittenberg war er ein Mitschüler Mitmáneks und zählte seit der Wende von den 1530er zu den 1540er Jahren selbst schon zu den anerkannten Führern der Evangelischen im ganzen Land, auch wurde er öfters zusammen mit Řezník genannt. Neben der Predigt – er war Verfasser einer umfangreichen Postille – widmete er sich vor allem dem Vorankommen der Stadtschule. Diese erreichte besonders nach 1542 ihr höchstes Niveau, als Lounský für ihre Leitung Wenzel/Václav Arpinus (ca. 1515–1582) gewann, der sich nach seinen Studien in Wittenberg mit Melanchthons Empfehlung ursprünglich um eine Stelle an der Prager Universität beworben hatte, der dann aber dem Ort den Vorzug gab, wo er sich der Aufsicht der weiter entfernten Zentralorgane einfacher entziehen konnte und wo er freie Hand für die Umsetzung der Melanchthon’schen Gymnasialordnung bekam. Arpinus, seit 1546 Schwiegersohn von Artemisius, wirkte zur Zeit der Ankunft von Anxiginus noch in Saaz, doch war der Vorgesetzte des neuen Kaplans nicht mehr Lounský. Dieser hatte nämlich inzwischen das Dekansamt in einer anderen bedeutenden Königsstadt übernommen, im mittelböhmischen Nimburg/Nymburk. Zum Mentor von Anxiginus wurde Jakob Camenicenus/Jakub Kamenický († 1574), der jünger und kämpferischer als Lounský war. Sein Wesen hatte er schon 1544 gezeigt, als er noch Dekan in Jungbunzlau/Mladá Boleslav war. Damals sollte er sich vor dem Prager Konsistorium dafür verantworten, dass er sich in administratione sacramentorum mit Bunzlauer ‚Pikarden‘ verbündete […] das 62 Vgl. die wiederholten Erwähnungen bei A. Molnár, Die Waldenser. Geschichte und europäisches Ausmaß einer Ketzerbewegung, aus dem Tschechischen und Italienischen übersetzt von Erich Emmerling / Harald Schreiber, Göttingen 1980, namentlich im Kapitel „Die Treuen Brüder“. Vgl. ebd., S. 280–299. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 425 Messgewand ablegte […] keine Elevation machte‘.63 Wie bereits die angeführten Delikte zeigen, verfuhr Camenicenus mit der adiaphoristischen Problematik wesentlich mutiger als andere. Darüber hinaus erwies sich auch seine Verteidigung anders geartet als jene, die sein Kuttenberger Kollege Řezník zur gleichen Zeit und in ähnlicher Lage angewandt hatte.64 Eine Anpassung an die Brüderunität gestand Camenicenus freimütig ein und erklärte sie damit, dass er so ‚guten Frieden‘ in der Stadtgemeinde erhalte, die unter einer brüderischen Obrigkeit lebte (was zugleich ein bedeutender Schutzfaktor war), und rechtfertigte sein Handeln, das in Einklang mit der Schrift stünde.65 Er widerrief nichts und er nahm auch keine Zuflucht zu doppeldeutigen Formeln, ‚immer eine Nachsicht ersuchend‘.66 Möglicherweise sah er sich letztendlich trotzdem zu einer Geste der Unterwerfung gezwungen, denn das Konsistorium schloss das Verhör mit dem Urteil ab, auf solche Weise wäre es nicht möglich, die Übertretung des königlichen Dekrets zu entschuldigen, so dass der Beklagte so lange in Gewahrsam belassen bleiben müsse, bis er eine Garantie gewähren würde. Auf jeden Fall ist bemerkenswert, wie sehr Camenicenus bestrebt war, sowohl Ausreden als auch Zugeständnisse zu vermeiden. Es verwundert nicht, dass er in der dramatischen Konvokation des Jahres 1549 bereits in den vorderen Reihen zu finden war, neben den alten Vorkämpfern. In einem Triumvirat mit Wenzel Řezník und Matthias Lounský verfasste Camenicenus damals eine Denkschrift, in welcher Beweisgründe aufgeführt wurden, warum es nicht möglich war, die königlichen Artikel mit gutem Gewissen anzunehmen. Und eine besondere Bedeutung kann man der Tatsache beimessen, dass gerade Camenicenus den Text auch Melanchthon zur Begutachtung vorlegte. Camenicenus hatte durch eine Vermittlung von Laurentius Span von Spanow/Vavřinec Špán ze Španova (ca. 1530–1576) persönliche Kontakte mit Meister Philipp geknüpft, der ein Schüler von Arpinus war und von 1545 bis 1550 in Wittenberg studierte, wo er eine Professorentochter heiratete.67 Melanchthon war über den Inhalt der Artikel durch böhmische Kontakte gut informiert und darüber beunruhigt, dass sie die Schranken des Leipziger Interims weit überschritten hatten, weshalb er sie für inakzeptabel hielt.68 Allerdings wurde 63 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 191, Nr. 332: in administratione sacramentorum s Pikharty Boleslavskými se spolčil […] roucho mešné jest složil […] elevací nečinil. 64 Vgl. ebd., S. 192, Nr. 334. 65 Ebd., S. 192, Nr. 332: dobrý pokoj. 66 Ebd.: žádaje hojemství vždy. 67 Vgl. PM Bw, edd. M. Dall’Asta / C. Mundhenk / H. Hein, Bd. 14: Texte 3780–4109 (1545), Stuttgart/Bad Cannstatt 2013, S. 591, Nr. 4108a. 68 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, praefationes, consilia, iudicia, schedae academicae […], Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 426 Martin Wernisch er nun durch die zugesandte Gegenschrift zufriedengestellt69 und bekundete seinen Beistand für Camenicenus sogar öffentlich. Als nämlich Span, inzwischen Arzt in Kuttenberg, im Frühling 1551 seine lateinische Übersetzung der Summarien von Veit Dietrich (1506–1549) zum Johannesevangelium herausgab, stellte Melanchthon dem Buch eine ermutigende Widmung Pastori Ecclesiae Dei in oppido Bohe­ miae Saza voran.70 Im Text mied er begreiflicherweise provokative Details, so dass es bei recht allgemeinen Formulierungen blieb. Dennoch könnte man fragen, ob der Wittenberger Meister seinen Günstling gerade durch diese Äußerung seiner Zuneigung nicht eher belastet hatte. In jedem Fall ist es offenkundig, dass sich Camenicenus durch sein öffentliches Bekenntnis in Gefahr brachte. War doch die Stellung der Evangelischen politisch vorübergehend geschwächt, zudem wurde die Stadt Saaz für ihre Teilnahme am Aufstand bestraft und verfügte über kein eigenes Konsistorium. Im Sommer desselben Jahres benötigte Camenicenus Melanchthons Trost, zumal nun als Angeklagter wegen ‚Neuerungssucht‘.71 Im Advent 1551 wurde Camenicenus außer Dienst gestellt und eingesperrt – und dies wohl auch stellvertretend für andere, die der königlichen Strafgewalt immer wieder entronnen waren. Trotzdem nahm die Sache des abgesetzten Dekans nicht den schlechtesten Ausgang. Bei seinen Freunden, einschließlich Melanchthon, genoss er Rückhalt, was ihm diesmal tatsächlich half. Zwar konnte er nicht in sein Amt zurückkehren, doch wurde er schon bald aus dem Gefängnis entlassen und fand nicht zuletzt in: Philippi Melanthonis opera, quae supersunt omnia, ed. C. G. Bretschneider (CR 7), Halle 1840, Sp. 659, Nr. 4791; PM Bw, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6: Regesten 5708–6690 (1550–1552), Stuttgart/Bad Cannstatt 1988, S. 62, Nr. 5825; PM Bw, edd. M. Dall’Asta / H. Hein / C. Mundhenk, Bd. 20: Texte 5643–5969 (Okt. 1549–Dez. 1550), Stuttgart/Bad Cannstatt 2019, S. 275, Nr. 5825. 69 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 610, Nr. 4738; PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6 (wie Anm. 68), S. 62, Nr. 5827; PM Bw Texte, edd. M. Dall’Asta / H. Hein / C. Mundhenk, Bd. 20 (wie Anm. 68), S. 278, Nr. 5827. 70 V. Dietrich / V. Špán / P. Melanchthon, Simplex et perspicua explicatio insignium et iucundissimarum sententiarum ex Joanne Evangelista collectarum a Vito Theodoro, paulo antequam e vita discederet, cum quasi valedicturus amicis eas interpretaretur […], Leipzig: Wolfgang Günther 1551 (VD16 D 1554, VD16 S 7452), fol. A2r–A3v, hier fol. A2r; bzw. Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 785 f., Nr. 4892; PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6 (wie Anm. 68), S. 155, Nr. 6067. 71 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 811 f., Nr. 4929; PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6 (wie Anm. 68), S. 186, Nr. 6143; vgl. auch Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 812, Nr. 4930; PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6 (wie Anm. 68), S. 186, Nr. 6144. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 427 aufgrund eigener Fähigkeiten eine neue Existenz. Er setzte in Wittenberg seine Studien fort, wurde am 11. Januar 1552 immatrikuliert und promovierte bereits am 28. Juni zum magister artium, wofür Melanchthon am 1. Juli ein testimonium publicum doctrinae beisteuerte. Er trat dann in die Fußstapfen von Span und studierte schließlich Medizin.72 Damit erwarb er sich eine alternative berufliche Lebensgrundlage für den Fall, dass er mit seinem nicht konformen Verhalten keine neue Möglichkeit einer geistlichen Amtstätigkeit finden sollte. In dem Fall hätte er für die Kirche Christi nach seinen Kräften als Laie wirken können. Diese Unbeugsamkeit hat zweifellos beeindruckt. In Melanchthons Zeugnis für seine Rechtgläubigkeit klingt sogar eine leise Reminiszenz an das Erbe der Hus’schen Standfestigkeit an.73 Die Einstellung von Camenicenus beeindruckte zweifellos auch Anxiginus – und der Verlauf der Affäre konnte ebenso seine Hoffnung fördern, dass Gott seine Getreuen in läuternden Prüfungen beschützt. Aus der Chronologie der Ereignisse geht zwar hervor, dass Camenicenus eigentlich nur während einer kurzen Zeitspanne von einigen Monaten der offizielle Vorgesetzte des Kaplans war, dennoch hatte Anxiginus das Vorbild von Camenicenus weiterhin lebendig vor Augen. Muss man doch beachten, dass in den ersten Jahren nach der Suspension nichts über einen Nachfolger im Dekanat zu hören war. Camenicenus wirkte auch während seines Studiums in Wittenberg weiterhin in Saaz; in den erhaltenen Urkunden tritt er als faktisches Haupt des dortigen geistlichen Kreises auf.74 Noch 1554 beteiligte er sich an der Wittenberger Ausgabe eines Gesangbuchs, das von dem Saazer Lehrer und Stadtschreiber Wenzeslaus/ Václav Nicolaides Vodňanský z Radkova (1512–1582) verfasst worden war und das auch im Hinblick auf die Lieder im Rahmen des utraquistischen Gottesdienstes den christozentrischen Akzent verstärken sollte, der für die evangelischen Predigten prägend war.75 Doch im Laufe desselben Jahres zog Camenicenus aus Saaz 72 Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 1018 f., Nr. 5141; vgl. auch PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer (wie Anm. 68), Bd. 6, S. 318, Nr. 6482. 73 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 1019, Nr. 5141: Ego eo etiam libentius semper Boiemos complexus sum, quia iudico, singularem in ea gente gravitatem esse, quam quidem olim in veritatis confessione declaravit. 74 Vgl. Dopisy M. Matouše Kollína z Chotěřiny a jeho přátel ke Kašparovi z Nydbrucka, tajnému radovi krále Maxmiliána II. [Die Briefe des M. Matthäus Collinus von Chotěřina und seiner Freunde an Kaspar von Niedbruck, den Geheimrat des Königs Maximilian II.], ed. F. Menčík (Sborník pramenův ku poznání literárního života v Čechách, na Moravě a v Slezsku [Quellensammlung zur Erkenntnis des literarischen Lebens in Böhmen, Mähren und Schlesien] 20), Praha 1914, S. 16, Nr. 4. 75 Vgl. W. Nicolaides, Cantiones Evangelicae ad usitatas harmonias, quae in Ecclesiis Bohemicis Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 428 Martin Wernisch weg und ließ sich als praktizierender Arzt in Prag nieder. Nichtsdestoweniger lief damals die vom Konsistorium auferlegte Frist zur Einarbeitung von Anxiginus ab und er konnte ebenso seine Stelle wechseln und sich selbstständiger betätigen. 2.2.3 Eigene Initiative im Frühjahr 1554 Anxiginus’ neue Wirkungsstätte ist bezeichnend, denn er taucht an der ‚hohen Kirche‘ in Kuttenberg auf. Somit wurde er Nachfolger Wenzel Řezníks, der 1552 nach den langen Kämpfen die anspruchsvolle Stellung aufgegeben hatte und mit seinem Weggang einem eventuellen Sturz auf ‚Saazer‘ Art zuvorkam. Es ist allerdings wichtig zu präzisieren, dass Anxiginus Řezník nicht im Dekansamt ablöste. Diese Rolle war einem älteren und erfahreneren Mitglied des Kuttenberger Konsistoriums zugefallen, und zwar niemand anderem als Matthäus Hradecký. Von daher kommt wahrscheinlich auch eine kleinere Unklarheit in der Titulatur, als man Anxiginus gelegentlich – aber nicht konsequent – weiterhin als Kaplan bezeichnete, wiewohl er die Dekanatkirche anscheinend verwaltete und dies wohl als Stellvertreter Hradeckýs, der an der Kirche St. Barbara verblieben war.76 Ganz offenkundig ist allerdings, dass Anxiginus seine Rolle sehr energisch ausfüllte und damit beim Dekan Anstoß erregte. Anxiginus war mit viel jugendlichem Elan nach Kuttenberg gekommen, auch ermutigt durch den Widerstandsgeist, den er in Saaz erlebt hatte, was wohl nicht zuletzt auch aus dem engen Kontakt zum deutschen Milieu resultierte. Angesichts der Berichte aus dem Reich musste die Lage nach dem Fürstenaufstand von 1552 aussichtsvoll erscheinen – und dies gerade für diejenigen, die bereit waren, sich Prüfungen zu unterziehen. Hatten die Magdeburger, die das Interim nie angenommen und es im Gegenteil a limine zurückgewiesen hatten, schließlich doch nicht gesiegt? Obgleich wir wissen, dass die Saazer vornehmlich mit Wittenberg als dem Zentrum der deutschen Reformation kommunizierten,77 werden wir noch sehen, dass sie auch mit Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) in Verbindung standen. per totius anni circulum canuntur, accomodatae, praecipua Christi beneficia breviter complectentes […], Wittenberg: Georg Rhau, Erben 1554 (VD16 N 1498). 76 Vgl. Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 323, Nr. 509; anders unten. 77 Melanchthon erwähnte in seiner Korrespodenz mit Camenicenus die Kämpfe um Magdeburg (bellum Saxonicum) spätestens im Herbst 1550, auf zurückhaltende Weise, doch offenbar als Antwort auf Fragen des Adressaten; PM Bw Texte, edd. M. Dall’Asta / H. Hein / C. Mundhenk, Bd. 20 (wie Anm. 68), S. 411, Nr. 5928; vgl. auch PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6 (wie Anm. 68), S. 104, Nr. 5928. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 429 Gerade Anxiginus liefert einen zwar indirekten, dennoch aber hinreichenden Beweis dafür, dass in Saaz die Geschichte der unbeugsamen Stadt gespannt verfolgt wurde und damit in Böhmen Vorbildwirkung hatte. Anxiginus wollte offensichtlich den mutigen Kampf gegen eine Übermacht ebenso in das böhmische Binnenland hineintragen. Es lag ihm daran, dass man in Kuttenberg in diesen Anstrengungen nach dem Weggang Řezníks nicht nachließ, sondern weiter voranschritt und letztlich die ‚adiaphoristischen Schutzschilde‘ ablegte, welche die gnesiolutherischen Kämpfer dank der Gnade Gottes nicht nötig hätten. In den 1540er Jahren durfte der junge Geistliche von Hradecký, der Řezník stets einen Schritt vorauseilte, vielleicht Verständnis erwarten – dies umso eher, da er wieder einmal die Ausstellung der Sakramente als vornehmliches Angriffsziel wählte. Doch Hradecký mochte damals die Reminiszenz auf die eigene Vergangenheit als ausgesprochen unangenehm wahrgenommen haben. Mittlerweile war er selber mit der Verantwortung als Dekan belastet, zumal er noch dazu in diesem Amt eigentlich nur auf Bewährung bestätigt worden war. Das Prager Konsistorium hatte sich zunächst geweigert, in die Wahl einzuwilligen, aus Besorgnis, dass der Kandidat nicht imstande wäre, sich – wie erforderlich – an die äußeren konservativen liturgischen Rituale zu halten. Es ging das Gerücht um, er sei ‚mehr der lutherischen als der christlichen Lehre verwandt‘ (eine bemerkenswerte Formulierung), wobei er ‚allerlei Spott und Hohngelächter über die Religion, mit welcher die Prager Priesterschaft umgeht, in Lehre und Gesprächen äußert‘.78 Zugleich nahm Hradecký möglicherweise empfindsamer als Anxiginus wahr, dass sich die Angelegenheiten in Böhmen und im Reich zu jener Zeit vielmehr asynchron entwickelten und die Lage in der Heimat hochexplosiv war. Ferdinand I. vermochte es zwar, 1552 notgedrungen den Passauer Vertrag abzuschließen und auf eine Gegenreformation in den sowieso verlorenen Gebieten zu verzichten, aber umso resoluter kämpfte er zumindest um die Stützpunkte seiner Macht. Nicht unerwähnt soll hier bleiben, dass die religionspolitische Lage sogar in den Territorien unter direkter habsburgischer Herrschaft, einschließlich der einzelnen Länder der Böhmischen Krone, unterschiedlich war. Nichtsdestoweniger rang der Regent um das eigentliche Königreich Böhmen auf besonders unerbittliche Weise. Gerade im Jahr 1554 bekam er Gelegenheit, die Landesregierung mehr nach seinem Geschmack umzugestalten. Zudem riss er die Ernennung der ständischen 78 P. M. Veselský, O konsistoří Kutnohorské v šestnáctém století [Über das Kuttenberger Konsistorium im 16. Jahrhundert], in: Lumír 12 (1862), S. 15–18, 39–42, 62–67, 87–91, 111–114, 136 f., 160, 185 f., 207–211, 233–237, hier S. 113: více k učení lutherianskému jest podobný nežli křesťanskému, a při tom rozličné smíchy a potupy v učení a rozmlouvání činí tomu náboženství, kteréž Pražské kněžstvo užívá. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 430 Martin Wernisch Defensoren der Kirche sub utraque an sich, wobei es sich von selbst versteht, dass er dazu gefügigere Partner als die Stände wählte. Mit diesem Rückhalt konnte er dann eine neue Offensive entfalten. Diesmal aber ziemlich eindeutig durch Repression, die anders als bisher flächenhafter und weniger individuell ausgerichtet werden sollte. Was vor Kurzem Camenicenus ereilte, betraf nun viele und vielfach mit härteren Folgen. Die Verfolgungswelle, die zu Beginn des Jahres vorbereitet, aber hauptsächlich zwischen Herbst 1554 und Sommer 1555 verwirklicht wurde, vertrieb einige Hundert evangelische Geistliche aus den Pfarrgemeinden und zumindest einige Dutzend von ihnen ebenso aus dem Land.79 Auch diesmal wandte Ferdinand I. die Politik der Belohnung und Strafe an: Er berief sich auf Beschwerden der Prager Konsistorien beider Kirchenrichtungen über wachsende Unordnung und interpretierte seine Aktion in dem Sinne, dass er zugunsten der legitimen geistlichen Autoritäten gegen fremde Sekten eingreife. Die entsprechenden Denkschriften waren in der Tat vorhanden. Nach den Würdenträgern sub una hatten sie auch jene sub utraque geliefert und es ist ziemlich sicher, dass manche von ihnen (nicht zuletzt der utraquistische Administrator, wie wir noch sehen werden) auf diese Weise wenigstens sich selbst schützen wollten, die unter dem Druck von Denunzianten wie Paul Smetana standen. Vordringlich wurden tatsächlich gerade diejenigen verfolgt, die sich aus der adiaphoristischen Deckung wagten und namentlich gegen zwei klar definierte Kriterien verstießen: gegen die Forderungen der römisch approbierten Priesterweihe und des Zölibats. Die Mehrzahl der utraquistischen Geistlichen hielt damals – vor allem aus Angst vor Eingriffen des Königs – an beiden dieser Traditionen fest. Für Anxiginus spielten die beiden genannten Kriterien nur eine untergeordnete Rolle, zumal er selbst – wie die meisten seiner utraquistischen Berufsgenossen – in Venedig von einem griechisch-katholischen Bischof geweiht worden und zudem unverheiratet war. Mit seinem Aktivismus zog er jedoch erhöhte Aufmerksamkeit auf sich, und dies nach Meinung vieler Amtsbrüder unnötigerweise. Ganz allein stand Anxiginus mit seinem leichtsinnigen Verhalten damals allerdings nicht da. Dies zeigt ein Blick auf die Schule von Camenicenus, die wiederum die Aufmerksamkeit der geistlichen und weltlichen Behörden in Prag erregte; unter anderem untersagte man den Gebrauch des gerade veröffentlichten Gesangbuchs von Nicolaides, quod invocationes, quae ad divos et divas fiebant in templis, convertit ad filium Dei.80 Zu 79 Vgl. Jednání a dopisy konsistoře katolické i utrakvistické [Verhandlungen und Briefe des katholischen sowie utraquistischen Konsistoriums], 2 Bde., Praha 1869/69, ed. K. Borový (MHB), Bd. 2: Akta konsistoře katolické [Akten des katholischen Konsistoriums], Praha 1869, S. 155 ff., Nr. 707 ff. (eine ganze Reihe der Mandate zum Stoff, teilweise in deutscher Sprache). 80 Dopisy M. Matouše Kollína, ed. F. Menčík (wie Anm. 74), S. 39, Nr. 14. Hier ist aber eine Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 431 den Zöglingen der Schule gehörte auch Simon Fischer-Haliaeus, der in Saaz kurz vor Anxiginus als Kaplan gedient hatte und in den Jahren der Verfolgung bereits Dekan im benachbarten Kaaden/Kadaň gewesen war. Selbst in der damaligen Situation polemisierte Fischer-Haliaeus gegen das Konsistorium mit Blick auf eine fehlende biblische Begründung mancher utraquistischen Gebräuche,81 was ihm eine Gefängnisstrafe und Ausweisung einbrachte. Das Verhalten von Anxiginus musste also nicht unbedingt und vordergründig einer Verkennung des Ernstes der Lage entspringen. Die Situation mochte im Gegenteil für den Kuttenberger Prediger und seine Gleichgesinnten geradezu eine Herausforderung zu einem umso zäheren Widerstand gewesen sein, der auch andere mitreißen konnte, um die momentan ungünstige Entwicklung umzukehren. Dies hätte allerdings zahlreiche Anhänger erfordert. Es ermutigte Anxiginus sicherlich, dass er auch in Kuttenberg seinen ersten festen Verbündeten fand, und zwar im Pfarrer an der ‚Unteren‘ Kirche, der Mutter-Gottes-Kirche Na Náměti, Briccius Tajovinus/Brikcí Tajovský. Ein Ortschronist berichtete über eine gemeinsame Aktion, die diese beiden am 23. März 1554 unternahmen: ‚Am Karfreitag wurde die Monstranz cum sacramento weder ins Grab gelegt noch am Altar ausgestellt, in der hohen Kirche wie auch in der Kirche Na Náměti. Lediglich in der Barbarakirche hielt sich Priester Matthäus an den früheren Brauch. Aber Priester Viktorin bei der hohen Kirche und Priester Briccius Na Náměti redeten den Leuten eindringlich zu, die Grablegung und die Ausstellung sei nicht aus der Schrift, sondern eine menschliche Satzung gegen das Gottesgebot und die Heilige Schrift etc.‘82 Dieses Auftreten erregte Aufsehen, wenngleich die Resonanz darauf nicht gerade groß war. Zweifellos auch deshalb, da die inländischen Verhältnisse in einer Textkorrektur zu berücksichtigen, die K. Hrdina, in: LF 43 (1916), S. 63, in seiner Rezension durchgeführt hat. 81 Ein zeitgenössisches Zeugnis zitiert I. J. Hanuš, Kněz Jan Štelcar Želetavský z Želetavy co literát český. Obraz literatury české 16. století [Der Priester Jan Štelcar Želetavský aus Schelletau als tschechischer Literat. Ein Bild der tschechischen Literatur des 16. Jahrhunderts], in: ČMKČ 38 (1864), S. 262–287 und 343–352, hier S. 285 f. 82 Mikuláš Dačický z Heslova. Prostopravda. Paměti [Nikolaus Dačický von Heslov. Pure Wahrheit. Erinnerungen], edd. E. Petrů / E. Pražák (Živá díla minulosti [Lebendige Werke der Vergangenheit] 9), Praha 1955, hier [Teil] Paměti, S. 101–644, hier S. 225 f.: U Veliký pátek monstrancí cum sacramento není do hrobu položena, ani na oltář vystavena v Vysokém a Námětském kostele. Toliko v kostele Barborském vedle prvnějšího obyčeje kněz Matouš se zacho­ val. Ale kněz Viktorin u Vysokého kostela a kněz Brikcí u Námětského tuze o tom lidem mluvili, že to do hrobu kladení a vystavování z Písma svatého není, nežli lidské ustanovení proti božímu přikázání a Písmuom svatým etc. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 432 Martin Wernisch entscheidenden Hinsicht nicht mit jenen in Magdeburg vergleichbar waren: In Böhmen forderte der König nicht so deutlich, dasjenige aufzugeben, was inzwischen in sämtlichen regionalen Kirchen üblich geworden war, und zwar unter Einschluss von Geistlichkeit und Volk sowie gar einer ganzen Generation, die damit aufgewachsen war. Somit fehlte hier der soziale Hintergrund für einen gnesiolutherischen Widerstand. Der Adiaphorismus konnte sicher eine Kompromissbereitschaft fördern, was bisweilen auch einen Rückzug ermöglichte und unter dem ständigen gegenreformatorischen Druck bei wankelmütigeren Charakteren letztlich zu einer Demoralisierung führte. In der Regel jedoch diente der Adiaphorismus immerhin als Instrument einer allmählichen Protestantisierung, das eben den inländischen Bedingungen angepasst war. Anxiginus und der genannte Pfarrer Tajovinus wollten nun weiter gehen; vielleicht nicht weiter, als man es inzwischen in Saaz getan hatte, dennoch aber weiter, als es sogar die ebenso nicht typische ‚nonkonforme‘ Kuttenberger Gemeinde bisher gewagt hatte – selbst für die letztere waren diese Forderungen damals zu radikal. Dekan Hradecký war von der Auflehnung allem Anschein nach umso mehr verärgert, weil sie von doppelter Seite kam. Da er die Situation nicht befrieden konnte, verwies er den Fall an das Prager Konsistorium. 2.2.4 Der Rechtsstreit Man kann wohl nicht davon ausgehen, dass der Dekan seine Untergebenen dem Verderben preisgeben wollte. Nicht nur, dass er ähnliche Konflikte selbst aus umgekehrter Perspektive erlebt hatte, sondern er blieb auch evangelisch genug orientiert, um später die Stelle des Dekans in Saaz zu erlangen und diese für lange Jahre innezuhaben – unter anderem wird er diese Zeit nutzen, um einen Auszug aus der tschechischen Übersetzung von Luthers „Heerpredigt wider den Türken“ für den Druck vorzubereiten. In der zugespitzten Lage des Jahres 1554 aber wollte er sich selbst vor den Folgen eines Verhaltens schützen, das ihm nicht sinnvoll dünkte, in der Hoffnung, dass die Konsistorialräte die beiden Hitzköpfe zur Vernunft bringen würden. Tatsächlich ist gut belegt, dass Mystopol und seine Gefährten auch in dieser kritischen Zeit weiterhin jeden mit Nachsicht behandelten und gegenüber strengeren Beisitzern verteidigten, der eine Bereitschaft zur Reue zeigte und Besserung versprach. Gallus/Havel Gelastus Vodňanský (1520–1577), damaliger Exponent des Königs im Konsistorium, beschwerte sich noch 1561 beim Herrscher über dieses Vorgehen in Disziplinarsachen. Dabei führte er etliche konkreten Beispiele an, wobei Briccius et Victorinus, tunc parochi Guthembergenses nicht ausgelassen wurden. Anxiginus ist hier zwar – gemäß dem offiziellen Rang – an zweiter Stelle Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 433 genannt, doch Gelastus hat sogleich hinzugefügt: quorum alter, nempe Victorinus, sediciosum scriptum publicavit.83 Damit erscheint der junge Prediger auch laut dieser Quelle als die führende Gestalt und als Hauptsprecher des rebellischen Gespanns, der seine Einstellung öffentlich und grundsätzlich darlegte. Nach den gnesiolutherischen Vorbildern wollten sich die beiden Angeklagten auch vor dem Konsistorium als unbeugsam erweisen und keine Hilfe annehmen. Beim Verhör am 30. März 1554 verhielten sie sich prinzipienfest, unbestechlich und keineswegs nachgebend. Auf die adiaphoristischen Richtlinien der Kirche bezogen sie sich höchstens in dem Sinne, dass diese ja ein Provisorium hinsichtlich der überflüssigen Zeremonien darstellten, wobei das Kuttenberger Volk sich inzwischen an die Änderung ‚gewöhnte und nichts mehr einwendet‘.84 Hauptsächlich beriefen sie sich jedoch auf das Wort Gottes und auf das eigene Gewissen: ‚Deshalb wollen sie das so lassen und gedenken nicht, es wieder in die Kirche einzuführen, ersuchend, dass sie dabei belassen werden mögen.‘85 Dies erachteten allerdings nicht einmal die nachsichtigsten Konsistorialräte für möglich. Sie waren sich dessen bewusst, dass sie aufmerksam beobachtet wurden und wollten sie nicht selbst gestürzt werden, mussten sie ihre Überzeugungskünste nachweisen. Als die Vorgeladenen ‚nicht wollten, solches annehmen und tun, die expositionem sacramenti wieder aufzurichten und in Kuttenberg einzuführen, sind sie unter Strafe und ins Gefängnis im Rathaus der Prager Altstadt genommen‘ worden.86 Der Kuttenberger Chronist fügte hinzu: ‚Man verlangte von ihnen, entweder die Monstranz auszustellen oder auf den Vollzug ihres Priesteramtes in Böhmen und Mähren zu verzichten. Und sie gingen darauf ein, dass sie ihr Priestertum in Böhmen und Mähren aufgeben mögen.‘87 Der sachliche Ton dieses Zeugen, der in seinem Bericht weder zugestimmt noch getadelt hat, wird sogleich aussagekräftiger, wenn wir das konfessionspolitische 83 V. Chaloupecký, Pře kněžská z r. 1562. Příspěvky k náboženské politice Ferdinanda I. v Čechách [Der Rechtsstreit der Priester von 1562. Beiträge zur Religionspolitik Ferdinands I. in Böhmen], in: VKČSN TFHJ 4 (1925), S. 1–207, hier S. 52, Nr. 9; vgl. auch Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 374, Nr. 538. 84 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 323, Nr. 509: obvykl a již nic neříká. 85 Ebd.: Protož oni také toho zanechati chtějí a uvozovati zase v tu církev nemíní, žádajíce, aby při tom tak zůstaveni byli. 86 Ebd.: toho přijíti nechtěli a učiniti, aby tu expositionem sacramenti zase vyzdvihli a tam u Hory uvedli, jsou vzati do trestání úřadu a do vězení na rathouz starého města Pražského. 87 Mikuláš Dačický z Heslova. Paměti, edd. E. Petrů / E. Pražák (wie Anm. 82), S. 226: toho na ně podáno, aby monstrancí vystavovali, anebo aby kněžství v Čechách ani v Moravě neužívali. A oni přistoupili k tomu, že kněžství v Čechách a Moravě zanechají. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 434 Martin Wernisch Profil des Verfassers betrachten. Andreas/Ondřej Dačický-Křivoláček (1510– 1571) gehörte zu den mutigsten Sprechern aus den Reihen der Stadtbürger in der Konvokation des Jahres 1549, indem er höchstpersönlich dem König entgegenhielt, dass ‚nicht der Papst, sondern Herr Christus, der Gottessohn, selbst das Haupt der Weltkirche ist‘.88 Den Reformator Luther bezeichnete er in seinen Aufzeichnungen als ‚hervorragenden Prediger und Lehrer der Heiligen göttlichen Schrift‘,89 den Dekan Wenzel Řezník als ‚ausgezeichneten Prediger des Gotteswortes‘.90 Es lässt sich also voraussetzen, dass er durchaus Sympathie für den Mut und die Opferbereitschaft der beiden Pfarrer hegte, aber andererseits war er Mitglied einer Gemeinde, die gleichwohl nicht bereit war, mit den radikalen Geistlichen ins Exil zu gehen. Weitere Zusammenhänge und Tatsachen lassen sich ebenso den Protokollen eines Rechtsstreits entnehmen, wiewohl dieser die suspendierten Geistlichen aus Kuttenberg nur indirekt betraf und ganze acht Jahre später stattfand. 1562 war es Mystopol selbst, der sich aufgrund von Gelastus’ Klagen zusammen mit anderen Gefährten vor dem Kammergericht verantworten musste. Die Stellung des Administrators war übrigens bereits während der kritischen Zeit in der Mitte der 1550er Jahre so geschwächt worden, dass er schon 1555 wegen seiner Unzuverlässigkeit, die vor dem Hintergrund der Massensäuberungen deutlicher als früher zutage getreten war, des hohen Amtes enthoben wurde.91 1562 wurden die Angeklagten jedoch nicht mehr nur einer Nachlässigkeit und Deckung fremder Verstöße bezichtigt, sondern auch eigener Delikte teilweise doktrinärer Art. Anxiginus und Tajovinus wurden hier aber ebenso durch schärfere und deutlichere Formulierungen inkriminiert als zuvor in den Konsistorialakten. Bereits aus diesen lässt sich zwar herauslesen, dass die Beschwerden gegen sie nicht ausschließlich die unterlassene Sakramentsaustellung betraf, sondern allgemeiner ‚manche Zeremonien, die in den Kuttenberger Kirchen von alters her eingehalten wurden‘, aber die beiden Pfarrer ‚haben sie jetzt verändert und aufgehoben‘.92 Doch während es Dekan Hradecký hinderlich war, dass seine Untergebenen den Schild der Adiaphora zur Unzeit aufgaben, nahmen die Feinde der Evangelischen verständlicherweise am Kernpunkt Anstoß, der durch diesen Schild verdeckt Ebd., S. 177: ne papež, ale sám Kristus Pán, syn boží, jest hlava církve světské. Ebd., S. 220: vejborný kazatel a učitel Písma svatého božského. Ebd., S. 225: kazatel slova božího vejborný. Vgl. K. Krofta, Boj o konsistoř pod obojí v letech 1562–1575 a jeho historický základ [Der Kampf um das Konsistorium sub utraque in den Jahren 1562 bis 1575 und seine historische Grundlage], in: ČČH 17 (1911), S. 28–57, 178–199, 283–303, 383–420, hier S. 193–196. 92 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 323, Nr. 509: některé ceremo­ nie u Hory v kostelích zachovávané od starodávna, nyní oni změnili a složili. 88 89 90 91 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 435 werden sollte. Mystopol wurde deshalb aus gegenreformatorischer Perspektive eine ‚unterlassene Fahndung der Unbill‘ zur Last gelegt, ‚die in Kuttenberg der heiligen Messe, Christus und den Heiligen widerfuhr, von den Pfarrern, welche [die Seelen, Anm. M. W.] vom Heil abführen und morden‘.93 In diesem Kontext erscheint die (zeitweilige?) Sakramentsausstellung klar als hauptsächliches symbolisches Streitobjekt, wozu das Konsistorium als minimales Zugeständnis bereit gewesen war, das eine Untersuchung von wichtigeren Fragen hatte abwenden sollen, nämlich den inneren Zustand der Gemeinde und den im Wesentlichen evangelischen Charakter des Gottesdienstes in Kuttenberg. Die widerspenstigen Prediger, die sogar diese Konzession abgelehnt hatten, boten allerdings später ein willkommenes Argument für die Verteidigung Mystopols: Während er in den allermeisten Fällen die Gründe für seine Nachsicht erklären musste, hatte er, als es nun tatsächlich ernst wurde, seine Disziplinarpflicht erfüllt!94 Bemerkenswert sind ebenso die Unterschiede zwischen drei konkreten Fällen, die er in diesem Zusammenhang angab. Zwei davon machen deutlich, dass sogar dort, wo das Konsistorium die Gefängnisstrafe verhängte, dies als Mittel gedacht war, den Verstoß zu sühnen und dann möglichst wieder in den geistlichen Dienst zurückkehren zu können! Und einer dieser Fälle betraf immerhin selbst Tajovinus, der in Mystopols Darlegung ‚ein Priester guten Gewissens und Umgangs war, lediglich über die häufige Ausstellung des Leibes des Herrn sich beschwerend. Deswegen wurde er auch bestraft, doch bald darauf auf Initiative von Johann von Pernstein freigelassen.‘95 Dagegen blieb Anxiginus eine Ausnahme von der Ausnahme und fand keine so gütige Beurteilung. Im Unterschied zu Tajovinus war er nämlich auf eine Weise aus der Haft entkommen, die Mystopol als unehrenhaft geschildert hat: ‚Auf Ansuchen und Fürsprache einiger Freunde [wohl Verwandte, Anm. M. W.] gegen eine Bürgschaft aus dem Gefängnis entlassen, lief er davon und betrog seine 93 V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 78, Nr. 29: nestižení křivdy svaté mše a Pána Krista i svatých, kteráž se u Hory děla od farářův, jenž od spasení odvozují a mordují (mit einer irrtümlichen Identifizierung des betreffenden Falls in der Fußnote 17). 94 Ebd., S. 82 f., Nr. 29; vgl. zu dieser Abwehrtaktik Mystopols: Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 380 f., Nr. 540. 95 V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 82, Nr. 29: kněz dobrého svědomí a obcování byl, toliko častá vystavování těla Páně sobě stěžujíc. Pročež také trestán a odtud někdy P. Janem z Pernšte­ jna vymožen jest. Johann (IV.) von Pernstein starb jedoch bereits 1548. Im Fall von Tajovinus ging es also wahrscheinlich um Adalbert/Vojtěch (d. J.) von Pernstein (1532–1561), einen der bedeutendsten utraquistischen mährischen Adligen, der im Unterschied zu seinen beiden älteren zur römischen Kirche konvertierten Brüdern Jaroslav (1528–1569) und Vratislav II. (1530–1582) im utraquistischen Glauben seines Vaters ( Johann IV.) verharrte. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 436 Martin Wernisch Bürgen.‘96 Und dabei hatte er zuvor offenbar eine zweite Chance bekommen, ohne aber von seinen Provokationen abzulassen. 2.2.5 Die Magdeburger Mission im Herbst 1554 Die erwähnte Gewähr bezog sich nämlich allem Anschein nach nicht auf seine erste, sondern auf seine zweite Haftzeit: ‚Als der Priester Viktorin wegen eines irrigen Traktats, der nach Kuttenberg und hierauf zum Priester Jan [Mystopol, Anm. M. W.] gelangt war, vorgeladen wurde.‘97 Dieses Detail ist bisher der Aufmerksamkeit entgangen. Der oben zitierte Bericht von Gelastus kann den Anschein erwecken, sediciosum scriptum habe den Ostereklat begleitet und sämtliche Aussagen über das Verfahren gegen den Kuttenberger Prediger würden sich demnach auf diesen beziehen. Deshalb gilt die betreffende Schrift von Anxiginus in der Fachliteratur als verschollen.98 Beim Prozess im Jahr 1562 wurde jedoch ausdrücklich ‚ein Vorwort des Priesters Viktorin Anxiginus zu zwei Predigten des Meisters Jan Hus‘ als Beweisstück vorgelegt99 – und dies ist erhalten und bekannt.100 Zugleich ist es allerdings ‚am Montag vor St. Gallus des Jahres M.D.LIIII.‘ (d. h. am 15. Oktober) datiert101 und mit vollem Namen des ‚Priester[s] Viktorin Anxigin Skutečský, Diener[s] Jesu Christi‘ versehen,102 der auf dem Titelblat desselben Druckes als ‚ehemals der Prediger des Evangeliums Christi in Kuttenberg‘ bezeichnet worden ist.103 Das Vorwort bezieht sich somit nicht nur auf ein zeitlich weiter fortgeschrittenes Stadium des Streites, sondern auch auf eine inhaltlich höhere Stufe. 96 Ebd.: jsúc na prosbu a přímluvu některých přátel na rukojmě z toho vězení dán, pryč ušel a ruko­ jmě své zavedl. 97 Ebd.: když ten kněz Viktorin pro bludný traktát, kterýž do Hory Guthny a potom k němu Janovi se dostal, obeslán byl. 98 Vgl. A. Truhlář / K. Hrdina / J. Hejnic / J. Martínek, Rukověť humanistického básnictví v Čechách a na Moravě/Enchiridion renatae poesis Latinae in Bohemia et Moravia cultae, 6 Bde., Praha 1966–2011, Bd. 1: A–C, Praha 1966, S. 91. Es ist übrigens keineswegs die einzige Stelle in diesem Biogramm, die mit unseren Feststellungen nicht ganz übereinstimmt, trotz der insgesamt hohen Qualität des Handbuches. 99 V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 81, Nr. 29: prefací kněze Viktorina Anxigina na dvoje kázání mistra Jana Husi učiněná. 100 Vgl. V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje o Antikristu a Šelmě, která bojuje proti svatým […] [Zwei Predigten M. Johannes Hus’ über den Antichrist und das Tier, das gegen die Heiligen kämpft …], Magdeburg: (unbekannter Drucker) 1554 (K03255, VD16 ZV 31833); Näheres zum Druckjahr und -ort noch unten. 101 Ebd., fol. A6v: w pondielij przed S. Hawlem Leta. M. D. LIIII. 102 Ebd., fol. A2r: Kniez Wiktorin Anxigin Skuteczky sluziebnik Gezisse Krysta. 103 Ebd., fol. A1r: Niekdy kazatele Ewangelium Krystowa na Horach Kutnach. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 437 Der Aussagewert des Werkes ist enorm. Es beweist mehr als bloß den Widerwillen, mit welchem Anxiginus die Duckmäuserei seiner Vorgesetzten wahrnahm – einschließlich aller Argumente, die ihn überzeugen sollten, was er indes nicht akzeptierte. Im Text, an ‚alle Gläubige Jesu Christi und Liebhaber seines Evangeliums‘ gerichtet, ‚die im böhmischen Land sind‘, ließ er freilich seiner Abneigung freien Lauf.104 Mit scharfen Worten wandte er sich gegen ‚weibische Weichlinge‘, die fragen: ‚Was schadet es, wenn man denn etwas auch aus den päpstlichen Zeremonien um des Friedens willen annimmt, und um größere Sachen geringerer halber nicht zu verderben, warum sollte es nicht möglich sein, dabei doch das Wort Gottes zu predigen?‘ So spreche zwar ‚sicher ein gesunder Verstand‘ dafür,105 doch der Verfasser konnte dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Nichtsdestoweniger vermied Anxiginus persönliche Auseinandersetzungen und Angriffe. Er war bestrebt, die Streitfrage, die ihn beschäftigte, prinzipiell zu lösen. Vor allem wollte er den Blick nach vorn richten, wenngleich unter einem apokalyptischen Horizont. Unter das Eingangsmotto des Buches (wohlgemerkt: „über den Antichrist und das Tier, das gegen die Heiligen kämpft“) hat er die Worte gesetzt: Haec est Ecclesiae senescenti facies istis temporibus postremis.106 Bei Anxiginus heißt es weiter: Ein verwahrlostes Gesicht, das für Sterbende wohl natürlich ist, aber sich für die Kirche Christi nicht geziemt; den neugeborenen Christen gebietet die verkürzte zeitliche Perspektive angesichts des nahenden Jüngsten Gerichts hingegen dringend, sich aufzulehnen, mit dem Taktieren aufzuhören und den elementaren Verpflichtungen nachzukommen, an welche die vorangestellten biblischen Zitate ermahnen: Keine falschen Lehrer zu sein, die eine Verdammnis herbeiführen, und nicht das Tier anbeten. Mit solcher Anschaulichkeit hat Anxiginus seine Botschaft gleich am Anfang eingeleitet und im Vorwort breiter ausgeführt. Solange es noch Zeit war, mochte er weiterhin eine möglichst große Begeisterung in seiner Heimat entfachen – im Volk, in welchem ‚viele die rechte und reine Predigt des Wortes Gottes kaltherzig empfangen‘107 und 104 Ebd., fol. A2r: Wssem wierziczym w Gezisse Krysta a geho Ewangelium milugiczym / kterzi w Czieske zemi sau. 105 Ebd., fol. A4r: zienkeylowe […] Czo / prawij / to sskodij / kdyby se pak nieczo y z Ceremony Pa­ pezskeych przigalo pro pokog / a aby wieczij wieczy nebyly pro menssi zkazieny / zdaliz przitom nemuz se przedse slowo Božij kazati? Zdraweg gistie rozum. 106 Ebd., fol. A1v; zum Begriff ecclesia senescens; WA TR, Bd. 2: Tischreden aus den dreißiger Jahren, Weimar 1913, S. 64,26, Nr. 1351; doch derselbe Ausdruck wiederholt sich ebenso in Melanchthons Briefwechsel. 107 V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje (wie Anm. 100), fol. A2v: mnozy stude­ nie prawe a cziste kazanij slowa Boziho przigimgij. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 438 Martin Wernisch ‚viele, angesichts von Drohungen der Heuchler unter seltsamen Gedanken schwankend, um das elende Leben und andere zeitliche Dinge zu erhalten, sehr erlahmen. Wegen einer geringen Gefahr lassen sie sofort vom Glauben ab und suchen dabei sonderbare Auswege, die sie finden könnten, um bei dem Volk nicht in den Verdacht zu geraten, sie würden in etwas nachgeben. Sie machen es, um sich einfach vor dem Kreuz wie der Hase vor der Trommel zu verbergen, aber da sie nicht wollen, dass die Menschen es bei ihnen sofort erkennen, legen sie merkwürdige Gründe vor, warum sie sich mitunter mit den Götzendienern vergleichen.‘108 In diesem schrillen Licht erschien Anxiginus der Adiaphorismus völlig anders als seinen Fürsprechern: Die reinen Heuchler, die nicht einmal an einen Abgott glauben, aber die ihm trotzdem dienen, sind kein Randproblem, sondern sie dirigieren die Menge der schwankenden, nicht fest gläubigen Christen erfolgreich zum Vorteil der schlechten Sache – und der Teufel, der ‚viele dem Willen Gottes widrigen Dinge, welche ihren offensichtlichen Ursprung in der Lehre des Antichrists haben, hinzufügt‘109 (unter anderem auch die ‚Ausstellung des Brots im silber[nen Gefäß]‘),110 verdirbt ‚umso sicherer den eigentlichen Sinn der Heiligen Schrift‘.111 Für Anxiginus war nun gerade die Erduldung ‚allerlei Feindseligkeiten um des Glaubensbekenntnisses willen‘ das einzige bleibende Heilsmittel gegen die Gefahr des falschen Christentums112 – was alle erkennen sollten, die ‚ein Wachstum des rechten Glaubens in ihren Herzen spürten‘.113 Darum führte er weiter aus: Hüte man sich vor jeder anderen als der apostolischen Lehre und vor einer Übereinstimmung zwischen Christus und Belial! Denn die beständigen Kämpfer gegen das apokalyptische Tier sollen doch nicht einmal das Geringste für die Heuchler tun; seht nur die Märtyrer, heißt es, die makkabäischen und die hussitischen. Das wortgewaltige Finale lässt deutlich erkennen, dass Anxiginus sich in der Tat danach sehnte, in seiner geprüften Heimat einen Widerstand zu entfesseln, der vergleichbar wäre mit dem der Magdeburger Pfarrer und Bürger. 108 Ebd., fol. A3r f.: mnozy pro zachowanij tohoto bidneho ziwota / a gineych wieczy cziasneych / proti pohruzkam pokrytczuw se klaticze sebau diwneym mysslenim / welmi mdlegij / a od wiry pro sspatne nebezpeczienstwij hned odstupugij / a przitom diwneych pruchodu / kudyby mohli proniknauti / hledagij / aby lidu w podezrzenij (zie nieczemu powolugij) neupadli / a zhola to czinij / aby se przed krziziem / yako zagicz przed bubnem / skryli / a te newiery aby lide przi nich tak pogednau neseznali / diwne przicziny / procz niekdy s modlarzi se srownaw agi [sic!]. 109 Ebd., fol. A3v: mnohe wieczy wuli Bozske odporne / ktere patrney puwod z vczienij Antikrystowa magij / przidawa. 110 Ebd.: wystawowanij chleba w strzibrze. 111 Ebd.: tim bezpeczniegij wlastnij smysl pisma Swateho porussuge. 112 Ebd., fol. A3r: wsselika protiwenstwij pro wyznani wiry. 113 Ebd., fol. A3v: wzrostu prawe wiry w swych srdczych poczytili. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 439 Dabei ist der Verweis auf den Hauptort der gnesiolutherischen Rebellion hier keineswegs bloß als entfernter, allgemeiner Vergleich gemeint. Der Text von Anxiginus ist nicht nur in seinem Inhalt und Ton programmatischer Art, sondern genauso in Details wie seinem Datum. Der Verfasser hat nämlich ausdrücklich angegeben, dass er seinen Aufruf gerade in jenem Epizentrum, also ‚in Magdeburg‘, geschrieben hat.114 Einen Hinweis auf diesen Ort konnte man zwar bekanntlich sogar in solchen Fällen anwenden, wo es sich um keine reale Herkunftsangabe, sondern lediglich um eine Deklaration symbolischer Zusammenhänge handelte – namentlich in der berühmten ‚Magdeburger‘ Schrift des Genfer Theologen Theodor Beza (1519–1605). Im Fall von Anxiginus gibt es jedoch keinen triftigen Grund, warum man seine Anwesenheit in der Stadt bezweifeln sollte. Auch die Buchwissenschaft geht von der Authentitizät des Impressums aus: ‚Gedruckt in Magdeburg. 1554.‘115 Aus buchkundlicher Sicht ist auf jeden Fall auffällig, dass man sich behelfsmäßig solcher Drucktypen bedient hat, die ursprünglich nicht für tschechische Texte bestimmt waren: Das Buch ist mit ‚schwäbischen Lettern ohne Akzente‘ gedruckt worden116 oder genauer ‚mit fünf verschiedenen Stufen von Rotunda, Schwabacher und Fraktur‘ ohne diakritische Zeichen.117 Somit ist das Werk weder in böhmischen Landen (was nur äußerst schwierig durchführbar gewesen wäre) noch in Nürnberg hergestellt worden, wo man Aufträge aus Böhmen gewöhnlich erledigte. Der Verleger ist im Buch zwar nicht genannt, es fehlt auch sein Signet, doch es bietet sich an, logischerweise an Michael Lotter d. J. († 1554/55) zu denken, der unter anderem auch die bekannte „Confessio et Apologia pastorum & reliquorum ministrorum Ecclesiae Magdeburgensis“ gedruckt hat.118 Sogar bei den Kerntexten des Buches ist es zweifelsfrei, dass Anxiginus diese aus deutschen Quellen schöpfte, wobei die reichen Bestände der Magdeburger Zenturiatoren wieder mit hoher Wahrscheinlichkeit in Erwägung zu ziehen sind. 114 Ebd., fol. A6v: W Magdeburcze. 115 Ebd., fol. C8r: Tlaczieno w Magdeburcze. 116 J. Jireček, Dějiny literatury české [Geschichte der tschechischen Literatur], 1. Teil, Praha 1875/76, Rukověť k dějinám literatury české do konce XVIII. věku, ve spůsobě slovníka životopisného a knihoslovného [Handbuch zur Geschichte der tschechischen Literatur bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, als biografisches Wörterbuch und Lexikon der Bücherlehre], Bd. 1: A–L, Praha 1875, S. 18: „literami švábskými bez akcentův“. 117 P. Voit, Český knihtisk mezi pozdní gotikou a renesancí II. Tiskaři pro víru i tiskaři pro obrození národa 1498–1547 [Der böhmische Buchdruck zwischen der Spätgotik und der Renaissance II. Die Drucker für den Glauben sowie die Drucker für die Wiedergeburt des Volkes 1498–1547], Praha 2017, S. 516: „pěti různými stupni rotundy, švabachu a fraktury“. 118 Vgl. ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 440 Martin Wernisch Sie sind nämlich nicht aufgrund von unbekannten tschechischen Handschriften oder Drucken übersetzt worden, sondern nachweislich aufgrund der Sammlung, die Otto Brunfels (1488–1534) 1524 unter dem Titel „Anatomia Antichristi“ in Straßburg herausgab. Am deutlichsten lässt sich diese Tatsache durch eine Stelle belegen, die man durch Vergleich mit einer vollständig erhaltenen Vorlage eruieren kann, wo Brunfels nur Fragmente des authentischen Wortlauts bekannt waren.119 Zu den sekundären Indizien gehört eine gemeinsame irrtümliche Zuschreibung der Autorschaft: Die beiden vermeintlichen Predigten (wie auch die beigefügte ‚Ermahnung an die Priesterschaft, die menschliche Lehre und Erfindungen fallen zu lassen und sich selbst wie auch das Volk nach dem Wort Gottes zu richten‘)120 von Jan Hus stammen in Wirklichkeit alle aus „Regulae Veteris et Novi Testamenti“, dem umfangreichen Hauptwerk des Matthias von Janov/Matěj z Janova (ca. 1350–1393).121 Als Editor vollbrachte Anxiginus also keine eigenständige Leistung, sondern er übersetzte die Texte lediglich (inhaltlich treu und sprachlich gediegen) für seine höchst aktuellen praktischen Zwecke. Die Tatsache, dass das Buch mit böhmischen Beispielen operierte, sowohl in der Textauswahl wie auch im Vorwort, ist einsichtig, da es eben für Böhmen bestimmt war. Das Landeskolorit korrespondierte mit der hier genutzten Sprache. Wenn man so will, lässt sich darin auch das einzige taktische Element des gewählten Vorgehens sehen: Anxiginus betonte nicht so sehr fremde und für viele von vornherein verrufene Vorbilder, sondern begründete eher ein altes Heimatrecht der Lehre, die er vertrat. Aber es wäre mitzubedenken, dass selbst die deutschen Reformatoren (mit Luther beginnend) ähnlich verfuhren, als sie böhmische Adressaten ansprachen. Dieses Verhalten steht in keinem Widerspruch etwa zur Gesinnung von Flacius, der ein intensives Interesse für die böhmischen vorreformatorischen Zeugen der Wahrheit zeigte und unbefangen von nos Lutheranos et Hussitas sprach.122 Aus dieser Perspektive werden die beiden verbündeten Seiten 119 Vgl. V. Kybal, M. Matěj z Janova. Jeho život, spisy a učení [M. Matthias von Janov. Sein Leben, seine Schriften und Lehre] (Spisy poctěné jubilejní cenou Královské české společnosti nauk v Praze [Die durch den Jubiläumspreis der Königlich-böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften geehrten Schriften] 17), Praha 1905, S. 67. 120 V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje (wie Anm. 100), fol. C3v: napomenu­ tij / ktere czinij k kniezstwu / aby zanechagicze vczienij a nalezkuw lidskych / sebe a lid slowem Bozim zprawowali. 121 Aus den Traktaten „De unitate et universitate ecclesie“, „De testibus veritatis“, „De Antichristo“ und „De abhominacione in loco sancto“; genaue Identifizierung bei V. Kybal, Matěj z Janova (wie Anm. 119), S. 59–70. 122 Vgl. sein Werk „Consultatio de conscribenda accurata historia ecclesiae“ (aus demselben Jahr Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 441 nur noch durch äußerliche Zeichen (samt den Titeln) getrennt und ihre Verwendung ändert nichts am Wesen der Sache. Hinzu kommt: Anxiginus schwächte Verweise auf gnesiolutherische Mustern zwar einigermaßen ab, wenn er diese eigentlich nur indirekt erwähnte, aber er ließ sie keineswegs völlig weg. Im Gegenteil animierte er seine Landsleute durch einen vorwurfsvollen Vergleich (der allerdings in den innerutraquistischen Auseinandersetzungen recht bald nach dem reformatorischen Auftreten Luthers auftauchte, sodass sogar dieser inzwischen bereits als traditionelles Argument gelten durfte): ‚Seid eingedenk, dass eure Vorfahren anderen Völkern mit der heilsamen Lehre und dem rechten Gottesdienst dienlich waren. Und wo ist es unterdessen hingekommen? Jetzt habt ihr vonnöten, dass sie es wiederum mit euch teilen. Oder wo ist die Lehre des Meisters Jan Hus heiligen Gedächtnisses? Diese wird nicht mehr von euch genossen, sondern von den neubekehrten Heiden.‘123 Aus der Sicht des Verfassers war das hussitische Erbe in Böhmen durch langes Verbergen und verzagtes Taktieren – wie es hieß – verwest und schlammig geworden und die utraquistische Kirche ließ seine treuen Anhänger im Stich, sodass diese einen Anschub von außen brauchten. Einen solchen versuchte er aus Magdeburg zu übermitteln. Zieht man folglich den Inhalt des Vorworts in Betracht, muss man feststellen, dass es kaum nötig war, das Programm zur Verbreitung der gnesiolutherischen Unnachgiebigkeit in Böhmen noch viel deutlicher kundzutun. An der Übereinstimmung der Anliegen des Anxiginus und seiner Magdeburger Gastgeber muss niemand zweifeln, wer seine Ausführungen liest und zugleich die Urkunden des Adiaphoristischen Streites unter den lutherischen Theologen kennt.124 2.2.6 Gegenwärtige Fehlinterpretation und ihre Ursachen Dennoch war es noch in jüngster Zeit möglich, dass der starke gedankliche Zusammenhang des Werks mit dem des Kreises um Flacius sogar einem evangelischen Kirchenhistoriker entgangen ist. Getäuscht durch das ‚altböhmische‘ Gewand 1554!) bei K. Schottenloher, Pfalzgraf Ottheinrich und das Buch. Ein Beitrag zur Geschichte der evangelischen Publizistik (RGST 50/51), Münster 1927, S. 156. 123 V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje (wie Anm. 100), fol. A5v f.: Pamatugte nato / zie przedkowe wassi gineym narodum vczienim spasytedlneym a prawau pocztau Bozij posluhowali. A kam se giz to dielo / zie wy zase od nich toho / aby se s wami zdielowali potrze­ bugete? Neb kde gest Swate pamieti Mistra Jana Husy vczienij? ktereho giz ne wy / ale pohane wnowie na wiru obraczeni vziwagij. 124 Nunmehr leicht greifbar in der kritischen Auswahledition in: Der Adiaphoristische Streit (1548–1560), ed. I. Dingel (C&C 2), Göttingen 2012. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 442 Martin Wernisch des Textes, kam es hier zur Schlussfolgerung, das Vorwort sei ‚zwar gewissermaßen ein indirektes Bekenntnis zur Reformation, mehr noch äußert es jedoch die Stellungnahmen der radikalen vorreformatorischen Utraquisten‘, d. h. aus einer Zeit vor dem Auftreten Luthers (1517).125 Es stimmt freilich, dass die Utraquisten ebenso gegen menschliche Erfindungen eiferten und insofern in einen größeren gemeinsamen Zusammenhang gehören, was auch die historische Beweisführung der ‚lutherischen Hussiten‘ legitimiert hat. Aber die Kritik an ‚der Messe mit merkwürdigen Gaukelsäcken‘ usw. stellt eben nicht die spezifische Bedeutungsebene der Abhandlung von Anxiginus dar126 – im Unterschied zur Problematik des Adiaphorismus. Da dies unbemerkt blieb, hat man das Werk von Anxiginus zu stark in Bezug auf die Tradition aus der Zeit vor der deutschen Reformation interpretiert, sodass die zeitgenössische Verankerung seines Traktats missverstanden wurde, was bedauernswerte Fehlinterpretationen zu Folge haben kann. Es gibt jedoch Umstände, die das Versehen verständlich machen. Die Auffälligkeit des Konsenses zwischen Anxiginus und den Magdeburger Theologen in Fragen der Adiaphora und des status confessionis wäre zweifellos größer, wenn Anxiginus in seinem Text auch andere loci der Glaubenslehre thematisiert hätte, und da er dies nicht tat, ließ er Fragen unbeantwortet, die es hätten einfacher machen können, Unterschiede zum älteren ‚Linksutraquismus‘ wahrzunehmen. Doch die Hauptursache, warum eine engere Konvergenz zwischen dem utraquistischen Verfasser und den Predigern aus Magdeburg nicht erkannt worden ist, mag die schlichte Tatsache sein, dass eine solche keineswegs geläufig war. Das Interessanteste am Fall von Anxiginus ist im Gegenteil seine Einmaligkeit. Flacianer traten nämlich in Böhmen (im Unterschied zum benachbarten Österreich) recht selten in Erscheinung. Wenn die böhmischen Evangelischen eines der verfeindeten Lager des deutschen Luthertums bevorzugten, dann war dies der philippistische Flügel. Diese Wahl hatte eine Reihe von Gründen und es ist hervorzuheben, dass die Auseinandersetzung um das Augsburger und Leipziger Interim dabei nur eine untergeordnete Rolle spielte, denn für die Böhmen war dies ja kein unmittelbares und als ein eigenes empfundenes Problem. Damit hängt allerdings die wichtige Tatsache zusammen, dass diese Hinwendung zum Philippismus, die von der böhmischen 125 O. Halama, Svatý Jan Hus. Stručný přehled projevů domácí úcty k českému mučedníku v letech 1415–1620 [Der heilige Jan Hus. Eine kurze Übersicht der Äußerungen der heimischen Ehre dem böhmischen Märtyrer gegenüber von 1415 bis 1620], Praha 2015, S. 70: „[…] je sice do jisté míry nepřímou přihláškou k reformaci, mnohem více však vyjadřuje postoje radikálních utrakvistů předreformačních“. 126 V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje (wie Anm. 100), fol. A3v: Msse s diw­ neymi keyklzoky; vgl. auch O. Halama, Svatý Jan Hus (wie Anm. 125). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 443 und nicht von der deutschen Situation ausging, meistens von keiner bewussten Entscheidung gegen das Gnesioluthertum begleitet war. Die Zerrissenheit des Protestantismus im Allgemeinen und in der unmittelbaren Nachbarschaft im Besonderen verfolgten die böhmischen Evangelischen tatsächlich tief beunruhigt, weil sie die Abwehrkraft des Protestantismus gegenüber dem gegenreformatorischen Druck wesentlich schwächte. Den Philippismus bevorzugte man somit nicht so sehr aufgrund seiner parteilichen konfessionellen Streitlust, sondern wegen seiner relativen Mäßigkeit, die einer Inklusion sowie einem Irenismus und Konkordismus förderlich war – selbst den Flacianern gegenüber.127 Mit der eigenwilligen Persönlichkeit von Flacius machten zwar auch einige Böhmen zwiespältige Erfahrungen, nichtsdestoweniger traten sie ihm ohne Voreingenommenheit entgegen. Man mochte ihn entgegenkommender oder reservierter wahrnehmen, auch hütete man sich in der Regel vor seinen (aber bei weitem nicht nur seinen) Sonderlehren, doch insgesamt betrachtete man ihn als eine bedeutende Gestalt der europäischen Reformation, die es trotz ihres schwierigen menschlichen Umgangs verdiente, gehört zu werden. Dies umso mehr, als gerade er (und eben in den 1550er Jahren) sich Böhmen (und zwar sowohl den Utraquisten als auch den Brüdern) mit einem außergewöhnlichen Interesse an der inländischen Überlieferung zuwandte, ja geradezu mit dem Plan, ut omnino Hussitarum scripta in ordine redigantur.128 Eine beiderseitige Zusammenarbeit war also möglich und sie kam auch relativ erfolgreich zustande. Sie beschränkte sich allerdings weitgehend auf die Sammlung von historischen Quellen. Wenn sich Flacius in den böhmischen Ländern in ein breiteres Bewusstsein einschrieb, dann war es in dieser Rolle – auch das hilft das fast reflexhafte Vorgehen zu erklären, das Augenmerk im Zusammenhang mit Anxiginus fast ausschließlich auf die ältere Geschichte des Hussitentums zu richten. In seinem Fall ist dies jedoch keineswegs angebracht. Gut möglich ist es zwar, dass Anxiginus in der Tat gerade das Netz von Kontakten, das im Vorfeld der historischen Arbeiten entstanden war, nutzen konnte, 127 Einen eindeutigen Beleg bietet der Prager Professor Matthäus Collinus von Chotěřina/ Matouš Collinus z Chotěřiny (1516–1566), Schüler und Freund Melanchthons und eine der bedeutendsten Gestalten des böhmischen Protestantismus seiner Zeit. Eigene vermittelnde Einstellungen und Ziele schilderte er, eine Zusammenarbeit in dieser Richtung erbittend, am 20.10.1556 in seinem Brief an den Wiener Hofrat Kaspar von Niedbruck (ca. 1525–1557), den wichtigsten Verbindungsmann zwischen den Utraquisten und Flacius. Im lateinischen Original ediert in: Dopisy M. Matouše Kollína, ed. F. Menčík (wie Anm. 74), S. 92, Nr. 44; eine unmittelbare Reaktion erfolgt ebd., S. 96 f., Nr. 45. 128 V. Bibl, Der Briefwechsel zwischen Flacius und Nidbruck, in: JGPÖ 17 (1896), S. 1–24; 18 (1897), S. 201–238; 19 (1898), S. 96–110; 20 (1899), S. 83–116; hier 17 (1896), S. 11, Nr. 3. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 444 Martin Wernisch um in Magdeburg aufgenommen zu werden, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass gerade in seinem Fall das historiografische Interesse trotz seiner humanistischen Qualifikation primär war. Im Gegenteil fällt auf, dass sein Name in der erhaltenen Korrespondenz im Hinblick auf das Sammeln von Quellenmaterial überhaupt nicht vorkommt, im Unterschied zu etlichen anderen Personen aus dem Saazer Kreis um Camenicenus oder zu dem Nimburger Dekan Matthias Lounský und anderen. Hätte er sich also während seiner Tätigkeit in Böhmen doch am genannten Werk beteiligt, dann wohl eher am Rande. Der betreffende Briefwechsel deutet übrigens an, dass die zeitgenössischen Experten auf dem Gebiet der böhmischen Geschichte einen ausreichenden Kenntnisstand besessen haben mögen, um die Antichrist-Texte des Matthias von Janov von jenen des Jan Hus unterscheiden zu können, was jedoch Anxiginus nicht vermochte.129 Daraus wird offensichtlich, dass er die Schriften der hussitischen Klassiker als Mittel dafür nutzte, um seine böhmischen Zeitgenossen – aus aktuellem Anlass – zur Folge der Magdeburger Theologie und Kirchenpolitik anzuspornen. 2.2.7 Das Ende der Geschichte In diesem Streben war Anxiginus jedoch nicht erfolgreich. Der flacianische Triumph war ihm nicht einmal im Geringsten vergönnt und das Ende seiner Geschichte wirkt ausgesprochen tragisch. Der oben zitierten Aussage Mystopols kann man entnehmen, dass Anxiginus seine gedruckte Übersetzung der Werke von Jan Hus persönlich mit in die Heimat brachte und bereit war, darüber auch vor den Behörden Rechenschaft abzulegen. Aber es ist niemand bekannt, den er nachweislich auf seine Seite gezogen hätte. Gelastus klagte zwar vor dem Gericht, dass ‚sich ebenso Priester Briccius [Tajovinus, Anm. M. W.] und Priester Daniel [aus Mies/Stříbro, Anm. M. W.], seine Gesellen, im Konsistorium zu dem Vorwort [in der Magdeburger Edition der angeblichen Werke von Jan Hus aus der Feder von Anxiginus, Anm. M. W.] bekannten‘.130 Mystopol, der Gelastus ein erneutes Aufgreifen bereits erledigter Sachen vorwarf, behauptete jedoch, ein diesbezüglicher Verdacht wäre entkräftet. 129 Vgl. Dopisy M. Matouše Kollína, ed. F. Menčík (wie Anm. 74), S. 32 (im Haupttext wie auch in einer editorischen Fußnote); man kann Flacius’ Abhängigkeit von den ihm durch den Kreis um Collinus zugesandten Unterlagen im Zusammenhang mit den erwähnten Antichrist-Texten nachweisen, eindeutig in seinem „Catalogus“ am Ende des Kapitels über M. Matthias Parisi­ ensis; M. Flacius, Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamarunt Papae […], Basel: Michael Martin Stella / Johann Oporinus 1556 (VD16 F 1293), S. 910. 130 V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 81, Nr. 29: kteréžto prefací také kněz Brikcí a kněz Daniel [z Stříbra], tovaryši jeho, v konsistoři se přiznali. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 445 Vielleicht hatten sich die beiden Genannten für den offen Bekennenden eingesetzt, aber eher halbherzig; und angesichts des klaren Misserfolgs seines Unternehmens wichen sie letztlich zurück. Sonst hätte Mystopol wohl nicht öffentlich bezeugen können: ‚Im Fall des Priesters Briccius stellte sich nicht heraus, dass er im Einklang mit dem Traktat gewesen wäre.‘131 Demnach sieht es so aus, dass Anxiginus zum zweiten Mal sogar jenen einzigen Verbündeten verlor, den er zuvor gewonnen hatte. Entmutigt durch seine Vereinzelung verlor Anxiginus anscheinend seine Entschlusskraft. Statt bis zum Ende durchzuhalten, womit er eine Märtyrerkrone hätte erlangen können, auf welche er in seiner Proklamation angespielt hatte, floh er doch noch von dem Posten, der plötzlich mehr selbstgewählt als durch Gottes Ruf bestimmt erschien. Dann musste er jedoch einsehen, dass er seinen Kampf auch moralisch verloren hatte. Das Vorwort zu den Texten über den Antichrist ist seine letzte Wortmeldung geblieben, die Erzählung Mystopols über seine Flucht stellt das letzte Zeugnis über ihn dar. Im Rahmen der böhmischen Kirchengeschichte war Anxiginus folglich nur eine kurze Schaffenszeit vergönnt. 2.3 Schlussbemerkung Den Zeitgenossen hatte Anxiginus kaum einen gangbaren, vorbildhaften Weg aufgezeigt. Sogar in Bezug auf den Vorfall, der den Zündstoff für die Kuttenberger Affäre geliefert hatte, mutete seine Aufopferung vergeblich an. Der oben erwähnte Streit um die Aussetzung der Eucharistie stellte allein einen „Auslöser“ der Affäre dar, doch berührte er nicht deren Kern. Während sich Anxiginus selbst durch seine offene Streitlust ruinierte, setzten die ‚Adiaphoristen‘ auf einen „stillen“ Erfolg, was ihnen auch gelungen ist. Anxiginus polemisierte öffentlich gegen die Aussetzung der Eucharistie, wofür er bestraft wurde, hingegen gelang dies den ‚Adiaphoristen‘ geräuschloser, indem sie einfach eine günstige Gelegenheit abwarteten. Nur einige Jahre später konnte man 1561 wie selbstverständlich versichern: ‚In Kuttenberg fand bereits früher keine Ausstellung des Sakramentes in der Monstranz statt und sie wird auch jetzt nicht praktiziert‘.132 131 Ebd., S. 82, Nr. 29: Kněz Brikcí pak aby sjednotilý podle toho traktátu býti měl, toho jest se nenašlo. 132 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 349, Nr. 532: na Horách Kuttnách vystavování svátosti v monstrancí nebylo tehdáž žádného i nyní není. Wieder einmal handelt es sich hierbei um eine Aussage im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung zwischen örtlichen Pfarrern. Diese ist aber besonders interessant durch eine größere Überlieferung an schriftlich aufgezeichneter (und erhaltener) theologischer Beweisführung, die sich Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 446 Martin Wernisch Zugleich ist festzuhalten, dass es auch in dieser Stadt der Philippismus war, der sich dort gegen ein (vorhandenes!) kompromissloseres Luthertum durchsetzte. Und von der flacianischen Überspitzung hielt man sich ebenso in den Kreisen fern, denen Anxiginus am nächsten gestanden hatte. Wie wir im Fall von Camenicenus gesehen haben, konsultierten die böhmischen Evangelischen sogar in Fragen des Exils weiterhin vorzugsweise die Wittenberger, bei denen sie Zuflucht und Unterstützung suchten. Diesen Weg ging auch Simon Fischer-Haliaeus, in dessen mutigem und offenem Handeln wir eine gewisse Parallele zu Anxiginus finden können. Als die Verfolgungswelle abebbte, kehrten einige unauffällig zurück, auch nach Böhmen: Fischer-Haliaeus etwa übernahm 1560 das Pfarramt in Dallwitz/Dalovice bei Karlsbad/Karlovy Vary. Die Protestantisierung der Kirchengemeinden ging also voran – doch eben vielmehr auf lokaler Ebene. Im utraquistischen Konsistorium wurde dieser Prozess auch weiterhin gebremst. In diesen Kontext gehört auch das wiederholt erwähnte Gerichtsverfahren gegen Mystopol und andere – wie z. B. Martin Mělnický, der den suspendierten Priester Camenicenus in Prag traute oder Matthias Lounský. Den Letztgenannten kennzeichnete Gelastus geradezu als einen Erzketzer, allerdings erwies sich der erfahrene, nunmehr alte Geistliche vor Gericht als Meister des Lavierens.133 Die Anklage scheiterte schließlich in nahezu allen Fällen und aus der Verteidigung erwuchs die Antiqua et Constans Confessio Fidei, sozusagen eine Grundlage und Vorstufe der späteren Böhmischen Konfession. Nachdem Ferdinand I. den Prozess ad acta legte, schlugen die utraquistischen Stände Lounský für das Amt des Administrators vor. Der König wollte dies auf alle Fälle verhindern und besetzte die Stelle eigenmächtig, doch immerhin mit einem Kompromisskandidaten, der ebenso zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses gehörte: Dies war einmal mehr der erfahrene Jan Mystopol. überdies verhältnismäßig klar in den Kontext der inneren Debatten des europäischen Protestantismus einordnen lässt. Nicht uninteressant ist ebenso der Umstand, dass diese Dimension den bisherigen Interpreten der Kontroverse weitgehend entgangen ist. Sie verdient ebenso eine eingehendere Erörterung, was jedoch an einer anderen Stelle erfolgen soll. 133 Vgl. V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 116–121, Nr. 29. Für eine Einordnung Lounskýs in den internationalen Kontext ist ein Zeugnis von Belang, das etwas später erschien bei P. Lupacius, Rerum Boemicarum Ephemeris, sive Kalendarium Historicum […], Prag: Jiří Černý z Černého Mostu [Georgius Nigrinus de Nigro Ponte] 1584 (BCBT31159), fol. F6v f.: Illustri Georgio Duci Ascaniae non ignotus: quod ex ipsius Principis libris expressis cognoscere est. Georg III. von Anhalt-Plötzkau (1507–1553), genannt ‚der Gottselige‘, 1545 durch Luther als Bischof von Merseburg (1545–1547) ordiniert, gehörte zu den Mitverfassern des Leipziger Interims. Zu seiner Beliebtheit in Böhmen vgl. auch M. Wernisch, Johannes Mathesius (wie Anm. 11), S. 138. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Der Adiaphoristische Streit in Böhmen 447 Dieses Ringen, von wechselndem Erfolg begleitet, dauerte allerdings noch lange an und es hemmte einen Aufschwung des sonst immer stärker um sich greifenden Protestantismus, was auch im Vergleich mit den Nebenländern der Böhmischen Krone augenfällig wird. Unter diesen Umständen gewann folglich besonders Mähren an Bedeutung. Da es in vielen mährischen Regionen ohne Weiteres möglich war, den Gottesdienst in tschechischer Sprache zu halten, während sie sich dem Einfluss des Prager Konsistoriums im Laufe der Zeit fast gänzlich entzogen und die Landstände bereits 1550 nach einer Auseinandersetzung ungehinderte Religionsfreiheit behauptet hatten, wurde die aus Sicht der utraquistischen Kirche ‚entlegene Provinz‘ Mähren nunmehr zu einem beliebten Zufluchtsort für eine Reihe markanter evangelischer Persönlichkeiten. Etliche von ihnen kamen aus dem Kuttenberger und Saazer Kreis. Selbst Jakob Camenicenus kehrte in Mähren doch noch in ein geistliches Amt zurück, ohne etwas von seiner Überzeugung aufgeben zu müssen. Für die letzten Jahre vor seinem Tod 1574 wurde er Dekan in Groß Meseritsch/Velké Meziříčí.134 Dort schaffte er es noch, das Augsburger Bekenntnis in die tschechische Sprache zu übersetzen. Sein Kaplan und Nachfolger, niemand anderes als einmal mehr Simon Fischer-Haliaeus, krönte dann das Lebenswerk, als er 1576 die Konfession durch eine Kirchenordnung ergänzte, die die evangelischen Gemeinden der ‚oberen‘ Bezirke des Brünner/Brno Kreises (im Südwesten Mährens) vereinte.135 Auch diese kirchliche Organisation war jedoch merklich stärker von einem philippistischen als von einem flacianischen Geist erfüllt – wenn auch wiederum nicht so sehr im Sinne einer parteilichen Gruppenbildung als vielmehr im 134 Es ist strittig, ob dies „unweit von seinem Geburtsort“ war, wie R. Říčan, Melanchthon und die böhmischen Länder, in: Philipp Melanchthon 1497–1560, Bd. 1: Philipp Melanchthon. Humanist, Reformator, Praeceptor Germaniae, hrsg. vom Melanchthon-Komitee der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1963, S. 237–260, hier S. 247, behauptet. Hinsichtlich des Geburtsortes schwankte die bisherige Literatur zwischen Kamenitz/Kamenice bei Iglau/Jihlava und Böhmisch Kamnitz/Česká Kamenice in Nordböhmen. Aber es erscheint m. E. am wahrscheinlichsten, dass Camenicenus mit „Jakub aus Kamenice Liskovcova [d. h. Leskovcova, Anm. M. W.]“ identisch ist, dessen Vorbereitung zur Priesterweihe 1538 belegt ist. Vgl. Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 123, Nr. 207: Jakub z Kamenice Liskovcovy; und dann wäre die Rede von Kamnitz an der Linde/Kamenice nad Lipou im südböhmischen Bezirk Pilgram/Pelhřimov, das ehemals den Vladiken Leskowetz von Leskowitz/Leskovcové z Leskovce gehörte. 135 Vgl. Evangelické církevní řády pro šlechtická panství v Čechách a na Moravě 1520–1620 [Evangelische Kirchenordnungen für adlige Herrschaften in Böhmen und Mähren zwischen 1520 und 1620], edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (DRGBI B/8), České Budějovice 2017, S. 165–244, Nr. 8a–d (die ursprüngliche und 1581 erweiterte Fassung auf tschechisch, die andere ebenso auf lateinisch und deutsch). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 448 Martin Wernisch Bestreben, einen breiten reformatorischen Konsens zu repräsentieren. In der Vereinbarung sah man übrigens eine Parallele zur (wenig jüngeren) Bergischen Konkordienformel.136 Diese fand allerdings unter den Evangelischen in Mähren (und Böhmen) eine Vielzahl weiterer Anhänger (einschließlich ganzer Gemeinden und regionaler Gruppierungen), die sich strikt nach ihrem eigenen Wortlaut richten wollten, nicht nur in einer Analogie. Nichtsdestoweniger ist es bezeichnend, dass einen solchermaßen starken Widerhall eben erst die Konkordienformel weckte und nicht die Lehre von Flacius. Dem Bekenntnis seines Gesinnungsgenossen Christoph Reuter (ca. 1520–1581), 1562 für Österreich verfasst, wurde hingegen in Mähren eine ausdrückliche Ablehnung zuteil.137 Angesichts dieser Entwicklung wirkt der Magdeburger Appell von Anxiginus beinahe wie eine Verfehlung. Kein Wunder also, dass der gescheiterte Sonderweg dieses ‚utraquistischen Flacianers‘ weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Und dennoch kann er wohl als geeignetes Beispiel für allgemeingültigere Thesen dienen. 136 Unter dem Titel „Formula Concordiae“ wurden die besagten lateinische und deutsche Versionen in den 1580er Jahren in Frankfurt an der Oder gedruckt, mit einer Reihe von Empfehlungsschreiben aus deutschen theologischen Fakultäten versehen, die in: Evangelické církevní řády, edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (wie Anm. 135), ebenso nicht fehlen. 137 Dazu T. Wotschke, Der Trübauer Superintendent Satbauch, in: ARG 23 (1926), S. 261–268. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Petr Hrachovec Die Reformation der langen Distanz Der Zittauer Stadtschreiber Oswald Pergener († 1546) und sein zwinglianischer deutsch-böhmischer Lesezirkel Einführung: Stadtschreiber und Reformation – Oswald Pergener Es ist je und allwege ein brauch in der welt gewesen, das die menschen durch nahet [?] beywonen leichtlicher konnen mitteinander bekant werden, denn die so voneinander zerstreuet sein und wonen. Diß neme ich an mir ab, der ich nu etlich jar darmit bin umgangen und mittel versucht, wie ich mitt e[urer] a[chtbarkeit] in kunthschafft komen mochte. Hab aber nicht andere nach­ richtiger finden konnen, denn das es durch schreiben muste zuwegebracht werden, da ich mich gleichwol auch zum theil gescheueth hab, das ich e[uer] a[chtbarkeit] mitt schreiben ersuchen solt.1 Das schrieb der Zittauer Wundarzt Johann Bechrer († 1569) an den Züricher ,Antistes‘ Heinrich Bullinger (1504–1575), den ‚Nachfolger‘ Huldrych Zwinglis,2 wobei er viele Probleme ansprach, die den gemeinsamen Briefwechsel prägten.3 Es 1 2 3 StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r. Zu Bullinger als ‚Nachfolger‘, ‚Antistes‘ sowie ‚Patriarch‘ des reformierten Protestantismus F. Büsser, Heinrich Bullinger (1504–1575). Leben, Werk und Wirkung, 2 Bde., Zürich 2004/05, hier Bd. 1, S. X, XII, 109–161, 164 f., Bd. 2, S. 145–161, 179; Ders., Wurzeln der Reformation in Zürich. Zum 500. Geburtstag des Reformators Huldrych Zwingli (SMRT 31), Leiden 1985, S. 5, 127; J. Staedtke, Die Theologie des jungen Bullingers (SDGSTh 16), Zürich 1962, S. 49: „der berufene Vollender des Zürcher Reformationswerks“; E. Campi, Heinrich Bullinger und seine Zeit, in: Ders. (Hg.), Heinrich Bullinger und seine Zeit. Eine Vorlesungsreihe (Zwingliana 21/2004), Zürich 2004, S. 7–35, hier S. 13: „genialer Bewahrer und Erneuerer zugleich“; ebd., S. 21 f. (Antistes). Vgl. dazu schon P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen (1300–1600). Zum Wandel religiöser Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig 2019, bes. S. 339–367; Ders., Von feindlichen Ketzern zu Glaubensgenossen und wieder zurück. Das Bild der böhmischen Reformation in Zittauer Quellen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, in: M. Winzeler (Hg.), Jan Hus. Die Wege der Wahrheit. Das Erbe des böhmischen Reformators in der Oberlausitz und in Nordböhmen (ZG 52), Zittau/Görlitz 2015, S. 131–156; M. Christ, Zwischen Wittenberg und Prag. Reformatorische Netzwerke in der Oberlausitz im sechzehnten Jahrhundert (im Druck für „Reformatorische Netzwerke im östlichen Europa“, Herder-Institut); C. Stempel, Die Reformationszeit in Zittau, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien, Netzwerke, Reformation. Zittau und die Oberlausitz im konfessionellen Zeitalter. Mit einem Bestandskatalog der Zittauer Epitaphien, Zittau 2018, S. 25–30, hier S. 28 f.; G. M. Metzig, Von Jan Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 450 Petr Hrachovec war ein Verdienst von Bechrers Mitbürger, des Oberstadtschreibers M. Oswald Pergener († 1546),4 dass sich viele Zittauer durch die Züricher Reformation angesprochen fühlten, und zwar so sehr, dass man heute Zittau bisweilen als ‚zwinglianisch‘ betrachtet.5 Stadtschreiber nahmen im Allgemeinen aufgrund ihrer Bildung und ihrer politischen Beziehungen eine Schlüsselstellung im religiösen Leben ihrer Städte ein. Sie waren „Meister der religiösen Seelenführung und -beratung“ und übten die „religiöse Dirigentenrolle“ in ihren Stadtgemeinden aus.6 Keineswegs ging es also bloß um die Leitung der Ratskanzleien;7 vielmehr kann man „in den Stadtschreibern Schlüsselfiguren der konfessionellen Ausrichtung“ einer Stadt8 und 4 5 6 7 8 Hus zu den Herrnhutern. Die Erben der böhmischen Reformation in der Oberlausitz, in: M. Winzeler (Hg.), Jan Hus (wie oben in dieser Anm.), S. 77–106; V. Dudeck, Zittau, Böhmen und das Haus Habsburg. Stadtgeschichte und personelle Kontakte im Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: J. Bahlcke / Ders. (Hgg.), Welt – Macht – Geist. Das Haus Habsburg und die Oberlausitz 1526–1635, Görlitz/Zittau 2002, S. 177–188, hier S. 183 f., 187, Anm. 24. Sein genaues Todesjahr ist in den Ratsherrenverzeichnissen der Stadtchroniken zum Jahr 1545 belegt. Er starb jedoch im Frühling, wobei der Stadtrat am Donnerstag vor Bartholomäi ‚gewählt‘ wurde. Vgl. Chronik der Stadt Zittau 1255–1623 [Christian-Weise-Bibliothek Zittau, Mscr. A 89], ed. T. Fröde (SRL 8), Görlitz 2013, hier S. 166: Oswaldt Berger notarius obiit denn 3 aprill [1545, Anm. P. H.]. Obwohl er ebd. als Mitglied des neuen Rats 1545/46 angegeben wird, der erst Feria 5 ante bartolome (20.8.1545) erneuert wurde; d. h. er starb erst im Amtsjahr 1545/46 (August 1545 bis August 1546); vgl. CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 277r: Oswald Bergner, Notari[us], obiit am freytag Gutten. Gott gnade ihm! Nicolaus Dornßbach, nov[us] Notarius; Karfreitag war aber 1546 am 23.4.; am 3.4. im Jahr davor (1545); daher ist Pergeners Todesdatum (3.4.1546) in: E. A. Seeliger, Zittauer Freunde der Züricher Reformatoren und der Böhmischen Brüder, in: ZG 9 (1932), S. 37–44, hier S. 43; in Anlehnung an J. B. Carpzov, Analecta Fastorum Zittaviensium […], 5 Tle., Zittau/Leipzig: Johann Jacob Schöps 1716, hier T. 2, S. 302, falsch. Pergener starb eher am 23.4.1546. Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 3: Briefe des Jahres 1533, edd. E. Zsindely / M. Senn, Zürich 1983, S. 204–206, Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 204, Anm. 1; E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41 ff.; J. Prochno, Die Reformationszeit, in: W. Vetter (Hg.), Die Johanniskirche in Zittau. FS zum 100jährigen Bestehen ihres Baues am 23. Juli 1937, Zittau 1937, S. 16–21, hier S. 19 f. B. Hamm, Der Laie Lazarus Spengler. Verbindung von religiöser Seelenführung und Reformationspolitik, in: D. Greiner / Ders. / K. Raschzok, M. Ritter / A.-M. aus der Wiesche (Hgg.), Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive. Modelle und Personen der Kirchengeschichte, Leipzig 2013, S. 120–136, hier S. 123 f. Vgl. ebd., S. 123 ff.; Ders., Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Ders. / B. Moeller / D. Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 57–127, hier S. 110 f.; P. Friess, Die Bedeutung der Stadtschreiber für die Reformation der süddeutschen Reichsstädte, in: ARG 89 (1998), S. 96–124. P. Friess, Bedeutung (wie Anm. 7), S. 118. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 451 die ‚Architekten der Reformation‘ sehen.9 Martin Luther selbst soll in Anspielung auf den Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler gesagt haben: Es liget mechtig viel an einem gutten stadtschreyber in einer stadt, wenn etwas sol ausgerichtet werden. Ich halte, wenn Lazarus Spengeler zu Nurmbergk [nicht, Anm. P. H.] gethan hette, das euangelion were so bald nicht auff gangen. Die stadtschreiber thun, wie es die propheten vorzceit­ ten thetten bey den konigen.10 Daher kann man auch Oswald Pergener für den wichtigsten Träger der Reformation in Zittau halten. Seine Person ist im Unterschied zu seinem Görlitzer Amtsgenossen, dem aus Greiz stammenden M. Johannes Haß (ca. 1476–1543), fast unbekannt, wobei sich die Karrieren der beiden Stadtschreiber durchaus ähneln.11 Auch Pergener stammte nicht aus seinem Wirkungsort,12 sondern aus Lonnerstadt bei Nürnberg.13 Seine künftige Berufsperspektive verdankte er wohl dem Universitätsstudium in Leipzig (1513–1517), wo er viele Oberlausitzer Ratsherrensöhne 9 Vgl. ebd., S. 120, Anm. 94; weiter Ders., Der Einfluss des Zwinglianismus auf die Reformation der oberschwäbischen Reichsstädte, in: Zwingliana 34 (2007), S. 5–27, hier S. 13 f.; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 258 f.; G. W. Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen/Zürich 1979, S. 460, 477. 10 WA TR, Bd. 5, Weimar 1919, S. 132 f., Nr. 5426. 11 Zu verweisen ist auf die Differenz von Herkunfts- und Wirkungsort, Studium an der Leipziger Universität, Dienst in den Ratsschulen, Beginn der Karriere (1509) in der Ratskanzlei als Unterstadtschreiber (subnotarius), Aufstieg zum Oberstadtschreiber (protonotarius). Vgl. M. Christ, The Town Chronicle of Johannes Hass. History Writing and Divine Intervention in the Early Sixteenth Century, in: GH 35 (2017), S. 1–20, bes. S. 3; Ders., Von Münzen, Kühen und Chimären. Zur Darstellung religiöser Persönlichkeiten des frühen 16. Jahrhunderts in den Ratsannalen des Johannes Hass, in: L.-A. Dannenberg / M. Müller (Hgg.), Studien zur Stadtchronistik (1400–1850). Bremen und Hamburg, Oberlausitz und Niederlausitz, Brandenburg und Böhmen, Sachsen und Schlesien (Beihefte NLM 20), Hildesheim/Zürich/ New York 2018, S. 131–150, bes. S. 133 f. 12 Zur ähnlichen Herkunft und anderen Aspekten der Stadtschreiberkarrieren H. Kramm, Studien über die Oberschichten der mitteldeutschen Städte im 16. Jahrhundert. Sachsen – Thüringen – Anhalt, 2 Teilbde. (MF 87/I–II), Köln/Wien 1981, hier Teilbd. 1, S. 415–424, bes. S. 415, 418, 420; Teilbd. 2, S. 807, Anm. 38; was auch für die Schulmeisterämter als ‚Durchgangsstufen‘, gilt vgl. ebd., Teilbd. 1, S. 315–318. 13 Vgl. Die Matrikel der Universität Leipzig, ed. G. Erler (CDSR II/16–18), Leipzig 1895–1902, hier Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1409–1559, Leipzig 1895, S. 526, Nr. B 49: Oswaldus Bergenawer alias de Lonerstadt de Hochstedt [Höchstadt/Aisch, Anm. P. H.] 6 gr. (Immatrikulation; 23.4.1513); ebd., Bd. 2: Die Promotionen von 1409–1559, Leipzig 1897, S. 500, Nr. 34: Oßwaldus Pergenawer de Lonerstadt (Bakkalaureus; 24.2.1515); ebd., S. 524, Nr. 12: Osvaldus Perganawer de Lonnerßdorff (Magister; 24.12.1517). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 452 Petr Hrachovec kennenlernen konnte. Seit 1518 ist er in der Oberlausitz nachweisbar.14 Pergener war ‚Augenzeuge‘ der Magisterpromotionen unter anderem des späteren Oybiner Cölestinerpriors Christoph Uthmann († 1555) aus Görlitz15 sowie des nachmaligen Zittauer ,Reformators‘ Lorenz Heydenreich (ca. 1484/85–1557), seinem späteren Schwager.16 In Leipzig studierte er mit seinem künftigen ‚Vertrauten‘, dem Hebraisten und Wittenberger Universitätsrektor Matthäus Aurogallus/Goldhahn (ca. 1490–1543) aus Komotau/Chomutov.17 Pergener begegnete auch dem Inhaber des Griechischlehrstuhls (1515–1517) Richard Croke/Crocus aus London (ca. 1489– 1558),18 wobei er nicht der erste ,Zittauer‘ war, der sich für das Griechische und Hebräische interessierte.19 Vorangegangen war hier der zwischen 1529 und 1531 in Zittau wirkende Stadtphysikus Johann Troger/Tröger († 1550) aus Münchberg bei Hof, dessen eventuelle Kontakte zu Pergener sich bisher nicht nachweisen lassen.20 14 An dieser Stelle kann aus Platzgründen keine Rekonstruktion seines ‚Universitätsnetzwerks‘ vorgestellt werden. 15 Vgl. Matrikel, Bd. 2, ed. G. Erler (wie Anm. 13), S. 488, Nr. 5 (28.12.1513). 16 Vgl. ebd., S. 498, Nr. 11 (28.12.1514); E. A. Seeliger, Lorenz Heydenreich und seine Familie, in: ZG 10 (1933), S. 37–40, 41 ff., hier S. 38 ff.; J. Prochno, Reformationszeit (wie Anm. 5), S. 16 ff., 20; M. O. Sauppe, Diözese Zittau, in: [H. F.] Rosenkranz (Hg.), Die Einführung der Reformation in der sächsischen Oberlausitz nach Diözesen geordnet, Leipzig 1917, S. 120–165, hier S. 125–134, 143–151; W. Riessner, Der Humanismus in Zittau, unpublizierte philosophische Dissertarion, Leipzig 1926, S. 63–67; V. Dudeck, Kat.-Nr. B 23, in: J. Bahlcke / Ders. (Hgg.), Welt (wie Anm. 3), S. 304 f.; P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 250, 321 ff., 329, 333–339, 366, 374 f., 390, 414, 467, 589 f., 596, 608, 635, 660, 678. 17 Vgl. Matrikel, Bd. 2, ed. G. Erler (wie Anm. 13), S. 502, Nr. 3 (Bakkalaureus; 30.5.1515); R. Metzler, Stephan Roth 1492–1546. Stadtschreiber in Zwickau und Bildungsbürger der Reformationszeit. Biographie. Edition der Briefe seiner Freunde Franz Pehem, Altenburg, und Nicolaus Günther, Torgau (QFSG 32), Leipzig/Stuttgart 2008, S. 58; zu Aurogallus als „the true founder of Hebrew studies at Wittenberg“ S. G. Burnett, Christian Hebraism in the Reformation Era (1500–1660). Author, Books, and the Transmission of Jewish Learning (LWWH 19), Leiden/Boston 2012, S. 58 und S. 38 f. 18 Vgl. Matrikel, Bd. 1, ed. G. Erler (wie Anm. 13), S. 539, Nr. S 1 (Immatrikulation; 23.5.1515); C. Volkmar, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525 (SMHR 41), Tübingen 2008, S. 573 f., Anm. 90; vgl. Pergeners Brief an den Züricher Theologen und Hebraisten Konrad Pellikan (1478–1556): Rudimenta Grecę linguę olim ado­ lescens Lipsi a Richardo Croco didici; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (12.3.1538), hier fol. 23v. 19 Vgl. W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), der zum Zittauer Humanismus bis 1550 nur wenig Neues bietet: ebd., S. 1–89, doch zum Späthumanismus (1550–1630) nützlich ist. Ebd., S. 90–267. Der Autor bemängelt ebd., S. 7, dass v. a. die Dichtungen überliefert sind, „Briefe fehlen so gut wie ganz“. Vgl. auch ebd., S. 79, 87 f., 259. 20 Er immatrikulierte sich mit Pergener in Leipzig im Sommersemester 1513. Seit 1531 lebte er Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 453 Oswald Pergener in Lauban und Zittau (1518–1532). Der Beginn seiner Karriere im Ratsschuldienst und in der Ratskanzlei Der genaue Verlauf von Pergeners Karriere zwischen dem Abschluss der Leipziger Studien Ende 1517 und seiner Berufung ins Amt des Zittauer Oberstadtschreibers nach dem Tod M. Melchior Hausens († 1532) aus Liegnitz/Legnica ist unklar. Folgt man Ernst Alwin Seeliger, dann soll er zunächst als Schulrektor in Lauban/ Lubań (1518–1521) gewirkt haben.21 Die Stadtchroniken sind in dieser Hinsicht nicht eindeutig.22 1524 soll er Zittauer Unterstadtschreiber geworden sein.23 Die in Görlitz, wo er neben seiner ärztlichen Tätigkeit Privatunterricht in Latein, Griechisch und Hebräisch anbot. R. Neumann, Die drei Wirkungsstätten des Humanisten Johann Troger – Philosoph, Mediziner und Pädagoge. Ein Beitrag anlässlich der 450. Wiederkehr seines Todestages am 7. März 2000, in: BJ (2000), H. 14, S. 2–23; E. A. Seeliger, Welche Zittauer haben Luther persönlich gekannt?, in: ZG 10 (1933), S. 45 ff., ebd., 11 (1934), S. 4, hier 10 (1933), S. 45 f.; Ders., Denkmale der Frührenaissance in Zittau, in: NLM 106 (1930), S. 1–10, hier S. 3; R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 71; vgl. einen Brief an Troger bei O. Clemen, Zur Geschichte dreier Dekane des Kollegiatsstifts St. Petri zu Bautzen im 16. Jahrhundert, in: ARG 33 (1936), S. 259–284, hier S. 282 f., Nr. 282 (Christoph Uthmann an Troger; 6.4.1532); Original: HAB Wolfenbüttel, cod. Guelf. 108 Noviss. 2°, fol. 125r f.; ein unedierter Brief Trogers ebd., cod. Guelf. 109 Noviss. 2°, fol. 226r f. (12.11.1531); zu den Stadtphysiki als Humanisten/ Lehrer H. Kramm, Studien, Teilbd. 1 (wie Anm. 12), S. 316, 409–412. 21 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41; doch nach HBW Briefwechsel, Ergänzungsbd. A: Addenda und Gesamtregister zu Bden. 1–10, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich, Zürich 2004, S. 67: „Oswald Pergener war nur kurzfristig Rektor in Lauban, bevor er 1518 als Unter-Stadtschreiber nach Zittau berufen wurde.“ 22 In diesem jahre [1518, Anm. P. H.] hat M[agister] Oswaldus Pergenauer, Annaebergensis [sic!, Anm. P. H.], aus Leipzig umb den schulmeisterdienst alhier angehaltenn; OLB Görlitz, Sign. L III 126 (Chronik Wiesner V), S. 387; APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2255 (Chronik Wiesner II), S. 213; ebd., Ms. 2256 (Chronik Wiesner III), S. 263; vgl. aber: Dis jahrs d[en] 21. Febr[uarii] [1520, Anm. P. H.] hat Simon Sauer, Bacc[alaureus], umb das [!] schulmeisterdienst alhier schrifttlich angehaltenn, habe [Christoph Wiesner (1566–1627), Anm. P. H.] aber nicht nachricht, ob er es bekommen; OLB Görlitz, Sign. L III 126 (Chronik Wiesner V), S. 393 f.; APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2255 (Chronik Wiesner II), S. 218; ebd., Ms. 2256 (Chronik Wiesner III), S. 267 f.; vgl. ein Verzeichnis Laubaner Schulmeister, wo „M. Oswald Pergenauer, 1518“, „Jugelius, 1522“, 1523 „Franziskus Colerus“ und 1525 „Simon Sauer“ erwähnt sind; J. G. Gründer, Chronik der Stadt Lauban, Lauban 1846, S. 438 f.; wann Pergener das Laubaner Schulmeisteramt aufgab und in die Zittauer Ratskanzlei kam, ist nicht ersichtlich. 23 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41; OLB Görlitz, Sign. L III 126 (Chronik Wiesner V), S. 430, 444 f.: in obangezeigtem [15]24. jahre. Die geschickten der städte sind gewesen […] M[agister] Oswaldus Pergenauer, stadtschreiber [eher Unterstadtschreiber, Anm. P. H.] zu Zittau; APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2255 (Chronik Wiesner II), S. 240, 248; ebd., Ms. 2256 (Chronik Wiesner III), S. 293, 303. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 454 Petr Hrachovec Zittauer Ratsverzeichnisse erwähnen ihn erstmals 1524.24 Melchior Hausen wird letztmals 1531 als ‚Protonotar‘ bezeichnet.25 Pergener war einer der Oberstadtschreiber (1532–1546), die nie Ratsherren waren, gleichwohl in den Ratslisten registriert wurden. Die Zittauer Ratssyndiki waren bis 1581 keine Ratsherren qua Amt.26 Alle anderen Chroniken erwähnen Pergener erst zwischen 1527 und 1531, als er schon Stadtschreiber (notarius) war, was wiederum nach Seeliger seit 1528 der Fall war.27 Pergener folgte demnach dem Ende 1527 verstorbenen Johann Kramer (Kam[m]er bzw. Heuner) als Stadtschreiber nach,28 sicher belegt ist er in dieser Funktion spätestens seit August 1528.29 Andere Chroniken erwähnen ihn erst ab 1529 als Stadtschreiber (notarius),30 d. h. er wäre dann Johann Kramer, der im Unterschied zu ihm sowie zu Melchior Hausen seit 1521 Ratsherr war, in beiden Ämtern des Unter- sowie des Stadtschreibers nachgefolgt.31 Kramer wird 24 „Ow. Pergner subnot.“; J. Prochno, Die Zittauer Ratslinie von 1310 bis 1534, in: NLM 110 (1934), S. 23–85, hier S. 57, ebd., S. 58 f., wird er 1527 als Stadtschreiber (notarius) bezeichnet sowie 1528 und 1531: „Ow. Pergner not.“ usw. Die Abkürzung „not.“ für notarius erscheint bei ihm von 1533 bis 1545, als er schon Oberstadtschreiber (protonotarius) war; vgl. auch CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 250r: Oswaldt Pergner, Notarius (1524); J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 302, Nr. 35, S. 303, Nr. 9, auch wenn auch das Jahr 1521 nach Carpzovs nicht ganz klarer Schilderung möglich wäre. 25 Vgl. J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 59 ff. 26 Vgl. J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 297 f. 27 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41; mit Fehlern C. A. Pescheck, Handbuch der Geschichte von Zittau, Bd. 2, Zittau 1837, S. 734 f., 745 f. 28 Hoc anno die Jovis ante festum Thomae [19.12.1527, Anm. P. H.] moritur honest[us] vir Joannes Heuner, Notarius Reip[ublicae] Zitt[aviensis]; CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 254r, auch wenn Pergener in den Ratslisten Prochnos schon bei der ‚Ratswahl‘ vom August 1527 erscheint. Doch die von Prochno für die Jahre 1527/28 angegebene Quelle „A 129“, J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 58, d. h. CWB Zittau, Mscr. A 129 (Chronik Schnürer), fol. 40r f. (1527), 41r f. (1528), ist falsch. In den Ratslisten der Chronik Tobias Schnürers (1518–1606) befindet sich Pergeners Name nicht. 29 Vgl. J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 302, Nr. 35, S. 303, Nr. 9. 30 Vgl. CWB Zittau, Mscr. A. 123 (Chronik Krodel), fol. 132r. Hier ohne Funktion, doch sicher als notarius, da er am Ende der Ratsliste als der 19. im 18-köpfigen Stadtrat erwähnt wird. Ebd., fol. 134r (1530), 136r (1531); erst seit 1530 ebd., Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 258r, 260r (1531); ebd., Mscr. A 126 (Chronik Jentsch), S. 70, 72 (1531); ebd., Mscr. A 129 (Chronik Schnürer), fol. 42v, 43v (1531); Chronik der Stadt Zittau, ed. T. Fröde (wie Anm. 4), S. 151, 153 (1531); erst seit 1531 CWB Zittau, Mscr. A 90b (Chronik Werner), S. 281; ebd., Mscr. A 125 (anonyme Chronik), S. 191; ebd., Mscr. A 129b (anonyme Chronik), S. 75. 31 Zu den zehn in den Zittauer Rat kooptierten Stadtschreibern (1450–1550) H. Kramm, Studien, Teilbd. 1 (wie Anm. 12), S. 421. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 455 zuerst für die Jahre 1511 bis 1517 als Unterstadtschreiber (subnotarius) erwähnt,32 danach erscheint er von 1521 bis 1526 als Stadtschreiber (notarius) sowie Ratsherr.33 1532 soll Pergener nach dem Tod des Oberstadtschreibers (protonotarius) und Ratssyndikus Melchior Hausen beide Ämter übernommen haben.34 Das zweitgenannte Amt soll erst 1530 eingeführt worden sein.35 Hausen ist als Stadtschreiber (notarius) in Prochnos Ratslisten von 1511 (abgesehen von 1512) bis 1518 belegt, letztmals wird er 1531 als Oberstadtschreiber erwähnt.36 Andere Ratslisten erwähnen ihn noch 1519 als Stadtschreiber (notarius),37 er war allerdings schon früher Oberstadtschreiber (protonotarius), denn er nennt sich so in den seit 1516 überlieferten und von ihm und Johann Kramer eigenhändig geschriebenen Rezessen der Zittauer Pfarrkirchenfabrik.38 Die Verhältnisse in der Ratzskanzlei waren also komplizierter als Seeliger39 und Johann Benedikt Carpzov annehmen. Letzterer belegt eine Anstellung des dritten Stadtschreibers erst 1568 bzw. 1623, wobei er in seinen Verzeichnissen der Proto-Notariorum oder Ober-StadtSchreiber und der Unter-Stadt-Schreiber die Ämter des Unter-, Ober- und Stadtschreibers vermengt, sodass er z. B. zwischen den Ämtern Melchior Hausens, den er als den Zittauer protonotarius seit 1509 belegen kann, und Johann Kramers nicht unterscheidet.40 1520/21 mag es zu einer Teilung des Aufgabenbereiches des Unterstadtschreibers (subnotarius) gekommen sein, als der Unterstadtschreiber Kramer Stadtschreiber (notarius) wurde, wobei seitdem die Bezeichnung 32 Vgl. J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55 f. 33 Vgl. ebd., S. 57 f.; J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 301, Nr. 34, S. 303, Nr. 8 (Stadtschreiber seit 1520); CWB Zittau, Mscr. A 129 (Chronik Schnürer), fol. 42r. 34 Melchior Hause, Protonotari[us], obiit freytag ante Palmarum [22.3.1532, Anm. P. H.]; CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 263r. 35 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41. 36 Vgl. J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55 ff., 59. 37 Vgl. z. B. CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 244r. 38 […] in p[rese]ncia […] Melchior[is] Hausen, M[a]g[ist]ri [et] P[ro]thono[ta]rii. Ebd., Mscr. A 267, S. 3 (18.4.1516); weiter ebd., S. 29 (19.6.1517), 55 (27.4.1518), 79 (29.4.1519); Kramer nennt sich zweimal als Unterstadtschreiber, ebd., S. 55: gemeinsam mit Hausen (27.4.1518); allein ebd., S. 103: Joannis Khamm[e]r, Subnotarii (14.4.1520); doch am 13.6.1522 schon als Stadtschreiber: Joannis Kham[m]ers, Notarii; ebd., S. 133. 39 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41, der später Hausens Oberstadtschreiberamt, das er von 1509 bis 1519 ausgeübt haben soll, mit jenem „eines Protonotars oder Syndikus in Zittau“ vermengte, angeblich „seit 1530“; Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20), S. 46 (1933). 40 Vgl. J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 297 (1623), 298 (1568), 301 f., Nr. 33 ff., S. 303, Nr. 8 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 456 Petr Hrachovec Unterstadtschreiber für den dritten Schreiber benutzt wurde. Ob es schon Pergener war, der sich in Zittau erst seit 1524 belegen lässt, bedarf weiterer Klärung. Zittau und Wittenberg – ‚reformatorischer‘ Briefwechsel 1533, als Pergener beide Ämter (des Oberstadtschreibers und des Ratssyndikus) versehen haben soll, soll deren Trennung vollzogen worden sein.41 Pergener blieb Oberstadtschreiber, zum ersten ‚selbständigen‘ Ratssyndikus soll auf Empfehlung Melanchthons42 Konrad Nesen (ca. 1495–1560) aus Nastätten in Hessen berufen worden sein, ein Bruder des Humanisten Wilhelm Nesen (ca. 1493– 1524).43 Von den ,Zittauern‘ werden nur Konrad Nesen und der Pastor primarius (1557–1579) Martin Tektander/Zimmermann (1507–1579) im Briefwechsel 41 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41, 43; anhand einer unsicheren Quellenparaphrase von 1533 in: J. B. C[arpzov], Memoria Heidenreichiana […], Leipzig: Friedrich Lanckisch (Erben) 1717, S. 34 f.; Ders., Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 298, T. 3, S. 26; U. G. Haussdorff, Historia ecclesiastica Zittaviensis […], Budissin: David Richter 1732, S. 64 f. 42 Vgl. J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 279; E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 44; Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20), S. 45 f. (Melanchthon; 1533); C. A. Pescheck, Handbuch der Geschichte von Zittau, Bd. 1, Zittau 1834, S. 394 f., 446, 547, Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 730, 734 f.; E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen, Nikolaus von Dornspach und M. Procopius Naso, Zittau 1843, S. 29 ff., 54, 94; H. J. Kämmel, Beiträge zur Geschichte des Gymnasiums in Zittau I. Die Schule von Zittau unter den Einwirkungen der Reformation. 1521–1586, in: NLM 49 (1872), S. 258–275, hier S. 264 f.; L. Haensch, Die Familie Nesen, in: MGZG 6 (1909), S. 17–26, hier S. 17 f.; Quellenbuch zur Geschichte des Gymnasiums in Zittau, ed. T. Gärtner, 2 Hefte (Veröffentlichungen zur Geschichte des gelehrten Schulwesens im albertinischen Sachsen 1), Leipzig 1905/11, H. 1: Bis zum Tode des Rektors Christian Weise (1708), S. 11, Nr. II/1, S. 13, Nr. IIIa/1; M. O. Sauppe, Diözese Zittau (wie Anm. 16), S. 134; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 71, 81, 83, 87 ff., 197, 266; H. Kramm, Studien, Teilbd. 1 (wie Anm. 12), S. 374. 43 Die ‚Nähe‘ vieler Zittauer zu Wittenberger Reformatoren ist ein Konstrukt späterer Chronisten, Leichenpredigten und ‚professioneller‘ Genealogien. Vgl. J. Prochno, Reformationszeit (wie Anm. 5), S. 16, 20. Doch ebd., S. 20, lässt Prochno 1533 Konrad Nesen auf Empfehlung Luthers nach Zittau kommen. E. A. Seeliger, Neues über Nikolaus von Dornspach, in: ZG 5 (1928), S. 45–48, ebd., 6 (1929), S. 1 f., hier 5 (1928), S. 45 f.; Ders., Lorenz Heydenreich (wie Anm. 16), S. 39; Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20), S. 46, der diese ,Geschichten‘ sehr ‚nüchtern‘ untersuchte, doch Ders., Nikolaus Dornspach, in: Sächsische Lebensbilder, hrsg. von der Sächsischen Kommission für Geschichte, Bd. 2, Leipzig 1938, S. 38–47, hier S. 38 ff., platzierte Nesen unlogisch wiederum nach Wittenberg in die ‚Nähe‘ Luthers und Melanchthons. Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20), S. 46, wiederholte die unbegründete Geschichte über den Erzieherdienst Nesens am Hofe Ferdinands I. (1526–1564). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 457 Luthers und Melanchthons erwähnt. Konrad Nesen hatte sich 1525 in Wittenberg immatrikuliert, 1532 soll er Lizentiat der Rechte geworden sein.44 Mit ihm kann man fünf Briefe Melanchthons in Zusammenhang bringen. Am 23. August 1529 empfahl ihn Melanchthon dem hessischen Landgrafen Philipp I. (1509/18–1567) als zu hoffe zu patrocinirn oder zu lesen zu Marburg, d. h. Nesen sollte an der 1527 gegründeten Universität unterrichten. Diese Empfehlung für Nesen, der in iure eyn zeytt lang studirt hatt, d. h. schon 1529 über juristische Bildung verfügt hatte, blieb ohne Erfolg.45 Melanchthon korrespondierte mit Persönlichkeiten in der Oberlausitz wesentlich intensiver als Luther. Dabei waren die Briefe sehr knapp, vor allem handelte es sich um Empfehlungen; Probleme der Reformation wurden nicht erörtert.46 Überliefert ist ein Empfehlungsbrief Melanchthons für Martin Tektander an Johann Brenz (1499–1570) in Schwäbisch Hall vom 5. November 1539.47 1559 besuchte Melanchthon sogar die Oberlausitz.48 Während dieses Aufenthaltes schrieb der erkrankte Melanchthon an den gleichfalls kranken Nesen einen Trostbrief. Beide – Nesen und Melanchthon – starben im folgenden Jahr (1560), wobei Melanchthon schon 44 Vgl. M. Erbe / P. G. Bietenholz, Konrad Nesen of Nastätten, in: P. G.Bietenholz (Hg.) / T. B. Deutscher (Mitarb.), Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation, Bd. 3: N–Z, Toronto/Buffalo/London 1987, S. 12. 45 PM Bw, ed. R. Wetzel, Bd. 3: Texte 521–858 (1527–1529), Stuttgart/Bad Cannstatt 2000, S. 567 f., Nr. 814, hier S. 568; im zweiten Brief erwähnt Melanchthon Nesen, der damals noch im Wittenberg war. Vgl. ebd., ed., J. Loehr, Bd. 4/2: Texte 1004–1109 (August–Dezember 1530), Stuttgart/Bad Cannstatt 2007, S. 721 ff., Nr. 1092, hier S. 721 (Oktober 1530). 46 Vgl. M. Christ, Zwischen Wittenberg und Prag (wie Anm. 3). 47 Die Abbildung des Originals V. Dudeck, Kat.-Nr. B 25, in: J. Bahlcke / Ders. (Hgg.), Welt (wie Anm. 3), S. 306 f.; Edition: PM Bw, edd. C. Mundhenk / H. Hein / J. Steiniger, Bd. 8: Texte 1980–2335 (1538–1539), Stuttgart/Bad Cannstatt 2007, S. 552 f., Nr. 2286. Diese Empfehlung führte ebensowenig zum Erfolg wie eine zweite nach Liegnitz, die am 24.11.1539 der sächsische Kurfürst Johann Friedrich (1532–1547/54) an Luther mitteilte. Vgl. WA BR, Bd. 8 (1537–1539), Weimar 1938, S. 605 f., Nr. 3410. Im zweiten Brief Melanchthons an Georg Fabricius (1516–1571) wird Tektander als Meißner Pfarrer erwähnt: PM Bw, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6: Regesten 5708–6690 (1550–1552), Stuttgart/ Bad Cannstatt 1988, S. 29, Nr. 5740; zur epistolografischen Gattung ‚Empfehlungsbrief ‘ M. Kooistra, The Influence of the Protestant Reformation on Philip Melanchthon’s Letters of Recommendation, in: J. De Landtsheer / H. Nellen (Hgg.), Between Scylla and Charybdis. Learned Letter Writers Navigating the Reefs of Religious and Political Controversy in Early Modern Europe (BSIH 192), Leiden/Boston 2011, S. 109–126. 48 Vgl. U. Koch, Von Peucer / Mättig bis Rosenhain / Nesen. Bürgerdynastien zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg und ihre kulturellen Spuren von Bautzen bis Zittau, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 69–85, hier S. 69, 74 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 458 Petr Hrachovec zuvor einen weiteren Trostbrief an Nesen mit einem Empfehlungsschreiben an den Zittauer Rat gesendet hatte.49 Nesen scheint in Zittau spätestens 1530/31 anwesend gewesen zu sein,50 die Ratsverzeichnisse Prochnos belegen ihn allerdings erst 1533.51 1541 wurde er plötzlich nicht nur als Ratsherr, sondern auch als Bürgermeister bezeichnet, was für den cursus honorum in Zittau unüblich war.52 Nesen verblieb trotz einer Zäsur infolge des königlichen Eingriffes im Rahmen des sog. Pönfalls (1547) bis zu seinem Tod (1560) an der Spitze der Stadtverwaltung. Andere Ratsverzeichnisse erwähnen ihn schon früher, was m. E. zutreffender ist und eine Folge der Errichtung des Syndikatsamtes 1530 gewesen sein mag. In den meisten Chroniken geht es um das Jahr 1531, wobei er als Ratssyndikus auch im folgenden Jahr (1532) erwähnt wird.53 Seitdem ähneln die Angaben in den Ratslisten vollkommen jenen von Prochno bzw. von Carpzov. Ein vom Oberstadtschreiberamt unabhängiges Ratssyndikat ist bereits zum 12. Juli 1531 belegt, d. h. im Amtsjahr 1530/31.54 Auch wird Pergener in den zeitgenössischen Briefen von 1532/33 nicht als Syndikus erwähnt.55 Man kann also voraussetzen, dass Konrad Nesen bereits 1530/31 der erste Zittauer Syndikus war, der im Unterschied zu den beiden ‚Magistri artium‘ Melchior Hausen und Oswald Pergener als Lizentiat der Rechte (schon vor 1532) 49 Vgl. PM Bw, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 8: Regesten 8072–9301 (1557–1560), Stuttgart/Bad Cannstatt 1995, S. 180, Nr. 8496 f. (16.1.1558), S. 361, Nr. 8991 (30.6.1559). 50 Zu Nesen E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 1–88; L. Haensch, Familie Nesen (wie Anm. 42), S. 26; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 71, 76 f., 80; U. Koch, Von Peucer (wie Anm. 48), S. 76 ff.; V. Dudeck, Zittau (wie Anm. 3), S. 180, 182. 51 Vgl. J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 59 ff., wobei er wie Pergener (bis 1540) trotz seines Ratssyndikats nicht im Rat anwesend war. Ebd., S. 59 f. 52 Vgl. ebd., S. 60 f. (1541–1547). Die Gründe für seinen raschen politischen Aufstieg sind unbekannt. 53 Vgl. z. B.: CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 260r: Anno 1531 […] Con­ rad[us] Nesen[us], Syndicus; ebd., fol. 262r: Anno 1532 […] Conradus Nesenus, Syndicus. 54 Ich hab euer und der andern hern beider sindici von Budissin und Sittaw schreiben; AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1681: Heinrich Rybisch (1485–1544) an den Görlitzer Rat, Abschrift, Handschrift Oswald Pergeners. 55 Vgl. ebd., Nr. 1706 (30.1.1533), 1715 (4.3.1533), 1718 (9.3.1533), 1722 (14.3.1533), 1725 (2.4.1533); vgl. „Bestand Urkunden“, https://www.monasterium.net/mom/DE-AVBautzen/Urkunden/ fond (letzter Zugriff am 6.6.2020); Regesten: P. Arras, Regestenbeiträge zur Geschichte des Bundes der Sechsstädte der Ober-Lausitz von 1531–1540, zusammengestellt auf Grund der Urkunden, die sich im Bautzner Ratsarchive (Fund Ermisch) vorfinden, in: NLM 77 (1901), S. 26–66, hier S. 31 (Nr. 1681), 33 (Nr. 1706), 36–40 (Nr. 1715, 1718, 1722, 1725). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 459 über eine geeignetere Bildung verfügte.56 Er besaß in Zittau einen heute am Markt 24 gelegenen achtbierigen Bierhof.57 Nesen soll nach der Zittauer Überlieferung ein enges Verhältnis zu Luther und Melanchthon gehabt haben,58 was sich freilich kaum belegen lässt. Allerdings sind beim Stadtbrand des Jahres 1608 sowohl viele materielle59 als auch schriftliche Quellen zerstört worden, so dass keine gesicherten Aussagen getroffen werden können.60 Darüber hinaus kann man im Fall der Familie Nesen eher die intensiven Beziehungen zu Schweizer Reformatoren belegen. Wilhelm Nesen, der allerdings nie in Zittau war, und wohl auch Konrad unterhielten Kontakte zu Huldrych 56 Zu den mitteldeutschen Ratssyndiki H. Kramm, Studien, 1 Teilbd. (wie Anm. 12), S. 424–440, der eine mögliche Vermengung des Oberstadtschreiber- und des Ratssyndikatamtes erwähnt: bei den Protonotaren, die sich juristiche Bildung informell aneigneten. Doch dazu kam es in Zittau um 1530 eher nicht. 57 Vgl. Häuserchronik der Stadt Zittau innerhalb des Grünen Ringes für den Zeitraum bis 1900, ed. T. Fröde, Olbersdorf 22008, S. 248, 335. Er wohnte also einem anderen ‚Zwinglianer‘ Onofrius Herzog (†1555) fast gegenüber. 1558 ist er als Besitzer des Hauses, heute Innere Weberstraße 1, belegt, vgl. ebd., S. 252, das zwischen dem sog. Dornspachhaus und dem Haus der Witwe Oswald Pergeners Anna († 1581), Innere Weberstraße 5, lag; zu den Bierhöfen und den mikropolitischen Folgen für ihre Inhaber (Ratswahl, Gewandschnitt, Stellung zu den Zünften) K. Lindenau, Brauen und Herrschen. Die Görlitzer Braubürger als städtische Elite in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (SSGV 22), Leipzig 2007. 58 Vgl. E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 33–57, 97; M. O. Sauppe, Diözese Zittau (wie Anm. 16), S. 134; C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 394 f.; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 77 f., 91, 157 f.; J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 279, 298. 59 Das Nesen‘sche Epitaph mit einem Gedicht des lutherischen Humanisten Joachim Camerarius d. Ä. (1500–1574) wurde erst 1757 zerstört; zur Wiedergabe seines Textes J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 1, S. 71; H. Hegewald, Zittaus untergegangener Schatz. Die Epitaphien der Johanniskirche und der Weberkirche. Die Mitteilungen von Christian Döring über die Epitaphien in der Johanniskirche vor ihrer Zerstörung 1757 und in der Weberkirche vor ihrer Renovierung zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Zittau 2017 [zu erhalten im Altbestand der CWB Zittau], S. 25, 93; Ders., Zittaus untergegangener Schatz. Anmerkungen zur Geschichte der Zittauer Epitaphien, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 249–263, hier S. 260. 60 Zum sog. Nesen’schen Pokal, ein Geschenk Luthers an Wilhelm Nesen, den Konrad Nesen nach Zittau brachte, U. Kahl, Der Nesensche Lutherpokal – ein Zeugnis lutherischer Frömmigkeit und der Lutherverehrung in Zittau, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 103–121; U. Koch, Von Peucer (wie Anm. 48), S. 76 f.; E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 26; zu einem anderen ‚Lutherpokal‘, dem wundertätigen Elisabeths- bzw. Hedwigsglas der Wettiner und dessen evangelischer ‚Umwidmung‘ durch Luther: B. Moeller, Eine Reliquie Luthers, in: J. Schilling (Hg.), Bernd Moeller. Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, Göttingen 1991, S. 249– 262. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 460 Petr Hrachovec Zwingli, dem Basler Reformator Johannes Oekolampad (1482–1531), dem Straßburger Reformator Martin Bucer (1491–1551), dem Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) und anderen bedeutenden geistlichen wie geistigen ,Größen‘ in der Schweiz, wo Wilhelm (sicher) seit 1514 in Basel studiert und als Korrektor in dortigen Offizinen gewirkt hatte. Seit etwa 1520/21 – infolge seiner schulischen Tätigkeit in Frankfurt am Main – knüpfte Wilhelm Beziehungen zu Luther und Melanchthon und wechselte 1523 nach Wittenberg, wo er im Sommer 1524 ertrank.61 Auch Oswald Pergener erwähnt Konrad Nesen in einem Brief und kommt dabei auch auf dessen Aufenthalt in Zürich zu sprechen.62 Die Familie Oswald Pergeners im Kontext des Zittauer Bürgertums Abgesehen von den Kontakten, die Oswald Pergener in Leipzig geknüpft hatte, waren für ihn seine ‚familiären Netzwerke‘ nicht minder wichtig.63 In Zittau heiratete er Anna, Tochter des Ältesten der Schneiderzunft Valentin Engler († 1523). Er besaß einen siebenbierigen Bierhof, heute Innere Weberstraße 5, unweit von ihrer Einmündung in den nördlichen Zipfel des Marktes gegenüber dem Westeingang der Stadtpfarrkirche.64 Eine andere Tochter Valentin Englers, Elisabeth († 1573), 61 Vgl. (mit Korrektur zahlreicher Fehler) G. E. Steitz, Der Humanist Wilhelm Nesen, der Begründer des Gymnasiums und erste Anreger der Reformation in der alten Reichsstadt Frankfurt/ Main Lebensbild, auf Grund der Urkunden dargestellt, in: AFGK 6 (1877), S. 36–160, 425; M. Erbe / P. G. Bietenholz, Wilhelm Nesen of Nastätten, in: P. G. Bietenholz (Hg.) / T. B. Deutscher (Mitarb.), Contemporaries, Bd. 3 (wie Anm. 44), S. 12 ff.; O. Clemen, Der Dialogus bilinquium ac trilinguium, in: ARG 1 (1904), S. 355–364; überholt E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 8–23, 27 ff., 59–84, Anm. 1–38; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 71–76; vgl. auch G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm. 9), S. 497 f.; P. Leemann-van Elck, Die Offizin Froschauer. Zürichs berühmte Druckerei im 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Buchdruckerkunst anläßlich der Halbjahrtausendfeier ihrer Erfindung (MAGZ 33/2), Zürich 1940, S. 19 f. 62 Chuonradus Nesenus licentiat[us], qui Tiguri [Zürich, Anm. P. H.] fuit; HBW Briefwechsel, Bd. 12: Briefe des Jahres 1542, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser, Zürich 2006, S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167. 63 Methodisch zur Netzwerkbildung in der Vormoderne K. Hitzbleck / K. Hübner, NetzWerkGrenzen, in: Diess. (Hgg.), Die Grenzen des Netzwerks (1200–1600), Ostfildern 2014, S. 7–15; K. Hitzbleck, Verflochten, vernetzt, verheddert? Überlegungen zu einem erfolgreichen Paradigma, in: ebd., S. 17–40, bes. S. 18–25, 33 f., 40 (Netz vs. Netzwerk vs. Schicht), 27 ff. (Verwandschaft vs. Vernetzung), 34 f. (Beziehung vs. Bindung). 64 Vgl. Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 253, 335 (Oswald; 1543); zu Anna Pergener ebd., S. 343 (dasselbe Haus; 1578), 347 (ein Garten; 1578). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 461 heiratete 1530 den ‚Reformator Zittaus‘ Lorenz Heydenreich.65 Dadurch wurden beide Männer zu Schwägern. Da Lorenz Heydenreichs Schwester Anna († ca. 1520) mit Wenzel Lankisch d. Ä. (ca. 1473–1538) verheiratet gewesen war, war Pergener auch mit der ‚Ratsfamilie‘ Lankisch verwandt.66 Mit seiner Frau Anna hatte Oswald Pergener mehrere Kinder.67 Leider ist die Genealogie der Familie Pergener (später Berger)68 im Unterschied zu den Lankischs, Nesens und anderen ‚Ratsfamilien‘ unerforscht. Mindestens drei seine Söhne wirkten öffentlich.69 Auch sie waren in ähnliche Netzwerke (an der Wittenberger Universität sowie in der Stadt) wie ihr Vater eingebunden. 1537 immatrikulierte sich in Wittenberg zusammen mit Oswalds Sohn Thomas Pergener/Thomas Berckner auch Thobias Engler Zittauiensis, ein weiterer Schwager Oswalds.70 Oswalds Sohn Lukas besaß einen sechsbierigen Bierhof in derselben Straße (Innere Weberstraße 17) wie seine Eltern. Nach ihm besaß das Haus ein weiterer Sohn Wenzel Lankischs d. 65 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; Ders., Lorenz Heydenreich (wie Anm. 16), S. 39 f.; zur engen Beziehung der (meistens von außen kommenden) Stadtschreiber zu führenden Familien ihrer neuen Stadtgemeinden P. Friess, Bedeutung (wie Anm. 7), S. 111 f. 66 Wenzel Lankisch d. Ä. immatrikulierte sich 1492 in Leipzig und 1497 wurde er Bakkalaureus. Seit 1509 war er Ratsherr, seit 1517 jedes dritte Jahr Bürgermeister (achtmal) und Stadtrichter (siebenmal); darüber hinaus wirkte er auch als (Ober-)Kirchvater der Zittauer Pfarrkirchenfabrik (spätestens von 1514 bis 1538). Lankischs Schwiegervater und Kollege im Pfarrkirchenamt (spätestens von 1514 bis 1531) sowie im Stadtrat (jedes zweite Jahr von 1518 bis 1526) war Paul Heydenreich (ca. 1441–1531), der Älteste der Tuchmacherzunft und Vater Lorenz Heydenreichs: J. B. Carpzov, Memoria Heidenreichiana (wie Anm. 41), S. 19; E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; Ders., Lorenz Heydenreich (wie Anm. 16), S. 38; L. Haensch, Die Familie Just, in: MGZG 7 (1911), S. 42–56, hier S. 44; Ders., Die Familie von Lanckisch, in: ebd., 8 (1912), S. 17–30, hier S. 17 f.; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 36; J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55–59, 82 (Wenzel Lankisch d. Ä.); ebd., S. 56 ff., 80 (Paul Heydenreich); zu Paul Heydenreich E. A. Seeliger, Lorenz Heydenreich (wie Anm. 16), S. 38. 67 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; ihre Zahl muss noch eruiert werden. 68 Zu verschiedenen Varianten des Nachnamens ‚Pergener‘ ebd. 69 Thomas († 1558), Wenzel († 1560) und Lukas († 1566) ‚erbten‘ nach ihrem Vater Oswald die Organistenstelle in der Zittauer Pfarrkirche, näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 352 f., 361. 70 Zum selben Termin auch: Johannes Lenkisch Zittauien, Johann Lankisch († 1557), ein Sohn Wenzel Lankischs d. Ä. aus der zweiten Ehe, Zittauer Kantor, Wenczeslaus Jänkisch Zittau­ iensis, und Wenzel Lankisch (II.) d. J., Bruder Johanns aus derselben Ehe; Album Academiae Vitebergensis ab a. Ch. MDII usque ad a. MDLX, ed. C. E. Foerstemann, Leipzig 1841, S. 165b,19, 165b,36, 166b,14 f.; weiter E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; Ders., Lorenz Heydenreich (wie Anm. 16), S. 40; Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20), Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 462 Petr Hrachovec Ä., Matthias († 1595).71 Einige von Pergeners Söhnen engagierten sich mit ihrer Mutter Anna für den Gemeinen Kasten, wobei diese kommunale Rahmenstiftung auch von anderen ‚Zwinglianern‘ – Friedrich Weigand (1482–1559), Tobias Schnürer u. a. – unterstützt wurde bzw. solche standen ihr als sog. Kastenherren vor wie Cölestin Hennig (1512–1567) oder Johann Bechrer.72 Oswald Pergener scheint sich in seiner ‚Wahlheimat‘ erfolgreich integriert zu haben. Wegen seines ‚zwinglianischen Bekenntnisses‘ wurde er keineswegs ‚häretisiert‘,73 ganz im Gegenteil fanden die Ratsherren Sympathien für seine Tätigkeit. Eine eindeutige Entscheidung für eine exakt definierte Konfession war vor bzw. um 1550 offenbar noch nicht unbedingt erforderlich – immerhin machten Pergener und Bechrer in ihren Briefen eindeutige konfessionelle Aussagen (bezüglich des Abendmahls).74 Der Zittauer Rat pflegte keine konfessionelle Eindeutigkeit zu erzwingen. Die religiös-politische Lage in den königlichen Städten der sog. 71 72 73 74 S. 46 (1933); L. Haensch, Familie von Lanckisch (wie Anm. 66), S. 18, 27, Anm. 2; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 14, Nr. IIIb/2, ebd., H. 2: 1709 bis 1855, S. 339. Vgl. Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 256: hier als „Matthäus“; weiter L. Haensch, Familie von Lanckisch (wie Anm. 66), S. 18. Die Edition: Register zu verschiedenen Handschriften des Zittauer Gotteskastens aus der Zeit der ersten 100 Jahre seit der Gründung im Jahre 1527, ed. R. Neumann, Zittau 2007, weist leider eine hohe Fehlerquote auf. Vgl. H. R. Schmidt, Die Häretisierung des Zwinglianismus im Reich seit 1525, in: P. Blickle (Hg.) / P. Bierbrauer (Red.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation (Bauer und Reformation 1), Zürich 1987, S. 219–236; P. Friess, Einfluss (wie Anm. 9), S. 23. Auch wenn Pergener kein ‚orthodoxer Zwinglianer‘ Züricher Prägung war, was seine Tätigkeit als Organist in der Zittauer Pfarrkirche belegt. Vgl. dazu Anm. 69 und 143. Im Unterschied zu den meisten Zentren des reformierten Protestantismus war in Zürich die liturgische Musik (bis 1598) und speziell die Orgelmusik (bis in das 19. Jahrhundert) verpönt. Vgl. dazu A. Ehrensperger, Geschichte des Gottesdienstes in Zürich Stadt und Land im Spätmittelalter und in der frühen Reformation bis 1531 (Geschichte des Gottesdienstes in den evangelisch-reformierten Kirchen der Deutschschweiz 5), Zürich 2019, S. 357, 436–449; F. Loetz / F. Eggimann, Differenzierende musikalische Abstinenz – die Einführung des Kirchengesangs im reformierten Zürich, in: ARG 107 (2016), S. 217–241, bes. S. 217–233, 240 f.; R. Diethelm, „da uebt, pflanzt und nerd man den waren glouben.“ Der Liturg Heinrich Bullinger, in: EvTh 64 (2004), H. 2: Zum 500. Geburtstag von Heinrich Bullinger, S. 127–139, hier S. 132; Ders., Bullinger and Worship: „Thereby Does One Plant and Sow the True Faith“, in: B. Gordon / E. Campi (Hgg.), Architect of Reformation. An Introduction to Heinrich Bullinger, 1504– 1575 (Texts and Studies in Reformation and Post-Reformation Thought), Grand Rapids 2004, S. 135–157, hier S. 142 f.; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 149 f.; D. Timmerman, Heinrich Bullinger on Prophecy and the Prophetic Office (1523–1538) (RHT 33), Göttingen/Bristol, CT 2015, S. 63–66, 295; E. Campi, Die Reformation in Zürich, in: A. Nelson Burnett / Ders. (Hgg.) / M. E. Hirzel / F. Mathwig (Bearb.), Die schweizerische Reformation. Ein Handbuch, Zürich 2017, S. 71–133, hier S. 89, 108 f., 128 (1598); Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 463 Nebenländer der Böhmischen Krone (wie in Zittau) ähnelte eher jener in den böhmischen königlichen Städten. Die Anhänger unterschiedlicher religiöser Richtungen lebten innerhalb einer Stadt mit- bzw. nebeneinander.75 Auch Pergeners altgläubiger Görlitzer Berufsgenosse Johannes Hass, der über die Zwinglianer kritischer als über die Lutheraner urteilte,76 berührte in seiner Chronik die ‚Konfession‘ Oswald Pergeners.77 Er bezeichnete ihn in Anlehnung an eine 1418 aus der Picardie nach Böhmen geflüchtete Sekte als ‚Pikarden‘78 – ein Etikett, mit dem Haß Mitglieder der Brüderunität und Zwinglianer gleichermaßen versah, Lutheraner hingegen waren für ihn Hussiten.79 Oswald Pergener und die frühneuzeitlichen Zittauer institutionellen Bibliotheken Pergeners Wirken stand am Beginn der berühmten Zittauer Ratsbibliothek, die den heutigen Altbestand der Christian-Weise-Bibliothek Zittau bildet. Er selbst baute eine (eher) semi-öffentliche Bibliothek auf. Diese muss einen Teil der 1607 an die Ratsbibliothek übergebenen 835 Bände ausgemacht haben.80 75 76 77 78 79 80 B. Gordon, Gemeinwesen und Gottesdienst in den schweizerischen reformierten Kirchen, in: ebd., S. 495–525, hier S. 515. Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 49 f., 360 ff., 466 ff., 749. Vgl. M. Christ, Town Chronicle (wie Anm. 11), S. 13 f., 17; Ders., Von Münzen (wie Anm. 11), S. 145–150. Auff solche antzeigung, hat man magistrum Osualdum statschreibern zur Sittau zu dem hern [Konrad /Konrád Krajíř von Krajek (ca. 1470–1542), Anm. P. H.] gen Jungen-Buntzel [ Jungbunzlau/Mladá Boleslav, Anm. P. H.] geschickt, den er hat mit dem hern gut kunthschafft, als ein halbir pickart. Magister Johannes Hass, Bürgermeister zu Görlitz. Görlitzer Rathsannalen, Bd. 3 (1521–1542), ed. E. E. Struve (SRL NF 4), Görlitz 1870, S. 192. Vgl. F. Šmahel, Die Hussitische Revolution, 3 Bde. (MGH Schriften 43/I–III), Hannover 2002, hier Bd. 1, S. 707, 712; und Bd. 2, S. 984 f. Vgl. M. Christ, Town Chronicle (wie Anm. 11), S. 13 f., 17; Ders., Von Münzen (wie Anm. 11), S. 145–150. So urteilte über Luther auch der sächsische Herzog (1500–1539) Georg der Bärtige (1471–1539). Vgl. C. Volkmar, Reform (wie Anm. 18), S. 453–466, 478, 567 ff., 594. Im ‚Berufsleben‘, z. B. infolge der Streitigkeiten zwischen dem Oberlausitzer Städtestand und dem Stand ‚Land‘ (Adel und Prälaten), scheinen jedoch beide Oberstadtschreiber problemlos mitgearbeitet zu haben. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41 ff.; AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1715 (der Görlitzer Rat an den Bautzener Rat; 4.3.1533); RAG, LM (1531–1534), fol. 455v f., hier fol. 456r. I.N.D. Anno 1607 Ward von einem WohlEdl. und Hochw. Rath dieser Stadt zu dem ietzigen Bücher Vorrathe der Grund geleget und mit Anschaffung 835 Stücke Bücher den Anfang gemacht. Die Donatorenbücher der Zittauer Ratsbibliothek 1607–1762. Herausgeben anlässlich des Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 464 Petr Hrachovec Es handelte sich hierbei um Nachlässe von sechs Zittauer Bürgern, unter anderem Gallus Emmenius (1541–1599), M. Michael Just (1548–1603) und Tobias Schnürer.81 Pergeners Bibliothek gelangte wohl aus dem Nachlass Schnürers in die Ratsbibliothek, denn Pergeners Bücher waren bereits zweimal ‚vererbt‘ worden:82 zuerst an den ehemaligen Kantor Onofrius Herzog und dann an den Wundarzt Johann Bechrer, wobei ein Mitglied Bechrers Lesezirkels der Schulrektor M. Tobias Schnürer war,83 der nach Bechrers Tod dessen Bibliothek ‚geerbt‘ Jubiläums „450 Jahre Sammeln in Zittau“, edd. T. Fröde / U. Kahl, Zittau 2014, S. 3; vgl. ebd., S. XXI: Berichtigung der vorher angegebenen „824 Nummern“. 81 Vgl. J. G. Kneschke, Geschichte und Merkwürdigkeiten der Rathsbibliothek in Zittau […], Zittau/Leipzig/Görlitz 1811, S. 11; E. A. Seeliger, Neues über Prokopius Naso, in: ZG 8 (1931), S. 37 f., hier S. 37; C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 606; E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 148 f.; C. Stempel, Zittauer Bibliotheks- und Museumsgeschichte im Überblick: Periodisierung und Quellenlage, in: M. Winzeler (Hg.), Weises Geschenk. Gelehrsamkeit, Unterhaltung und Repräsentation im barocken Zittau. 300 Jahre Bibliotheksaal und Wunderkammer im Heffterbau 1709–2009 (ZG 40), Zittau/Görlitz 2009, S. 74–81, hier S. 76; P. Brandt, Sammeln und Schenken. Büchergeschichte und ihre Stifter in 200 Jahren Geschichte der Ratsbibliothek Zittau, in: ebd., S. 82–101, hier S. 86; J. Sperlich / U. Kahl, Kleine Geschichte der Zittauer Bibliothek, Spitzkunnersdorf 2004, S. 4; R. Neumann, Wege durch die alte Welt. Die europäische Ausbreitung des Geschlechtes Emmen am biographischen Beispiel der Zittauer Familie Emmenius. Ein medizin- und kulturgeschichtlicher Beitrag zum 15. und 16. Jahrhundert, Zittau 2005 [zu erhalten im Altbestand der CWB Zittau], S. 57 f.; vgl. ebd., Anhang III, S. 183–224: Katalog der 209 Einzeltitel der Bibliothek des Zittauer Stadtphysikus Dr. Gallus Emmen(ius) aus Jüterbog; ohne jeden reformatorischen Schweizer Druck. 82 „Was von den früheren Werken Bullingers und Biblianders in der hiesigen Stadtbibliothek aufbewahrt wird, ist vielleicht zuerst in Pergeners Besitz gewesen“. H. J. Kämmel, Beiträge I (wie Anm. 42), S. 264, Anm. 2. 83 Schnürer war Schulmeister (1558–1586), später Ratsherr und Stadtrichter, lateinischer Dichter und Verfasser einer Stadtchronik. E. A. Seeliger, Welche Zittauer (wie Anm. 20), S. 45 (1933); E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 148, 153, Anm. 6; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 9, 23, 53, 93, 104–111, 142; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 12, Nr. II/4, S. 14, Nr. IIIa/3. Er stand im Kontakt mit den Philippisten wie Kaspar Janitius (1545–1597) und Martin Mylius (1542–1611), von denen einige am Zittauer ,Gymnasium‘ wirkten, wobei Schnürer seit 1586 ein für das städtische Schulwesen zuständiger Ratsherr war; zum Zittauer Philippismus C. A. Pescheck, Zur Geschichte des Krypto-Calvinismus in der Lausitz, in: NLM 21 (1843), S. 353–378, S. 367 f.; H. J. Kämmel, Beiträge I (wie Anm. 42), S. 267 ff., 272 f.; Ders., Beiträge zur Geschichte des Gymnasiums in Zittau II.: M. Caspar Janitius. Ein Beitrag zur Geschichte des Schulwesens in der 2. Hälfte des 16. Jahrhundert, in: NLM 49 (1872), S. 276–290, hier S. 281–290; Ders., […] III.: Das Gymnasium in Zittau während der trüben Jahre 1587–1602, in: ebd., S. 291–299; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 83 f., 92 f.; G. Rautenstrauch, Streiflichter aus der Frühzeit des Zittauer Gymnasiums. Die „Annales Gymnasii Zittaviensis“ Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 465 haben mag.84 Den Stadtbränden von 1589, 1608 und 1757 war ein Teil dieser Buchbestände zum Opfer gefallen,85 doch vor allem die Zersprengung großer Teile des Altbestandes der Ratsbibliothek von den 1960er bis in die 1980er Jahre ist sehr schmerzvoll.86 Im Unterschied zur neuen Katalogisierung der verbliebenen Luther- und Melanchthondrucke kam es noch zu keiner Auflistung der Schweizer Drucke.87 84 85 86 87 des Christian Döring, in: BJ (2002), H. 24, S. 2–13, hier S. 6 f.; Ders., Die Affäre um den Rektor Caspar Janitius im Jahre 1587 im Lichte eines konspirativen Briefes, in: OLHbll. (2005), H. 6, S. 35–38; I. Crusius, „Nicht calvinisch, nicht lutherisch“. Zu Humanismus, Philippismus und Kryptocalvinismus in Sachsen am Ende des 16. Jahrhunderts, in: ARG 99 (2008), S. 139–174, hier S. 148–152. Jedoch hat mich das widerum getrostet, das ich vor ethzlichen jaren schreiben und sendbriff ge­ sehen, welche e[uer] a[chtbarkeit] sambt euren andere[n] cristlichen mittbrudern und gehulffen am wort gottes, nemlich der herrn Leonis Jude und Pellicani, seliger gedechtnis, an ethliche un­ sere mittburger, nemlich Magistrum Osvaldum Bergenawer und Onophrium Herzogk, meine liben praeceptores, welche auch nu in gott ruhen, gethan. […] Nachdem der ewige allmechtige gott durch sein gerecht urtel uber unser sunde sein veterlich straff und rutt zusendet, durch welche er vor zweien jaren [1555, Anm. P. H.] ethlich ja vil hundert aus unserem mittel wegknam, unter welchen er auch obgemelten meinen liben freundt und bruder Onophriu[m] mitttraff. Nach deß­ selben abscheid […] und er die bucher ins Newe testament, welche e[uer] a[chtbarkeit] in druck abgefertigt, alle hatte […], vorehret sie [Witwe, Anm. P. H.] mich mitt solchen buchern, damit ich meines liben freunds nicht so leicht mocht vorgessen, welche ich zu sonderem danck angenomen […]. Es grußt euch allesambt mein liber mittbruder Tobias Schnurer. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r–448r. Zum Untergang der Nesen’schen Bibliothek 1608, wo sich wohl die Korrepondenz mit den Reformatoren befunden haben soll, W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 6, 77. Etwa 20.000 Bände infolge sog. Reorganisationsarbeiten (1977–1983); ein Teil davon kam in die SLUB Dresden, der Rest wurde gegen westliche Devisen veräußert, doch ohne Protokolle mit Bücherverzeichnissen. U. Kahl, Die Zeit der Geringschätzung und des Desinteresses ist vorbei. Teile der vor rund 20 Jahren ausgelagerten Bestände sind in die Zittauer Bibliothek zurückgekehrt, in: BJ (2001), H. 6, S. 2–7, hier S. 4 ff.; J. Sperlich / Ders., Kleine Geschichte (wie Anm. 81), S. 18 ff. (‚Diebstähle‘ 1987/88); P. Brandt, Sammeln (wie Anm. 81), S. 84. Vernichtung „von mehreren Tausend Bänden durch unsachgemäße Notlagerung […] mit austretendem Fäkalwasser“, d. h. „buchstäblich zerfallen“, in den 1960er Jahren, R. Neumann, Wege (wie Anm. 81), S. II–IV (1977–1983), IV f.; ca. 5.000 Bücher der Gymnasialbibliothek in einer Papiermühle, ebd., S. V. Vgl. U. Kahl, Luther-Bibeln aus dem 16. Jahrhundert im wissenschaftlichen und heimatgeschichtlichen Altbestand der Christian-Weise-Bibliothek Zittau, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 179–187; Ders., Martin-Luther- und Philipp-Melanchthon-Drucke des 16. Jahrhunderts im wissenschaftlichen und heimatgeschichtlichen Altbestand der Christian-Weise-Bibliothek Zittau, in: ebd., S. 188–211; T. Fröde, Die handschriftlichen Eintragungen von Reformatoren in einer Luther-Bibel in der Christian-Weise-Bibliothek Zittau, in: ebd., S. 212–227. Dabei hätte eine solche (ursprünglich semiprivate) Bibliothek Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 466 Petr Hrachovec Oswald Pergener war ein typischer ‚reformatorischer Oberstadtschreiber‘. Man kann sich dies mit einem Seitenblick auf seinen Zeit- und Berufsgenossen M. Stephan Roth (1492–1546) aus Zwickau verdeutlichen.88 Dieser hatte mit Pergener studiert, wobei „er an der Leipziger Universität eine umfassende humanistische Bildung erworben hat“89 und ‚Schüler‘ des Gräzisten Richard Croke gewesen war.90 Roths Karriere und seine Verdienste für die Vermittlung der Reformation weisen verblüffende Parallelen zu Pergener auf, auch wenn beide Männer keinen Kontakt pflegten.91 Beide wirkten als Schulmeister,92 Unterstadtschreiber,93 Stadtschreiber94 sowie Oberstadtschreiber;95 wobei Roth (1543) sogar Zwickauer Ratsherr wurde.96 Sowohl Pergener als auch Roth betrieben eine umfassende Korrespondenz und bauten eine Bibliothek auf.97 Während jedoch Roths Nachlass überliefert ist98 – er hatte ihn in seinem Testament (1546) dem Zwickauer Rat vermacht99 –, war seinem Zittauer Pendant dieses Glück nicht beschieden. 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 zur Trägerin der Memoria der ganzen Stadt werden können. Vgl. dazu am Beispiel von St. Gallen Gamper, Joachim Vadian 1483/84–1551. Humanist, Arzt, Reformator, Politiker. Mit Beiträgen von Rezia Krauer und Clemens Müller, Zürich 2017, S. 316 f.; am Beispiel von Breslau/Wrocław: D. Haberland, Thomas Rehdiger – Humanist, Sammler und Begründer der Breslauer Stadtbibliothek, in: M. Hałub / A. Mańko-Matysiak (Hgg.), Śląska republika uczonych / Schlesische Gelehrtenrepublik / Slezská vědecká obec, Dresden/Wrocław 2010, S. 73–112, am Beispiel von Zwickau, vgl. Anm. 97-99. Roth starb am 10.7.1546. R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 222. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 47, 56, 572. Vgl. ebd., S. 46–61. Roth in Zwickau (1517–1521) und Joachimsthal/Jáchymov (1521–1522/23), ebd., S. 10, 12, 62–86. Roth von 1527 bis 1533, ebd., S. 135 f. Roth von 1533 bis 1535, ebd., S. 136 f. Vgl. ebd., S. 10, 12, 136, 197 f., Roth wohl (1535–1546), auch wenn im zitierten Werk nicht immer ganz genau zwischen dem Stadt- und Oberstadtschreiberamt unterschieden wird. Vgl. ebd., S. 10, 197. Wohl 3.757 Briefe von ca. 570 Briefpartnern Stephan Roths sind bisher überliefert. Ebd., S. 9, 13–16. Vgl. ebd., S. 210–223 (ca. 6.000 Bände, davon ca. 440 Inkunabeln); „Viele seiner Bücher blieben ungelesen“; ebd., S. 194; sowie ebd., S. 221. In welchem Umfang dies auch auf Pergeners Bibliothek zutrifft, lässt sich wegen der zahlreichen Deperditen nicht feststellen. Vgl. ebd., S. 209 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 467 ‚Epistolografische Reformation‘. Wissenstransfer durch den reformatorischen Briefwechsel und Lektüre (1533–1560) „Wir wissen schließlich auch, dass man niemanden besser kennen kann als in seinen Briefen“, schrieb über Bullingers Briefnachlass sein Biograf Fritz Büsser.100 Doch Bullingers Briefe verraten nicht nur etwas über seine Persönlichkeit, sondern der Reformator setzte seine Korrespondenz als Mittel zum Aufbau und Unterhalt (Pastoration) der über ganz Europa versprengten reformierten Kirchen ein.101 Der Briefwechsel war für eine ,öffentliche‘ Wirkung bestimmt und ging Hand in Hand mit dem Austausch von Büchern.102 Man kann hier von einem 100 F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. IX; vgl. dazu auch Ders., Calvin und Bullinger, in: A. Schindler (Hg.), Fritz Büsser. Humanismus und Reformation in Zürich. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge (ZBRG 17), Bern 1994, S. 200–222, hier S. 209. 101 Vgl. F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 179; zu seinem Brief- und Buchtransfer mit Ostmitteleuropa ebd., S. 299–316 (doch nur Polen und Ungarn); weiter A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (ZBRG 19), Bern 2001, S. 19, S. 24 f. (ohne die Berücksichtigung der Länder Ferdinands I.), 31, 46, 73, 225–270 (Polen), 272, 276; Ders., Heinrich Bullinger als Kirchenpolitiker, in: E. Campi (Hg.), Heinrich Bullinger (wie Anm. 2), S. 237–249, hier S. 245, 249; A. Mühling, Bullingers Bedeutung für die europäische Reformationsgeschichte, in: EvTh 64 (wie Anm. 74), S. 94–105, hier S. 96, 99–104; D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 16; G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm. 9), S. 591–596; hier S. 594 zu Zittau; J. Małłek, Die Zürcher Reformation und Polen, in: A. Schindler / H. Stickelberger (Hgg.) / M. Sallmann (Mitarb.), Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen (ZBRG 18), Bern 2001, S. 405–413, hier S. 412 (Buchtransfer); E. Bryner, „Den rechten Glauben bewahren“. Bullingers Anliegen in seinen Briefen an polnische Theologen, in: ebd., S. 415–424; Ders., Die Ausstrahlung Bullingers auf die Reformation in Ungarn und Polen, in: E. Campi (Hg.), Heinrich Bullinger (wie Anm. 2), S. 179–197, hier S. 179; E. Bryner, Bullinger und Ostmitteleuropa. Bullingers Einfluss auf die Reformation in Ungarn und Polen. Ein Vergleich, in: E. Campi / P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger. Life – Thought – Influence, Bd. 2 (ZBRG 24), Zürich 2007, S. 799–820; R. Henrich, Bullinger als Briefschreiber, am Beispiel seiner Briefe an Johannes Haller, in: ebd., Bd. 1, S. 129–142, hier S. 140; A. Holenstein, Reformatorischer Auftrag und Tagespolitik bei Heinrich Bullinger, in: ebd., S. 177–232, hier S. 224, 231 (,pastoral networking‘); A. Mühling, Bullinger als Seelsorger im Spiegel seiner Korrespondenz, in: ebd., S. 271–287; E. Campi, Heinrich Bullinger (wie Anm. 2), S. 24 f.; R. Henrich, Bullinger’s Correspondence. An International News Network, in: B. Gordon / E. Campi (Hgg.), Architect (wie Anm. 74), S. 231–241. 102 Vgl. F. Büsser, Wurzeln (wie Anm. 2), S. 125 f.; R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 255; M. Greengrass, An „Epistolary Reformation“. The Role and Significance of Letters in the First Century of the Protestant Reformation, in: U. Rublack (Hg.), The Oxford Handbook of the Protestant Reformations, Oxford/New York 2017, S. 431–456, bes. S. 431; J. Rice Henderson, Humanist Letter Writing. Private Conversation or Public Forum?, in: T. Van Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 468 Petr Hrachovec (reformatorischen) Wissenstransfer sprechen,103 der auf diesen beiden Säulen stand.104 „Letters were essential to the Protestant Reformation in almost all its dimensions.“105 Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Überlieferung Houdt / J. Papy / G. Tournoy / C. Matheeussen (Hgg.), Self-Presentation and Social Identification. The Rhetoric and Pragmatics of Letter Writing in Early Modern Times (SHL 18), Leuven 2002, S. 17–38, hier S. 18 ff., 24 ff.; W. Boutcher, Literature, Thought or Fact? Past and Present Directions in the Study of the Early Modern Letter, in: ebd., S. 137–163, hier S. 139 f.; L. Roper, ,To his Most Learned and Dearest Friend‘: Reading Luther’ Letters, in: GH 28 (2010), S. 283–295, hier S. 285, bezeichnet Luthers Briefe als mindestens „semi-public“. 103 Zu Komponenten des Kultur- bzw. Wissenstransfers D. Haberland, Buch- und Wissenstransfer in Ostmittel- und Südosteuropa in der Frühen Neuzeit. Regionalhistorie und Medientheorie(n), in: Ders. (Hg.) / T. Katona (Mitarb.), Buch- und Wissenstransfer in Ostmittel- und Südosteuropa in der Frühen Neuzeit (SBKGE 34), München 2007, S. 9–22, bes. S. 11 f., 20 ff.; A. Langer / G. Michels, Einleitung, in: Diess. (Hgg.), Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert. Prag – Krakau – Danzig – Wien (FGKÖM 12), Stuttgart 2001, S. 7–13, bes. S. 8 (Rezeption, Transformation, Multiplikation); M. Middell, Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch. Das Konzept des Kulturtransfers in verschiedenen Forschungskontexten, in: ebd., S. 15–51, bes. S. 18 (Rezeption); S. Richter / J. A. Steiger, Einleitung, in: Diess. / M. Föcking (Hgg.), Innovation durch Wissenstransfer in der Frühen Neuzeit. Kultur- und geistesgeschichtliche Studien zu Austauschprozessen in Mitteleuropa (Chloe 41), Amsterdam/New York 2010, S. 7–16, bes. S. 12 f. (Buch als Medium); I. Dingel / W.-F. Schäufele, Vorwort, in: Diess. (Hg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit (VIEG AARG 74), Mainz 2007, S. VII–IX; speziell zum reformatorischen Briefwechsel: M. Arnold, Die Rolle der Korrespondenz bei Kommunikation und Transfer. Zu einer evangelischen Indentität in der Frühen Neuzeit, in: ebd., S. 33–47; M. Beyer, Übersetzungen als Medium des Transfers, in: ebd., S. 49–67, hier bes. S. 52–56. 104 Dazu instruktiv v. a. J.-A. Bernhard, Konsolidierung des reformierten Bekentnisses im Reich der Stephanskrone. Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte zwischen Ungarn und der Schweiz in der frühen Neuzeit (1500–1700) (R5AS 19), Göttingen/Bristol, CT 2015, S. 32 f., 49–53, 56 f., 69, 75, 129–148, 231, 236, 286–393, 455, 472, 578, 586–606, 633; zu Pergener ebd., S. 46, 127, 136, allein die Peregrination (v. a. der Studenten) war eine ,Säule‘, die in den Zittauer-Züricher Beziehungen der früheren Reformationszeit fehlte. Weiter Ders., Die Bedeutung des Basler Humanismus für Ungarn. Warum ungarische Adelshöfe zu Förderern der Reformation helvetischer Richtung wurden, in: V. Čičaj / Ders. (Hgg.), Orbis Helveticorum. Das Schweizer Buch und seine mitteleuropäische Welt, Bratislava 2011, S. 113–142; J.-A. Bernhard, Der Weg des Genfer Buches nach Ostmitteleuropa. Buchdedikationen und Übersetzungen des Genfer Buches im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, in: K. Komorová (Hg.), Európske cesty románskych kníh v 16.–18. storočí. K výskumu zámockých, meštianských a církevních knižnic [Europäische Wege der romanischen Bücher vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Zur Erforschung der Schloss-, Bürger- und Kirchenbibliotheken] (Opera Romanica 13), Martin 2012, S. 227–264, hier S. 243 f. (Pergener). 105 M. Greengrass, Epistolary Reformation (wie Anm. 102), S. 431, 434, 440: „There is no better way of exploring the habitus of the Protestant Reformers than through their surviving Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 469 (1), mit den Beteiligten des brieflichen Netzwerks (2), mit logistischen (3) und inhaltlichen (4) Aspekten sowie schließlich mit dem Transfer von Büchern und Personen (5). (1) Während Martin Luther mit der gesamten Oberlausitz nur vier Briefe wechselte,106 sind im Fall der ‚Zittauer Zwinglianer‘ allein 13 Briefe Oswald Pergeners an Heinrich Bullinger (1533–1544), zwei Briefe an Konrad Pellikan (1538/39), ein Brief (1537) an Leo Jud (1482–1542) sowie zwei Briefe (1542, 1544) an Christoph Froschauer d. Ä. (ca. 1490–1564) überliefert; daneben wissen wir von einem Brief Cölestin Hennigs an Bullinger (1539) und zwei Briefen Johann Bechrers an Bullinger (1558, 1560) – das macht insgesamt also 21 Briefe.107 Diese Zahl bildet nur einen Bruchteil der Korrespondenz zwischen Zittau, der Schweiz bzw. den correspondence“. Ders., Two sixteenth-century minorities and their scribal networks, in: H. Schilling / I. G. Tóth (Hgg.), Cultural Exchange in Early Modern Europe, Bd. 1: Religion and Cultural Exchange in Europe, 1400–1700, Cambridge/New York 2006, S. 317–337, hier S. 324: „The reformation validated the letter format still further and broadened the social constituency for its usage“. T. Van Houdt / J. Papy, Introduction, in: Diess. / G. Tournoy / C. Matheeussen (Hgg.), Self-Presentation (wie Anm. 102), S. 1–13, hier S. 1: „letters constitute a most important and interesting part of Neo-Latin literature“; ebd., S. 6 f.: Netzwerkbildung durch den Briefwechsel; dazu auch W. Boutcher, Literature (wie Anm. 102), S. 148 ff.; J. Pollmann / M. Greengrass, Introduction, in: H. Schilling / I. G. Tóth (Hgg.), Cultural Exchange, Bd. 1 (wie oben in dieser Anm.), S. 221–235, hier S. 232 f.; M. Greengrass, Two sixteenth-century minorities (wie oben in dieser Anm.), S. 318, 332, 336 f.; ebd., S. 328: „Letters were also complex vehicles for the creation of confessional identities“; L. Roper, Reading (wie Anm. 102), S. 286: Briefe als „a Reformation propagandist vehicle“, und ebd., S. 294: „strategic masterpieces“; G. Almási, The Uses of Humanism. Johannes Sambucus (1531–1584), Andreas Dudith (1533–1589), and the Republic of Letters in East Central Europe (BSIH 185), Leiden/Boston 2009, S. 43–46, 75–79; M. Arnold, Rolle (wie Anm. 103), S. 33, 38, 45. 106 Vgl. M. Christ, Zwischen Wittenberg und Prag (wie Anm. 3). 107 Die Briefe an Bullinger (bis 1544) und einer an Froschauer sind ediert; die Briefe an andere Reformatoren noch nicht. K. T. Hergang / [C. A.] Pescheck, Briefwechsel Zittauer Rathsherren mit Häuptern der reformierten Kirche zu Zürich im Zeitalter 1541, in: NLM 36 (1860), S. 145–155 (sechs Briefe in extenso abgedruckt), wobei diese Edition nicht die Originale wiedergibt, sondern die Abschriften aus der sog. Simler’schen Sammlung in der ZB Zürich. Vgl. auch E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 37, der allein sechs von sieben Briefen ins Deutsche übersetzen ließ. Zur Sammlung Johann Jakob Simlers (1716–1788) F. Büsser, Wurzeln (wie Anm. 2), S. 131 f.; Ders., Calvin (wie Anm. 100), S. 210; Ders., Johann Heinrich Hottinger und der „Thesaurus Hottingerianus“, in: Zwingliana 22 (1995), S. 85–108, hier S. 101; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 262; die Autografen werden nun ediert in HBW Briefwechsel. Diese Korrespondenz kannten z. T. auch tschechische Kirchenhistoriker, näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 343, Anm. 126; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 147 f., Anm. 24. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 470 Petr Hrachovec nichtlutherischen Zentren in Oberdeutschland ab. Die Überlieferung ist nämlich äußerst einseitig, denn alle nach Zittau gesendeten Briefe sind verschollen. Allein der Sorge Bullingers um seinen Briefwechsel108 bzw. auch um die Überlieferung seiner Schweizer Kollegen verdankt man den Erhalt der Briefe,109 die zweimal im Jahr von Zittau aus an verschiedene Züricher, Straßburger, Baseler und wohl auch Berner Reformatoren versendet wurden. Allein dem Überlieferten lässt sich entnehmen, dass Bullinger an Pergener mindestens sechs bzw. sieben Briefe schrieb, wahrscheinlich waren es wesentlich mehr.110 An den Züricher Hebrais108 Mit ca. 12.000 Stück (10.000 seiner Briefpartner und 2.000 seiner eigenen Briefe) geht es um das umfassendste Briefkorpus unter allen Reformatoren. Vgl. F. Büsser, Wurzeln (wie Anm. 2), S. 126, 128–133, 160, 164 f., 175; Ders., Calvin (wie Anm. 100), S. 209 f., 220; A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 5, 9 f., 23, 271–278 (Bullinger als eine der bestinformierten Personen seiner Zeit aufgrund seines Briefwechsels); C. Moser, Ferngespräche. Theodor Biblianders Briefwechsel, in: C. Christ-von Wedel (Hg.), Theodor Bibliander (1505–1564). Ein Thurgauer im gelehrten Zürich der Reformationszeit, Zürich 2005, S. 83–106, hier S. 98, 101 f.; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 9; E. Campi, Reformation (wie Anm. 74), S. 125 ff.; M. Greengrass, Epistolary Reformation (wie Anm. 102), S. 437, 440, 454 ff.; G. Almási, Uses (wie Anm. 105), S. 40 f.; H. U. Bächtold, Heinrich Bullinger, Augsburg und Oberschwaben. Der Zwinglianismus der schwäbischen Reichsstädte im Bullinger-Briefwechsel von 1531 bis 1548. Ein Überblick, in: ZBKG 64 (1995), S. 1–19, hier bes. S. 1 (Brief als wichtigstes Medium Bullingers), S. 8 (Nachrichtenübermittlung); Ders., „Ihr seid das Salz der Erde“. Heinrich Bullinger – vom streibaren Intellektuellen zum Kirchenpolitiker, in: O. Fejtová / V. Ledvinka / J. Pešek (Hgg.), Město a intelektuálové od středověku do roku 1848 [Die Stadt und die Intellektuellen vom Mittelalter bis 1848] (DP 27), Praha 2008, S. 255–264, hier S. 262; B. Nagy, Bullingers Bedeutung für das östliche Europa. Ein Forschungsüberblick, in: E. Kähler (Hg.), Reformation 1517–1967. Wittenberger Vorträge, Berlin 1968, S. 84–119, hier S. 84, 96–99; zu Pergener ebd., S. 86 f.; E. Egli, Zur Erinnerung an Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger, geboren 1504, in: Zwingliana (1904), Nr. 2 = Nr. 16, S. 419–437, hier S. 430–436: zu Pergener ebd., S. 433. 109 Vgl. R. Henrich, Heinrich Bullingers letztwillige Verfügung über seinen schriftlichen Nachlass, in: C. Moser / P. Opitz (Hgg.) / H. U. Bächtold / L. Baschera / A. Kess (Mitarb.), Bewegung und Beharrung. Aspekte des reformierten Protestantismus, 1520–1650, FS Emidio Campi (SHCT 144), Leiden/Boston 2009, S. 181–191, hier S. 185; weiter z. B. Oswald Myconius. Briefwechsel 1515–1552, Regesten, ed. R. Henrich, 2 Teilbde., Zürich 2017; hier Teilbd. 1, S. 79–82. 110 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 7: Briefe des Jahres 1537, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich, Zürich 1998, S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75, ein (erster) und der letzte Brief Bullingers (bis 1537), den Pergener im Februar 1534 erhielt; doch ebd., S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64; erwähnt Pergener, dass an ihn Bullinger vor einem und einem Viertel Jahr, ca. Ende 1535, ein Buch sendete, mit einem siebenten [?] Brief, ebd., Bd. 8: Briefe des Jahres 1538, edd. Diess., Zürich 2000, S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 105: Bullingers (zweiter) Brief vom 1.9.1537, den Pergener im Oktober 1537 erhielt, ebd., Bd. 9: Briefe des Jahres 1539, edd. Diess., Zürich 2002, S. 186 f., Nr. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 471 ten Theodor Bibliander (1505–1564) schrieb Pergener mindestens einen heute verschollenen Brief.111 Vom Hebraisten Konrad Pellikan wurden an Pergener sicher zwei verschollene Antworten gesendet; die erste stammt vom 30. August 1537,112 die zweite vom 31. August 1538.113 Eindeutig nachweisbar sind zwei verschollene Briefe Pergeners an den Drucker Christoph Froschauer d. Ä.114 sowie ein verschollener Brief in umgekehrter Richtung.115 Darüber hinaus lässt sich 111 112 113 114 115 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 186: Bullingers (dritter) Brief vom 13.3.1539, den Pergener am 23.4.1539 erhielt; ebd., Bd. 11: Briefe des Jahres 1541, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser, Zürich 2005, S. 86 f., Nr. 1470 (Pergener an Bullinger; 1.3.1541), hier S. 86: ein (vierter) durch Pergener erhaltener Brief Bullingers vom 31.8.1540; ebd., Bd. 14: Briefe des Jahres 1544, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger, Zürich 2011, S. 110 ff., Nr. 1857 (Pergener an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111: zwei (der fünfte und sechste) durch Pergener erhaltene Briefe Bullingers. Vgl. ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64; vgl. das Verzeichnis der heute überlieferten Korrespondenz Biblianders (220 Stück) bei C. Moser, Ferngespräche (wie Anm. 108), S. 84, 86–90, 103 ff. (Hinweise auf verschollene Briefe Biblianders in anderer Korrespondenz). Epistolam tuam 30. mensis Augusti prioris anni [1537, Anm. P. H.] scriptam summa cum voluptate legi ac ceteris communicavi fratribus; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r; wobei Pergener diesen Brief Pellikans auch in seinem Brief an Bullinger vom gleichen Tag erwähnte: Per amanuensem communicavi eam et d. Chonradi Pellicani epistolam multis fratribus; HBW Briefwechsel, Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 106; vgl. das Verzeichnis des heute überlieferten Briefwechsels Pellikans (385 Stück) C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken in Zürich 1526–1556 (ZBRG 4), Zürich 1975, S. 285–304, hier S. 299, Nr. 289 f. (Pergener); zu Pergener und Pellikan noch ebd., S. 148; vgl. auch das Verzeichnis des heute überlieferten Briefwechsels Leo Juds (159 Stück) K.-H. Wyss, Leo Jud. Seine Entwicklung zum Reformator 1519–1522 (EHS.G 61), Frankfurt a. M./Bern 1976, S. 211–245, hier S. 240, Nr. 136 (Pergeners einziger erhaltener Brief an Jud; 1537). Vgl. ZB Zürich, Ms. F 47/, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28r, wobei Pergener wiederum den Erhalt dieses Briefs von Pellikan auch an Bullinger mitteilte, an den er am gleichen Tag auch einen Brief schrieb. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 f., Nr. 1229 (Pergener an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 63. Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 107 (erster verschollener Brief an Froschauer; wohl 12.3.1538); weiter: Reliqua ad d. Chuonradum Pellicanum scripsi [Pergener an Pellikan; 21.2.1539, Anm. P. H.] et partim Germanice ad Christopherum Froschouerum; ebd., Bd. 9, edd. Diess. (wie Anm. 110), S. 63 f., Nr. 1229 (Pergener an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 63 f. (zweiter verschollener Brief an Froschauer; wohl 21.2.1539). Vgl. ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 112: Bestätigung des Erhalts seines Briefs, Frankfurt am Main, 24.3.1543. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 472 Petr Hrachovec ein verlorener Brief an den Straßburger Reformator Martin Bucer nachweisen, der, wie Froschauer von Frankfurt am Main aus, als Vermittler der Briefe nach Zürich diente.116 Auch Johann Bechrer sandte an Bullinger mindestens einen (verschollenen) Brief (wohl Dezember 1559), wobei er wenigstens einmal (zwischen 1558 und 1560) eine Antwort erhielt.117 (2) Pergeners Briefwechsel mit den Schweizer Reformatoren war eine öffentliche, gesamtstädtische Angelegenheit vieler Zittauer Ratsherren, gebildeter Bürger (Kantoren) sowie ‚eingeladener Gäste‘ jenseits der politischen, sprachlichen und konfessionellen Grenze. Bereits den ersten Brief an Bullinger ,unterzeichneten‘ viele Männer, die Spitzenpositionen in der Stadtverwaltung innehatten.118 Die ‚anderen Brüder‘ aus ‚anderen Städten‘ gehörten gleichfalls zu den politisch-religiösen Führern ihrer Gemeinden.119 Einige dieser Personen schrieben am 23. August 1542 mit Oswald Pergener sogar einen gemeinsamen Brief nach Zürich.120 116 Misi et alias literas ad Martinum Buczerum Argentoratum, rogavi, ut eas Tigurum mittere velit. Ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75, Die Briefe sind nicht überliefert. J. Rott, Die Ueberlieferung des Briefwechsels von Bullinger und den Zürchern mit Martin Bucer und den Strassburgern, in: U. Gäbler / E. Herkenrath (Hgg.), Heinrich Bullinger 1504–1575. Gesammelte Aufsätze zum 400. Geburtstag, Bd. 2: Beziehungen und Wirkungen (ZBRG 8), Zürich 1975, S. 257–284. Bucer war der wichtigste deutsche Briefpartner Bullingers. F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 260; zur Rolle Straßburgs im Buchtransfer J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 138. 117 Vgl. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r. 118 Salutant te ac alios tuos commilitones in hac civitae viri prestantes Wenceslaus Lankisch [Wenzel Lankisch d. Ä., Anm. P. H.], nostrę reipublicae iudex, Fridericus Vigantus [Friedrich Weigand, Anm. P. H.], natione Helvetius [Schweizer, Anm. P. H.], vir ordinis senatorii, Caspar Gettelus [Kaspar Güttel, Anm. P. H.], Onofrius Hertzog, Celestinus Hennig et plures alii. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272, hier S. 205; Salutant te in primis Fridericus Weigant, princeps huius senatus, Helvetius, Wenceslaus Lankisch, iudex, Caspar Guttel, Onofrius Herczog, Celestinus Hennig, Iohannes Becherer, cirurgus, Mar­ tinus N., nostri reipublicae cives, ex Lubano Franciscus Boarius cum suis charissimis, tandem ex Bohemia perquam multi. Ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76; weiter ebd., Bd. 8, edd. Diess. (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), S. 107; ebd., Bd. 10: Briefe des Jahres 1540, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich, Zürich 2003, S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger; 25.2.1540), hier S. 55. 119 Iacobus Mraczek, scriba apud Nimburgum super Albim fluvium [Nimburg/Nymburk, Anm. P. H.], Bohemus, Nicolaus Bitensis, scriba apud Turnoviam [Turnov/Turnau, Anm. P. H.], et ipse Bohemus, Franciscus Boarius, senator apud Lubanum [Lauban, Anm. P. H.], Ludovicus Flosselius, eiusdem civitatis civis. Ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64 f. 120 Osvaldus Pergenerus a commentariis, Laurentius Neumann, Celestinus Hennig, Onofrius Hertzog Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 473 Später wurden im Briefwechsel vor allem die damals wohl aktivsten ,Zwinglianer‘ Cölestin Hennig und Onofrius Herzog erwähnt.121 Zu diesem Kreis zählten auch Tobias Schnürer bzw. Václav/Wenzel Mitmánek (ca. 1510 bis vor 1564).122 Dieses Netzwerk der ‚Zittauer Zwinglianer‘ ist zu ergänzen durch die Vermittler der Briefe auf der Strecke nach Zürich; namentlich bekannt sind Johann Bechrer, Johann Hensenstein, Pergeners Schwager Tobias Engler, der Wittenberger Hebraist Matthäus Aurogallus sowie der Wittenberger Stadtrichter (wohl) Kaspar Teudel († 1545) und M. Jakob Berger (d. Ä.). Friedrich Weigand, der Teilnehmer am reformatorischen Lesezirkel Pergeners, war ein Schweizer.123 Seit 1519 saß er im Zittauer Rat, 1534 wurde er (einmal) Stadtrichter und seit 1535 (viermal) Bürgermeister. Infolge des Pönfalls 1547 musste er den Rat verlassen,124 worauf er als Vorsteher des St.-Jakob-Hospitals wirkte.125 Cölestin Hennig immatrikulierte sich 1530 in Frankfurt an der Oder. Vor Pfingsten 1535, als er bereits als ein ‚alter Kantor‘ erwähnt wird, muss er diese Stelle versehen haben.126 1547 wurde er Vorsteher des Gemeinen Kastens. Infolge 121 122 123 124 125 126 Svevus [Schwabe, Anm. P. H.], Fridrich Helvetius [Weigand, Anm. P. H.], Chuonradus Ne­ senus licentiat[us] […], Bartho. Benesß Bohemus et alii multi fratres, qui pie de vestra doctrina sentiunt. Ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167. Vgl. ebd., Bd. 13: Briefe des Jahres 1543, edd. Diess., Zürich 2008, S. 72 f., Nr. 1719, hier S. 73; ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110 ff., Nr. 1857, hier S. 112. Die meisten Personen konnten näher nachgewiesen werden, bis auf Martinus N. aus Zittau. Vgl. oben Anm. 118, sowie jene ‚fratres‘ (meistens aus Böhmen), deren ‚große Menge‘ Pergener durch die Adjektive wie ‚multi‘ bzw. ‚quam plurimi‘ hervorhob. Nur einmal schrieb er über mehr als 30 ‚fratres‘: Communicavi hanc tua[m] [epistolam vom 31.8.1538, Anm. P. H.] plus 30 fratribus; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28r. Zu seiner wahrscheinlichen Herkunft aus Toggenburg HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsin­ dely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272, hier S. 205, Anm. 11; weiter E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 57–61, 85; zu seinem Tod: 7. Der ersame wolweyse her Friderich Weygand, alte burgermeister, ist yn got vorscheyden montag noch Circu[m]cisionis [2.1.1559, Anm. P. H.] des morgens frue, folgend mitwoch an der heilign drey konig tag [d. h. vor, also am 4.1.1559, Anm. P. H.] zur erden bestattet yn der pffarkirchn unnd gelauteth wordn, wie gewonlich. F[runtschafft] d[edi]t von 2 pulsen, ist 9 g. PfA Zittau, Totengeläut mit der Großen Glocke (1553–1559), ohne Sign., fol. 77r. Er besaß ein Haus, heute Bautzner Straße 20: Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 349. Vgl. C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 273, 278. Vgl. Chronik der Stadt Zittau, ed. T. Fröde (wie Anm. 4), S. 171. Vgl. CWB Zittau, Mscr. A 267, S. 188. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 474 Petr Hrachovec des Pönfalls wurde er Ratsherr, wobei er auch Stadtrichter (1557), mehrfacher Bürgermeister und 1566 Oberkirchvater der Zittauer Pfarrkirche wurde. Er verfasste eine heute verschollene Stadtchronik.127 Der Wundarzt Johann Bechrer war ein Vorsteher des Gemeinen Kastens.128 Ein Hans/Johann Becher/Becker († 1540) aus dem Frauenviertel, der seit 1528 im Rat saß und 1539 Bürgermeister wurde,129 war wohl sein Verwandter, da er auch in der ‚Neustadt‘ wohnte.130 Onofrius Herzog aus Schwaben war Zittauer Kantor und wirkte 1538 als Bergschreiber.131 Er starb 1555 an der Pest.132 Kaspar Rettelus,133 d. h. Kaspar Güttel (Gettelus, Göt[t]li[n]g, Göttlich), war auch Kantor (1536–1553);134 er starb 127 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; H. J. Kämmel, Beiträge I (wie Anm. 42), S. 266; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 5 f., Nr. III/6; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 53, 79 f. Er besaß (vor 1543) einen siebenbierigen Bierhof, heute Innere Weberstraße 19, den nach ihm etwa nach 1566 bis etwa vor 1583 Jakob Berger (d. Ä.) besaß. Das benachbarte Haus, Innere Weberstraße 17, besaß Lukas Pergener, wobei sein Vater Oswald auch ein Haus in derselben Straße innegehabt hatte. Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 256. Darüber hinaus besaß er 1543, heute Neustadt 37, einen acht- bzw. zehnbierigen Bierhof. Ebd., S. 17, 333. 128 Ihm jhare 1569t[en] mo[n]tag[es] der 6. Juli [sic! 6. Juni nach, Anm. P. H.] Trinitat[is] [5.6.1569, Anm. P. H.] ist Hans Becherer verschiden. CWB Zittau, Mscr. A 251, unfoliiertes Blatt ‚v‘ zwischen den fol. 2v und 3r. Er oder wohl sein Nachkomme besaß 1578 einen Garten in der Helwigsgasse, heute Dornspachstraße. T. Fröde, Historisches Straßenverzeichnis der Stadt Zittau mit einer kurzen Erläuterung der Herkunft des Straßennamens, dem Datum der Benennung sowie einigen Übersichten, Olbersdorf 2009, S. 62, 71; Häuserchronik, ed. Ders. (wie Anm. 57), S. 349. 129 Vgl. Chronik der Stadt Zittau, ed. T. Fröde (wie Anm. 4), S. 162. Ein achtbieriger Bierhof, Neustadt 34, als dessen Inhaber eher erst seine Nachkommen (1544) erwähnt sind, weist zahlreiche Elemente der frühen Renaissance von 1532 auf. Häuserchronik, ed. Ders. (wie Anm. 57), S. 26; J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 58 ff., 78; E. A. Seeliger, Denkmale (wie Anm. 20), S. 4–7, Abb. 1–4. 130 Barbara, ein iungfrau, Hans Bechers [des Wundarztes, Anm. P. H.] uff der Neustad dienerin, freitag nach Martini [13.11.1556, Anm. P. H.] vorschieden. PfA Zittau, Totengeläut mit der Großen Glocke (1553–1559), ohne Sign., fol. 42r f. 131 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 6, Nr. III/7. 1543 besaß er einen achtbierigen Bierhof auf dem Markt, heute Mandauer Berg 1: Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 189, 335. Er war ein Nachbar Konrad Nesens. 132 It[em] ead[em] die [18.9.1555, Anm. P. H.] ist gestorbenn Onoffri[us] Hertzick, alhie lang cantor gewests [sechs Gr., Anm. P. H.]. PfA Zittau, Sammelband vorwiegend über das Totengeläut, H. B/C: Totengeläut mit der Messglocke (1555), ohne Sign. fol. 30r (Nr. 154). 133 E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43, hält ihn irrtümlich für einen Verwandten des Ratsherrn Nikol Rettel (seit 1508), wobei er ihn an einer anderen Stelle „Kaspar Bettelus“ nennt. Ders., Neues über Nikolaus von Dornspach (wie Anm. 43), S. 48 (1928). 134 Vgl. CWB Zittau, Mscr. A 250, fol. 174v: Caspar Götlige, dem cantor (13.5.1541); ebd., fol. 175v Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 475 1559.135 Lorenz Neumann († 1559), genannt Remus, war ein Altarist (1521), der sich 1519 in Frankfurt an der Oder immatrikulierte. 1550 war er Pfarrer in Kleinschönau/Sieniawka und 1558 (wohl) Zittauer Archidiakon,136 auch wenn er Oberseifersdorfer Pfarrer geblieben sein muss.137 Ludwig Flössel aus Lauban lässt nicht identifizieren, doch war er wohl ein Verwandter des David Flössel Laubensis, der sich 1557 in Frankfurt an der Oder gemeinsam mit Vincentius Henning Sittaviensis immatrikulierte.138 Darüber hinaus saßen zwei Flössels im Zittauer Rat.139 Bakkalaureus Franz Beier († 1543) 135 136 137 138 139 (vor 20.9.1549), 9r: (17.5.1549); C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 769 (1536); H. J. Kämmel, Beiträge I (wie Anm. 42), S. 266; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 83; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 6, 14, Nr. IIIb1; HBW Briefwechsel, Ergänzungsbd. A, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 21), S. 68; ebd., Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 205, Anm. 12. 96. Der ersame wolgelerte Caspar Götlig, ein lang zceith zum Sagan [Żagań, Anm. P. H.] unnd alher zur Zittau vleisiger unnd ein gethrauer cantor gewesen, ist yn dem herrn Christo seliglich vorschieden dinstag noch Joha[n]nis Baptistę [27.6.1559, Anm. P. H.] unter der predigt des hei­ lign evangelii. Folgende mitwoch [vor, Anm. P. H.] Petri unnd Pauli Apostolorum [28.6.1559, Anm. P. H.] zur erdn bestattet ad b[ea]tam Virginem [Frauenkirche, Anm. P. H.] unnd gelau­ teth. [Freundschaft, Anm. P. H.] d[edi]t [23 Gr., Anm. P. H.]. PfA Zittau, Totengeläut mit der Großen Glocke (1553–1559), ohne Sign., fol. 88v f. Vgl. P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345, 386, Anm. 328, S. 426, Anm. 505, S. 429, Anm. 517, S. 616, Anm. 206, S. 729, Anm. 710 (Pfarrer in Kleinschönau, nicht in Oberseifersdorf ); Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 133, 148, Anm. 28; C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 752; T. Gärtner, Die Zittauer auf Universitäten bis 1550, Zittau 1896, S. 6, Nr. 95; P. Pfotenhauer, Sechsstädter auf der Universität Frankfurt a. O. in der Zeit von 1506–1606, in: NLM 62 (1886), S. 181–205, hier S. 185, 193, Anm. 18; H. Knothe, Die Oberlausitzer auf Universitäten während des Mittelalters und bis zum Jahre 1550, in: ebd. 71 (1895), S. 133–174, hier S. 169. Seine Witwe besaß 1578 in der Helwigsgasse, heute Dornspachstraße, einen Garten. Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 349. 51. Der wirdige her Lorentz Neuman, pffarher zu Seyfferstorff, am dornestag noch Judica [16.3.1559, Anm. P. H.] gelauteth. [Freundschaft, Anm. P. H.] d[edi]t [für, Anm. P. H.] 2 pulss [ca. neun Gr.]. PfA Zittau, Totengeläut mit der Großen Glocke (1553–1559), ohne Sign., fol. 83r. P. Pfotenhauer, Sechsstädter (wie Anm. 136), S. 187, wohl Söhne Ludwig Flössels und Cölestin Hennigs. Nikolaus († 1534) von 1512 bis 1534, 1531 wurde er Stadtrichter und 1532 Bürgermeister: J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55–59, 79. Er starb am 10.6.1534. Chronik der Stadt Zittau, ed. T. Fröde (wie Anm. 4), S. 156; Paul war nur ein Ratsherr (1538, 1540, 1541, 1543, 1544, 1546) J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55–59, 79. Nach dem Pönfall (1547) wirkte er mit Friedrich Weigand als Vorsteher des St.-Jakob-Hospitals. Er besaß einen achtbierigen Bierhof, Markt 21, unweit der anderen Häuser der Familie Flössel, benachbart an einigen ‚Zwinglianern‘ (Onofrius Herzog, Konrad Nesen u. a.). Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 190, 335 (1535, 1543). Ein ,dritter‘ Nicol Flössel († 1563) besaß zwei Häuser: einen achtbierigen Bierhof, heute Albertstraße 16. Ebd., S. 59 (wohl ca. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 476 Petr Hrachovec aus Lauban beteiligte sich 1527 an der Huldigung für König Ferdinand I. sowie (1529) an der Herstellung der Büchsen zur Türkenabwehr. Im Laubaner Rat ist er zugleich als (Ober-)Stadtschreiber, also als ein Berufsgenosse Pergeners, seit 1527 überliefert bzw. zu unbekanntem Zeitpunkt als Ratssyndikus. 1540 wurde er Bürgermeister. Er unterhielt Kontakte zum Melanchthonschüler Joachim Cnemiander/Hosemann (1506–1568).140 Stadtschreiber waren auch die böhmischen Teilnehmer am Zittauer Lesezirkel: Zu nennen ist hier Mikuláš/Nikolaus Bytešský (ca. 1521–1548) aus Turnau/ Turnov am oberen Lauf des Flusses Iser/Jizera, einem bedeutenden Zentrum der Brüderunität vor der Niederlage des ersten ständischen Aufstands (1547). Er war Verfasser geistlicher Lieder sowie eines Berichtes über den Turnauer Stadtbrand (1538). Nach der Beschlagnahme Turnaus durch Ferdinand I. musste 1548 die dortige Brüdergemeinde entweder zum Utraquismus konvertieren oder auswandern. Mikuláš wählte die zweite Möglichkeit, wobei seine Frau Kateřina/Katharina, eine Kuttenberger/Kutná Hora Bürgerstochter, vor Ort verblieb. Er ging mit anderen Turnauern nach Ostpreußen, wo er 1548 am sog. Königsberger/Kaliningrader Examen der Brüderunität durch die dortigen Hof- und Universitätstheologen teilnahm. Er ließ sich dann in Soldau/Działdowo nieder, wo er 1553 Zeuge der Heirat seiner Enkelin war, die bald danach in ein anderes Zentrum der Brüderunität im Isertal, Jungbunzlau, zurückkehrte.141 Auch Jakub/Jakob Mráček war Stadtschreiber, und nach 1543 bis ca. vor 1578), und einen achtbierigen Bierhof, heute Brunnenstraße 2, zwischen den Häusern Oswald Pergeners, Konrad Nesens und Paul Flössels. Ebd., S. 249, 335 (1543). 140 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345, 348 f.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 135 f., 149 f., Anm. 53–60; Ratsherr (1527–1543): APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2255 (Chronik Wiesner II), S. 258 (Ratsherr; 1527), 273 (Ratsherr; 1528), 275 (Ratsherr; 1529), 276 (wohl Unterstadtschreiber und Ratsherr; 1530), 305 (Unterstadtschreiber; 1531), 307 (Unterstadtschreiber; 1532), 309 (wohl Oberstadtschreiber; 1533), 310 (Oberstadtschreiber; 1534), 312 (seine diplomatische Reise nach Prag; 1534), 314 (Oberstadtschreiber; 1535), 316 (Oberstadtschreiber Franz Beier, Unterstadtschreiber M. Joachim Hosemann/Cnemiander; 1536), 317 (dieselben; 1537), 330 (wie im Jahr zuvor und Beier wiederum – wie letztmals 1530 – Ratsherr; 1538), 341 (wie im Jahr zuvor; 1539), 346 (Bürgermeister, nicht mehr Stadtschreiber; 1540), 352 (Stadtschreiber, Ratsherr; 1541), 362 (Ratsherr/Kämmerer, Stadtschreiber; 1542), 367 (Tod; 1543); weiter: APWr., Archiwum Stanów Krajowych Górnych Łużyc (1372–1933) [Landständisches Archiv der Oberlausitz (1372–1933)], Sygn. 2246 (Landtagsprotokolle 1509–1594), fol. 33r (1537); AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1915 (Bautzener Ratssyndikus Franz Göritz an den Bautzener Rat; 1.12.1541). Als Syndikus soll Beier 1533 erwähnt worden sein. J. G. Gründer, Chronik (wie Anm. 22), S. 434. Die Laubaner Chroniken bestätigen dies eher nicht. Dazu noch ebd., S. 257. 141 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345 ff.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 134 f., 148 f., Anm. 30, 41–52; vgl. auch M. Thomsen, „Wider die Picarder“. Diskriminierung und Vertreibung der Böhmischen Brüder im 16. und 17. Jahrhundert, in: J. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 477 zwar in Nimburg, das im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts – wohl unter dem Einfluss Kuttenbergs – unter den utraquistischen Städten ziemlich ,radikal‘ war; zugleich lebten dort auch Böhmische Brüder.142 Während Mráček wohl ein Utraquist war, gehörte Bartoloměj/Bartholomäus Beneš aus dem mittelböhmischen Brandeis an der Elbe/Brandýs nad Labem, einer Stadt der Herren von Krajek, wohl der Brüderunität an. 1542 wird er als ein Bote erwähnt, der in Zittau den Tod des Organisten Bartel Christels († 1542), eines Schülers Oswald Pergeners und des Zittauer Pfarrpredigers M. Johannes Zacharias († 1542) mitteilte. Der gebürtige Zittauer Christel war in Brandeis tätig gewesen; falls Christel dort als Organist gewirkt hatte, wäre dies ein Komplementärbeleg zu einer ähnlichen Tätigkeit des ‚Zwinglianers‘ Oswald Pergeners.143 M. Johannes Zacharias aus Görlitz ist 1539 als Zittauer Prediger belegt. Vor 1515 wirkte er als Altarist in Görlitz, von 1516 bis 1542 als Bautzener Stiftsherr, gleichzeitig war er (mindestens bis 1539) auch als Pfarrer in Jauernick(-Buschbach) tätig. 1522 nannte ihn König Ludwig I. (1516–1526) seinen ‚Kaplan‘. Trotzdem schloß er sich der Reformation an. 1542 starb er in Dresden.144 Der bedeutendeste Teilnehmer an Pergeners Lezezirkel war Dr. Václav Mitmánek, der von der Brüderunität zum Luthertum bzw. zum Utraquismus konvertiert war und als Prediger (1540–1543) in der utraquistischen ,Hauptkirche‘, der Teynkirche, sowie als Assessor (1541–1543) im utraquistischen Konsistorium Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4), Berlin 2008, S. 145–164, hier S. 150–153. 142 Mráček wird um 1540 bei religiösen Streitigkeiten innerhalb Nimburgs erwähnt. Belegt ist er seit 1543 als Ratsschöffe, 1544 Gemeindeältester, 1546 Stadtrichter und ehemaliger (Stadt-) Schreiber, 1549 und 1552 wiederum Ratsschöffe, 1550 und 1551 Bürgermeister (wohl noch 1553); neben seinem Wohnhaus besaß er viele Immobilien, unter anderem einen Wirtschaftshof im Dorf Bobnitz/Bobnice. Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345, 347 f.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 135, 148, Anm. 30, 35–40. 143 Bisher war die Forschung der Ansicht, dass die Brüderunität z. B. wie die Züricher Reformierten die Orgelmusik in Kirchenräumen kategorisch ablehnte. Näher dazu P. Hrachovec, Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 137, 151 f., Anm. 71–76; Ders., Zittauer (wie Anm. 3), S. 352 f.; vgl. aber B 2: Bartel Christel, organista, des Magistri Oswaldi Pergamer unnd Joan­ nis Zacharie discipulus, ist vorschieden yn Behmen zum Brandteysen. Hot den armen gemeynes kastens 9 m[a]rg unnd den Franczosen [Franzosenhaus, Anm. P. H.] ouch 9 m[a]rg bescheiden, wie mir Joannes Fuchs, gerichtesdiener am dornestag noch Lucię [14.12.1542, Anm. P. H.] in kegenwertigkeit Bartl Behnisch angeczeyget hot im [15]42st[en]. CWB Zittau, Mscr. A 250, fol. 14r; näher zur Brüdergemeinde in Brandeis P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345, Anm. 131, S. 349, S. 352, Anm. 177, S. 353, Anm. 179, S. 363, 365; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 136, 148, Anm. 28, S. 150, Anm. 61, S. 151, Anm. 72. 144 Vgl. Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 137, 151, Anm. 72; Ders., Zittauer (wie Anm. 3), S. 352, 374; E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 478 Petr Hrachovec tätig war. Durch seine Politik versuchte er eine evangelische böhmische Nationalkirche zu etablieren. Dadurch geriet er in Konflikt mit König Ferdinand I., der die konservativen Strömungen innerhalb des Utraquismus unterstützte, was im August 1543 Mitmáneks erste Verbannung aus Prag zur Folge hatte. Doch er kehrte Ende 1543 zurück, worauf er gefangen genommen, bis Juli 1544 eingekerkert sowie unter Androhung der Todesstrafe der Länder Ferdinands I. verwiesen wurde.145 Mitmánek, der auch in Zürich gewesen sein soll, scheint häufig nach Zittau gereist zu sein, wo er sich als ein in Züricher theologischen Schriften ‚sehr erfahrener‘ Mann am dortigen Lesezirkel beteiligt haben soll.146 Ob Pergener und Mitmánek ihre Kontakte vermittels ihrer adligen Patrone knüpften, ist nicht klar. Mitmánek wirkte nach seiner Rückkehr aus Wittenberg,147 wo er sich von etwa 1530/31 bis 1533 und von Ende 1534 bis 1537 aufgehalten hatte, als Erzieher (etwa 1537 bis 1539) beim Böhmischen Bruder Herrn Arnošt/Ernst Jilemnický von Augezdecz/z Újezdce (vor 1512, † 1560) zu Starkenbach/Jilemnice im oberen Isertal, einem Schwerpunkt der adligen Mitglieder der Brüderunität.148 Die adligen Anhänger der Brüderunität waren für Pergeners 145 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345 f., 352, 359, Anm. 201; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 133 f., 148, Anm. 31–34, S. 151, Anm. 69; K. Krofta, Doktor Václav Mitmánek. Ein Kapitel aus der tschechischen Reformationsgeschichte, in: PR 5 (1935), S. 397–421. 146 Propter sanctissimum evangelium quidam doctor Wenceslaus cognomento Mitnanek Moravus hisce diebus Pragę coniectus est in durissima vincula. Predicavit is sincere verbum dei Bohemico sermone; Bohemis et Moravis idem est sermo. Fuit is Wenceslaus olim Parrisiis et vobiscum Tiguri, Basileę et in aliis celebribus locis. Doctiorem hominem in Bohemia nec vidi nec audivi. Est et ipse studiosissimus vestrarum ęditionum, mihi familiarissimus, qui sepius in his meis ediculis mecum contulit de rebus christianis. An liberatus sit, ignoro, sciam autem brevi. HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110 ff., Nr. 1857 (Pergener u. a. an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111 f. In Zürich war er wohl während seiner Baseler Studien (Immatrikulation 1533/34), worauf er sich im Herbst 1534 kurz in Paris aufhielt. Zu Bullingers Werken in Prager bürgerlichen Bibliotheken (allerdings mit dem Schwerpunkt erst auf der Zeit um 1600) O. Fejtová, Reformierte Literatur in Prager bürgerlichen Privatbibliotheken im 17. Jahrhundert, in: Zwingliana 32 (2005), S. 71–87; Dies., Reformierte Literatur in Prager bürgerlichen Privatbibliotheken im 17. Jahrhundert im Vergleich (Bullingers Einfluss im bürgerlichen Milieu), in: LF 129 (2006), S. 117–143. 147 Vgl. die Wittenberger Immatrikulation (Wintersemester 1530/31) Mitmáneks und Bořivojs, Burggrafen von Dohna/z Donína († 1571) zu Benatek/Benátky nad Jizerou an der unteren Iser zwischen Brandeis im Süden und Jungbunzlau im Norden: Album Academiae Vitebergensis, ed. C. E. Foestermann (wie Anm. 70), S. 140b,7, 141a,11, auch der Benateker Zweig derer von Dohna schloss sich der Brüderunität an. 148 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345, Anm. 134; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 148, Anm. 31. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 479 politisch-religiöses Netzwerk sehr wichtig. Vor allem gilt dies für Konrad Krajíř von Krajek zu Jungbunzlau und dessen Sohn Ernst/Arnošt († 1555), die große Herrschaften im Isertal besaßen.149 Pergener machte zahlreiche Zwischenhalte bei Konrad zu Jungbunzlau sowie Friedrich von Dohna († 1547) zu Benatek, als er im Auftrag des Sechsstädtebunds unterwegs nach Prag war. Diese Adeligen legten 1535 Ferdinand I. das Bekenntnis der Brüderunität vor.150 Über seine religiös-politischen Verhandlungen mit ihnen informierte Pergener seine Berufsgenossen in den anderen Sechsstädten.151 Die meisten Briefe entstanden im Lauf der ständischen Streitigkeiten, wobei Pergener häufig zu den beteiligten Adeligen reisen musste. In Bautzen waren seine Partner zwei Bürgermeister: Bakkalaureus Christoph Pfeil und M. Hieronymus Hübner (ca. 1486/87–1563),152 zu denen er 149 In der Mitte Jungbunzlau, im Süden Brandeis (bis 1547), im Norden Großrohosetz/Hrubý Rohozec und Turnau (bis 1534). Näher dazu P. Hrachovec, Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 132 f., 137, 139, 141 f., 147 f., Anm. 20–24, S. 156, Anm. 109–123; Ders., Zittauer (wie Anm. 3), S. 341 ff., 358, 362–365. 150 Vgl. E. A. Seeliger, Geschichte des Reichenberger Bezirkes bis zum Ausbruch des 30jähr. Krieges (Heimatkunde des Bezirkes Reichenberg. Neue Ausgabe 3), Reichenberg 1936, S. 196 f., 227; Ders., Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 40 ff. Ob Pergener auch mit den Špetle von Janowitz zu Weißwasser/Bělá pod Bezdězem westlich von Jungbunzlau im Kontakt stand, ist nicht klar. Ebd., S. 40 f. Gleiches lässt sich über den Herrn Johann/Jan VI. von Biberstein/z Bibrštejna († 1550) zu Kost und Trosky, nordöstlich von Jungbunzlau, dem Vormund der Friedländer/Frýdlant Linie der Bibersteiner in den 1520er/1530er, sagen. Johann VI. war ein Anhänger der Brüderunität. Ebd., S. 40. Im Jungbunzlauer Kreis residierte auch Nikolaus/ Mikuláš Burggraf von Dohna († 1542), aus der Grafensteiner/Grabštejn Linie, dessen ‚konfessionelle‘ Präferenzen eine Nähe zur Brüderunität sowie zum Utraquismus aufweisen. Ebd.; Ders., Geschichte (wie oben in dieser Anm.), S. 82 f., 100 f., 185–190, 227 f.; J. Prochno, Reformationszeit (wie Anm. 5), S. 19 f. 151 Vgl. AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1766 (der Zittauer Rat an den Bautzener Rat; 3.8.1533; Pergeners Handschrift), 1802 (derselbe an denselben; 30.3.1534), 1833 (derselbe an denselben; 9.8.1536), 1905 (derselbe an denselben; 8.7.1541), 1958 (derselbe an denselben; 9.12.1543); Regesten: P. Arras, Regestenbeiträge 1531–1540 (wie Anm. 55), S. 50, 59, 62; Ders., Regestenbeiträge zur Geschichte des Bundes der Sechsstädte der Ober-Lausitz von 1541–1547, zusammengestellt auf Grund der Urkunden, die sich im Bautzner Ratsarchive (Fund Ermisch) vorfinden, in: NLM 79 (1903), S. 241–292, hier S. 241 f., 251; weitere Abschriften durch Pergeners Hand: AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde, Nr. 1681 (12.7.1531), 1800 (24.3.1534); Regesten: P. Arras, Regestenbeiträge 1531–1540 (wie Anm. 55), S. 51, 58. 152 Vgl. AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1706 (Pergener an Pfeil; 30.1.1533), 1722 (Pergener an Hübner; 14.3.1533), 1725 (derselbe an denselben; 2.4.1533), 1724 (Übersetzung einer tschechischen ‚Zeitung‘ zur Nr. 1724; 24.3.1533); Regesten: P. Arras, Regestenbeiträge 1531–1540 (wie Anm. 55), S. 33, 38 ff.; E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41 f. Pfeil war Ratsherr von 1526 bis zum Pönfall (1547), wobei er seit 1533 (meistens) alle drei Jahre (fünfmal) Bürgermeister war; nach 1547 war er erst von 1559 bis 1561 wiederum im Rat vertreten, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 480 Petr Hrachovec ein engeres Verhältnis als zum altgläubigen Johannes Haß in Görlitz hatte, sodass er ihnen ‚vertraulichere‘ Auskünfte erteilte.153 Pergener war allein zwischen dem 7. März und dem 1. April 1533 dreimal in Jungbunzlau und in Brandeis bei Konrad von Krajek,154 in Prag und bei Burggraf Friedrich von Dohna zu Benatek. Mit diesen Adeligen unterhielt er sich über ständische Streitigkeiten, die militärisch-politische Lage in Ungarn sowie kirchenpolitische Angelegenheiten. Mit Burggraf Friedrich sprach er beispielsweise am 10. März 1533 über die schwache Basis Ferdinands I., der in Böhmen kaum über königliche Kammergüter verfügte, sowie über die unsichere (böhmische) Königswahl seines Nachfolgers, die Ferdinand I. durchsetzen wollte.155 Friedrich gehörte zu den Anführern der ständischen Opposition gegen Ferdinand I. während des sog. Ersten böhmischen Ständeaufstandes (1546/47). Eine solche politisch-religiöse Einstellung teilten auch die Herren von Krajek, die als Pergeners Nachrichtenübermittler bezüglich der Türkenkriege dienten. In seinem Brief an Hieronymus Hübner erwähnte Pergener, dass ihm Herr Konrad eine tschechisch geschriebene ,Zeitung‘ von seinem Klienten Peter/Petr Raschin von Riesenbung/Rašín z Rýzmburka († 1537) zu Altenburg/Staré Hrady übergeben habe, die (wohl) Pergener für die Bautzener ins Deutsche übersetzte.156 Pergener muss also Tschechisch beherrscht haben.157 153 154 155 156 157 wobei er 1559 Stadtrichter war. Hieronymus Hübner war Ratsherr 1509 und dann von 1514 bis zum Pönfall (1547), wobei er seit 1529 (meistens) alle drei Jahre (sechsmal) Bürgermeister war. H. Baumgärtel, Rathsverfassung und Rathslinie der Stadt Bautzen, Bautzen [1901], S. 10, 31–35. Dem her[n]n Magistro von Gorlitz [ Johannes Haß, Anm. P. H.] hab ich gerstern[n] mit zufelli­ ger[r] botschaft der gleychen meynu[n]g auch zugeschrieben, idoch nicht so weytleufftig. Dis alles ich euch, als meynem gunstigen hern[n], gutter[r] meynung nichtt wolde pergen; AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1722 (Pergener an Hübner; 14.3.1533). Pergener hielt sich auch beim Oberlausitzer Landvogt (1527–1549) Zdislav Berka von Dubá († 1553) auf. Ebd., Nr. 1718 (9.3.1533); Regest: P. Arras, Regestenbeiträge 1531–1540 (wie Anm. 55), S. 38. Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 42 (Pergener an Hübner; 14.3.1533; Volledition); von diesem Brief AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1722, ist heute nur der zweite Bogen überliefert. Vgl. AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1724 (Peter Raschin von Rieseburg an Konrad von Krajek; 24.3.1533; Pergeners Autograf ); Raschin, der 1537 in Ungarn fiel, war Unterkämmerer der böhmischen Königin (1523–1537). Ebd., Nr. 1725 (Pergener an Hübner; 2.4.1533): Neue getzeiten von der turkischen potschaft, so gen Wien kommen, seint dem her[r]n Conradt, jdoch bemisch, zukom[m]en. Hab dieselben auf die eyl nicht mogen bekommen, jdoch tzeiger[r] hat ein extract bemisch; weiter. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 42. Vgl. W. Haupt, Gedeon Hoffmanns Wechselbüchlein von 1609, in: ZG 12 (1935), S. 1 ff., hier S. 2. Tschechische Briefe wurden von Böhmen aus nach Zittau zur Übersetzung für andere Sechsstädte gesendet. Auch Pergeners Nachfolger im Oberstadtschreiberamt Nikolaus (von) Dornspach (1516–1580) aus Mährisch Trübau/Moravská Třebová sprach Tschechisch. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 481 (3) Vor allem 1537 scheint der Briefwechsel zwischen der Schweiz und Zittau in eine wichtige Phase eingetreten zu sein, als die Zustellungsprobleme zwar noch nicht vollständig gelöst, aber zumindest zum Teil überwunden waren.158 Was die ,Logistik‘ als einen wichtigen Aspekt der Kommunikation der Zittauer Reformation betrifft, so gelang es Pergener, einige Brief- und Buchvermittler (Kaufleute, Bürger, Buchdrucker und -führer, Universitätsangehörige) für die Zustellung zu gewinnen,159 von denen sieben bekannt sind: Martin Bucer, Johann Hensenstein, Tobias Engler, Matthäus Aurogallus, Kaspar Teudel, Johann Bechrer und Christoph Froschauer d. Ä. Am frühesten ist neben Bucer Johann Hensenstein belegt.160 Die Übergabe der Briefe und Bücher erfolgte während der zweimal jährlich in Frankfurt am Main stattfindenden Buchmessen, die den wichtigsten Knotenpunkt der zeitgenössischen Kommunikation darstellten.161 Daher orientierte sich Pergener mit seinen Briefen an den Messeterminen,162 auch wenn er beklagte, 158 159 160 161 162 Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 13, Nr. III/1; E. A. Seeliger, Nikolaus Dornspach (wie Anm. 43), S. 38. Recte me admonuisti, doctissime Bullingere, in postrema epistola, quam abs te accepi anno 1534 in mense februario, ut tandem rationem aut viam invenire velim, ut literae vestrę ad nos sepe et nostrę ad vos pervenire possent. HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75; dazu am Beispiel Polens A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 240 f., 270; M. Greengrass, Epistolary Reformation (wie Anm. 102), S. 437 f.; F. Egmond, Correspondence and natural history in the sixteenth century: cultures of Exchange in the circle of Carolus Clusius, in: F. Bethencourt / Dies. (Hgg.), Cultural exchange in Early Modern Europe, Bd. 3: Correspondence and Cultural Exchange in Europe, 1400–1700, Cambridge/New York 2007, S. 104–142, hier S. 123 f. Zu solchen Vermittlern K. Beyrer, Brieftransport in der Frühen Neuzeit. Entwicklung und Zäsuren, in: C. Antenhofer / M. Müller (Hgg.), Briefe in politischer Kommunikation vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert / Le lettere nella comunicazione politica dall’Antico Oriente fino al XX secolo (SPK 3), Göttingen 2008, S. 169–183, hier S. 172–175. Nactus modo sum adolescentem mercatorem a Francfordia [Frankfurt/Main, Anm. P. H.], qui modo agit in Montibus Chutnis [Kuttenberg, Anm. P. H.], civitate Bohemię celebri; is promisit sese posthac literas nostras deferre Francfordiam, idque bis in anno, easque bona fide offerre Tigu­ rinis mercatoribus adhibitis pręcibus, ut vobis reddantur in manus, facturus his literis periculum; HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75. Vgl. M. Toeller, Die Buchmesse in Frankfurt am Main vor 1560. Ihre kommunikative Bedeutung in der Frühdruckzeit, München 1983, bes. S. 124, 151–154 (Kaufleute, besonders Buchhändler als Vermittler der Briefe); weiter R. Henrich, Bullinger’s Correspondence (wie Anm. 101), S. 236; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 254, 272; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 334 f.; M. Steinmann, Johannes Oporinus. Ein Basler Buchdrucker um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Basel 1966, S. 50–56. Ad futuras nundinas, si Christi gracia adfuerit, pluribus scribam; ea sit cum nobis omnibus; HBW Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 482 Petr Hrachovec dass nur wenige Personen nach Frankfurt reisten.163 Die Leipziger Buchmessen spielten eine geringere Rolle, gleiches gilt für andere in den Wissenstransfer eingebundene Orte (Prag, Kuttenberg, Wittenberg, Nürnberg, Bautzen, Görlitz). Eben aus Frankfurt am Main stammte Johann Hensenstein,164 der in Kuttenberg einheiratete und zunächst ein zuverlässiger Bote war;165 später reiste er allerdings nur noch selten nach Frankfurt.166 Die Briefboten waren mithin ein Dauerproblem.167 Pergener sorgte sich permanent um die Zustellung der Briefe.168 Spätestens 1538 fand er drei weitere Boten: seinen Schwager Tobias Engler, den Wundarzt Johann Bechrer (über dessen Nürnberger Schwiegervater) und den Züricher Drucker Froschauer,169 der regelmäßig mit seiner Produktion an den Frankfurter 163 164 165 166 167 168 169 Briefwechsel, Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42; weiter ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64; ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 112; StAZH, Sign. E II 367, S. 5–8 (Pergener an Froschauer; 20.2.1542), hier S. 8; allgemeiner dazu M. Toeller, Buchmesse (wie Anm. 161), S. 134–137; C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 111 f., 225. Merito me accusabis pigritię, quod tanto tempore responsum non dederim; excusabit me primum, quantum poterit, raritas eorum hominum, qui litteras Francfordium perferrent; HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110–112, Nr. 1857 (Pergener u. a. an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111. Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 44; weiter P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 349 f.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 136, 150, Anm. 63 f. Ad vernas nundinas Francfordianas pluribus vobiscum per litteras colloquar. Iohannes ille Hen­ senstein constituit singulis vernis nundinis Francfordium sese profecturum; is erit idoneus et fidelis nunctius. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 187. In causa vero fuit iuvenis ille Francfordianus, Ioannes [Hensenstein, Anm. P. H.] nomine; ex quo uxorem in Chutnis Montibus duxerit, raro Francfordiam adit, licet natus hic sit. Ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42, 41 f. Dazu allgemein K. Beyrer, Brieftransport (wie Anm. 159), S. 175 f. Male me habet litteras meas, quas ad Martinum Bucerum misi, ad vos non pervenisse. HBW Briefwechsel, Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 107; weiter ebd., Bd. 12 (wie Anm. 62), edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser, S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167; ebd., Bd. 13, edd. Diess. (wie Anm. 121), S. 72 f., Nr. 1719 (Pergener an Bullinger; 8.2.1543), hier S. 73. Cogitabimus de ratione, qua certus aliquando nunctius Tigurum veniat, neque tutum est incertis hominibus in tam longinquam regionem committere litteras. Epistolam tuam et Pellicani una cum confessione uxoris meę frater [Tobias Engler, Anm. P. H.], qui modo agit Wittenberge, misit ad me nullis additis litteris. Omnia tamen pulchre erant obsignata. Bis iam scripsi adfini meo, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 483 Buchmessen teilnahm und dort als Zusteller für Bullingers Briefe und als einer der wichtigsten ‚physischen‘ Knotenpunkte der reformatorischen Kommunikation fungierte.170 Als Briefpartner171 war er Vermittler und Adressat von Pergeners Briefen,172 der wiederum Froschauers Drucke bewunderte.173 Tobias Engler, der sich 1537 in Wittenberg immatrikulierte, diente gleichfalls als Briefzusteller, wobei im lutherischen Wittenberg auch der Hebraist Matthäus Aurogallus sowie der Stadtrichter Kaspar Teudel als Vermittler wirkten.174 Aurogallus besuchte im 170 171 172 173 174 ut saltem indicaret, a quo accepisset litteras, nam opus esse responso. Impetrare potui nihil. Has litteras tradidi cuidam [ Johann Bechrer, Anm. P. H.] ex nostris fratribus, qui hic sunt, curatu­ rum, Norinbergam [Nürnberg, Anm. P. H.] perferendas, qui bona fide promisit sese curaturum, ut illinc per socerum suum Francfordium perveniant; nam is frater, huius urbis cirurgus, uxorem duxit Norinbergę, licet hic sit natus. Scripsi et germanice Christofero Froschovero, ut litteras vobis reddat. Ebd., Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 107. Vgl. M. Toeller, Buchmesse (wie Anm. 161), S. 135–138; U. B. Leu, Reformation als Auftrag. Der Zürcher Drucker Christoph Froschauer d. Ä. (ca. 1490–1564), in: Ders. / C. Scheidegger (Hgg.), Buchdruck und Reformation in der Schweiz (Zwingliana 45/2018), Zürich 2018, S. 1–80, hier S. 8, 14 f., 26, 58–64; 71 f.; ebd., S. 65 (Pergener); Ders., Die Zürcher Buch- und Lesekultur 1520 bis 1575, in: E. Campi (Hg.), Heinrich Bullinger (wie Anm. 2), S. 61–90, hier S. 80 f.; Ders., Buchdruck im Dienst der Reformation. Die Zusammenarbeit zwischen dem Zürcher Drucker Christoph Froschauer d. Ä. und den Reformatoren Huldrych Zwingli sowie Heinrich Bullinger, in: T. Kaufmann / E. Mittler (Hgg.), Reformation und Buch. Akteure und Strategien frühreformatorischer Druckerzeugnisse / The Reformation and the Book. Protagonists and Strategies of Early Reformation Printing (BuW 49/2016), Wiesbaden 2017, S. 176, 184–187 (zu Pergener); P. Leemann-van Elck, Offizin Froschauer (wie Anm. 61), S. 37–43, 70, 75 ff.; G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm. 9), S. 498, 582 f.; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 132 f., 332; H. Fast, Heinrich Bullinger und die Täufer. Ein Beitrag zur Historiographie und Theologie im 16. Jahrhundert (SMGV 7), Weierhof 1959, S. 49 f. Zu Kontakten der Stadtschreiber zu den Buchdruckern R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 212 ff. Wellet hierynnen keynen verdrieß haben, das ich beyde brieff zusammenn geschriben [den Brief an Bullinger vom selben Tag, Anm. P. H.]; wolt euch allen gernn vilmer schreyben, so bin ich der potschaft gantz ungewiß, muß alletzeit die brieff in frembde stete bestellen, hab nicht wol tzeit selber auszureyttenn. HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), S. 112 f., Nr. 1857, hier S. 113. […] dann so wir eure bucher nicht hetten, wösten wir nichten zulesen. Ebd., S. 112; Es sein ye vil redlicher leuth in diesen landen, die eure schrifft ser gern lesen, desgleichen der von Basel und Strasburg. StAZH, Sign. E II 367, S. 5–8 (Pergener an Froschauer; 20.2.1542), hier S. 5; vgl. auch ebd., S. 7 f. Non libet modo plura scribere, nam litterę tradendę erant prętori Wittenbergensi [Kaspar Teudel, Anm. P. H.], qui hiis diebus [5.8.1539, Anm. P. H.] cum doctissimo viro d. Matheo Aurigallo Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 484 Petr Hrachovec folgenden Jahr nochmals Zittau und nahm Pergeners Briefe nach Wittenberg für die zur Frankfurter Buchmesse reisenden Buchführern mit.175 Als Vermittler dienten ferner Oberlausitzer Kaufleute176 aus Bautzen177 und Görlitz.178 Pergener beklagte häufig, dass Brief- und Büchersendungen verloren gingen179 bzw. zeigte sich erleichtert, wenn sich seine Befürchtungen nach einer erfolgreichen Zustellung nicht bestätigten.180 Auf das Angebot des lokalen Buchmarkts wollte er sich gleichwohl nicht verlassen, auch wenn er auf diesem Wege zu Veröffentlichungen aus der Schweizer Buchproduktion gelangte.181 Mit gleichen 175 176 177 178 179 180 181 professore hebraicarum litterarum, in hac civitate [Zittau, Anm. P. H.] fuit. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 186; weiter ebd., S. 186 f., Anm. 8; näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 350, 360; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 136, 150, Anm. 63; zu Teudel E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 44. Ex litteris meis, quas sępius Tigurum misi, presertim hiis, quas nuper d. Matheus Aurigal­ lus per bibliopolas Wittenbergenses Francfordium misit. HBW Briefwechsel, Bd. 10, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger; 25.2.1540), hier S. 54. Auch in Wittenberg konnte man zeitgenössische Schweizer reforma­ torische Bücher lesen. J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 413. Plura scribere volui, optime Bullingere; nunctius adstat excepturus literas. HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76. Reperi tandem hominem in Budissin, que civitas iter diei ab hac urbe [Zittau, Anm. P. H.] sita est, qui nundinas Francfordienses non negligit. Is ultro promisit litteras meas Christofero Froschau­ ero sese exhibiturum addens insuper bibliothecam eius sibi esse notam. Ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42. Sintemal ich zu Görlitz von der Zittaw ander ursachen halbenn bin gezogenn, unnd yn dem mir zufellig botschafft keyn Franckfurdt ist fürkommen. Ebd., Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 66 f., Nr. 1231 (Hennig an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 66. Sed non contigit omnibus fratribus uti istis commentariis propter paucitatem exemplariorum; nam pauca advehuntur, quid cause sit nescio. Ebd., Bd. 7, edd. Diess. (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64; weiter ebd., Bd. 10, edd. Diess. (wie Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger; 25.2.1540), hier S. 54; ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42. Nisi christianissimus d. Chuonradus Pellicanus proximis nundinis Francfordiensibus ad me lit­ teras plenas pietate et fide misisset maxima adfectus essem tristitia; incertus plane fuissem litteras meas quantumlibet impolitas Tigurum non pervenisse. Ebd., Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 f., Nr. 1229 (Pergener an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 63. Divinare non possum, quid nam causę sit, cur adeo raro exemplaria vestror[um] librorum ad nos perferantur. Multi sunt bibliopolę in his Sex civitatibus [Sechsstädte, Anm. P. H.], ad quos, cum pervenio, illico rogo, num quid libellorum vestrorum habeant [et] certe divina virgula, ut Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 485 Problemen musste sich auch Johann Bechrer auseinandersetzen, der Bullinger direkt um Zusendung von dessen Produktion sowie um schriftliche Antworten auf seine Briefe ersuchte.182 Bullinger antwortete wirklich, doch der Bote wollte seinen Brief wegwerfen und Bechrer einreden, dass Bullinger an ihn nur einen mündlichen Gruß übermittelt hätte.183 Deswegen trafen sowohl Bechrer als auch Pergener Maßnahmen, um die Zustellungen zweimal im Jahr während der Frankfurter Buchmessen zu gewährleisten. Ein verlässlicher Bote, der Bechrers Briefe den nach Frankfurt fahrenden Leipziger Buchführern übergeben sollte,184 fand sich in Jakob Berger d. Ä. († 1589), einem Mitglied des Leipziger Paulinums185 182 183 184 185 dici solet, hunc libellum tuum adeptus sum tandem [et] obtinui. StAZH, Sign. E II 367, fol. 11r f. (Pergener an Jud; 1537), hier fol. 11r. […] e[uer] a[chtbarkeit] wol doch unbeschwert die tittel der bucher, welche e[uer] a[chtbarkeit] uber ethliche andere buchlen haben, euren kirchen zu nutz laßen ausgehen, anmelden, sonderlich, so was deudsch ist, so wil ich und mein zugethan liber bruder [Tobias Schnürer, Anm. P. H.] al­ len fleis furwenden, damitt wir dieselben bekomen mochten. Ich hab wol etzliche horen nennen, aber bißher nach hie bey uns nicht konnen ankomen, denn es kombt eurer bucher gar selten zu uns. Ebd., Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447v; vgl. auch ebd., fol. 448r (Bitte um schriftliche Antwort). Es sagt der libe Salomon: ,Gleich wie rauch den augen und essigk den tzenen, also auch ein fauler denen, die ihn senden.‘ [Spr 10,26, Anm. P. H.]. Den spruch magk ich wol auff den boten, wel­ cher mir das erste schreiben von e[urer] a[chtbarkeit] hat bringen sollen, deuten, denn da der­ selbe lose mensch dasselbe biß auff vier meiln bracht, hat ers hinwerfen wollen, da aber ungefehr meiner landßleut zwen darbey gesessen und die oberschrifft mir zustendigk erkant, haben sie das schreiben zu sich genomen und mir zubracht. Da ich aber den brieff offnet und die furbitt, welche e[uer] a[chtbarkeit] wegen deß boten gethan, verstanden, hat mir erst sein untreu furnemen gar we gethan. Es sol mir hiemitt e[uer] a[chtbarkeit] gentzlich glauben, so er zu mir komen und nur ein gruß von e[urer] a[chtbarkeit] auch an alles schreiben angetzeigt hett. Ebd., fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r. […] da ich dann öffter e[urer] a[chtbarkeit] wird schreiben konnen, denn ich hab ein sehr gutten freundt zu Leyptzigk, Magistrum Jacobum Berger, welcher Oeconomus ists im Pauler collegio, der hat mir diesen rath gegeben, das ich ihm deß jars zwir, nemlich Bartholomei und Mittfasten, die briff e[urer] a[chtbarkeit] zustendigk ubersenden sol. Da wil er sie e[urer] a[chtbarkeit] wol und gewiß durch die buchfurer zuschaffen. So hoff ich, […] wenn die Zuricher buchfurer nach Franckfort abreisen, das sie solch e[urer] a[chtbarkeit] schreiben mittnemen konnen und den Leiptzigern uberanthworten. […] und konnen also deß jares auffs wenigst einander zuyr durch schreiben ersuchen. Ebd., fol. 477v. Vgl. Matrikel, Bd. 1, ed. G. Erler (wie Anm. 13), S. 638, Nr. P 8, Anm. 3: Iacobus Berger Sittaviensis 4½ gr. (Immatrikulation; Wintersemester 1541); mit Anmerkung: Oeconomus communitatis Paulinae; weiter ebd., Bd. 2, ed. Ders. (wie Anm. 13), S. 699, Nr. 4 (Bakkalaureus; 1547), S. 731, Nr. 5, Anm. 3 (Magister; 1553); vgl. auch UA Leipzig, Bestand: Urkunden, Urkunde Sign. 1577-10-18 (18.10.1577). Auch wenn im Regest der Urkunde, https://www.archiv.uni-leipzig.de/ (letzter Zugriff am 6.6.2020), der Titel ‚Ökonomus‘ fehlt, was trotzdem plausibel ist, denn diese Quelle betrifft eine Auszahlung aus dem gemeinen Tisch des Kollegs. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 486 Petr Hrachovec und möglicherweise einem Verwandten Oswald Pergeners.186 Jakob Berger d. Ä. bzw. eher sein gleichnamiger Sohn (d. J.) hielt eine Klagrede im Gedicht über den Zittauer Stadtbrand 1589 „Historia miserabilis incendii Sittaviensis“, ein bisher ungedrucktes Werk, das „mit seinen 770 Hexametern an Umfang sowohl wie an künstlerischem Gehalt das Hauptwerk des Zittauer Humanismus darstellt“.187 Sein Autor, der Zittauer ,Gymnasiallehrer‘ M. Michael Just lobte darin „die Gelehrsamkeit eines Jakob Bergers, der 1541 in Leipzig studierte und Oeconomus communitatis Paulinae war“.188 (4) Betrachtet man die Briefe unter dem Aspekt der ‚konfessionellen‘ Selbstvergewisserung, so spielte der größte Zankapfel unter den Reformationskirchen, das Abendmahlsverständnis, eine zentrale Rolle. Die Zittauer bekannten sich hierbei zur Züricher Abendmahlsauffassung. Pergener betonte gegenüber Bullinger, dass Herr Konrad Krajíř die zwinglianische Abensmahlauffassung vertreten haben soll,189 auch die Herren von Dohna fänden die Schweizer Lehre gut.190 Die Abendmahl186 Er besaß etwa nach 1566 bis etwa vor 1583 ein Haus, heute Innere Weberstraße 19, direkt neben dem Haus Lukas Pergeners, wobei diesen siebenbierigen Bierhof vor Jakob Berger (d. Ä.) unter anderem (vor 1543) Cölestin Hennig besessen hatte. Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 256; der Name ‚Pergener ‘ änderte sich in Zittau im Laufe des 16. Jahrhunderts allmählich zu ‚Berger‘. Vgl. dazu oben Anm. 68. 187 W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), 9 f.; vgl. auch ebd., S. 105, 150, 159–174, 260 f. 188 Ebd., S. 105; dazu CWB Zittau, Mscr. B 20, fol. 9v: Jacobus Bergeruscopiose [et] cum energia Sittae excidium narrat. / Inter [et] hos noster multos concivis in annos / BERGERUS docto prog­ natus patre JACOBO / BERGERO ( fido, quo se iactavit Elyster [(Weiße) Elster, d. h. die Stadt/ Universität Leipzig, Anm. P. H.] jampridem Oeconomo celebris philyręaq[ue] MUSA, cuius honos semper nomen pietasq[ue] manebunt). ‚Bergers‘ Klagrede endet erst ebd., fol. 11r. M. E. war der ‚Leipziger‘ M. Jakob Berger d. Ä., d. h. der Briefvermittler, eher der Vater des ‚Redners‘ von 1589. Dies kann man Justs Gedicht sowie dem Totengeläut für M. Jakob Berger d. Ä. entnehmen: 82. Den 1. October [1589, Anm. P. H.] ist ein polst gebeyret worden herr Magister Jacobus Bergern von Leiptzg, Jocuf Bergers vater, der kirche[n] 2 gilden. PfA Zittau, Totengeläut mit der Großen Glocke (1586–1603), ohne Sign, fol. 18r; weiter CWB Zittau, Mscr. B 300b, fol. 130r. 189 Observantissimus enim est evangelice veritatis verstramque assertionem, imo Christi et apostolorum doctrinam de cena domini unice complectitur. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 205; sowie die Zittauer Quantum ad rem eucharistię attinet, iam pridem nos pię [et] sancte docue­ runt duo lumina d[ominorum] Iohanni[s] Oecolamp[adii] [et] Hul[drici] Tzving[lii], quorum monumenta in aeternum durabunt. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r. 190 […] novi autem quamplurimos, bene precantur vestris ecclesiis, in primis proceres ac nobiles, ad quos vestra nomina sepius perveniunt, inter quos sunt barones a Krayku [von Krajek, Anm. P. H.], a Domina [!] [z Donína, d. h. von Dohna, Anm. P. H.] et plures alii. Ebd., fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28v. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 487 sauffassung der Züricher und der Brüderunität gliche wie ein Ei dem anderen, worüber die Brüder hocherfreut gewesen seien;191 in gleichem Sinn äußerte er sich gegenüber Konrad Pellikan.192 Auch Johann Bechrer bekannte sich zur Züricher Abendmahls­ variante.193 Die Briefe der Schweizer Reformatoren waren für die Zittauer der Anlass, ihrer Hochachtung für die Religiosität der Züricher,194 denen sie zutiefst ergeben waren,195 Ausdruck zu verleihen. Zugleich war man sich deren Bedeutung für die Ausbreitung der Züricher Glaubenslehre bewusst. Es ging um ein ‚Werk Gottes‘, das für seine Empfänger eine grundsätzliche Bedeutung nicht nur ‚auf dieser Welt‘ hatte.196 Bullingers theologische und pastorale Tätigkeit, vermittelt durch seine 191 Morem, quem in cena domini servatis […], fratribus, qui sunt in Bohemia, ad verbum exposui; nam id maxime cupiebant. Quanto gaudio perfusi sunt eo audito, alii potius pronunciabunt; mos enim illorum, quem ipsi observare solent in sacratissima domini cena, tam similis est vestro ut ovum ovo. HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76. 192 Fratres tame[n], quos vulgus odiosis nominibus Picardos et Waldenses in Bohemia et Moravia ap­ pellitat, ferme vestrum observant morem in cena dominica. Communicant ter aut ad sum[m]um quater in anno, ad quam cenam omnes conveniunt, fratres sum[m]a religione arcentur, autem qui publicis vitiis et criminibus sunt inquinati. Vestitu ministri nihil a ceteris differunt. Vitrea aut argentea habent pocula. Nullum hic videre licet vestigium papisticę cenę. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28r f.; detaillierter zu diesen Beobachtungen zur Liturgie der Brüderunität P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 355–358; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 137 ff., 153 f., Anm. 81–92. 193 Nach deßselben abscheid [Onofrius Herzogs, Anm. P. H.], weil sein libs weib wol wise, das ich neben ihm eurer leer (welche ich mitt mund und hertzen grunde, die rechte alte cristliche leer in allen artickeln, sonderlich vom heiligen abendmal deß herren bekenne und, ob gott wil, biß in meinen tod bekennen wil) anging [!]. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r. 194 Mirantur omnes vestram in scribendo humanitatem, sedulitatem ac diligentiam. DEUS labores vestros secundet fortunetq[ue]! […] Vestra summa pietas et charitas me ad scribendum incitat. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r f.; weiter ebd., fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28r; StAZH, Sign. E II 367, fol. 11r f. (Pergener an Jud; 1537), hier fol. 11r; HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64; ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167. 195 […] et ego me tibi ac fratribus Tigurinis totum dedico, devoveo ac dedo. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 205; weiter ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76; StAZH, Sign. E II 367, fol. 11r f. (Pergener an Jud; 1537), hier fol. 11r f. 196 […] das e[uer] a[chtbarkeit] sunst mit höen wichtigen geschefften, sorgen und creutz alltzeit beladen ist und […], das e[uer] a[chtbarkeit] großen fleiß und arbet haben mitt schreiben und vormanen, damitt rechte cristliche warhafftige göttliche leer möcht recht gepflantzt, wachsen und erhalten Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 488 Petr Hrachovec Korrespondenz, stand für die Zittauer im Zeichen einer ‚metaphysischen Gruppenbildung‘ einer einzigen wahren Kirche dies- sowie jenseits durch Christus.197 Ein solcher ‚reformatorischer Briefwechsel‘ verfügte als ein Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit über eine eschatologische Kraft,198 wobei er nicht nur der ‚profanen‘ Nachrichtenübermittlung diente; zugleich ging es um eine symbolische Kommunikation199 unter den Christen selbst sowie der Christen direkt mit dem Gott.200 Die 197 198 199 200 werden.[…] Der ewige allemechtige gott helff und vorley, ob wir ja in dieser welt der leiplichen beywonung nicht gebrauchen konnen, das wir doch dorth in seinem leben bey unserem liben herrn und bruder Jesu Cristo mogen zusamenkomen und alda sambt allen rechtglaubigen ewig beyei­ nander leben. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r und 447v; weiter HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 66 f., Nr. 1231 (Hennig an Bullinger), hier S. 67; dazu F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. X. Gottes gnad durch seynen eingebornen sohn Jesum Cristu[m], unsern heiland und warhafftigen helffer, der ihm gewißlich eine ewige kirche im menschlichen geschlechte durchs evangelion sam­ let, zuvor. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r. Da ich denn selbs tegelich meinen liben treuen gott e[urer] a[chtbarkeit] halben mein gebet fur­ bringen will, […] darneben auch e[urer] a[chtbarkeit] gehulffen, welche in eurer cristlichen gemein treulich am wort arbten helffen, und anderen anderßwo, als dem herrn Calvino […], den h[ei­ ligen] geist geben, das sie alle sambt e[urer] a[chtbarkeit] getrost in deß herrn weinbergk arbten, die dorner und ander ander [!] unkraut helffen außfegen, welche denn jetzund allenthalben nicht allein im babstum, da sie ungehindert wachsen mogen, wie sie wollen, ja noch wol fleisigk zum wachsen gewartet werden, sonder auch unter den rechtglaubigen widerum einwurtzeln wollen und wachsen. Es spricht wol der libe Joannes in seyner epistel: ‚Sie waren wol mitt uns, aber nu seint sie wider uns etc.‘ [1 Joh, 2,19, Anm. P. H.]; ebd., fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r f. Zu Briefen als Medien der symbolischen Kommunikation H. Droste, Briefe als Medium symbolischer Kommunikation, in: M. Füssel / T. Weller (Hgg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft (SKGWS 8), Münster 2005, S. 239–256, hier S. 252 f. (Korrespondenz als soziales Kapital); F. Egmond, Correspondence (wie Anm. 158), S. 118–121. Unser liber herr und h[ei]land Jesus Cristus vorley e[urer] a[chtbarkeit] ein langwerigk gesundes leben, damitt e[uer] a[chtbarkeit] seiner liben kirchen dem teufel und allen rotten zu trutz nach moge mitt leren und schreiben furstehen, damitt sein reich gefodert, deß teufels zerstort, sein nahme geehrt, deß Satans geschwindet werde und die arme kirche durch mitwirckung deß h[eiligen] geists und eure leer moge getrostet und erhalten werden. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 448r, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r, 478r; HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 187; zum Wirken des Heiligen Geists (in Bullingers Wirken und Werken) F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 136; Ders., Spiritualität in der Zürcher Reformation bei Zwingli und Bullinger, in: A. Schindler (Hg.), Fritz Büsser. Humanismus (wie Anm. 100), S. 130–148, hier Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 489 Briefe dienten als Medien des religiösen Trostes und der Freude; so war Cölestin Hennig über Bullingers Briefe und Schriften derart erfreut, dass er sich nach Zürich begeben wollte, um Bullinger sehen zu können.201 Diese Freude über eine ‚christliche‘ Freundschaft unter vonein­ander weit entfernt lebenden Menschen, die sich nie sahen, doch umso enger in einer solidarischen Gebetsgemeinschaft verbunden waren, wurde trotz toposhafter Formulierungen als eine greifbare, quasi physische Gegenwart der Abwesenden wahrgenommen.202 So suchte Pergener nach dem gewaltS. 132, 134, 145; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 77 ff., 200–216; G. W. Locher, Praedicatio verbi dei est verbum dei. Ein Beitrag zur Charakteristik der Theologie Heinrich Bullingers, in: Zwingliana, Bd. 10/1, S. 47–57, hier S. 51–56; D. Clavuot-Lutz, Eleganter et breviter Erasmus exposuit. Auf Spurensuche in den Predigtkommentaren zum Römer- und Galaterbrief von Heinrich Bullinger, in: C. Christ-von Wedel / U. B. Leu (Hgg.), Erasmus in Zürich. Eine verschwiegene Autorität, Zürich 2007, S. 193–221, hier S. 200 (Gottes Gnade als Quelle für Bullingers Exegese); E. Egli, Analecta Reformatoria II: Bibliografien: Bibliander, Ceporin, Johannes Bullinger, Zürich 1901, hier S. 30–41; H. Selderhuis, Kirche am Kreuz. Die Ekklesiologie Heinrich Bullingers, in: E. Campi / P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 101), S. 515–536, hier S. 519; C. Strohm, Frontstellungen, Entwicklungen, Eigenart der Rechtfertigungslehre bei Bullinger, in: ebd., S. 537–572, bes. S. 571 f.; I. Karle, „Praedicatio verbi dei est verbum dei“. Bullingers Formel neu gelesen, in: EvTh 64 (wie Anm. 74), S. 140–147, bes. S. 141–144; zur ,tröstenden‘ Eschatologie und Apokalyptik und anderen religiösen Kommunikation Bullingers H. Selderhuis, Kirche (wie oben in dieser Anm.), S. 516–526; F. Büsser, Heinrich Bullinger Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 175 f., ebd., Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 235–240, 317–330; Ders., Wurzeln (wie Anm. 2), S. 116; A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 35–40; D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 38–41, 140 ff., 208 f.; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 183–200. 201 […] schreib euch als meynem lyben herrn und preceptori der lehr halben, so ich aus euren büchern entpfangen […]. Verhoff auch, so es got aber schicken wil, ich wil mich dazu so stellenn, das ich eyns mals euch wil besuchenn und alldo mündlich hören, was ich langst von euren schrifften eyngnom­ men habenn und auch langst begertt habe. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 66 f., Nr. 1231 (Hennig an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 66 f. 202 Cupis in fine epistolę me non debere irasci tumultuario stilo tuo. Hoc tibi persuadeas, velim episto­ las tuas mihi gratiores esse magnis donis, imo ego valde precor, ut boni has impolitas meas litteras consulas. Salutant vestras ecclesias fratres, quos antea recensui, et tu, decus sacrarum litterarum, vale feliciter; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28ar, weiter ebd., fol. 28r.; HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110/112, Nr. 1857 (Pergener u. a. an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111: Summo perfundimus gaudio apud vos fieri preces pro nobis; idem et nos faciemus. […] Ob mortem Leonis Jud [19.6.1542, Anm. P. H.] affecti sumus merore, non tamen ethnico, sed vere christiano. Vgl. auch ebd., Bd. 7, edd. H. U. Gäbler / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75; ebd., Bd. 8, edd. Diess. (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 106; ebd., Bd. 10, edd. Diess. (wie Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger; Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 490 Petr Hrachovec samen Tod Zwinglis (1531), als sein Glaube erschüttert war, nach Trost in Zwinglis und Oekolampads Schriften.203 Trostbriefe stellten eine ‚epistolografische Gattung‘ dar, derer sich die Reformatoren für die Verbreitung ihrer Lehre bedienten.204 Dieser Trost galt als ein Mittel gegen persönliche Qualen (z. B. Erkrankungen),205 grassierende Seuchen und gegen die Türkengefahr.206 Jenseits dieser religiösen Kommunikationsebene benachrichtigte Pergener die Schweizer über die allgemeine religiös-politische Lage in den Ländern Ferdinands I. Zu einer solchen ,Berichterstattung‘ hatte ihn Bullinger selbst aufgefordert,207 da 203 204 205 206 207 25.2.1540), hier S. 54; zu solcher Gegenwart der Abwesenden mittels des Briefwechsels auch M. Greengrass, Two sixteenth-century minorities (wie Anm. 105), S. 331; allgemeiner O. G. Oexle, Die Gegenwart der Lebenden und Toten. Gedanken über Memoria, in: K. Schmid (Hg.), Gedächtnis, das Gemeinschaftt stiftet, München/Zürich 1985, S. 74–107. Post infaustum Martem, quo e medio sublatus est sanctę memorię vir Huldrichus Zuinglius, exi­ gua fuit apud nostrates spes quemquam fore, qui eius doctrinam precipue de eucharistia publice profiteri auderet, iamque multi ex fratribus meis – nam sciebant me impensissime suis adherere scriptis – me erroneam ovem apellabant, ut puta, quia pastor misere interiisset, cuius interitus sane maximum multis hic attulit memorem. […] cumque ego contra tantam turbam solus ferme non sufficerem, tacitus mecum omnia scripta tum Zuinglii tum Iohannis Oecolampadii, viri in­ comparabilis, sedulo domi incepi relegere. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 204. Zu Bullinger als Tröster Arnold, Rolle (wie Anm. 103), S. 43; A. Mühling, Bullinger (wie Anm. 101), S. 274–282; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 259; D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 158–163; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 128 f.; vgl. auch M. Greengrass, Epistolary Reformation (wie Anm. 102), S. 438; Ders., Two sixteenth-century minorities (wie Anm. 105), S. 331. Accepi epistolam tuam ultima mensis augusti prioris anni scriptam, Heinriche in Christo colendis­ sime, in qua percipio ęstate illa te nihil scribere potuisse ob morbos quosdam et vertiginem capitis, a quibus te vexatum cum dolore audio. Sed te iam restitutum et hoc dei benignitate nihil ambigo. Servabit Christus fideles ministros suos in utilitatem reipublice christianę et suę ecclesię usque ad iustam ętatem. Sed interim certi sumus, ut afflictiones, morbos, carceres, vincula, si cui obveni­ unt, non fortunę accepta feramus, sed deo omnipotenti. Perturbavit seu potius afflixit nonnihil et hoc meum corpusculum in preterita ęstate nescio quę infirmitas occulta, sed non prostravit. HBW Briefwechsel, Bd. 11, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 110), S. 86 f., Nr. 1470 (Pergener an Bullinger; 1.3.1541), hier S. 86. Morbi et varię infirmitates, quibus iam plures mortales perire videmus apud finitimos nostros tum in Bohemia, tum in Slesia, deterrere me possent, nisi scirem mortem esse transitum ad sedes beatiores et mutationem conditionis deterioris in longe meliorem. Credo enim firmiter animos fidelium protinus, ut ex corporibus evaserunt, subvolare cęlo, numini coniugi eternoque gaudere etc. Quare hec vita potius captivitas est et mors quam vita; quo plus a mundo abscedimus, hoc propius accedimus ad deum. Ideo mori christianis nihil aliud est quam mundum relinquere et ire ad deum etc. Ebd., vgl. auch ebd., Bd. 12, edd. Diess. (wie Anm. 62), S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 166 f. Accepi in preterito mense octobri [1537, Anm. P. H.] epistolam tuam, charissime frater, Tiguri Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 491 Pergener sozusagen ein ,Experte‘ war, auch wenn ihm einige Fehler unterliefen.208 Er beschrieb den Zürichern die liturgische Praxis der böhmisch-mährischen Mehrheits-,Konfession‘ der Hussiten/Utraquisten209 und berichtete über den Kontroverstheologen und Wiener Bischof Johann Fabri (1478–1541), der 1537 eine polemische Schrift gegen die Kommunion unter beiderlei Gestalt herausgab, calendis septembris prioris anni scriptam, in qua ais me tibi probe referre animum candidum et talia nunctiare de Bohemis fratribus, que prorsus animum tuum exhilarabant. HBW Briefwechsel, Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 105 f. Bullinger kam in näheren Kontakt mit der Lehre der Brüder­ unität 1532, als in Zürich ihr Bekenntnis erschien und als sich sein Züricher Kollege Leo Jud nach der Krise des Züricher Protestantismus infolge der Niederlage von 1531 der Brüderunität annäherte. C. Scheidegger, Täufer, Konfession und Staat zur Zeit Heinrich Bullingers, in: U. B. Leu / Ders. (Hgg.), Die Zürcher Täufer 1525–1700, Zürich 2007, S. 67–116, hier S. 70–82; H. Fast, Heinrich Bullinger (wie Anm. 170), S. 32 ff., 164–167, 173–196, Nr. 1–5; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 101–107; D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 214 f.; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 245; E. Campi, Das theologische Profil, in: A. Nelson Burnett / Ders. (Hgg.) / M. E. Hirzel / F. Mathwig (Bearb.), Schweizerische Reformation (wie Anm. 74), S. 449–493, hier S. 473 f.; G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm. 9), S. 542–549, 570 f.; zu solchem Interesse Bullingers am Beispiel Polens A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 238. Später nahm er eine kritische Einstellung zum polnischen Zweig der Brüderunität ein. E. Bryner, Bullingers Anliegen (wie Anm. 101), S. 419 ff.; B. Nagy, Geschichte und Bedeutung des Zweiten helvetischen Bekenntnisses in den osteuropäischen Ländern, in: J. Staedtke (Hg.), Glauben und Bekennen. Vierhundert Jahre Confessio Helvetica Posterior. Beiträge zu Ihrer Geschichte und Theologie, Zürich 1966, S. 109–202, hier S. 149 f., 180, 181 f. (1530er Jahre). 208 Er führte einige Ereignisse, die die südfranzösichen Waldenser betrafen, auf die Brüderunität zurück. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28v; dazu auch HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76; aufgrund des 1536 von Theodor Bibliander herausgegebenen Briefwechsels von Zwingli und Oekolampad A. Mühling, Der Briefwechselband Zwingli–Oekolampad von 1536, in: C. Christ-von Wedel / S. Grosse / B. Hamm (Hgg.), Basel als Zentrum des geistigen Austauschs in der frühen Reformationszeit (SMHR 81), Tübingen 2014, S. 233–242; E. Egli, Analecta Reformatoria (wie Anm. 200), S. 41–50; näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 343; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 133, 148, Anm. 25 f. 209 Na[m] maxima pars hominum in Bohemia iam multis annis utraq[ue] specię sunt usi, exceptis sex forte civitatibus, quę eandem summis votis flagitant et precantur, sed frustra. […] Sacerdotes utrinq[ue] coniugia detestant[ur]. Rasi incedunt eucharistiam et recondunt ac circumferunt clara lucę. Candelas accendunt. Divos invocant. Ab esu carniu[m] certis diebus abstinent. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28v; näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 358 f.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 139, 154, Anm. 93 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 492 Petr Hrachovec und bezichtigte diesen, sich des vakanten Prager Erzbischofstuhls bemächtigen zu wollen; Fabri hatte dadurch die utraquistische ständische Mehrheit gegen sich aufgebracht und musste fliehen.210 Die Altgläubigen – wie der Wiener Bischof – wurden von Pergener immer negativ etikettiert. Im Gegensatz dazu zeichnete er ein positives Bild der Schweizer Reformierten und der Brüderunität, beschrieb die Hussiten/Utraquisten mit neutralen Worten und nahm gegenüber der Wittenberger Reformation eine zurückhaltende Position ein. In diesem Sinne berichtete Pergener über den Tod des altgläubigen sächsischen Herzogs Georg des Bärtigen.211 Eine schlimme Rolle spielten die ‚Papisten‘ nach seiner Darstellung ferner bei der Ausbreitung zweier Gottesstrafen, der Pest und der Türken: In Gestalt des Wiener Bischofs Friedrich Nauseas (ca. 1496–1552) suchten sie die Verbreitung des Evangeliums zu verhindern.212 In seinem Bericht über den misslungenen Versuch des lutherischen Herzogs Joachim von Münsterberg-Öls/ Ziębice-Oleśnica (1503–1562), sich 1539 zum Breslauer Bischof wählen zu lassen, bezeichnete Pergener diesen ausdrücklich als einen Nachkommen des (hussitischen) Königs Georg von Poděbrad.213 Die positive Einstellung Pergeners zur böhmischen Reformation lässt sich auch anhand seiner Amtsführung nachweisen, denn er datierte die Briefe in der Ratskanzlei nach ‚dem heiligen Märtyrer Jan Hus‘.214 Ein weiterer Beleg für die positive Einstellung der Oberlausitzer zu Hus 210 […] ex parte […] Vulcani Wiennensis [ Johann Fabri, Anm. P. H.], qui priore blasphemum et virulentum libellum [ J. Fabri, Confutatio gravissimi erroris asserentis in sacramento altaris […] non esse totum et integrum Christum […], Leipzig: Nikolaus Wolrab 1537 (VD16 F 198), Anm. P. H.] scripsit ad senatum Pragensem, in quo damnavit com[m]unionem utriusq[ue] spetiei. Asserens eam non nisi sacrificulis licere. Libellus mihi visus no[n] est et ni auctor libelli repentina dissimulata profectione sibi consuluisset, iustam temeritatis vel blasphemię accepisset mercedem. […] Nititur Vulcanus Wiennensis Archiepiscopatum Prage, qui ante multos annos collapsus est. Denuo restituere obluctantur proceres regni. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28v f.; näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 359; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 139 f., 154, Anm. 96. 211 Papistę ubique lugent ob principem Georgium Saxonię sublatum. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 187. 212 Vgl. ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42. 213 Vocatur ad episcopatum illustris princeps Ioachimus Monsterbergensis; trahunt autem hii prin­ cipes genus a rege Georgio Bohemorum. Ebd., Bd. 10, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger; 25.2.1540), hier S. 54 f. 214 […] geschriben under der stadt kleynern secret freytags nach Johannis Hussii, martiris, anno etc. im [15]41t[en]. AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1905 (der Zittauer Rat an den Bautzener Rat; 8.7.1541; Pergeners Handschrift); Regest: P. Arras, Regestenbeiträge 1541–1547 (wie Anm. 151), S. 241 f.; zu Hus als einem (evangelischen und hussitischen) Heiligen P. N. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 493 stellt der Brief Luthers an den Rektor der evangelischen Bautzener Ratsschule Nikolaus Specht († 1565) vom 12. Dezember 1538 dar, dem eine verlorene Abbildung „des heiligen Mannes“ Jan Hus angehängt wurde.215 Johann Bechrer sollte dann noch die katholische Erneuerung erleben, als um 1560 in Zittau und auf dem nahen Oybin der Jesuitenorden tätig wurde, den er in der herkömmlichen evangelischen polemischen Tradition als ‚Jesu wider‘ bezeichnete und für eine Sekte wie die Schwenckfelder hielt.216 Daher ersuchte er Bullinger um den Züricher Katechismus, um dem jesuitischen Katechismus des Petrus Canisius (1521–1597), der damals in Zittau und Oybin wirkte, standhalten zu können.217 Haberkern, Patron Saint and Prophet. Jan Hus in the Bohemian and German Reformations (OSHT), New York 2016. 215 U. Koch, Von Peucer (wie Anm. 48), S. 71 f., Abb. des lateinischen Briefs vom 13.12.1538. Deswegen halte ich die Auffassung für allzu apodiktisch, dass die Oberlausitzer im Unterschied zu anderen evangelischen Glaubensgenossen das Hussitentum und Jan Hus abgelehnt und nicht für ‚Vorläufer‘ Luthers gehalten hätten. M. Christ, Von Münzen (wie Anm. 11), S. 148, 150; Ders., Zwischen Wittenberg und Prag (wie Anm. 3). M. E. muss zwischen der frühen Reformationszeit (vor 1550) unterschieden werden, als das Hussitentum, d. h. Hussitenkriege, trotzdem abgelehnt wurde, und der Konfessionalisierungsära (um 1600), als man Hus als Vorläufer Luthers anhand der von Hus ‚ausgesprochenen‘ Prodigien betrachtete. P. Hrachovec, Böhmische Themen in der Zittauer Stadtchronistik des frühen 17. Jahrhunderts, in: L.-A. Dannenberg / M. Müller (Hgg.), Studien zur neuzeitlichen Geschichtsschreibung in den böhmischen Kronländern Schlesien, Oberlausitz und Niederlausitz (Beihefte NLM 11), Görlitz/Zittau 2013, S. 251–318, hier S. 288–296. 216 Solcher Schmähworte wie ,Jesu wider‘ bedienten sich auch die Lutheraner. T. Kaufmann, Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts (SuR Nr 29), Tübingen 2006, S. 218, 249–254. 217 Ich bitt auch freuntlich, e[uer] a[chtbarkeit] woll mich unterrichten, ob man auch den catechis­ mu[m], welcherr eurer jugent furgestellt ist, deudsch bekome, denn ich mocht denselben gern nicht allein fur die meinen, sonder auch andere haben, der ursach halb: Es rotten sich allenthalb umb unsere gegend nicht allein des Schwenckfeldi leer, sonder auch die lesterliche sect, welche sich Confratres Jesu oder Jesuiten nennen, welche billich Jesu wider genennt werden, welche rott und seckt sonderlich eurer, das ist der reinen leer Jesu Cristi auffs feindest ist, wie ihr lesterlicher catechismus außweißt. Daru[m] wolt ich solchen catechismu[m] gern haben, das ich die meinen daru[m] kondt unterweisen und dem elend, so gott durch solche seckte[n] dreuet, furkomen mocht. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447v; zu den Züricher Katechismen Leo Juds G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm. 9), S. 571 f.; E. Campi, Reformation (wie Anm. 74), S. 110; C. Christ-von Wedel, Leo Jud als Beispiel für die Erasmusrezeption zwischen 1516 und 1536, in: Dies. / S. Grosse / B. Hamm (Hgg.), Basel (wie Anm. 208), S. 109–126, hier S. 111–119; zum Kontext der Erwähnung der Schweckfelder und der Schriften Bullingers C. Scheidegger, Täufer (wie Anm. 207), S. 89 f.; H. Fast, Heinrich Bullinger (wie Anm. 170), S. 44 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 494 Petr Hrachovec Über die Wittenberger Reformation schrieb Pergener nur wenig, wobei es überhaupt fraglich ist, ob man von exakten konfessionellen Trennlinien ausgehen kann. Ein Zittauer Prediger, der von Wittenberg aus nach Zittau gekommen und ein treuer Anhänger Luthers gewesen sein soll, lobte Pellikans Drucke, nachdem ihm Pergener diese gezeigt hatte.218 Mit der Gestaltung der Liturgie, vor allem des Abendmahls, in Zittau, der Oberlausitz, Schlesien und Sachsen war Pergener unzufrieden.219 Sie war für ihn mit wöchentlichen Kommunionsgottesdiensten, kostbaren Ornaten und goldenem Abendmahlsgerät allzu ‚lutherisch‘;220 dem stellte er die nüchterne Liturgie der Brüderunität gegenüber. Trotzdem ermunterte er seinen Schwager zum Studium des Griechischen und Hebräischen im lutherischen Wittenberg.221 Die Kenntnis des Hebräischen und Griechischen war für den philologisch interessierten Pergener wichtig. In dieser Hinsicht war für ihn die Produktion der Wittenberger Offizinen sowie das Unterrichtsangebot an der dortigen Universität eine Enttäuschung.222 Aus der Elbestadt kamen nämlich vor allem deutsch- 218 Noster contionator, qui nuper e Wittenberga huc concessit, nestio quo casu, Indicem tuum bibli­ orum apud me conspexit. Deus bone, quam ille laborem tuum commendabat, licet Luth[ero] sit deditissimus. Respondi, quid facturus esset, si cetera videret, quę fratres Tigurini in lucem edide­ runt. Aiebat is, scripta illorum sibi prorsus esse incognita. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r. 219 Ritus in ecclesiis nostris et in toto Marchionatu Superioris Lusatię, quem vulgo Sex civitates apell­ amus, et in Slesia similis est ritui ferme Saxonico. Ebd., fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28ar. 220 Cena dominica apud nos celebratur singulis dominicis diebus. Communicant aliquando 10, 20, 30 homines. Minister utitur vestibus papisticis et aureis poculis, que contrectare nemo audet, nisi sit sacrificulus in locum papistici canonis. Hic mos servatur in tota regione [et] finitivis provintiis, quę Wittenbergensium renovationem agnoscunt. Ebd., fol. 28r; näher zu Pergeners Betrachtungen P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 355 f.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 137 f., 154 f., Anm. 98. Der Breslauer Reformator Dr. Johann Heß (1490–1547) aus Nürnberg gehörte ebenso zum Netzwerk von Pergener, der an Bullinger schrieb, dass er an Heß Bullingers Gruß übermitteln ließ: Salutavi et d. Iohannem Hessum Wratislawiensem, cui vestra salutatio fuit gratissima. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 187. 221 Uxoris mee frater [Tobias Engler, Anm. P. H.] duos annos egit Wittenberge, rediit Terentianus [Terentianus Maurus, Grammatiker (ca. 200 n. Chr.), Anm. P. H.] nec principia vel Grecę vel Hebraicę linguę attigit, ad quę ego multum adhortabar; sed surdo cecini. Ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167. 222 Wittembergensis[!] ministri nihil preter Germanicos libros nobis obtrudunt; ebd., S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), S. 42; Qui e Wittenberga ad nos veniunt, ignari sunt Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 495 sprachige Drucke nach Zittau, auf welche Pergener von oben herab schaute.223 Mit der Produktion der Schweizer oder Straßburger Offizinen, deren Angebot er anhand der Korrespondenz mit den dortigen Hebraisten verfolgte,224 konnte Wittenberg um 1540 aus seiner Sicht nicht Schritt halten.225 Unzufrieden mit fehlenden Sprachkenntnissen wollte Pergener sogar den Hebräischunterricht in Zittau institutionalisieren.226 Dazu dienten wohl die Besuche des Matthäus Aurogallus in der Stadt (belegt 1539/40) sowie seine Korrespondenz mit den Züricher Hebraisten. Er gewann dafür einen ‚jüdischen Vermittler‘ des Hebräischen, einen getauften Juden wohl aus der Stadt Weißwasser, der Residenz der Špetle von Janowitz. Wie viele andere (un)getaufte Juden verstand dieser abgesehen vom Hebräischen wohl nur seine Muttersprache, sodass sich die Zittauer Lutheraner gegen dessen Anstellung an der Ratsschule stellten,227 was die ‚Zwinglianer‘ sehr 223 224 225 226 227 Hebraicarum litterarum. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23v. E Wittenberga nihil talium librorum sperandum. Prodeunt Germanici Dialogi, D[octor] Luthe­ rus expostulavit Germanici de furto cu[m] Cardinali Moguntino. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28ar; M. Luther, Wider den Bischof zu Magdeburg Albrecht Kardinal […], Wittenberg: Hans Lufft 1539 (VD16 L 7402, VD16 L 7403, VD16 ZV 29164); Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luther bis zu dessen Tod, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (BBA 10), Baden-Baden 21989, S. 393, Nr. 3318 f.; M. Luther, Wider den Bischof zu Magdeburg, Albrecht Kardinal. 1539, in: WA, Bd. 50, Weimar 1914, S. 386–431, vgl. S. 393 die Editionsanmerkung, dass diese Flugschrift Anfang Januar 1539 gedruckt wurde. Vgl. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28r; zur Präferenz des Lateinischen R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 154 f.; U. B. Leu, Reformation (wie Anm. 170), S. 47; O. Fejtová / J. Pešek, Erasmus, Luther und Melanchthon in den Privatbibliotheken der böhmischen Bürger um 1600, in: Colloquia 5–7 (1998–2000), S. 66–93, hier S. 73. Libri, quos nobis mittit Tigurum, Basilea aut Argentoratum, omnibus piis fratribus, quorum numerus in dies crescit, sunt gratissimi. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28ar. Nihil omnino nos tam male habet, quam quod ignari sumus hebraicarum litterarum. Ebd., fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23v. Vgl. S. G. Burnett, Jüdische Vermittler des Hebräischen und ihre christlichen Schüler im Spätmittelalter, in: L. Grenzmann / T. Haye / N. Henkel / T. Kaufmann (Hgg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit I. Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden) (AAWG NF 4: Berichte über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters), Berlin/New York 2009, S. 173–188, hier S. 174, 187 f. (etwa 30 solche bekannte Vermittler in Italien und Deutschland um 1500); Ders., Christian Hebraism (wie Anm. 17), S. 23–27, 59; C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 169–174, 201 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 496 Petr Hrachovec enttäuschte.228 Pergener brachte ihn bei sich unter und zeigte ihm die Schweizer hebräistische Druckproduktion; der darüber sehr erfreute ‚Jude‘ hätte daraufhin die christlichen Hebraisten in der Schweiz besuchen wollen, wenn er nicht an einer Gehbehinderung gelitten hätte.229 Die Vorliebe Pergeners für das Hebräische beruhte nicht auf einem dezidierten Philosemitismus, sein Interesse war rein humanistisch-philologischer bzw. pneumatologischer Natur.230 Gegenüber den Juden war er eher negativ eingestellt. Das belegt sein Bericht an Froschauer über die kurzfristige Verbannung der Juden aus Böhmen durch Ferdinand I. 1541/42.231 Sie wurden eines Bündnisses 228 Venit ante aliquot annos ę Hierosolimis [ Jerusalem, Anm. P. H.] iuvenis quidam Judęus in Bo­ hemiam in civitatem Bielam [wohl Bělá pod Bezdězem/Weißwasser, Anm. P. H.]. […] Pro­ fessor hic iuvenis factus est, cum patro christiane fidei is. Nullam linguam preter Hebraicam [et] Germanicam novit. Hunc accersivi ad nos, ut in publica scola in Hebraica lingua doceret nostram iuventutem. Obluctabantur quidam Lutherani, presertim ii, quibus scola erat concredita, dictitan­ tes hominem non posse docere Hebraicam linguam pueros, qui ipse esset ignarus Latini sermonis. Sic dimissus est homo non sine fratrum querela. ZB Zürich, Ms. F 47/1, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23v. Der Unterricht des Griechischen wurde in Zittau erst nach der ‚Gründung‘ des Gymnasiums (1586) – der „Pflanzstätte des Humanismus“ vor 1600 eingerichtet. W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 198, dazu auch S. 96, 129, 142, 266; G. Sieg, Zittauer auf der Görlitzer Schule im 16. und 17. Jahrhundert, in: ZG 8 (1931), S. 38 ff., hier S. 38. Doch am Hebräischunterricht mangelte es immer noch weitgehend. W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 256. Bisher ist allerdings noch nicht klar, ob das Gymnasium wirklich 1586 ‚gegründet‘ wurde bzw. ob es überhaupt eine ‚förmliche‘ Gründung gab. J. Prochno, Beiträge zur Geschichte des Zittauer Gymnasiums, in: ZG 15 (1938), S. 30 f., hier S. 30. 229 Habebam eum aliquot dies apud me. Indicavi homini vestra scripta Hebraica, presertim Oeco­ lam[padii] in Hiob, dictionarium Monsteri et quicquid reperire potui. Admirabatur is tales esse in Germania homines, qui suę linguę darent operam. Cupiebat vos invisere, sed obstabat adversa valetudo crurum in tam longa profectione contracta, presertim, ut ipse aiebat, in mari, nam nisi duobus adnitus baculis incedere no[n] potest. ZB Zürich, Ms. F 47/1, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23v. 230 Zur ‚Wiederentdeckung‘ der Heiligen Sprachen durch den Heiligen Geist im Humanismus und in der Reformation D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 56–59, 112–118, 147–151, 180 f., 192–196, 244, 251, 270, 272, 282, 304; C. Christ-von Wedel, Theodor Bibliander in seiner Zeit, in: Dies. (Hg.), Theodor Bibliander (wie Anm. 108), S. 19–60, hier S. 45–55. Ein solches „biblisches Wissen wurde zu einem Machtfaktor. Es vermochte Kirche und Gesellschaft zu durchdringen und zu ordnen“. H.-J. Goertz, Machtbeziehungen in der Zürcher Reformation. Noch einmal: Zwingli und die Täufer, in: A. Schindler / H. Stickelberger (Hgg.) / M. Sallmann (Mitarb.), Zürcher Reformation (wie Anm. 101), S. 43–75, hier S. 55. 231 Vgl. K historii Židů v Čechách, na Moravě a ve Slezsku. 906 až 1620 [Zur Geschichte der Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien, 906 bis 1620], Bd. 1: 906 až 1576 [906 bis 1576], ed. B. Bondy / F. Dvorský (Bearb.), Praha 1906, hier (nur von 1540 bis 1550), S. 314–377, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 497 mit den Türken zwecks Brandstiftung in den Städten und Brunnenvergiftung bezichtigt,232 wofür ihnen der Sultan die Rückkehr in das Land ‚ihrer Väter‘ nach Judäa versprochen haben soll.233 Dies ist nicht das einzige Beispiel für sein Interesse an der ‚Türkengefahr‘. So wollte er die lateinische Ausgabe des Korans, die Nr. 453–548; als türkische Späher bezeichnet ebd., S. 318 ff., Nr. 458 f., S. 328 f., Nr. 467; als Mordbrener ebd., S. 349 f., Nr. 515; zur Lage in Saaz/Žatec und Leitmeritz/ Litoměřice ebd., S. 320 f., Nr. 460 ff.; weiter A. David, Four Traumatic Events in Prague’s Jewish Community in the 16th century as seen through the eyes of David Gans, the author of The Hebrew Chro­ nicle from Prague, and Joseph ha-Kohen, in: Judaica 72 (2016), S. 368–386, hier S. 371–376 (Türken, Mordbrenner); J. Heřman, The Conflict between Jewish and Non-Jewish Population in Bohemia before the 1541 Banishment, in: JB 6 (1970), H. 2, S. 39–54, hier S. 51 f. (Türken, Mordbrenner). 232 Näher zur Angst vor sog. Mordbrennern, z. B. vor bettelnden Krüppeln P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 330 ff. 233 Die Judenn zu Prag haben ungeferlich vor tzweyen jaren einen turckischen wascha ader heupt­ man bey ynen ein jar lang heimlich erhaltten und ynen inn deutschen landen auf und nider, hin und wider gefurt, gelegenheit desselben zu erkunden und als nach solcher besichtigung der wascha widerumb zum turckischen keyser kommen, hat er yme alle schicklikeyt des deutschen landes an­ getzeigt mit underricht, dieweyl so ein streitpar volck uberal verhanden, das nicht wol moglich wher, dasselbe einzunemen ader zu ubertzihen. Es sey dann, das die stete forderlich und auch das landt zuvor mit feuer ausgebrant und verderbt wurden. Auf solchen des turkischen waschen bericht hat der turkisch keyser eine grose sum[m]a gelts den Juden ynn Beheim zugestalt mit befhel, sie sollen nicht allein Behemerlandt, sunder umbligende lender verschuffen auszubrennen. Dareyn die Juden bewilligt, das gelt angenom[m]en und ser vil flecken und dorffer verbrant auch feuer ynn steten angelegt, aber es ist erwert worden. Auch haben sie etlich prunnen mit gifft, die ynen auch der Turck zugeschicktt, vergiffttet, davon vill menschen und vihe gestorben und solch feuer ist angelegt worden von armen einfeldigen leuthen, als hirten, bettlern, die ein gering gelt von den Juden entpfangen. Als nu die sache nach vil scheden geoffenbart, sein etliche Juden zu gefengnis einbracht, peinlich gefragt, warumb sie so pöse hendel fodertten. Haben sie gesagtt, der turckisch keyser hette ynen zugesagt, wu sie Behemer- und andere landtt mit feuer wurden verderben, woltt er ynen Judeam und alle landt, so ire väter ynnengehabt, widerumb frey einreumen und geben. Sie solttens am gelt nicht lassen mangeln, er woltte ynen deß gnug schaffen und wenn er diese lande wurde bekrigen, soltten sie sich auch gar nicht forchtten. Er wolde sie zu rath nehmen. Solchs ha­ ben etlich Juden in der pein bekannt, habs schrifftlich gesehen und gelesen. Auf solch übel hat die Koe. Mat. befolhen, die [!] sie soltten auf vergangen Martini [11.11.1541, Anm. P. H.] aus dem lande tzihen. Darnach wart ynen der termin baß auf Georgii [23.4.1542, Anm. P. H.] erstracktt. Ist das volck in den tzweyen steten, forderlich als zu Satz und Leutho[m]mritz, unwillig worden, seint die Juden von dem pöfel geblendert [beraubt, Anm. P. H.] worden, derhalben desselben pefels vil gefenglich angenom[m]en. Was nu solchs vor ein endt nemen wirt, kan nimant wissen. Dis hab ich euch aufs kurtzt geschriben, damit irs den herrn ministris [in Zürich, Anm. P. H.] habt antzutzeigen. StAZH, Sign. E II 367, S. 5–8 (Pergener an Froschauer; 20.2.1542), hier S. 5 ff.; zu verschiedenen zeitgenössischen Aspekten in diesem Brief (,Verschwörung‘, Rückkehr nach Judäa) C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 201, 212 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 498 Petr Hrachovec Theodor Bibliander herausgab, bzw. dessen Türkenschrift zugesandt bekommen.234 Zugleich diente er den Zürichern als Berichterstatter über die Lage in Ungarn,235 wobei diese Kriege eine erhebliche Auswirkung auf die Verbreitung der Reformation in christlichem Hinterland und in den Söldnerheeren hatten.236 Ferner zogen sie politische Streitigkeiten wegen der Aufteilung des erhöhten Steueraufkommens nach sich,237 was Pergener als einer der Einnehmer der Türkensteuer238 nach Zürich berichtete.239 234 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110 ff., Nr. 1857 (Pergener u. a. an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111; zu diesen Drucken G. Christ, Das Fremde verstehen. Biblianders Apologie zur Koranausgabe im Spiegel des Basler Koranstreites von 1542, in: C. Christ-von Wedel (Hg.), Theodor Bibliander (wie Anm. 108), S. 107–124; G. Christ, Theodor Biblianders Türkenschrift. Ein Reformator und Humanist über Religion, Moral und kriegerischen Erfolg, in: C. Christvon Wedel / U. B. Leu (Hgg.), Erasmus (wie Anm. 200), S. 309–326; E. Egli, Analecta Reformatoria (wie Anm. 200), S. 50–61. 235 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 112 f.; ebd., Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 196 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 187; ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42; ebd., S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 166. 236 Decem ferme millia scortorum sunt in castris nostris. Iohannes Eysleben [ Johannes Agricola aus Eisleben (1494–1566), lutherischer Brandenburgischer Oberhof- und Feldprediger, Anm. P. H.] supremus concionator est in exercitu nostro, cui adiuncti sunt duodecim evangelici predica­ tores. Quottidie fit sermo. Ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 166. 237 Vgl. ebd., S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42; ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 113. 238 Medio anno impeditus fui in exigenda regia pecunia contra Turcam; iam postulatur nova exactio in expeditionem Turcicam. Ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 111; an der Erhebung der Türkensteuer beteiligte sich (1542) auch der Zwickauer Stadtschreiber Stephan Roth. R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 192, 246. 239 Bullinger interessierte sich viel für solche mit den Türken in Ungarn verbundenen Nachrichten. B. Nagy, Geschichte (wie Anm. 207), S. 111 f.; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 101–113, 124–129, 291–294; E. Bryner, Ausstrahlung (wie Anm. 101), S. 179–182; E. Zsindely, Bullinger und Ungarn, in: U. Gäbler / E. Herkenrath (Hgg.), Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 116), S. 361–382 (vor allem Briefwechsel und Buchtransport); aus theologischer Sicht P. Widmer, Bullinger und die Türken. Zeugnis des geistigen Widerstandes gegen eine Renaissance der Kreuzzüge, in: E. Campi / P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 101), S. 593–624, bes. S. 613 f., 617 ff. (Briefwechsel); D. Grimmsmann, Heinrich Bullingers Deutung der Türkengefahr und des Islams, in: ARG 103 (2012), S. 64–91. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 499 Der Wissenstransfer von Zittau nach Zürich war vorwiegend epistolografischen Charakters. Daraus gewonnenes Wissen wurde von Zürich aus auch weiter ‚transferiert‘. So berichtete Bullinger an den St. Gallener Reformator, Arzt, Humanisten und Bürgermeister Joachim Vadian, was er von Pergener erfahren hatte.240 Pergeners Netz war also nicht sternförmig, sondern bildete ein ,verflochtenes Netzwerk‘.241 (5) Gleichwohl war neben den Briefen auch die reformatorische Buchproduktion wichtig, wobei der Wissenstransfer vor allem in einer Richtung, von Zürich aus, verlief. Einer seiner Auslöser war Konrad Krajíř von Krajek, der die Züricher Produktion augenscheinlich systematisch verfolgte und der im Mai 1532 in Prag Pergener das soeben erschienene Buch Bullingers „Über das Prophetenamt“ zeigte.242 Weil er sah, wie sehr Pergener sich darüber freute und weil in Prag keine weiteren Exemplare vorrätig waren, schenkte er ihm sein eigenes.243 240 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 224, Nr. 1312 (Bullinger an Vadian; 3.10.1539); ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 207 f., Nr. 1896 (Bullinger an Vadian; 19.4.1544); dazu allgemein (am Beispiel des Briefwechsels Bullinger–Vadian) F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 99, 103; E. Bryner, Die Reformation in St. Gallen und Appenzell, in: A. Nelson Burnett / E. Campi (Hgg.) / M. E. Hirzel / F. Mathwig (Bearb.), Schweizerische Reformation (wie Anm. 74), S. 245–269, hier S. 264; R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 274 f., 309–312. 241 Dazu am Beispiel des Briefwechsels K. Hitzbleck, Verflochten (wie Anm. 63), S. 29 ff.; C. Hesse, Netzwerke und ihre Grenzen – zusammenfassende Bemerkungen, in: K. Hitzbleck / K. Hübner (Hgg.), Grenzen (wie Anm. 63), S. 259–269, hier S. 260, 269 (echtes verflochtenes Netzwerk vs. Ego-Netzwerk). 242 Zu Bullingers Werken über das Prophetenamt der Geistlichen D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), bes. S. 30–127 (Prophetenamt vor Bullinger), 129–299 (Bullinger), 176 (Pergener); F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 53 f., 100 f.; ebd., Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 41; Ders., Wurzeln (wie Anm. 2), S. 49–71, 106–124; Ders., Spiritualität (wie Anm. 200), S. 133 ff.; A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 32 f.; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 63 f., 275 f.; E. Campi, Reformation (wie Anm. 74), S. 105; Ders., Bullingers Rechts- und Staatsdenken, in: EvTh 64 (wie Anm. 74), S. 117–126, hier S. 119–123, 125; A. Ehrensperger, Geschichte (wie Anm. 74), S. 476–480; A. Holenstein, Reformatorischer Auftrag (wie Anm. 101), S. 187–190, 228, 232; P. Opitz, Von prophetischer Existenz zur Prophetie als Pädagogik. Zu Bullingers Lehre vom munus propheticorum, in: E. Campi / P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 101), S. 493–513; D. Bollinger, Bullinger on Church Authority. The Transformation of the Prophetic Role in Christian Ministry, in: B. Gordon / E. Campi (Hgg.), Architect (wie Anm. 74), S. 159–177, bes. S. 160–167. 243 Postea cum legatum huius nostrę reipublicae apud Pragenses agerem anno etc. 1532, mense maio, incidi Pragę in domum cuiusdam baronis Conradi a Krayku mihi etiam familiarissimi, qui et maxime delectatur vestris scriptis, precipue Germanicis. Is cum aliquot libros a bibliopola accepisset, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 500 Petr Hrachovec Was wurde also in der Zittauer Reformation gelesen? Die Lektüre im Pergeners Lesezirkel musste sich aufgrund unterschiedlicher Muttersprachen der Teilnehmer auf die lingua franca, die lateinischen Bücher, konzentrieren. Das besondere Interesse galt den umfangreichen und sprachlich komplizierten lateinischen exegetischen Werken, sog. biblischen Kommentaren,244 die eine ,typische reformatorische‘ Lektüre unter gebildeten Zeitgenossen (mit gutem Absatz) waren.245 Aus den Briefen kann man mindestens 29 bzw. 30 aus Zürich übersandte Werke Bullingers identifizieren,246 von denen teilweise mehrere Exemplare im Umlauf waren.247 Mindestens sechs weitere Werke Bullingers wurden gewünscht, die man 244 245 246 247 ut eos filio suo Ernesto, cui et latinę littere arrident, traderet, ecce tamquam virgula divina offendi inter eos libellum tuum vere christianissimum „De offitio prophetico“. Illico convenio bibliopolam. Rogabam, num plura exemplaria haberet. Dicebat se non nisi duo habuisse iamque esse divendita neque tum plura in nundinis Lipcensibus vidisse. Rursus accedo meum baronem. Rogo, ut mihi aliquot dies hoc tuo libello uti liceat, cum iam nullus reperiretur apud bibliopolas. Non solum annuit ille, sed et libellum dono mihi dedit pollicens maiora, si postularem, daturum, quod et non raro fecit. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 204 f. Dieses Bespiel bestätigt die These Christoph Volkmars, dass trotz der Zensurmaßnamen Herzog Georgs des Bärtigen die Leipziger Buchmessen auch reformatorische Literatur anboten. C. Volkmar, Reform (wie Anm. 18), S. 581–588; ein zweiter Beleg einer Vermittelfunktion der Leipziger Messen StAZH, Sign. E II 345a, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477v (Bullingers „Hausbuch“); zum seit 1518 in Prag belegten Bücherlager der Leipziger Buchführer, wo unter anderem die oberdeutsche Produktion, d. h. vielleicht auch die Schweizer, distribuiert wurde. Z. Šimeček, Geschichte des Buchhandels in Tschechien und in der Slowakei (Geschichte des Buchhandels 7), Wiesbaden 2002, S. 11. Bullinger sah in der biblischen Exegese den wichtigsten Zweck der Theologie. F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 237–248; Ders., Wurzeln (wie Anm. 2), S. 10 ff., 52; Ders., Spiritualität (wie Anm. 200), S. 135; weiter D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 102–106, 112–118, 130, 134, 147–155, 164 ff., 171 f., 175–178, 187–196, 265–271, 275 ff., 301; A. Ehrensperger, Geschichte (wie Anm. 74), S. 734; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 381; U. B. Leu, Der Zürcher Buchdruck des 16. Jahrhunderts im europäischen Kontext unter besonderer Berücksichtigung Ostmitteleuropas, in: V. Čičaj / J.-A. Bernhard (Hgg.), Orbis Helveticorum (wie Anm. 104), S. 23–32, hier S. 24; H. U. Bächtold, Eine herrliche Gnade und Gabe Gottes – Heinrich Bullinger als Publizist, in: ebd., S. 63–68, hier S. 65; C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 34 f., 85–152. Vgl. C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 142; U. B. Leu, Zürcher Buchund Lesekultur (wie Anm. 170), S. 72 f.; R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 99. Es gab sicher mehr, denn nur im Fall Bullingers erwähnt Pergener im Rahmen der Aufzählung einzelner Werke in Zittau, dass er multa alia besitzt. HBW Briefwechsel, Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 106. Aus Platzgründen wird an dieser Stelle auf ihre genaue Aufzählung und bibliografische Einordnung verzichtet. Vgl. z. B. In sacrosanctum Jesu Christi, domini nostri, evangelium secundum Matthaeum Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 501 auch erhielt;248 zumindest ist dies wahrscheinlich, da Johann Bechrer erst 1569 starb.249 Pergeners semiöffentliche Bibliothek war augenscheinlich sehr beeindruckend.250 Von Theodor Bibliander besaß man sicher ein Werk, zwei andere wurden nachgefragt. Von Leo Jud besaß man in Zittau vier Werke, zwei weitere wurden gewünscht. Von Huldrych Zwingli gelangten mindestens acht Drucke nach Zittau und ein weiterer wurde nachgefragt. Von Johannes Oekolampad gab es in Zittau mindestens fünf Werke. Von Konrad Pellikan kamen mindestens neun Werke nach Zittau und zwei weitere wurden gewünscht. Von Joachim Vadian besaß man ein Werk. Vom Baseler Hebraisten Sebastian Münster (1488–1552) besaß man in Zittau sicher ein Wörterbuch, von den Züricher Lexikografen Petrus Cholinus (1508–1542) und Johannes Fries (1505–1565) ein gemeinsames Werk, ein weiteres Werk von Cholinus wurde nachgefragt. Im Fall des Züricher und Berner Reforma­ tors Kaspar Megander (1495–1545) werden mindestens zwei in Zittau befindliche Drucke erwähnt. Außerdem besaß man in Zittau mindestens zwei Verlagskataloge der Offizin Christoph Froschauers d. Ä.251 Vom Züricher Theologen Rudolf 248 249 250 251 commentariorum libri XII. […], Zürich: Christoph Froschauer d. Ä. 1542; HBW Bibliographie, Bd. 1: Beschreibendes Verzeichnis der gedruckten Werke von Heinrich Bullinger, ed. J. Staedtke, Zürich 1972, S. 71, Nr. 144; Bibliographie der Zürcher Druckschriften des 15. und 16. Jahrhunderts, ed. M. Vischer (BBA 124), Baden-Baden 1990, S. 120, Nr. C 304; HBW Briefwechsel, Bd. 13, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 121), S. 72 f., Nr. 1719 (Pergener an Bullinger; 8.2.1543), hier S. 73: Duo habemus in hac urbe exemplaria, expectamus plura. Vgl. z. B. HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110 ff., Nr. 1857 (Pergener u. a. an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111: Habemus dei benignitate commentaria tua in evangelia tum Mathei tum Iohannis, eadem et in Lucam expectamus. Vgl. In sermones et historicas expositiones Ieremiae prophetae a capite XXX. Usque ad finem operis conciones […] LXXIIII. […], Zürich: Christoph Froschauer d. Ä. 1561; HBW Bibliographie, Bd. 1, ed. J. Staedtke (wie Anm. 247), S. 170, Nr. 360; Bibliographie, ed. M. Vischer (wie Anm. 246), S. 207, Nr. C 582; StAZH, Sign. E II 345a, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 478v: Wart, biß e[uer] a[chtbarkeit] das ubrige auch wirt volende[n], damitt ichs zuhauff bekome. „Wie die Besitzliste Pergeners [….] ausweist, waren alle bis 1536 erschienenen Paulusbrief-Kommentare Bullingers in Zittau bekannt.“ HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 63, Anm. 1. Index librorum, quos Christophorus Froschouerus Tiguri hactenus suis typis excudit […], Zürich: Christoph Froschauer d. Ä. 1543; Bibliographie, ed. M. Vischer (wie Anm. 247), S. 126, Nr. C 323; HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 112: hab ich mit sampt dem gedrucktten buchle ader indice aller euer gedrucktten bucher entpfangen. Dazu auch U. B. Leu, Reformation (wie Anm. 170), S. 69 (Pergener); P. Leemann-van Elck, Offizin Froschauer (wie Anm. 61), S. 97 f. (1543 und 1555); weiter StAZH, Sign. E II 345a, fol. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 502 Petr Hrachovec Gwalther (1519–1586) wurde mindestens ein Werk nachgefragt. Von Johannes Calvin besaß man in Zittau mindestens eine Auflage seiner „Institutionen“ usw.252 Ein vormodernes Buch war keine bloße Gebrauchsware, sondern es besaß weit über seinen eigentlichen Inhalt hinausreichende Eigenschaften. Oft wurde es zur Verbreitung der reformatorischen Glaubenslehren verschenkt, und auch die Zittauer erhielten von den Reformatoren einige Werke auf diese Weise.253 Insgesamt kann man davon ausgehen, dass Pergener oder Bechrer die meisten Bände entweder direkt von Bullinger und anderen Schweizer Theologen oder indirekt durch die Vermittlung des Druckers, d. h. über die Frankfurter Buchmesse, umsonst bekamen.254 Bechrer wandte sich auch direkt an Bullinger.255 Die spezifische kommunikative Wirkung des (reformatorischen) Buchs bzw. seiner Lektüre kann man mit dessen Funktion als ‚Werkzeug Gottes‘ erklären256 sowie mit seiner Rolle für die ‚Erbauung‘, 252 253 254 255 256 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r: einen gedruckten cathalogum mitt­ zusenden, aus welchem ich furanhin gewiß sein kann aller der bucher, so in eurern druckereien zu födern zugelaßen werden, sonder auch uber das nach schrifftlich angezeigt, was hoer und schwerer muheseliger arbeit euer a[chtbarkeit] noch im wergk fur sich hab. Wohl: Catalogus librorum quos Christophorus Froschouerus Tiguri suis typis excudit, Zürich: Christoph Froschauer d. Ä. [ca. 1555]; Bibliographie, ed. M. Vischer (wie Anm. 247), S. 18 (Einblattdruck). Jetzundt neulich hab ich die Instituciones Joannis Calvini bekomen. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447v. Zu Buchgeschenken als symbolischer Kommunikation G. Müller-Oberhäuser / K. Meyer-Bialk (Hgg.), Book Gifts and Cultural Networks from the 14th to the 16th Century (SKGWS 41), Münster 2019. Vgl. z. B. Agimus tibi perpetuas gratias de libro in simbolum amicitię nobis misso. Utinam par pari referre liceret! Animi nostri interim benevolentiam et promptitudinem, quęso, accipe; conso­ labuntur ex eo et alii fratres, qui partim in aliis agunt civitatibus. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 205. Bullinger verschenkte selbst seine Bücher. F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 272; A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 21 f., 51, 56, 60 f., 64, 67, 76, 81, 89 f., 95, 99 f., 157, 160 f., 230 f., 236, 243–246; B. Nagy, Geschichte (wie Anm. 207), S. 144; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 331, 363; zur zeitgenössischen Korrespondenz über die neuen Bücher ebd., S. 327–393; Ders., Geistige und literarische Kontakte zwischen Krakau und Basel in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Z. Noga (Hg.), Elita władzy miasta Krakowa i jej związki z miastami Europy w średniowieczu i epoce nowożytnej (do połowy XVII wieku). Zbiór studiów [Die Herrschaftselite der Stadt Krakau und ihre Beziehungen zu zentraleuropäischen Städten im Mittelalter und der Frühen Neuzeit (bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts). Aufsatzsammelband], Kraków 2011, S. 303–332, hier S. 328 f.; R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 148 f., 257; H. U. Bächtold, Herrliche Gnade (wie Anm. 244), S. 66 f. Vgl. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r f. Zu diesem Schlüsselaspekt der evangelischen Theologie (nicht nur Bullingers) C. Christ-von Wedel, Zum Einfluss von Erasmus von Rotterdam auf Heinrich Bullinger, in: E. Campi / Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 503 d. h. die Erweckung (religiöser) Emotionen beim Leser.257 Natürlich hing beides eng zusammen, wobei sich die Lektüre der Bücher und die Lektüre der Korrespondenz komplementär ergänzten. Dem reformatorischen Buch der Schweizer wurde die Kraft zugeschrieben, die Gegner der neuen Lehre zu bekehren.258 Zugleich erleichterte es eine religiöse Gruppenbildung vermittels der Lesezirkel.259 Es war ein Geschenk Gottes, durch das der Weg zum Glauben geöffnet wurde.260 In den reformatorischen Büchern hatte der Quell des Glaubens, der Heilige Geist, seinen 257 258 259 260 P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 101), S. 407–424, hier S. 415; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. XI, 42, 139 f., 174, 232; ebd., Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 39 f.; Ders., Spiritualität (wie Anm. 200), S. 131; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 41–46; B. Gordon, Gemeinwesen (wie Anm. 74), S. 502 f.; A. Ehrensperger, Geschichte (wie Anm. 74), S. 324 f.; C. Christ-von Wedel, Theodor Bibliander (wie Anm. 230), S. 56 f.; R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 206: neue Lehre der Katholiken vs. alte, d. h. die ursprüngliche unverdorbene Lehre der Zwinglianer; so auch bei H. Selderhuis, Kirche (wie Anm. 200), S. 534. Vgl. D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 221 f., 226; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 461; weiter dazu C. Christ-von Wedel, Das Buch der Bücher popularisieren. Die Bibelübersetzung Leo Juds und sein biblisches Erbauungsbuch, in: J. Radimská (Hg.), Jazyk a řeč knihy. K výzkumu zámeckých, měšťanských a církevních knihoven [Die Sprache und die Rede des Buches. Zur Erforschung der Schloss-, Bürger- und Kirchenbibliotheken] (Opera Romanica 11), České Budějovice 2009, S. 329–344. Dici non potest, quanta alacritate is tuus libellus me ac fratres meos, qui publice hac in re mecum sentiunt, affecit. Scribere non ausim, […] quantum nos isto tuo libello profecimus, et hoc gratia dei. Nestio[!], quo fato id fiat, ut etiam reclamantibus hostibus libelli Tigurini ad nos perferan­ tur. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 205. So, durch die Lektüre, bekehrte sich Bullinger selbst. J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 20, 39 f. […] mihi crede, optime Bullingere, multos non solum hic, sed etiam in aliis civitatibus finitimis, presertim in Bohemia, esse, qui tibi ac vestris ecclesiis optime volunt nihilque aliud quam sum­ mam felicitatem optant pręcanturque […]. Adulari nolo; scio, quam pie sepe apud me de vobis vestrisque sentiant ac iudicant ecclesiis, sollicite interrogando, num quid novi scripti vel Tygurum vel Basileanobis miserit. HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 63 f. Solche Lesezirkel dienten vor allem dem gemeinsamen Studium (der Bibel), wozu die Kommentarwerke, häufig voll von Lesespuren (Marginalien) als Interpretationshilfen (für die anderen), behilflich waren. Dazu R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 151–160, 164 f., 171; weiter A. Strübind, Das Schweizer Täufertum, in: A. Nelson Burnett / E. Campi (Hgg.) / M. E. Hirzel / F. Mathwig (Bearb.), Schweizerische Reformation (wie Anm. 74), S. 395–446, hier S. 398 ff., 410, 424, 430 f., 434, 436. […] plane Phinonide indoctior essem, ni deus sua gratia vestras lucubrationes ad nos perferri vo­ luisset. Quicquid habeo, hoc me a deo et vobis accepisse citra fucum fateor. Quare non immerito precor deum optimum, ut tibi in omnibus adsit. HBW Briefwechsel, Bd. 11, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 110), S. 86 f., Nr. 1470 (Pergener an Bullinger; 1.3.1541), Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 504 Petr Hrachovec Sitz.261 Es war ein Instrument, durch das Gott vermittels des Verfassers die Sinne der Lesenden physisch ansprach,262 um ihn des Seelenheils zu vergewissern.263 Beim Erhalt der Bücher sowie der nachfolgenden Lektüre erlebte man geistige Freude.264 Aus all diesen Gründen wollten die ‚Zittauer‘ eigentlich die gesamte Schweizer 261 262 263 264 hier S. 86 f., Anm. 4: „Gemeint ist Philonides, der von den griechischen Komödiendichtern als überaus groß gewachsen und dumm geschildert wird […].“ […] nam semper memor sum vestri et ex vestris scriptis vere agnosco spiritum Christi inhabitare vestra pectora. Sincero animo hoc scribo; sentiunt mecum fratres fideles quam plurimi. Ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 41 f.; weiter ebd., Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 106; StAZH, Sign. E II 345a, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r f. Loqueris enim mecum in tuis christianissimis commentariis quam familiarissime fraterno affectu, pie, docte; in hiis plane doces ac me instituis. HBW Briefwechsel, Bd. 10, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger; 25.2.1540), hier S. 54 f.; Doces nos quottidie, imo et te quasi loquentem audimus in illis tuis christianissimis commenta­ riis. Ebd., Bd. 13, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 121), S. 72 f., Nr. 1719 (Pergener an Bullinger; 8.2.1543), hier S. 73. […] nisi confortaremur vestris sanctis commentariis. Ex illis discimus mortem christianorum nihil aliud esse quam permutationem vitę deterioris in longe meliorem. Qui deum vere amant, cupiunt dissolvi et esse cum eo. Quandiu hic vivimus, quottidie magis ac magis adfectibus impuramur, quod omnibus dei cultoribus permolestum est. Tigurina scripta docent nos ex sacris litteris mortem nobis non esse timendam, sed summo gaudio expectandam. Ebd., Bd. 12, edd. Diess. (wie Anm. 62), S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 166; Nos hic, qui vestra sedulo legimus scripta, mortem non adeo horremus; scimus namque mortem christianorum nihil aliud esse nisi permutationem vitę deterioris in longe meliorem. Ideo mori christianis nihil aliud est quam mundum relinquere, quam ire ad deum, patrem pientissimum. Ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110 ff., Nr. 1857 (Pergener an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111. Nunc autem recepi animum atque gaudio suffundor tam celebres viros infirmorum quoque fratrum habere rationem. Certi sumus ex omnibus vestris scriptis, quę nobis indicant summam mansue­ tudinem, pietatem et amorem christianum et nos vobis cure esse. […] Dici non potest, quantum ea scripta, quę ex Tiguro, Basilea vel Argentorato mittuntur, pios delectent; testes complures ad­ ducere possem. Ebd., Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 f., Nr. 1229 (Pergener an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 63; weiter ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42; ebd., S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r, 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28ar. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 505 Produktion besitzen.265 Natürlich gewann man bei der Lektüre auch ganz ‚lebenspraktische‘, etwa sprachliche, Kenntnisse.266 Schließlich darf neben dem Wissenstransfer durch Briefe und Bücher der Personentransfer nicht außer Acht gelassen werden. Mindestens zwei Teilnehmer des Lesezirkels, Konrad Nesen und Václav Mitmánek, besuchten Zürich. Pergener war wohl nie dort, gleiches gilt – ungeachtet seiner erklärten Absicht – für Cölestin Hennig. Ob der oben erwähnte gehbehinderte Jude in die Schweiz gelangte, ist nicht bekannt. Immerhin lässt sich noch eine nach Zürich verheiratete junge Zittauerin nachweisen, die Pergener an Pellikan in einem verschollenen Brief empfohlen hatte; über deren neue Familie berichtete Pergener der in Zittau lebenden Mutter.267 Zugleich ist noch der Personentransfer zwischen den Orten zu erwähnen, aus denen die Teilnehmer an Pergeners Briefwechsel kamen. Und jenseits dieses Personenkreises kann noch auf die Zittauer Bauhütte verwiesen werden, die von 1550 bis 1559 den Westturm der Zittauer Pfarrkirche erhöhte, die sich in den 1540er- und 1550er-Jahren an den Bauunternehmen der Herren von Krajek in Jungbunzlau und Brandeis beteiligte. Umgekehrt bemalte (1570/71) ein Jungbunzlauer Maler den neuen Hauptaltar der Zittauer Pfarrkirche.268 Diese ‚fachmännischen‘ Kontakte belegen, dass es rege Beziehungen ohne Rücksicht auf die Sprach- oder konfessionellen Grenzen gab. 265 […] sed multa ędita sunt in lucem a ministris verbi dei Tigurinae [et] Basiliensis ecclesiarum, que nos desideramus. StAZH, Sign. E II 367, fol. 11r f. (Pergener an Jud; 1537), hier fol. 11r; weiter ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28r. 266 […] wiewol ich der latheinischen sprach nicht so gar uberflussigen grundt hab, das ich allenthalb den rechten kern verstunde. Bin ich doch der hoffnung, es sol doch diß mein furnemen an son­ derlichen nutz nicht abgehn. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447v. 267 Iuvenculam, quam olim tuę charitati commendavi, consortem cuiusdam Tigurini bene valere et triplici prole foelicem lubens audio idque matri cognatisq[ue] nunctiavi. Valde gestit mater. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 24r. 268 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 362–366; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 141 f., 156, Anm. 109–123. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 506 Petr Hrachovec Fazit: ‚Reformation der langen Distanz‘: Briefwechsel – Buchtransport – politisch-religiöse Netzwerkbildung durch Briefe und Buchlektüre Die Lektüre in Pergeners Lesezirkel ist ein interessantes Gegenbeispiel zur These, wonach „der Buchmarkt im 16. Jahrhundert im wesentlichen durch das Angebot der lokalen Druckzentren bestimmt wurde“.269 Pergener sehnte sich nachgerade nach umfangreichen lateinischen Folianten, vor allem zur Bibelexegese, und seine ‚Lebenswelt‘, in die hinein er die Reformation Züricher Prägung vermittelte, befand sich geographisch zwischen Wittenberg und Leipzig, Lauban und Breslau und in der nördlichen Hälfte Böhmens (zwischen Prag und Zittau vor allem im Einzugsgebiet der Iser).270 Diese ‚Lebenswelt‘ schloss Mitglieder zahlreicher Stände ein: den böhmischen Hochadel (sicher die Herren von Krajek und von Dohna); Pergeners Amtsgenossen, die Stadtschreiber, Bürgermeister und Ratsherren aus Zittau und anderen deutsch- sowie tschechischsprachigen Städten; einige eher der ‚gesellschaftlichen Mitte‘ angehörende Stadtbürger, auf welche der soziale Aufstieg erst wartete; vor allem zahlreiche Kantoren und Schulmeister; und schließlich einige gut situierte, doch politisch kaum engagierte Bürger (Hans Bechrer, Ludwig Flössel). Auch in konfessioneller Hinsicht widersprach diese ,Lebenswelt‘ jeder klar gezeichneten Linie: Pergener heiratete in ein Familienmilieu ein, das laut der Tradition als Motor der ‚lutherischen‘ Reformation in der Stadt funktionierte (Pergeners Schwager Lorenz Heydenreich war der ‚lutherische Reformator Zittaus‘), auch wenn man in dieser ,Lebenswelt‘ eher eine Unterstützung Pergeners in Bezug auf die Schweizer Reformation feststellen kann (Pergeners anderer Schwager Wenzel Lankisch d. Ä.). Sogar bedeutende Vertreter des Luthertums wie der Wittenberger Universitätsrektor und Hebraist Matthäus Aurogallus oder der Reformator Breslaus, Johann Heß, beteiligten sich an Pergeners Nachrichtennetzwerk. In diesem Zusammenhang müssen auch die Vertreter der böhmischen Reformation, die adligen Mitglieder der Brüderunität sowie der hochstehende utraquistische Kirchenpolitiker Václav Mitmánek erwähnt werden, die in der Frühphase der Beziehungen zwischen Zürich und Zittau hinter der Anknüpfung dieser Kontakte standen. Pergeners reformatorisches Netzwerk war also nicht nur ständisch, sondern auch sprachlich und konfessionell sehr heterogen, d. h. Pergener versuchte eher zu einen, als konfessionell zu spalten. Dabei ist es interessant, dass er wohl keine Kontakte zu der kleinen, vor allem zwinglianisch 269 C. Volkmar, Reform (wie Anm. 18), S. 593. 270 Diese „long-distance relationships“ waren üblich. G. Almási, Uses (wie Anm. 105), S. 70. Schon der Faktor der Entfernung erzwang die Schriftlichkeit. K. Hitzbleck, Verflochten (wie Anm. 63), S. 31 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 507 ausgerichteten Kirche der sog. Habrovaner in Südmähren hatte.271 Gleiches gilt im Hinblick auf den Liegnitzer Aufenthalt Theodor Biblianders 1527–1529 bzw. auf den täuferischen Drucker Simprecht Froschauers († nach 1536), eines Verwandten Christoph Froschauers d. Ä.272 Abschließend kann man einige Thesen zur (Zittauer) Reformation als Kommunikationsprozess formulieren: In Zittau geht es um die Reformation und den (biblischen) Humanismus zugleich,273 vor Ort durch die institutionelle Trias ,Universität‘, ,Dienst in der Ratsschule‘, und ,Amt in der Ratskanzlei (bzw. direkt im Stadtrat)‘ verkörpert.274 Oswald Pergener kann man als einen ‚praktischen Humanisten‘ bezeichnen, dank seiner Verbindungen zu den Reformatoren, seines organisatorischen Geschicks bezüglich der Vermittlung reformatorischer Ideen sowie aufgrund seiner praktischen Tätigkeit an der Spitze der Stadtverwaltung.275 Die Zittauer Reformation zeichnet sich dabei seit ihrem Beginn durch ihre Pluriformität in Glaubenslehre sowie frommer Praxis aus. Es gab zumindest im 16. Jahrhundert keine ‚lutherisch-orthodoxe Engführung‘, d. h. man muss gar keinen Widerspruch zwischen den brieflichen Kontakten zu den Zentren der Schweizer Reformation und der Lektüre ihrer Bücher einerseits und der sehr konservativen liturgisch-rituellen Praxis in den Zittauer Kirchen konstruieren.276 Der lutherische Pastor und Heimatkundler Moritz Oskar Sauppe vermengte im 20. Jahrhundert in abwertender Hinsicht Pergener mit dessen Söhnen als 271 Vgl. zu ihnen und zur religiösen Lage in Südmähren um 1530 M. Rothkegel, Mährische Sakramentierer des zweiten Viertels des 16. Jahrhunderts: Matěj Poustevník, Beneš Optát, Johann Zeising ( Jan Čížek), Jan Dubčanský ze Zdenína und die Habrovanaer (Lulčer) Brüder) (BBA 208, BD 24), Baden-Baden/Bouxwiller 2005; W. Urban, Der Antitrinitarismus in den Böhmischen Ländern und in der Slowakei im 16. und 17. Jahrhundert (BDSS 2), Baden-Baden 1986; J. K. Zeman, The Anabaptists and the Czech Brethern in Moravia 1526–1628. A Study of Origins and Contacts (Studies in European History 20), Den Haag/Paris 1969. 272 Vgl. E. Egli, Analecta Reformatoria (wie Anm. 200), S. 9–14. 273 Zu solcher Verknüpfung J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 74 ff., 122 ff., 150–161, 171, 174, 255 f., 551, 633 f.; Ders., Bedeutung (wie Anm. 104), S. 123, 127 ff. 274 Vgl. zu solcher Interpretation schon W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16); nicht so pointiert C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 451, 542, 546 ff.; ebd., Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 777. 275 Vgl. dazu am Beispiel Stephan Roths R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 10. 276 Wie es z. B. E. A. Seeliger, Neues über Nikolaus von Dornspach (wie Anm. 43), S. 48 (1928); Ders., Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 44; sowie: M. O. Sauppe, Diözese Zittau (wie Anm. 16), S. 151 f. aufgrund einer sehr schmalen Quellengrundlage (z. B. der ersten Zittauer Kirchenordnung von 1564) taten, wobei sie eine allzu plötzliche Umkehr von der Schweizer Reformation in der Mitte der 1560er Jahre feststellten (paradoxerweise unter dem Bürgermeisteramt des ‚Zwinglianers‘ Cölestin Hennigs). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 508 Petr Hrachovec deren viertem Bruder, sprach von einem nur kleinen Kreis von Zittauer Zwinglianern277 und beschrieb die Zittauer Reformation als orthodox lutherisch.278 Doch im Unterschied zu Kursachsen gab es in Zittau keine Landeskirche mit einem Landesherrn, der das Kirchentum seines Territoriums vereinheitlichte. Vielmehr wurde in Zittau vieles allein vom Stadtrat entschieden, und aufgrund des fehlenden Uniformierungsdrucks von oben konnte die fromme Praxis ohne größere Probleme wesentlich ‚synkretistischer‘ sein.279 In Zittau galt zu dieser Zeit noch keine Gleichsetzung der Kirchengemeinschaft als Abendmahlsgemeinschaft.280 Pergener war Bekenner des zwinglianischen Abendmahlsverständnisses, doch zugleich beteiligte er sich als Organist an der Liturgie in der Zittauer Pfarrkirche. Die briefliche Kommunikation mit den großen schweizer und oberdeutschen 277 Vgl. M. O. Sauppe, Diözese Zittau (wie Anm. 16), S. 158 f. 278 „Von Anfang an war die Zittauische Reformation, waren Geistliche, Rat und Bürgerschaft streng lutherisch. Sie hielten am umgeänderten [!] Augsburgischen Bekenntnis. Andere Einflüsse, wie die münzerischen und münsterischen, die schwenkfeldischen und calvinischen wurden abgewehrt und ausgeschieden. So blieb die Gemeinde im Bekenntnis einheitlich. Nicht einmal durch den Verkehr mit böhmischen Brüdern und Begharden, welche in Jungbunzlau und Auscha [!] sich ausgebreitet, lockerte sich die Entschiedenheit des Glaubens. Bemerkenswert ist der briefliche Verkehr des Zittauischen Stadtschreibers Oswald Pergener und des Schulkollegen Cölestin Hennig mit dem Züricher Reformator Heinrich Bullinger in den Jahren 1533–1544. Pergner besaß Bullingersche Schriften. Wieweit Pergner, Hennig und ihre Freunde dem Bullingerschen Calvinismus anhingen, ist nicht zu ersehen.“ Ebd., S. 161 f. Auch W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 78 ff. erwähnt irreführende Information, indem er behauptet, dass Pergener und Hennig vor allem mit Martin Bucer korrespondierten. Vgl. auch ebd., S. 87 f., 91. 279 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), bes. S. 748–752; so bereits E. A. Seeliger, Neues über Nikolaus von Dornspach (wie Anm. 43), S. 1 f. (1929); J. Prochno, Reformationszeit (wie Anm. 5), S. 18 f. 280 Diese kategorische Unterscheidung vollzog gegenüber Zwingli und Bullinger schon Luther. A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 77; Ders., Heinrich Bullinger (wie Anm. 101), S. 237–240; G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm. 9), S. 318, 330; M. Brecht, Was war Zwinglianismus? In: A. Schindler / H. Stickelberger (Hgg.) / M. Sallmann (Mitarb.), Zürcher Reformation (wie Anm. 101), S. 281–300, hier S. 284 f., 294 ff.; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 186 f.; U. B. Leu, Reformation (wie Anm. 170), S. 30 f.; P. Leemann-van Elck, Offizin Froschauer (wie Anm. 61), S. 95, 197, Nr. 6; E. Campi, Heinrich Bullinger (wie Anm. 2), S. 26; zur Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft als politischer Gemeinschaft (z. B. einer Stadtgemeinde) nach der Theologie Luthers vgl. T. Kaufmann, Abendmahl und Gruppenidentität in der frühen Reformation, in: M. Ebner (Hg.), Herrenmahl und Gruppenidentität (Quaestiones disputatae 221), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2007, S. 194–210, hier S. 195–198; H. R. Schmidt, Das Abendmahl als soziales Sakrament, in: Traverse 9 (2002), S. 79–93, hier S. 82 f. (Luther), 83–90 (Zwingli u. a.). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Die Reformation der langen Distanz 509 Reformatoren und der damit zusammenhängende Wissenstransfer infolge der Lektüre ihrer Bücher trugen viel zu dieser lange andauernden reformatorischen Vielfalt in der Stadt Zittau bei.281 281 Eine solche Atmosphäre herrschte bis in die 1570er Jahre z. B. in Emden B. Kappelhoff, Notgedrungen geduldet oder stillschweigend respektiert? Konfessionelle Minderheiten in Emden vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: H. J. Selderhuis / J. M. J. Lange van Ravenswaay (Hgg.), Reformed Majorities in Early Modern Europe (R5AS 23), Göttingen/ Bristol, CT 2015, S. 139–171, hier S. 141 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Jan Zdichynec Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop Beispiele aus der Oberlausitz vor und nach 1600* […] und mit solchenn shmehungen viel landt unndt stedte erfuellet […].1 […] malunt autem vituperare quam sanare […].2 Einführung Anfang 1582 schrieb Matthias Scheufler († 1593),3 Bürgermeister und Syndikus der königlichen Sechsstadt Lauban/Lubań in der östlichen Oberlausitz, einen umfangreichen Brief an Johannes Leisentrit (1527–1586), Domdekan in Bautzen und Administrator der römisch-katholischen Institutionen und Gläubigen in der inzwischen lutherisch gewordenen Diözese Meißen.4 Scheuflers schwerkranke Tochter Dorothea († 1581), verheiratete Berndt, hatten ein Jahr vor ihrem Tod * 1 2 3 4 Dieser Beitrag wurde realisiert im Rahmen des Forschungsprojektes der GAČR Nr. 18-01320S „Komunikace rebelie“. České stavovské povstání a jeho následky v politice městských rad v zemích Koruny české (1617–1623) [„Die Kommunikation der Rebellion“. Der Böhmische Ständeaufstand und seine Folgen in der Politik der Stadträte in den Ländern der Böhmischen Krone (1617–1623)]. DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 1r. NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief des katholischen Pfarrers in Königshain/Działoszyn bei Zittau, Sebastian Balthasars von Waldhausen; 1.12.1621; Original). M. W. hat sich die Forschung bislang nicht mit Scheufler beschäftigt. Er wird nur kursorisch als Bürgermeister im Zusammenhang mit der Gründung der Laubaner Stadtbibliothek und mit dem hier beschriebenen Konflikt erwähnt. Vgl. detaillierter unten Anm. 37. Auch die Sächsische Biografie enthält keinen Artikel über Scheufler. In eigenen Schriften nennt er sich Scheuffler(us) oder Scheufler. Hier wird die zweite Variante Scheufler benutzt, die am häufigsten in der älteren Literatur zu finden ist. Zu Leisentrit vgl. resümierend S. Seifert, Domdekan Johann Leisentrit als Apostolischer Administrator und kaiserlicher Generalkommissar in Religionssachen, in: J. Bahlcke (Hg.), Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Beziehungen – Strukturen – Prozesse (QFSG 30), Stuttgart/Leipzig 2007, S. 174–190; neuerdings auch J. Bulisch, Bewahrende Erneuerung – Johann Leisentrit und der Lausitzer Sonderweg, in: SächsHBll 63 (2017), H. 2, S. 135–146. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 512 Jan Zdichynec erhebliche Zweifel am lutherischen Glauben geplagt, zu dem sie und ihre Familie sich bekannten. In seinem Brief bezeichnet Scheufler das Luthertum als ‚strittige Religion‘. Dorothea hatte sich entschlossen, ihren Kummer dem Ehemann zu verschweigen und sich nur ihrem Vater sowie ihrem Onkel, dem Stadtschreiber Andreas Krause, anzuvertrauen.5 Danach wandte sie sich an die Schwestern des Laubaner Magdalenerinnenklosters und empfing dort heimlich Sakramente von einem katholischen Priester. Sie wollte in ihren letzten Stunden keine lutherischen Geistlichen in ihrer Nähe dulden, insbesonders nicht den Prädikanten Sigismund Suevus/Schwabe (1526–1596). Schließlich verschied sie in Christlicher bekhend­ nuss des Catholischen Glaubens und wurde nach römischem Ritus begraben. Matthias Scheufler selbst besuchte zusammen mit dem genannten Schreiber Krause weiterhin lutherische Predigten und empfing lutherische Sakramente, blieb aber wahrscheinlich ein geheimer Anhänger des Katholizismus und hatte unter den ‚Römischen‘ viele Freunde. Ursprünglich hatte er nicht vorgehabt, jemandem das Seelenleiden seiner Tochter zu offenbaren. Er war jedoch der Auffassung, dass der Pfarrer Suevus der verstorbenen Dorothea eine Predigt hätte widmen sollen, was dieser indes nicht tun wollte, ehe ihm Scheufler über ihren Glaubenswandel detailliert berichtet hätte. Als er die Einzelheiten erfuhr, äußerte er sich sehr abwertend: Er verdammte Scheuflers einzige geliebte Tochter öffentlich von der Kanzel, prangerte ihren Glauben als Mamalückisch stuckh an und sprach sie dem Teufel zu. Anstatt Scheufler zu trösten, verurteilte er ihn öffentlich, als ob er von der wahren christlichen Religion abgefallen wäre.6 5 6 Krause heiratete Scheuflers Schwester: Nemblich, daß meine Tochter ein Jhar vor Irrem tödtlichen Abschiedt in schwere Anfechtung der strittigen Religion halber zerfallen, solchs Irrem Ehemann verschwiegen haben wollen, und mir als dem Vatter beineben dem Stadtschreyber irren Kummer allein vertrauet. Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift zur Heiligen Maria Magdalena von der Buße zu Lauban in Schlesien von 1320–1821, ed. E. Piekorz, Stuttgart/Aalen 1970, S. 370–373, Nr. 11, hier S. 370, wobei es sich bloß um ein Konzept des Briefes an den Domdekan handeln soll, das im Bautzener Domstiftstarchiv überliefert sein sollte. Ich übernehme hier den Wortlaut der Edition durch Paul Skobel. Die Korrespondenz Leisentrit – Scheufler ist ziemlich umfassend, wie noch zu zeigen sein wird. Diesen Brief konnte ich aber in den bis heute überlieferten Quellen nicht eindeutig identifizieren. Im Fall der Originalquellen werden sie nach den üblichen deutschen Editionsregeln transkribiert. Vgl. die Richtlinien in: Historica Třeboň 1526–1547. Listy, listiny a jiné prameny k politickým dějiným zrodu habsburské monarchie [Historica Wittingau 1526–1547. Briefe, Urkunden und andere Quellen zur politischen Geschichte der Geburt der Habsburgermonarchie], Bd. 1: Písemnosti z let 1526–1535 [Schriftstücke von 1526 bis 1535], ed. T. Sterneck (DRGBI A II/1), Praha 2010, besonders S. 23–42. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 370 ff., Nr. 11, hier S. 370; vgl. auch ebd., S. 371 f. Dabei erscheint diese Form der Geschichte als eine quasi Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 513 *** Diese Studie widmet sich den sozialen Interaktionen zur Behauptung und Aufrechterhaltung der Reformation auf lokaler Ebene, und zwar am Beispiel der Oberlausitzer Frauenklöster, welche die Einführung der lutherischen Reformation überstanden hatten. Konkrete Themen ergeben sich aus dem konfessionellen Druck und den – erzwungenen wie freiwilligen – Glaubenswandel; zu den daraus resultierenden Konflikten sind interessante und im Rahmen der Länder der Böhmischen Krone ziemlich außergewöhnliche Quellen überliefert. Das Markgraftum Oberlausitz befindet sich im Dreieck zwischen Deutschland, Tschechien und Polen, eine auch für die Forschung sehr günstige geographische Lage. Am Beispiel der Oberlausitz kann man viele Phänomene der Konfessionalisierung beobachten, die zwar auch vom ‚deutschen Luthertum‘ mitverursacht wurden, die sich jedoch zugleich in dem vom Heiligen Römischen Reich abweichenden staatsrechtlichen Rahmen der Böhmischen Krone formten. In dieser Region galt cuius regio, eius religio ebenso wenig wie die (ältere) Tradition der böhmischen Reformation. Die hiesige Lage widersteht also den aus der Geschichte des Reiches und Böhmens bekannten Erklärungsmustern.7 Vor allem kann aufgrund der beiden im Folgenden analysierten Beispiele die Grenzen des ‚Konfessionellen‘ im Alltag anschaulich ausgelotet werden; sichtbar werden die konfessionellen Ab- und Ausgrenzungen und die innerkonfessionelle Autonomie ebenso wie bisweilen der Widerstand gegen die durch die Obrigkeiten gesetzten konfessionellen Normen. Die einschlägige tschechische Forschung zur vorliegenden Fragestellung ist nicht besonders reichhaltig. Von den tschechischen Forschern widmeten sich 7 ‚kanonische‘ Erzählung in allen Abhandlungen über die Laubaner Klostergeschichte, die in dieser Gestalt auch in der letzten ‚Klosterbiografie‘ geschildert wurde. Vgl. P. Stefaniak, Na chwałe Trójcy Świętej. Dzieje klasztoru sióstr świętej Marii Magdaleny od pokuty w Lubaniu 1320–2010 [Zum Lob der Heiligen Dreifaltigkeit. Die Geschichte des Klosters der Schwestern der heiligen Maria Magdalena von der Buße in Lauban 1320–2010], Kraków 2011, S. 45. Zu kirchlichen Verhältnissen in einzelnen Ländern der Böhmischen Krone vgl. den deutsch-polnisch-tschechischen Sammelband L. Bobková / J. Konvičná (Hgg.), Náboženský život a církevní poměry v zemích Koruny české ve 14.–17. století [Das religiöse Leben und kirchliche Verhältnisse in den Ländern der Böhmischen Krone (14.–17. Jahrhundert)] (KZ 4), Praha 2009; zu den Spezifika der Oberlausitz vgl. auch L.-A. Dannenberg / D. Scholze (Hgg.), Stätten und Stationen religiösen Wirkens. Studien zur Kirchengeschichte der zweisprachigen Oberlausitz (SSI 48), Bautzen 2009; zur Reformation auf dem Land (jedoch eher aufgrund älterer Literatur) vgl. L.-A. Dannenberg, Reformation auf dem Land. Der Oberlausitzer Adel und die lutherische Lehre, in: H.-D. Heimann / K. Neitmann / U. Tresp (Hgg.), Die Nieder- und Oberlausitz. Konturen einer Integrationslandschaft (SBVL 12), Bd. 2: Frühe Neuzeit, Berlin 2014, S. 55–90. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 514 Jan Zdichynec dem Thema des konfessionellen Wandels im Mikrokosmos der Städte und adligen Grundherrschaften vor allem Josef Hrdlička8 und Josef Kadeřábek.9 Radmila Prchal Pavlíčková,10 Marie Ryantová11 und Thomas Winkelbauer12 fokussierten eher auf die konkreten Beispiele der Konversionen, die sog. Konversionsberichte und auf die konfessionelle Homiletik. Petr Hrachovec schildert in seinem jüngst erschienenen Buch das religiöse Zusammenleben im 16. Jahrhundert in Zittau, einer weiteren königlichen Stadt in der Oberlausitz.13 Der Autor der vorliegenden Studie machte schon auf verschiedene Facetten des konfessionellen Nebeneinanders in den Klosterherrschaften aufmerksam.14 8 Vgl. vor allem J. Hrdlička, Víra a moc. Politika, komunikace a protireformace v předmoderním městě ( Jindřichův Hradec 1590–1630) [Glaube und Macht. Politik, Kommunikation und Gegenreformation in vormoderner Stadt (Neuhaus 1590–1630)] (MH 14), České Budějovice 2013; Ders., Public Expressions of Religious Transformation in Moravian Towns (1550–1618), in: K. Horníčková (Hg.), Faces of Community in Central European Towns. Images, Symbols, and Performances, 1400–1700, Lanham/Boulder/New York/London 2018, S. 211–228. 9 Vgl. J. Kadeřábek, Nerovný boj o víru: páni z Martinic a rekatolizace města Slaný (1600– 1665) [Ein ungleicher Kampf um den Glauben: die Herren von Martinitz und die Rekatholisierung der Stadt Schlan (1600–1665)], Praha 2018; Ders., Unity, confession, power. Symbolic communication in the town of Slaný in the 17th century, in: Město a dějiny/The City and History 6 (2017), S. 6–16; J. Hrdlička / Ders., Individuální prvky administrativního tlaku na konverze měšťanů českých měst ve dvacátých letech 17. století [Individuelle Elemente des administrativen Drucks auf Konversionen der Bürger in böhmischen Städten der 1620er Jahre], in: FHB 27 (2012), S. 71–98. 10 Vgl. R. Prchal Pavlíčková, Smrt konvertity. Zprávy o dobré a špatné smrti v konfesním kontextu [Der Tod eines Konvertiten. Die Berichte über den guten und schlechten Tod im konfessionellen Kontext], in: HOP 11 (2019), H. 2, S. 63–80, darin wird auch Dekan Leisentrit und sein Werk berücksichtigt. Vgl. Dies., „Unter den Ketzern zu leben und zu sterben ist gar schwerlich und geferlich.“ Das Sterbebuch des Johann Leisentritt im Kontext der katholischen Sterbebücher des 16. Jahrhunderts, in: ARG 107 (2016), S. 193–216. 11 Als Beispiel aller ihrer Studien vgl. den Aufsatz M. Ryantová, Der Konvertit und Exulant Jiří Holík und seine antikatholischen Schriften, in: AC 25/49 (2011), S. 199–219. 12 Zu adligen Konversionen vgl. T. Winkelbauer, Konfese a konverze. Šlechtické proměny vyznání v českých a rakouských zemích od sklonku 16. do poloviny 17. století [Konfession und Konversion. Der Wandel des Bekentnisses beim Adel in den böhmischen und österreichischen Ländern vom ausgehenden 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts], in: ČČH 98 (2000), S. 476–540; dazu seine Synthese Ders., Österreichische Geschichte, T. 2: 1522–1699. Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter, 2 Bde., Wien 2003. 13 Vgl. P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen (1300–1600). Zum Wandel religiöser Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig 2019. 14 Vgl. J. Zdichynec, „Vim vi pellere licet …“? Vývoj konfesních poměrů na farnostech hornolužických ženských klášterů v průběhu 17. století [… Der Wandel der konfessionellen Verhältnisse Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 515 Darüber hinaus widmeten sich tschechische ebenso wie deutsche Forscher auch generell dem Thema der konfessionellen Gewalt.15 Relevant ist auch die allgemeinere deutsche sowie zum Teil auch angelsächsische und französische Sekundärliteratur, wobei hier vor allem die Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich untersucht wurden, ohne auf die Lage unter der Böhmischen oder Polnischen Krone einzugehen.16 Inspirierend ist z. B. die Studie von Frauke Volkland, die sich auf der mikrohistorischen Ebene bewegt und die Konversion als Beispiel eines sozialen Dramas analysiert.17 Wichtig sind hauptsächlich ihre Erwägungen über Möglichkeiten zur Übertragung konfessioneller Identitäten auf die bäuerliche Gesellschaft. Ähnlich scheint sich die Lage bezüglich der Festigung bzw. eher des Wandels des konfessionellen Selbstverständnisses für Sachsen und Brandenburg entwickelt zu haben.18 Die sog. Simultankirchen untersuchte neuerdings z. B. Daniela Hacke,19 die 15 16 17 18 19 in den Pfarreien der Oberlausitzer Frauenklöster im Lauf des 17. Jahrhunderts], in: I. Čornejová / H. Kuchařová / K. Valentová (Hgg.), Locus pietatis et vitae. Sborník příspěvků z konference konané v Hejnicích ve dnech 13.–15. září 2007 [… Tagungsband zur Konferenz in Haindorf, 13.–15. September 2007], Praha 2008, S. 351–391. Auf diesem Aufsatz beruht zum Teil auch die vorliegende Studie. Vgl. dazu auch J. Zdichynec, Die konfessionelle Zeit in den oberlausitzischen Frauenklöstern. Krise und Erneuerung des monastischen Lebens in der bikonfessionellen Oberlausitz, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien, Netzwerke, Reformation. Zittau und die Oberlausitz im konfessionellen Zeitalter. Mit einem Bestandskatalog der Zittauer Epitaphien, Zittau 2018, S. 45–52. Vgl. J. Bahlcke / K. Bobková-Valentová / J. Mikulec (Hgg.), Religious Violence, Confessional Conflicts and Models for Violence Prevention in Central Europe (15th–18th Centuries), Praha/Stuttgart 2017, hier vor allem für den vergleichenden theologischen Kontext sowie die ältere Phase der Frühen Neuzeit W. Eberhard, Religionskonflikte – Gewalt in der Religion in der Frühneuzeit. Ideelle und historische Voraussetzungen – zeittypische Zuspitzungen, in: ebd., S. 15–36. Vgl. eine Neuerscheinung über vergleichende Zugänge zur konfessionellen Problematik in Ostmitteleuropa von G. Wąs / L. Harc (Hgg.), Reformacja: Między ideą a realizacją. Aspekty europejskie, polskie, śląskie [Reformation: zwischen Idee und ihrer Umsetzung. Europäische, polnische und schlesische Aspekte], Kraków 2019. Vgl. F. Volkland, Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert (VMPIG 210), Göttingen 2005. Vgl. vor allem die Studien in A. Stegmann, Die brandenburgische Kirchenordnung von 1540, in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.), Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (SBVL 20), Berlin 2017, S. 235–288; S. Zinsmeyer, Von „halsstarrigen papistischen“ Jungfrauen und solchen, die sich „christlich“ verhielten. Klosterordnungen weiblicher Gemeinschaften in der Reformationszeit, in: ebd., S. 312–323. Vgl. D. Hacke, Konfession und Kommunikation. Religiöse Koexistenz und Politik in der Alten Eidgenossenschaft – Die Grafschaft Baden 1531–1712, Köln/Weimar/Wien 2017. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 516 Jan Zdichynec Konversionen Heike Bock.20 Für die Konfessionalität im Hinblick auf den Tod und die ars moriendi kann man als Vergleichsstudien die Arbeiten von Claudia Resch oder Luise Schottroff heranziehen.21 Berücksichtigen muss man in diesem Kontext auch die Wallfahrten, Religionsdisputationen oder den Wandel der konfessionellen Identitäten.22 Die Konversionen wurden auch im breiteren interdisziplinären Rahmen unter Anwendung psychologischer oder literaturhistorischer Ansätze untersucht.23 Die Konversion als ein zeitloses Phänomenon und zugleich als ein individuelles Erlebnis (und ihre Stilisierung) analysiert eine andere interdisziplinäre Gemeinschaftsarbeit.24 Für die vorliegende Studie ist hauptsächlich die Wahrnehmung der Konversion als eines Feldes wichtig, wo – trotz der Bedeutung vorgegebener Handlungsrahmen und -muster – individuelle Erfahrung hervortreten kann; ebenfalls bedeutsam ist die Analyse eines Alltags in einem mehrkonfessionellen Milieu, wo die Ab- und Ausgrenzung einzelner konfessioneller Akteure oft durch verbale und physische Gewalt ausgedrückt wird. Stadt und Kloster: der Fall Matthias Scheufler […] des pfarners unaufhörrlichs schandtgeshrey unndt diffamation25, oder Scheuflers unmenschlich wüten?26 Eingangs wurde der Brief Matthias Scheuflers an Johannes Leisentrit in der Interpretation des katholischen Geistlichen und Heimathistorikers Paul Skobel 20 Vgl. H. Bock, Konversionen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Zürich und Luzern im konfessionellen Vergleich (FF 14), Epfendorf/Neckar 2009. 21 Vgl. C. Resch, Trost im Angesicht des Todes. Frühe reformatorische Anleitungen zur Seelsorge an Kranken und Sterbenden (PiLi 15), Tübingen/Basel 2006; L. Schottroff, Die Bereitung zum Sterben. Studien zu den frühen reformatorischen Sterbebüchern (R5AS 5), Göttingen 2012. 22 Vgl. als eine ältere, doch nicht veraltete Analyse E. François, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806 (AGA 33), Sigmaringen 1991. 23 Vgl. N. Brucker (Hg.), La conversion. Expérience spirituelle, expression littéraire (RELS 8), Bern 2005; J. N. Bremmer / W. J. van Bekkum / A. L. Molendijk (Hgg.), Paradigms, poetics and politics of conversion (GSCC 19), Leuven 2006, mit Schwerpunkten auf der sprachlichen Analyse und der Epoche des Mittelalters. 24 Vgl. B. Bakhouche / I. Fabre / V. Fortier (Hgg.), Dynamiques de conversion: modèles et résistances. Approches interdisciplinaires (BEHE 155), Turnhout 2012. 25 DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 1r. 26 APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2251 (Chronik Hofkuntz), S. 103. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 517 (1878–1952) vorgestellt, der unter anderem auch das Archiv der Laubaner Magdalenerinnen ordnete. Skobel führte diese Geschichte fort: Trotz aller Bitten und trotz der Tatsache, dass Scheufler vor den Laubaner Stadtrat erschienen war, um alles zu klären, habe das ‚erbarmungslose Toben‘ des lutherischen Pastors Suevus nicht nachgelassen. Die Nachricht von Dorotheas Konversion habe sich in der ganzen Stadt und in ihrer Umgebung verbreitet. Scheufler habe begonnen, sich mit der katholischen Sakramentslehre zu befassen und er sei zu dem Schluss gekommen, dass die Art und Weise, wie diese in lutherischen Texten, besonders in den „Magdeburger Centurien“, als bloße Äußerlichkeit und hässlicher Flecken beschrieben wird, mangelhaft sei – und dass sie seiner Tochter ebenso wenig schade wie sie den rechtgläubigen Kirchenvätern Augustinus (354–430) und Hieronymus (347–420) geschadet habe. Die katholische Lehre, so Scheufler, sei kontinuierlich seit den apostolischen Zeiten bis in seine Gegenwart makellos tradiert worden, wobei demgegenüber Martin Luther (1483–1546), Jean Calvin (1509–1564) und deren Nachfolger von der katholischen Kirche abgefallen seien. Sie hätten die Augsburger Konfession (1530) gefälscht und sie durch Arianismus, Ubiquitismus, Nestorianismus und Gott weiß noch mit welchen weiteren Häresien besudelt.27 Dem Kontext dieses Briefes kann zudem entnommen werden, dass sich damals wegen Dorotheas Konversion auch ihre Mutter quälte – und Scheufler war imstande, Argumente zu sammeln, mit denen er sie beruhigte. Scheufler bat Leisentrit verzweifelt um Schutz gegen die weiteren Übergriffe gegenüber den Katholiken seitens des Laubaner Stadtrats, der Prädikanten und des örtlichen ‚Pöbels‘, doch vergeblich. Scheufler, der schließlich auch zu seiner sterbenden Frau einen katholischen Priester holen ließ, musste sein Amt des Bürgermeisters aufgeben und sein Haus wurde vom ‚Pöbel‘ – so der katholische Geistliche Skobel – geplündert. Schließlich verließ er Lauban und ging ins schlesische Liebenthal/Lubomierz, wo ihm die dortigen Benediktinerinnen das Amt des Klostersyndikus anvertrauten. Schließlich landete Scheufler in den Diensten des Bischofs Andreas von Jerin (1540/41–1596, reg. ab 1585) von Breslau/Wrocław. Danach kehrte er im hohen Alter nach Lauban zurück. Katholischen Historikern zufolge wurde er durch den grausamen Suevus und den Laubaner ‚Pöbel‘ zu Tode gehetzt. Nach Auffassung der protestantischen Autoren wiederum war er ein unnachgiebiger Apostat und Rebell. In Lauban starb er am 1. März 1593, „fast in einem viehischen Zustand“,28 und er wurde bei der südlichen Wand des Klosters begraben – soweit der katholische Blickwinkel. 27 Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 370–373, Nr. 11. 28 J. G. Gründer, Chronik der Stadt Lauban, Lauban 1846, S. 152. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 518 Jan Zdichynec Noch im 19. und 20. Jahrhundert schied sich an der ‚Affäre Scheufler‘ die katholische und protestantische Deutung der Geschichte Laubans. Ganz anders als Skobel beschrieb sie der protestantische Laubaner Historiker und Pastor bei der dortigen Frauenkirche Karl Gottlieb Müller († 1818), der anlässlich des 200jährigen Reformationsjubiläums die „Kirchengeschichte der Stadt Lauban“ verfasste.29 Müller schrieb die Stadtgeschichte gemäß einer Reihe von katholischen und später lutherischen Pfarrer, Pastoren und Diakonen. So ist die von ihm geschilderte Geschichte hauptsächlich mit dem eingangs erwähnten Pastor Sigismund Suevus verbunden, einem recht bedeutenden Mathematiker und evangelischen Theologen, der gleichfalls Musiker und Poet war und zudem viele Werke verschiedener Gattungen herausgab.30 Suevus „wurde auch bald in mancherlei Streitigkeiten verwickelt, die ihm großen Kummer verursachten“; andererseits soll er – im Gegensatz zu Skobels Deutung – unter den lutherischen Bürgern sehr beliebt gewesen sein. Müller berichtet allerdings ebenfalls, dass der Pfarrer kein öffentliches Begräbnis eines an Trunksucht gestorbenen Jungen erlaubt habe.31 Nach einer Zwischenstation trat er Anfang Januar 1578 erneut das Pastorenamt in Lauban an. Die angeblich bestehende Einigkeit zwischen den konfessionellen Parteien wurde dann im Dezember 1581 unterbrochen: im Zusammenhang mit dem Bürgermeister Scheufler und dem Stadtschreiber Andreas Krause. Die Schuld an der großen Unruhe und Erbitterung schreibt Müller – übrigens im Einklang mit den frühneuzeitlichen Stadtchronisten – den hiesigen ‚Krypto-Katholiken‘ und den Klosterjungfrauen zu, die zur erkrankten Dorothea Berndt gerufen wurden. Scheufler und Krause hätten sich noch eine lange Zeit zur evangelischen Lehre offiziel bekannt, waren aber, so Müller, „im Geheimen immer Freunde und Anhänger 29 Vgl. K. G. Müller, Kirchengeschichte der Stadt Lauban von der Mitte des zehnten Jahrhunderts an bis mit der dritten Jubelfeier der Reformation im Jahr 1817, Görlitz 1818, S. 189 ff. Die protestantische Überlieferung stützt sich auf frühneuzeitliche Laubaner Chroniken, außer in der schon zitierten Chronik Hofkuntz (wie Anm. 26) ist der Streit detailliert beschrieben bei C. Wiesner, Annales Lauban […], SLUB Dresden, Mscr. a 77, fol. 117 v–121 v. 30 Vgl. Schwabe, Sigismund, CERL Thesaurus, https://data.cerl.org/thesaurus/cnp01875537 (letzter Zugriff am 21.6.2020); weiter C. F. D. Erdmann, Suevus, Siegmund, in: ADB 37 (1894), S. 129–135, online-Version: https://www.deutsche-biographie.de/pnd124639240.html#adbcontent (letzter Zugriff am 21.6.2020). Suevus wird als ein Schüler Philipp Melanchthons (1497–1560), Prediger in Lauban und Breslauer Geistlicher beschrieben. Allgemein bekannt ist seine Schrift: Arithmetica Historica […], Breslau: Georg Baumann d. J. / Andreas Wolcke 1593 (VD16 S 4523), die als eine Vorbereitung auf das Jüngste Gericht durch Bibelunterricht und Arithmetikkenntnis konzipiert ist. Er verfasste auch viele theologische Schriften, Trostpredigten oder Beschreibungen der (evangelischen) Wallfahrt zum (Görlitzer) Heiligen Grab usw. 31 K. G. Müller, Kirchengeschichte (wie Anm. 29), S. 189. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 519 des Katholicismus geblieben und hatten Mehrere von ihren Freunden, als auch die gedachte Berndt dazu zu bereden gesucht“.32 Nun sei jedoch die Wahrheit aufgedeckt worden, worauf sie durch ihre angeblichen Vorwürfe versucht hätten, Zweifel an der Rechtgläubigkeit von Suevus zu wecken, um dadurch von ihrer Zugehörigkeit zur katholischen Kirche abzulenken. Gerade deshalb soll Suevus diese ‚harte‘ Predigt gegen Scheufler und seine Tochter gehalten haben; und zwar am Tag, an welchem sie nach katholischem Brauch beerdigt wurde: „Er that dies aber, nach allen nachrichten, mit der größten bescheidenheit“, wobei er die Zuhörer aufgefordert haben soll, „dass sie an diesem Beispiele kein Aergerniß nehmen, und sich nicht auch zum Abfall verleiten lassen, sondern der einmal erkannten und bekannten Wahrheit des Evangeliums treu bleiben sollten“.33 Allen Versuchen der Protestanten und des Magistrats zum Trotz war die Beilegung dieses Streites unmöglich, was die Lage in der Stadt sehr destabilisierte, wo es seit den 1520er Jahren mehrfach zu Versuchen gekommen war, verschiedene Verträge über die religiösen und kirchlichen Verhältnisse zwischen dem Kloster und der Stadt zu vereinbaren.34 Man sprach über die durch Scheufler und Krause organisierten ‚geheimen Zusammenkünfte‘. Die Klagen beider Seiten nahmen zu. Am 15. Februar 1582 reichte Scheufler eine Schrift unter dem Titel „Auf etlche [!] Ev. Predigten vom Abfall Antwort und Erklärung Mathes Scheuflers“ ein.35 In den Streit zog er den Bautzener Domdekan Leisentrit hinein. Dessen Verwicklung spiegelt zugleich die besondere Lage im Markgraftum Oberlausitz wider: Ausgerechnet der katholische Administrator sollte die religiösen Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Katholiken in einer königlichen Stadt erledigen. Er war nämlich immer noch die höchste kirchliche Instanz im Land, weil eine eigene lutherische Landeskirche in der Oberlausitz aufgrund der spezifischen politischen Verhältnisse (konkret der Zugehörigkeit zur Böhmischen Krone) noch nicht entstanden war. Auch Kaiser Rudolf II. (1576–1611/12) mischte sich in den Streit ein.36 32 Ebd., S. 191. 33 Ebd., S. 191 f. 34 Vgl. dazu schon J. B. Carpzov, Neueröffneter Ehren=Tempel Merckwürdiger Antiquitäten des Marggraffthums Ober=Lausitz […], Leipzig/Budißin: David Richter / Andreas Zeidler 1719. In den modernen Studien zur Reformation in der Oberlausitz wird Lauban eher übersehen, z. B. im Vergleich zu Görlitz vgl. C. Speer, Frömmigkeit und Politik. Städtische Eliten in Görlitz zwischen 1300 und 1550 (HAB 8), Berlin 2011. 35 Diese Schrift erwähne ich nach K. G. Müller, Kirchengeschichte (wie Anm. 29), S. 193, nach welchem auch alle späteren protestantischen Autoren diese Geschichte schildern. Leider war die Schrift nicht auffindbar; inhaltlich nahe steht sie aber den Quellen, die weiter unten untersucht werden. Vgl. vor allem Anm. 49. 36 Vgl. S. Seifert, Domdekan (wie Anm. 4); K. Blaschke / Ders., Reformation und Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 520 Jan Zdichynec Die Schilderung Müllers stützte sich auf die älteren Laubaner Chroniken, die Scheufler aus einer pointiert lutherischen Perspektive als ‚wütenden, unmenschlichen‘ Mann bezeichnen. Dieses ‚protestantische‘ Bild wiederholt sich auch bei den Autoren des 19. Jahrhunderts.37 Problematisch ist, dass keiner dieser Autoren die Quellen genauer zitiert. Skobel, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg sein Werk abschloss, stützte sich offensichtlich auf die Quellen des Bautzener Domstiftsarchivs, die noch heute fast komplett überliefert sind;38 Müller und seine protestantischen Nachfolger dagegen griffen auf die Quellen des Laubaner Ratsarchivs zurück, die heute weit verstreut sind. Eines der Ziele dieser Studie ist, die Sicht der älteren Literatur aufgrund unedierter Quellen zu revidieren, obwohl dies aus Platzgründen nur zum Teil möglich ist. Zum Fall Scheufler sind nämlich bis heute zahlreiche Quellen überliefert, vor allem aus dem Magdalenerinnenkloster Lauban; zurzeit werden sie in mehreren Archiven aufbewahrt, besonders in Breslau und Bautzen. An dieser Stelle werden zugleich die Quellen aus Lauban (Kloster und Stadt) berücksichtigt, die sich heute aufgrund der Kriegs- und Nachkriegsereignisse im Erzdiözesanarchiv Breslau befinden, welches der heutigen Forschung meist unbekannt ist.39 Dazu kommt noch eine Aktenmappe im Staatsarchiv Breslau, Abteilung Bunzlau/Bolesławiec.40 Zur Verfügung steht hier vor allem der Briefwechsel zwischen Scheufler und Leisentrit. Besonders aussagekräftig für die vorliegende Untersuchung ist schließlich 37 38 39 40 Konfessionalisierung in der Oberlausitz, in: J. Bahlcke / V. Dudeck (Hgg.), Welt – Macht – Geist. Das Haus Habsburg und die Oberlausitz 1526–1635, Görlitz/Zittau 2002, S. 121–128; H. Manno, Die Reformation in der Oberlausitz, in: Wegmarken der Oberlausitzer Kirchengeschichte (Studien zur Oberlausitzer Kirchengeschichte 1), hrsg. vom Verein für Schlesische Kirchengeschichte, Mainz-Gonsenheim 1994, S. 1–10. Vgl. J. G. Gründer, Chronik (wie Anm. 28), S. 152; G. F. Otto, Lexikon der seit dem funfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und jeztlebenden Oberlausizischen Schriftsteller und Künstler […], 3 Bde., Görlitz 1800–1803, ND (4 Bde.), Neustadt/Aisch 2000/01, hier Bd. 1, S. 1. Scheufler wird meistens im Kontext der Anfänge der Laubaner Stadtbibliothek im Jahr 1569 erwähnt. Vgl. dazu Das Andencken des Ursprungs, und des Wachsthums der offentlichen Bibliothek in Lauban […] Lauban: s. i. 1748; URN: urn:nbn:de:gbv:3:1-155130 (letzter Zugriff am 21.6.2020). Es ist interessant, dass sich Scheufler damals gemeinsam mit seinem späteren Gegner, dem Pastor Suevus, an der Verbesserung des Zustandes der Laubaner Bibliothek beteiligte. Vgl. DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), neue Paginierung. Vgl. wenigstens viele Briefe in: AAW, Sign. V C 7 p) (Aktenmappe: Alte Schriften betreffend das Kloster der Magdalenerinnen in Lauban, 1565–1589). Vgl. mindestens APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Sign. 2853 (Mappe: Pastorat bey der Haupt- und Pfarrkirche zu Lauban dessen Besetzung, 1558–1678). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 521 ein handschriftliches, deutsch-lateinisches Glaubensbekenntnis Scheuflers im Bautzener Domstiftsarchiv.41 Die protestantische Deutung der Causa Scheufler lässt sich gut auf Grundlage der Laubaner Chronistik rekonstruieren. Die Chronisten scheinen sehr gut informiert gewesen zu sein. So führte z. B. der Laubaner Syndikus Georg Hofkuntz/Hiffguns einen Brief des Rates an den Domdekan Leisentritt an, der neben der Bestellung eines Predigers zur Laubaner Stadtkirche auch die Causa Scheufler behandelt und in den Herbst 1584 datiert ist.42 Man kann dadurch auch die Kommunikationsformen zwischen der lutherischen Stadt Lauban und der katholischen Administratur in Bautzen eindrücklich erkennen. So wurde in diesem Zusammenhang ein Stadtbote, der die Sache mündlich erledigte, erwähnt und daneben auch ein Brief Scheuflers. In diesem Zusammenhang führen die Ratsherren wiederholte Klagen Scheuflers nach Bautzen an. Er hätte, so die Ratsmänner wieder sein pflicht, so er dem veterlandt shuldig, wieder den eidt, so er alss gewesener burg[er]m[eister] der statt gethan […] wieder gemeinen stat und des vaterlandts sachen und wolfart handeln.43 Die Stadt könne zu keiner Ruhe kommen, bis Scheufler mit seinen Handlungen aufhöre. Der Rat forderte deshalb vom Domdekan, dass die gemeine stadt, bei den friedt unnd concordien, auch freiem excertitio religionis, wie wir got lob biß dahero ab anno 1525 post reformatam religionem einsam vorblieben, auch hinfuro dabey erhalten, und also dem fried nahrung helffen.44 Dagegen tobe Scheufler unmenschlich aus seinem unversehnlichen haß und neidt.45 Seine Rachgier war, dem Brief des Rats bzw. Hofkuntz zufolge, das größte Hindernis für den religiösen Frieden in der Stadt. Der Dekan könne sehen, wie einfach es sei, die Stadt und das Ratsregiment unruhig zu machen.46 Interessant ist gleichfalls, dass die Laubaner Lutheraner ihre Boten sogar nach Frankfurt an der Oder und nicht nach Leipzig oder Wittenberg 41 Vgl. DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), neue Paginierung. 42 Vgl. APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2251 (Chronik Hofkuntz), S. 103–106. Diese Chronik, die eigentlich einem Tagebuch ähnelt, beschreibt den Verlauf der 1580er Jahre am ausführlichsten. 43 Ebd., S. 103. 44 Ebd., S. 104. Der Hinweis des Rates auf die Einführung der Reformation in der Stadt schon im Jahr 1525 entspricht nicht vollkommen den Tatsachen. Die kirchlichen Zustände in Lauban gestalteten sich eigentlich noch am Ende des 16. Jahrhunderts sehr dynamisch und es gab immer noch Katholiken in der Stadt. Vgl. J. G. Müller, Versuch einer Oberlausitzischen Reformazionsgeschichte, Görlitz 1801, S. 417; vgl. auch die Edition des Vertrags über das faktische Simultaneum in Lauban (1584) in: P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 367, Nr. 9. 45 Vgl. APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2251 (Chronik Hofkuntz), S. 105. 46 Ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 522 Jan Zdichynec abfertigten, wobei viele Laubaner eben in Frankfurt studiert hatten bzw. dort tätig waren,47 um die Angelegenheit mit verschiedenen Autoritäten zu besprechen. Die Frankfurter Universität in Person von Dr. Johannes Knobloch/Cnoblochius (1520–1599) sowie des kurfürstlichen Rates und Kanzlers zu Küstrin/Kostrzyn nad Odrą Dr. Adrianus Albinus (1513–1590), eines gebürtigen Laubaners, unterstützten die Laubaner mit theologischen Argumentationen, wobei sie ihnen auch die Berufung eines neuen lutherischen Pastors empfahlen. Die Hauptquelle für die Causa Scheufler ist jedoch sein mehr oder weniger stilisiertes Glaubensbekenntnis.48 Die zum Teil beschädigte Handschrift umfasst heute 58 Blätter. Sie beginnt mit einem Brief Scheuflers an Leisentrit, der sehr ähnlich, doch nicht identisch mit dem Brief ist, den Skobel analysierte.49 Darin berichtete er über die shwere[n] anfechtungen seiner seligen tochter.50 Dorothea soll Pfarrer Suevus um einen gründlichen bericht von seinen theologischen Büchern ersucht haben. Suevus habe ihr dies aber abgeschlagen und: uns ohn allen beweis des abfalls von warer religion offendtlich beshueldet unndt mit solchenn shme­ huengen viel landt unndt stedte erfuellet, als er auch seiner shmehuengen einen gruendt vorm stadt unndt den geshwernen anzeigen sollenn, das er keinen andern gruendt gehabt, dan das ubergebene dubium, welches (wie alle verstendige davon judiciren) seiner bezicht ex diametro stracks zuwieder ist.51 Er habe Verhör und Unterredung abgelehnt und Scheufler mit einem Geschrei verfolgt. Es habe: des pfarners unaufhörrlichs schandtgeshrey unndt diffamation, dadurch er uns aus der kirchenn geiagt unndt verstossen, mir ursach gegebenn, meiner tochter anfechtungen ferner nachzudencken, die neue concordiam vor die handt zue nemben unnd was andere theologen, so nicht subscribiren wollennt, davon ertheilenn zu erkundigenn.52 47 J. Zdichynec, Frühneuzeitliche Laubaner Geschichtsschreibung und das Land der Sechsstädte, in: T. Binder (Hg.), 666 Jahre Sechsstädtebund (Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Kamenz 1), Görlitz/Zittau, 2012, S. 101–127. 48 Vgl. DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), neue Paginierung. 49 Vgl. oben vor allem Anm. 5 und 27. 50 DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 1r f. 51 Ebd., fol. 2r. 52 Ebd., fol. 1r. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 523 Die Invektiven Suevus’ hätten also Scheufler dazu veranlasst, die wichtigsten theologischen Schriften zu studieren. Er habe bald festgestellt, dass sie mit mancher­ ley irthumb, sonderlich mit den Gottes lesterlichen ketzereien des Eutychitis unndt Nestorii beshuldiget wuerde.53 Scheufler kannte sich augenscheinlich gut in den alten Schismen aus – er war wie erwähnt sehr gebildet –54 und habe sich darüber verstuerzet gefühlt.55 Er wollte aber nicht von der wahren christlichen Religion abfallen, sondern es plagte ihn die Frage der Seligkeit; zudem habe er festgestellt, dass der Pfarrer ihn vor Gott und Welt zu Unrecht verurteile. Scheufler beschrieb dann sehr detailliert, wie er sich dem Wort Gottes sowie den Schriften der Heiligen Propheten, der Apostel und der Evangelisten zuwandte. Eine besondere Autorität war für ihn der heilige Augustinus und die alten ortodoxen Theologen, nicht die heutigen, weil sie einander so feindlich verdammen, unndt der sachen vielleicht nimmer mehr einig werden können […] weil kein furtrefflicher Lehrer in der gantzen Christenheitt koentte genennet werden, als der h[eilige] Augustinus.56 Vielleicht ist es zu gewagt, darin den Einfluss der Magdalenerinnen, die der Augustinusregel folgten, zu sehen. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass Scheufler selbstständig imstande gewesen wäre, solche theologischen Schlüsse zu ziehen. Vehement lehnte er die Beschuldigung als ‚Mameluck‘ durch Suevus ab; der hätte niemals erger gewuettet unndt getobet geshendet unndt geshmehett auch der leuten verboten, mit uns gemeinschafft zu haben.57 Er hätte dies auch seiner kranken Frau unter dem Eindruck des grausamen und unmenschlichen Handelns Suevus’ vor deren Tod erklärt. Scheufler selbst fühlte sich gleichfalls nicht mehr seines Lebens sicher. Der Pfarrer war für ihn kein Christ, sondern ein Unchrist, und an uns ein mörder und verleumbder […, er, Anm. J. Z.] hette auch alle benachbarte pfarner zue mitthellffern an sich gezogenn.58 Gegen diese protestantischen Geistlichen bezog Scheufler den Pfarrer aus Katholisch Hennersdorf/Henryków Lubański, der zum Kloster gehörigen Pfarrei, ein, dem er sein Bekentnis vorlegte. Diesen habe er um Absolution und Kommunion gebeten und ihn zugleich zu seinem Seelsorger erwählt. Man kann also diese Schrift als einen klaren (obwohl wohl stilisierten) Beweis einer durchdachten und durchlebten Konversion auffassen. 53 Ebd. 54 Nach G. F. Otto, Lexikon (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 1 und Bd. 4, S. 138 f., soll Scheufler sogar eine polemische Satire über die Laubaner Schule geschrieben haben. 55 DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 1r. 56 Ebd., fol. 2v. 57 Ebd., fol. 2r. 58 Ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 524 Jan Zdichynec Nach dieser Einführung folgt dann in Scheuflers Glaubensbekenntnis ein bemerkenswerter Vergleich der katholischen und lutherischen Lehre, wobei er versuchte, die zweitgenannte von den errores und naevis und irrtümer zu reinigen. Damit könne er sein Herz und Gewissen befriedigen. Er stütze sich immer wieder auf die Lehre Augustins, mehr als Smidelinum oder Brentium, oder Illiri­ cum oder Calvinum, die auch keine Götter, sondern Menschen seien und deren widerwerttige opiniones zum theill uf den Lutherum, zum theill uf den Philippum fundirn, und in stetem zanck und uneynigkeitt verharrenn.59 Er behandelte Themen wie die Gnade und das Erbarmen, wobei er sich vor allem auf die Autoritäten der alten Kirchenväter wie Hieronymus und Tertullian (ca. 150–220) berief.60 Diese Erklärung wird sogar durch eine chronologische Tabelle zur Kirchengeschichte ergänzt, die aber leider nicht zu Ende gebracht wurde. Gerade die Uneinigkeit, die unterschiedlichen und sich widersprechenden protestantischen Meinungen, waren für Scheufler die stärksten Argumente gegen die Protestanten. Scheufler lehnte alles ab, was nicht aus dem Konsens der Orthodoxie nachgewiesen werden könne. Er verwies dabei auf die Psalmen, Gebete, Medita­ tionen und Manuale divi Augustini, worin er seinen Trost finde. Er berief sich ebenso auf die Autorität des Kaisers. Zuletzt bat er, sein Bekenntnis auf Deutsch und Latein zu drucken – ob das wirklich geschah, ist nicht bekannt.61 Zu diesen Erklärungen ist noch eine „Confessio catholica Mathei Scheuffleri consulis Laubensis“ hinzugefügt, wo Scheufler detailliert über coena Domini et transsubstantione panis berichtete, wieder mit Berufung auf die Konzilen der heiligen katholischen Kirche.62 Er resümierte auch die Ansichten Luthers, Johannes Brenz’ (1499–1570), Kaspar Schwenckfelds (1489/90–1561), Tilemann Heshusius’ (1527–1588), Calvins, Theodor Bezas (1519–1605) und anderer Autoren. Der Streit kam zu keinem eindeutigen Ausgang. Man kann die Aktivitäten Suevus’ für einen Versuch halten, eine so spektakuläre katholische Konversion zu vereiteln. Scheuflers Schrift stellt auf der anderen Seite ein wichtiges Zeugnis der Bildung, aber auch der Gewissensnöte eines frühneuzeitlichen Menschen dar, obwohl es sicher 59 60 61 62 Ebd., fol. 3r. Vgl. ebd., fol. 42r–59v (lateinischer Text, zum Teil ins Deutsche übersetzt). Ebd., fol. 18r; vgl auch Anm. 35. DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 18r; vgl. ebd. ein Zitat für alle: Die papisten lehren, weil der her Christus sagtt, hoc est corpus meum, ergo so sey es klar, hoc quod prius erat panis, iam per ipsius benedictionem esse corpus suum pro nobis datum, es where nit mehr brodt sondern der leib Christi vor uns gegeben unter der gestaldt des brodts, undt where also die substanz des brodts nicht mehr da, sondern die selbe wehr in die substantz des leibes Christi verwandeltt, undt lehere also, mit einem wort davon zu reden, ein transsubstantio. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 525 ist, dass sie auch zum Teil durch vorgegebene Deutungsmuster geprägt wurde. Es ist besonders interessant, dass sie in der Polemik vom Domdekan Leisentrit nicht mehr benutzt wurde. Vielleicht waren Scheuflers Ansichten für das fragile Gleichgewicht in der Oberlausitz, und speziell in der Stadt Lauban, allzu radikal. Man kann sicher nicht alle den Fall Scheufler betreffenden Quellen ausführlich würdigen. An dieser Stelle soll dennoch zumindest ein weiterer Bestand vorgestellt werden: die sog. Alten Schriften des Magdalenerinnenklosters in Lauban, die heute im Erzdiözesanarchiv Breslau aufbewahrt sind und die von der Forschung eher selten berücksichtigt werden.63 Es ist eindeutig, wie intensiv die Bindungen Scheuflers an Leisentrit und das Bautzener Domstift schon in seiner ‚lutherischen Zeit‘ waren. So ist z. B. ein lateinischer Brief Leisentrits an Scheufler, damals Oberstadtschreiber in Lauban, vom 28. Oktober 1566 erhalten. Scheufler wird als humanissimus atque doctissimus vir und amicus praestantissimus angesprochen. Der Brief beinhaltet interessante Ansichten der ‚katholischen Autoritäten‘ (docto­ res ecclesiae) über das heiligste Gesetz der in den biblischen Texten begründeten Ehe.64 Diese sei nicht nur deswegen heilig, weil sie vom Schöpfer gegründet worden sei, sondern auch dadurch, dass Christus bei der Hochzeit in Kana Wasser in Wein verwandelt habe.65 Deswegen könne die Ehe auch nicht aufgelöst werden. Dazu zog Leisentrit auch die tridentinischen Kanones heran, in klarer Abgrenzung gegenüber den Lutheranern. Aus dem Brief geht weiter hervor, dass Leisentrit zur Hochzeit von Scheuflers Tochter (wahrscheinlich eben jener Dorothea) eingeladen war. Er genehmigte die Hochzeit, konnte aber aus Zeitgründen nicht teilnehmen. Ein anderer Brief beklagt das wenig christliche ‚Tun‘ (practica parum christiana) gegen das Magdalenerinnenkloster in Lauban. Scheufler – angeblich noch Lutheraner, jedoch den Katholiken sehr nahestehend – schrieb darüber an den Schreiber Andreas (wahrscheinlich Krause).66 Er erwähnte eine Unterredung 63 Vgl. AAW, Sign. V C 7 p) (Alte Schriften betr. das Kloster der Magdalenerinnen in Lauban, 1565–1589). Es handelt sich um Quellen, die bis Ende des Zweiten Weltkriegs im Archiv des Laubaner Klosters aufbewahrt wurden. Danach wurden sie entweder schon während des Krieges nach Breslau gebracht, um sie zu ordnen, oder erst nach 1945 in Lauban gerettet. Ein anderer Teil dieses Archivs befindet sich noch im Laubaner Kloster. Vgl. dazu eine ungedruckte Bestandsübersicht von Roman Stelmach vom APWr (Klasztor magdalenek w Lubaniu: Archiwum / Magdalenerinnenkloster in Lauban). 64 Alle lateinischen Zitate vgl. im Brief vom 28.10.1566 in: AAW, Sign. V C 7 p), unpag. 65 Num coniugium, rem bonam esse et sanctam non solum ex eo probatur, quod sum[mus] omnium rerum opifex legitur inter primos parentes institutuisse, verum etiam quod in Coena Gallileae nuptiis interfuerit Christus, easque miraculo, nimirum aquae in vinum conversione, commenda­ ret. Ebd., unpag. (28.10.1566). 66 Ebd., unpag. (22.10.1571). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 526 Jan Zdichynec mit dem Oberlausitzer Landeshauptmann in Görlitz, der mit der Priorin des Klosters nicht zufrieden gewesen sei. Diese sei beim Landeshauptmann denunziert worden, worauf der Domdekan strenge Reformmaßnahmen vorbereitet habe67 – eine Information, die klar die Eingriffe der Landesherrschaft in die Angelegenheiten des Klosters belegt. Auch die Stadt – in Person Scheuflers – überwachte die schlechte ‚Haushaltung‘ im Kloster. Das systematische Interesse für die Klostersachen kommt auch im anderen Briefen Scheuflers klar zutage. Es sind darüber hinaus auch Konzepte und Originale der Briefe an den Laubaner Rat und Stadtpfarrer überliefert, in denen Leisentrit als Administrator, loci ordinarius ecclesiasticus und geistlicher Kommissar des Kaisers vom Bürgermeister Scheufler eine Rechtfertigung zu dessen Handlungen verlangte;68 dabei erwähnt er das dubium in Glaubenssachen von Krause und Scheufler, welches sie mithilfe Suevus’ erledigen wollten. Suevus habe ihnen aber überhaupt nicht geholfen, wobei er sie unchristlicher weÿse von der Cantzell iniuriose ausgeshrienn habe. Dabei hätte der Pfarrer doch eigentlich jeden Pfarrangehörigen in Glaubenssachen christlich informieren sollen.69 Falls ein Pfarrkind zweifele, sei es aus der christlichen Liebe auf den rechten Weg zu leiten.70 Leisentrit forderte deshalb im Auftrag des Kaisers Suevus auf, sich des Schmähens wider diesen Personen zu enthalten und sie nicht öffentlich zu nennen, sonst müsse er dem lutherischen Pastor mit einem kirchlichen Prozess drohen.71 Leisentrit erlangte sogar beim Kaiser und dem Oberlausitzer Landvogt ein Mandat gegen Suevus. In der Stadt setzte sich schließlich aber, wie schon gesagt, die ‚lutherische Partei‘ durch und Scheufler musste gehen. Er wirkte danach in Schlesien. Aus der Bischofstadt Neiße/Nysa schrieb er einen Brief an Leisentrit, mit welchem er wiederum versuchte, die kirchlichen Verhältnisse in Lauban zu seinen Gunsten zu verändern.72 In diesem Schriftstück sprach er 67 Zu den Reformen im Laubaner Kloster vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 214 ff. 68 AAW, Sign. V C 7 p) (Alte Schriften betr. das Kloster der Magdalenerinnen in Lauban, 1565– 1589), unpag. (Bautzen; 28.12.1582; Original). 69 Ebd., unpag. (28.12.1582). 70 […] unnd do er in einem oder dem andern dubitirte oder aber in manifesto errore stegket, aus christlicher liebe // [Randanmerkung, Anm. J. Z.] wie der Apostel spricht omnia numquam cha­ ritati aedificat fieri debent, et ea modestia // darvon abweysenn unnd auf den rechten weg leiten sollet, iuxta illud s[ancti] Petri sitis parati semper ad satisfactionem omni poscenti vos rationem de ea quae in vobis est spe et fide etc. Item inter opera charitatis non minimum est errantem ab errore sui semita revocare; ebd., unpag. (28.12.1582). 71 Erstmals schrieb in dieser Sache Leisentrit an Suevus schon im Dezember 1581. Ebd., unpag. 72 Vgl. ebd., unpag. (Neiße; 28.8.1584). Vielleicht nicht zufällig am Tag des hl. Augustinus datiert? Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 527 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop über die Invektiven des Pastors Suevus gegen die Katholiken und sogar über eine Zusammenarbeit des Klosters mit Nichtkatholiken.73 Interessanterweise schrieb Scheufler, dass man mit einem Fortbestehen des Klosters im ‚protestantischen Meer‘ rechnen dürfe, denn wir sind, Gott lob, nicht unterm Tuercken, sondern unter einem catholischem christlichem keysser. Der Brief war auch sehr persönlich: Scheufler könne nicht in seinem Vaterland leben, sondern er müsse in exilio, cum detrimento valetudinis, auf meine alter, unter frembden leuten leben.74 Hier findet sich nun auch ein deutlicher Beweis für seine Konversion, denn er konstatiert, allen Schwierigkeiten und Verfolgungen zum Trotz: Ich bin meiner religion gewiß, unnd hab nu[n] mehr kein zweifel […] es ist mir tausentmal lieber, der teufel shellte mich, dann das er mich lobe, oder mir dancke zum valete. [… Ich, Anm. J. Z.] wuerde nichts serviliter simulirn, sondern mein conscientiam aperte liberirn unnd zu der religion treten, derer ich in meinen gewissen anhengig wer.75 Land und Kloster: der Fall Ursula Queitsch […] uti insaniens Jezabel […].76 Im ersten Teil dieses Beitrags wurde eine Geschichte aus dem städischen Milieu vorgestellt. Auch auf dem Land, in vielen Oberlausitzer Klosterdörfern, herrschten in Fragen der Konfession um 1600 jedoch keineswegs Ruhe und Einigkeit. Aus den Quellen erfährt man von zahlreichen komplizierten Situationen und Arrangements, ebenso von verschiedenen, sehr verwickelten und uneindeutigen Wahrnehmungen zu Religion und Konfession. So bat z. B. die St.-Marienthaler Äbtissin Ursula Laubig (1573–1583) den Prager Erzbischof, er möge ihr gestatten, im Rahmen ihrer Patronatspfarreien solche Priester anzunehmen, welche die Messe Deutsch sängen und die Kommunion unter beiderlei Gestalt austeilten, weil dies die Pfarrkinder gewünscht hätten.77 Auch die späteren Dominae und 73 Scheufler verlangte, dass sich der Pastor: enthaltet ab omnibus conviciis, iniuriis, contumeliis, ironiis, sarcasmis, invectivis et seditiosis clamoribus […] bey verlust des predigstuls, das auch der rat sich verpflichten mueste, dem closter unnd iren religionsverwanten shutz zu halten. Ebd., unpag. (28.8.1584). 74 Ebd., unpag. (28.8.1584). 75 Ebd., unpag. (28.8.1584). 76 NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief des Ordensvisitators Antonius Flamingk; 8.12.1608; Original). 77 Vgl. J. Zdichynec, Konfessionelle Zeit (wie Anm. 14), S. 45–52. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 528 Jan Zdichynec einige Nonnen aus St. Marienthal und zum Teil aus St. Marienstern wurden der Sympathien zum Luthertum bezichtigt.78 Zur absoluten Lockerung konfessioneller Verhältnisse kam es in der St.-Marienthaler Klosterherrschaft, zumindest in den Augen der katholischen Kirche, während des Ständeaufstands (1618–1620). In dieser Zeit begann eine weitere Vorgesetzte des Klosters, Ursula Queitsch (1600–1623), die von ihren lutherischen Beamten (besonders vom Sekretär Georg Wagner) beeinflusst wurde, die Katholiken zu verfolgen. Daher wurde sie schließlich – nach heftigem Widerstand – im September 1623 im Auftrag des Prager Erzbischofs Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667), der Zisterzienseräbte und des böhmischen Königs ihres Amtes enthoben und unter Militäreskorte in ein böhmisches Zisterzienser­kloster gebracht. Später kehrte sie trotzdem nach St. Marienthal zurück; dort lebte sie noch viele Jahre mit weiteren Ordensschwestern zusammen und wurde schließlich auch dort begraben – zugegeben, mit einem gebrochenen Äbtissinnenstab als einem symbolischen Zeichen ihrer Absetzung. Eine solche Krise war unter den damaligen Umständen keineswegs außergewöhnlich, nicht einmal in Klöstern in den habsburgischen Ländern.79 Dieser Konflikt fand seinen Niederschlag in zahlreichen Quellen, etwa in Verhörprotokollen, die heute im Archiv des Erzbistums Prag aufbewahrt sind. Diese ermöglichen es nicht nur, detailliert die Denkweise des Beichtvaters der Nonnen und der katholischen Priester zu ergründen, sondern zum Teil auch das Denken der Klosteruntertanen verschiedener Konfessionen zu erfassen. 78 Vgl. dazu die ausführliche, doch ein wenig zurückhaltende lokale katholische Geschichtsschreibung bei J. B. Schönefelder, Urkundliche Geschichte des Königlichen Jungfrauenstifts und Klosters St. Marienthal, Cistercienser=Ordens, in der Königlich Sächsischen Oberlausitz […], Zittau 1834, besonders S. 147 ff.; A. A. Hitschfel, Chronik des Cisterzienserinnenklosters Marienstern in der königlich sächsischen Lausitz […], Warnsdorf 1894, ND: Dresden 2015, besonders S. 146 ff. Ähnliches lässt sich wenigstens im Fall der Priorin Ursula Nas (1565–1595) im Laubaner Magdalenerinnenkloster nachweisen. Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 214–222; zusammenfassend J. Zdichynec, Venerabiles dominae. Die Äbtissinnen der oberlausitzischen Cistercienserinnenklöster Sankt Marienthal und Sankt Marienstern in der Zeit der Krise und Erneuerung, in: ACi 59 (2009), S. 424–443. 79 Zu den Klöstern in der Habsburgermonarchie vgl. allgemein R. J. W. Evans, Das Werden der Habsburgermonarchie 1550–1700. Gesellschaft, Kultur, Institutionen (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 6), Wien/Köln/Graz 1986; zur Lage in der Oberlausitz vgl. die französische Fassung meiner Doktorarbeit J. Zdichynec, Les abbayes féminines de Haute Lusace aux XVIe et XVIIe siècles. Les religieuses entre pouvoirs temporel et spirituel au temps des réformes, Saarbrücken 2014; mit genaueren Quellennachweisen vgl. Ders., Äbtissinnen (wie Anm. 78). Die wichtigsten Briefe sind aufbewahrt in NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. 2113, unpag. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 529 So beschwerte sich z. B. im Herbst 1623 der Beichtvater Jakob Lagus (auch 1624 belegt), dass er gezwungen worden sei, dem ,Winterkönig‘ Friedrich von der Pfalz (1619/20) für das Kloster die Treue zu schwören. Auch habe ihn der Landeshauptmann vor dem Landtag gerügt, dass er kein ordentliches Leben führe, von der Kanzel gegen die Lutheraner predige und die Nonnen zu lange bei der Beichte aufhalte. Diese Denunziationen wären wohl vom Klostersekretär Georg Wagner angestiftet worden. Schon die Tatsache, dass diese Angelegenheit unter anderem vor dem Oberlausitzer Landtag verhandelt wurde, ist an sich bemerkenswert. Noch dazu tauchten regelmäßig Beschwerden auf, dass die Äbtissin völlig von Lutheranern umgeben sei und dass sie im Kloster allein lutherische Beamten hätte, ja dass sie den Untertanen verboten habe, während der Ermittlungen die Wahrheit auszusagen und sie am Kontakt zu kirchlichen und weltlichen Ämtern in Prag hinderte. Dabei unterstand die Herrschaft St. Marienthal weiterhin der Prager Erzdiözese und sie gehörte mit der Oberlausitz zur Böhmischen Krone. Ursula berief sich darauf, dass sie völlig von Lutheranern umgeben sei, sodass sie mit ihnen leben müsse, und dass sie die Lutheraner für ehrliche Leute halte.80 Sie wies zudem auf die komplizierten Verhältnisse in der Oberlausitz hin, die eine solche religiöse Koexistenz seit Jahrzehnten verlangten, später auch darauf, dass das Markgraftum dem lutherischen Kurfürsten von Sachsen verpfändet worden sei. Ebenso bemerkenswert ist auch ihre Bemerkung über die Beichte in St. Marienthal: Lagus soll sie einst so lange im Beichtstuhl aufgehalten haben, bis sie ohnmächtig geworden sei. Wie häufig die übrigen Nonnen beichteten, wisse sie nicht. Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang eine Klage des St.-Marienthaler Konvents, also der Mitschwestern Ursulas.81 Sie beschuldigten sie vor allem der Misswirtschaft und ihrer Kontakte zum lutherischen Sekretär Georg Wagner. Lange Zeit, so der Vorwurf, habe sie nicht gebeichtet und sei nicht zur Kommunion gegangen. Weiter schrieben die Schwestern über böses leben und regiment der Äbtissin. Sie wüssten nicht, warum sie sich so verhalte: […] wir konnen kein ander ursach spuren noch mercken, den ir boses verstocktes kaldes hertz. Das kan sie nicht uberwinden weder kegen Got, noch iren nehesten.82 Im Herbst 1623 erschienen die Klosteruntertanen vor einer Kommission, die vom Prager Erzbischof und vom böhmischen König ernannt worden war; ihre 80 […] wir seind mit lutherisch umbgeben, müssen mit ihnen leben, halte sie vor ehrliche leuth; NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief der Äbtissin Ursula Queitsch; Oktober 1607). 81 Vgl. ebd., unpag. (undat.; etwa Anfang des 17. Jahrhunderts). 82 Ebd., unpag. (undat.; etwa Anfang des 17. Jahrhunderts). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 530 Jan Zdichynec Aussagen wurden lateinisch bzw. deutsch aufgeschrieben.83 So beschwerte sich Christoph Shultes [?], ein katholischer Schneider aus dem Städtchen Ostritz, über die lutherischen Klosterbeamten, dass sie die Katholiken als ‚Pfaffenknechte‘ beschimpften. Wenn er Flachs in Prag verkaufe, würde er von der Klosterobrigkeit verdächtigt, er führe dorthin, um sie dort zu denunzieren. Nach den Ermittlungen in der Sache Ursula Queitsch sei er sogar für 26 Tage eingekerkert worden. Dabei sei er von Kindheit an zum Respekt gegenüber katholischen Priestern erzogen worden, was jedoch nun dem Kloster nicht gefalle. Der Schustergeselle Hans Becker, ein Katholik, beschwerte sich, dass ihn die Protestanten daran gehindert hätten, sich in Ostritz niederzulassen und sein Gewerbe zu betreiben. Der lutherische Klostersekretär Georg Wagner soll gesagt haben, dass er wünsche, dass alle mönch und pfaffen und jesuiter gehenckt weren, sie stifften doch nichts guts.84 Einem Untertanen soll Wagner gedroht haben, ihn erschießen zu wollen, da er die Kommunion unter einerlei Gestalt empfange. Andere erwähnten gegenseitiges Schelten und Beschimpfen: pfaffenknecht, rebellen, holuncken, Mamelucken.85 Die Katholiken, die kniend beteten, seien ausgelacht worden. Ein Blasphemiker habe in der Schenke die Predigten des Pfarrers höhnisch nachgeahmt. Aus diesen zahlreichen Zeugenberichten erfährt man von Prügeleien, die sich Hitzköpfe beider konfessionellen Lager lieferten. Es scheint, dass sich in der Herrschaft St. Marienthal unübersichtliche Unruhen abspielten, die zusätzlich durch die Anwesenheit von Söldnern – z. B. der Wallenstein’schen Kavallerie – verschlimmert wurden. Weitere Zeugen betonten, dass das Verhalten der Pfarrer eher dazu geführt hätte, dass die Leute von Rom abgefallen seien. Einige Nonnen seien neidisch und hass­ erfüllt. Die Klausur funktionierte offensichtlich in jener Zeit in St. Marienthal nicht richtig. Die Nonnen waren das Verlassen des Klosters gewohnt, wobei sie manchmal sogar Unruhen angeheizt hätten. Seien katholische Studenten zum Kloster gekommen, so seien sie mit einem lächerlichen Almosen abgetan worden. Die Lutheraner hätten viel mehr bekommen. Im Kloster habe Vetternwirtschaft geherrscht.86 Äbtissin Ursula wurde deshalb vom Pfarrer Sebastian Balthasar von 83 84 85 86 Vgl. ebd., unpag. (Protokolle; September/Oktober 1623). Ebd., unpag. (Protokolle; ein ausführlicher Bericht des Klosterkaplans; September 1623). Ebd., unpag. (undat. Verhörprotokolle). Vgl. dazu die Briefe des Königshainer Pfarrers Sebastian Balthasar von Waldhausen, vor allem von 1621/22 in: NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. Er war später auch Domherr in Bautzen und dann Dekan in Friedland/Frýdlant, wobei er anscheinend eine bedeutende Persönlichkeit in der Rekatholisierung Nordböhmens war. Vgl. C. A. Pescheck, Geschichte der Gegenreformation in Böhmen, nach Urkunden und anderen seltenen gleichzeitigen Quellen bearbeitet, 2 Bde., Dresden/Leipzig 1844, hier Bd. 2: Hauptgeschichte seit 1621 und Nachgeschichte, S. 85; seine polemische Schrift untersuchte Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 531 Waldhausen sowie von ihrem Ordensvisitator als wahnsinnige Jezabel und sogar als eine Hexe (saga) bezeichnet.87 Es ist interessant, dass in den Klosterpfarreien Königshain und Ostritz auch die unter beiderlei Gestalt kommunizierenden Katholiken – Utraquisten [?] – anwesend waren, die auf die Fragen der kaiserlichen Kommissare antworteten, dass sie bald ‚am katholischsten‘ (catholicissimi) sein möchten.88 Auch gab es Luthe­ raner, die angaben, ihren Glauben aufgrund der Erlaubnis der vorigen Äbtissin zu praktizieren. Schwierige Verhältnisse gab es ebenfalls im zu St. Marienthal gehörenden Dorf Reichenau/Bogatynia: So sagte z. B. der dortige Richter aus, dass er sich an zwei lutherische Prediger erinnere, davor seien alle katholisch gewesen. Die Bestellung eines Lutheraners sei von Gewalttaten begleitet gewesen. Dabei erfahren wir außerdem, dass am Anfang des 17. Jahrhunderts im Zittauer Land auch die Reformierten wirkten und hören von einer Disputation zwischen einem katholischen Priester und einem calvinistischen Doktor. Im Fall Ursula Queitschs können die Aussagen der katholischen Hierarchie durch das Zeugnis Georgius Ruperts, eines Arztes am Hof der lutherischen Herren von Redern im benachbarten nordböhmischen Friedland, ergänzt werden.89 Sein Bericht richtete sich an den Visitator des Klosters St. Marienthal, Antonius Flamingk (ca. 1545–1609), Abt des Klosters Königsaal, der schon 1607/08 vergeblich versuchte, die Äbtissin Queitsch wegen ihrer Regelverstöße und Neigungen zum Luthertum abzusetzen. Es scheint, dass die scharfen Konflikte zwischen M. Svoboda, Cedo nulli. Mgr. Wolfgang Günther a P. Sebastian Balthasar von Waldhausen v protestantsko-katolické polemice (1626–1628) [… Mgr. Wolfgang Günther und P. Sebastian Balthasar von Waldhausen in der protestantisch-katholischen Polemik (1626–1628)], in: L. Březina / J. Konvičná / J. Zdichynec (Hgg.), Ve znamení zemí Koruny české. Sborník k šedesátým narozeninám prof. PhDr. Lenky Bobkové, CSc. [Im Zeichen der Länder der Böhmischen Krone. FS für Lenka Bobková zum 60. Geburtstag], Praha 2006, S. 325–345. 87 Vgl. dazu ausführlich J. Zdichynec, „Ex malis moribus meliores leges natas esse.“ Krize kláštera Marienthal v dobách konfesijního štěpení [… Die Krise des Klosters Marienthal während der Konfessionsspaltung], in: A. M. Wyrwa / A. Kiełbasa / J. Swastek (Hgg.), Cysterki w dziejach ziem polskich, dawnej Rzeczypospolitej i Europy Środkowej [Die Zisterzienserinnen in der Geschichte der polnischen Länder, der alten Rzeczpospolita und Zentraleuropas], Poznań 2004, S. 976–1011. 88 NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (undat. Verhörsprotokolle). 89 Vgl. ebd., unpag.: Copey schreybens herrn Georgii Ruperti, medicinae doctoris, et viri catholicis­ simi, ahn herrn abbten zu Konigsall [Königsaal/Zbraslav, Anm. J. Z.] abgangen, in wellchem ihm, herrn abbten, vor augen sichtbarlich gestellet wirdt, waß vor unheil im stifft Marienthal vorhanden und umb forderliches einsehen gebeten wirdt, darauff aber herr abbt zu Konigsall niemaln einigen buchstaben geantwortet (Brief; 1.12.1606). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 532 Jan Zdichynec Konvent, Äbtissin und Beichtvater auch für die ‚Nachbarn‘ dieses Klosters von Belang waren. Der Arzt – ein treuer Katholik – betonte, dass jede Person geistlichen und weltlichen Standes in die geistlichen Angelegenheiten eingreifen könne, falls sie sehe, dass die Kirche durch schlechte Beispiele und Zwietracht entkräftet werde. Schon seit mehreren Monaten höre er die Nachrichten über die Stürme im Kloster, die manchmal aus Neid gegen Äbtissin Ursula erdacht würden, teilweise berechtigt wären. Diese Gerüchte, die sich in der ganzen Gegend verbreitet hätten, verdürben den Ruf des Ordens, des Klosters und auch der ‚allgemeinen katholischen‘ Kirche: […] wirdt fast auff der gassen unnd ihn schenckheußern von leichtferttigen leutten davon gesungen unnd gepredigett, was vor ein herrliche andacht friedt unndt einigkeitt ihm kloster Marienthall sey, dieweill allein aus zwitracht, wie der gemeine Mann vorgibt, zwischen dem munch unnd nonnen, beide sacrament der absolution unnd Communion so lange zeitt untterwegen bleiben […].90 Rupert und seine Frau, die beiden kürzlich zum Katholizismus übergetreten waren, hätten sich entschieden, die Sache vor Ort zu untersuchen und beide Parteien zu versöhnen. Aus der Nachricht ergibt sich klar, dass Rupert direkt mit der Äbtissin und den Ordensschwestern geredet und auch ihre Klagen gegen den Vaterabt studiert hatte. Rupert stellte fest, dass Flamingk versucht hätte, die Ordnung zu hastig und zu hart herzustellen, seine Macht aber zu einer Tyrannei missbraucht habe. Dabei habe ihm der Beichtvater geholfen. Beide gemeinsam sollen unter den Schwestern eher demütige Angst als Liebe erweckt haben. Deswegen hätten die Schwestern eine Neigung zur ,heimlichen Andacht‘ (zum Luthertum?) entwickelt; sie dächten nur an ihren eigenen Nutzen und lebten sehr locker. Die übertriebene Härte bestünde in der Weise des Beichtens und in allzu vielen Bußübungen (unerhörter busse aufflegung). Der Beichtvater greife die alten und die jungen Schwestern an, wobei er gar nicht versuche, sie zu verstehen. Er verhalte sich wie ein grausamen peiniger und der Beichtstuhl ähnele eher einem marter­ hausse.91 Rupert erläutert, man müsse beim Beichten auf die ethnische Zugehörigkeit, die Gewohnheiten des Volkes sowie die Natur des Beichtenden achten: Da war das deutzsche weibespersohnen einfälttiger, vieler bösen sachen unwissende sein, nicht so vershmitzt als französische, welsche völcker unnd weiber darentwegen auch solcher scharffen ergerlichen fragen von notten sein.92 90 Ebd., unpag. (1.12.1606). 91 Ebd. 92 Ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 533 Man kann die Schilderung des Charakters von Ursula Queitsch mit einem Bericht abrunden, der kurz vor ihrer Absetzung entstanden ist. Der kaiserlicher Kommisar und Kanzler im Zisterzienserkloster Neuzelle in der Niederlausitz, David Wachsman, schrieb darin von Glogau/Głogów aus an den obersten Kanzler des Königreichs Böhmen.93 Er beschrieb die Lage im Kloster und den Zustand der bedrengten catholischen religion als ziemlich verzweifelt. Vor allem äußerte er sich über die Äbtissin: Ihr Status sei so uncatholisch, imo fast unmenschlich befunden worden, daß ich hertzlich erschrocken bin [… Ich, Anm. J. Z.] wolte diss monstrum ohn eintzig bedencken, samb ihrem gespiele, dem Wagner gebunden nach Praag geschickt haben. Sie lache die christlichen Vorhaben schnöde und leichtfertig aus und sie sei auch sehr ungehorsam: […] hat sie mir strags gesagt, sie wolte und köndte der kaiserlichen Maj. nicht pariren, sie wolt eher sterben, als ihrer dienern lassen, und obwohl er [der lutherische Klostersekretär Georg Wagner, Anm. J. Z.] uncatholisch, wehre ehr doch ein redlicher man.94 Ursula äußerte gegenüber dem Kommisar ihre Überzeugung, er solle die lutera­ ner itzo nicht so gar verdammen helfen, sie wehren auch redliche leute. Umgekehrt bezeichnete Wachsmann diese Äbtissin als Bestiam. Er könne durch Verhöre von 50 katholischen Zeugen bestätigen, dass die schwere verfolgung der catholischen religion diss orts, nicht allein von dem Wagner sondern auch von der abbatissin selbst getriebenn werde.95 Plurale konfessionelle Verhältnisse wie diese bildeten in den Oberlausitzer Klosterherrschaften keine Ausnahme. So kam es 1608 zur starken Konfrontation zwischen den Pfarrkindern im Klosterstädtchen Ostritz und dem Pfarrer Mat­ thias Schade [?], der wohl versuchte, die von Böhmen ausgehenden Rekatholisierungsmaßnahmen vor Ort durchzusetzen.96 Angesichts der besonderen Lage in St. Marienthal und des Ständeaufstands eskalierten die Streitigkeiten jedoch heftig. Weiterhin könnte man an die Vertreibung der Bautzener Domherren erinnern oder an das provokative Niederreißen des Gangs, der das Laubaner Magdalenerinnenkloster mit der einzigen Stadtpfarrkirche, einem Simultaneum, verband. Auch im Schwesterkloster St. Marienstern und in seinem Herrschaftsgebiet herrschte keine Ruhe. Die Äbtissin Ursula Weishaupt soll sogar beabsichtigt haben, wohl auf Druck der Lutheraner, ihr Zisterzienserinnenkloster in ein protestantisches Damenstift umzuwandeln, was durch ihre Absetzung verhindert wurde. Auch im 93 94 95 96 Vgl. ebd., unpag. (21.5.1623; Original). Ebd., unpag. (21.5.1623). Ebd., unpag. (21.5.1623). Vgl. J. Zdichynec, Krize (wie Anm. 87). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 534 Jan Zdichynec St.-Mariensterner Klosterstädtchen Wittichenau/Kulow brodelte es zwischen den Lutheranern und Katholiken.97 Viele bislang unbekannte Quellen weisen darauf hin, wie der Wandel des ‚Konfessionellen‘ von verschiedenen sozialen Gruppen erfahren wurde, einschließlich der einfachen Untertanen. Diese beklagten meistens heftige und jähe Religionswechsel, die auch von Veränderungen der Besitzverhältnisse motiviert wurden, und sie führten die Attraktivität des lutherischen Glaubens auf dessen Gottesdienste in der Volkssprache sowie dessen Kommunion unter beiderlei Gestalt zurück. Ein besonderes theologisches Wissen kann ihnen sicherlich – anders als bei Scheufler – nicht unterstellt werden. Auffällig ist ihre Bindung zum traditionellen ‚Glauben der Väter‘ – was auch immer dies bedeutet – und eine gewisse Abneigung gegenüber einem häufigen Glaubenswechsel. Aus einer St.-Marien­thaler Ermittlung erfährt man von einer fast theatralisch in Szene gesetzten Konfrontation zwischen Katholiken und Protestanten. Die gegen den jeweiligen Gegner gerichteten Argumente sind theologisch sehr oberflächlich. Die Gegner warfen einander vor, sich von Gott losgesagt zu haben. Das Gegenargument lautete, man halte sich an den Glauben, in dem man erzogen worden wäre. Nur der größte Rebell, der Lutheraner Georg Effler, argumentierte eloquenter: unter einerlei gestalt kann man nicht selig werden […] nach dem gesetz Christi zu leben, bedeutet freiheit.98 Rück- und Ausblicke Blickt man aus der Vogelperspektive auf den kirchlichen und religiösen Wandel Laubans, dann ist zu konstatieren, dass die ersten Erwähnungen über die evangelischen Predigten ins Jahr 1525 zurückreichen – im Vergleich zu den übrigen Sechsstädten ein relativ später Zeitpunkt. Der konfessionelle Wandel wurde hier dadurch erschwert, dass der Stadtpfarrer zugleich der Propst des Magdalene­rin­ nenklosters war. Durch seine Entlassung hätten die Nonnen den wichtigsten Vertreter ihrer Interessen verloren. Die Schwestern teilten mit den Bürgern die gemeinsame Pfarr- und Klosterkirche und sie waren somit zwangsläufig auch bei den ersten evangelischen Predigten anwesend. Einer Verbreitung der neuen Lehre stand zunächst auch der Stadtrat im Weg, der zumindest zum Teil anfangs der alten Kirche treu bleib. Die Ratsherren verboten einerseits die Einführung 97 Vgl. Ders., Abbayes féminines (wie Anm. 79). 98 NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief eines Kaplans in St. Marienthal; undat.). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 535 deutscher Taufformeln, andererseits zögerten sie nicht, die Pfarrkirchenkleinode einzuschmelzen oder zu verkaufen, um einen Gutshof zu erwerben.99 Der religiös gespaltene Laubaner Stadtrat verfügte über das Präsentationsrecht zu allen Altaristenstellen (Niederpfründen) in der Pfarr- und Klosterkirche. Dabei schritt er bald zur Berufung von Geistlichen, die der neuen Lehre gegenüber positiv eingestellt waren. So standen bald dem älteren, konservativen Pfarrer und Propst vier radikal gesinnte Kapläne gegenüber. Mit der Einführung der lutherischen ‚Neuigkeiten‘ begann der Prediger Georg Heu/Hew, ein aus Görlitz stammender Altarist.100 Am Ostersonntag 1525 brachte Heu tatsächlich in seiner Predigt die Gemeinde gegen den Papst und den Meißner Bischof auf. Das Fasten und Beten, die Gabe von Almosen, die Messe und Vigilien erklärte er zum überflüssigen Unwesen. Die katholische Schule bezeichnete er als Rattennest und er übte ganz generell auch mit anderen negativen Etikettierungen heftige Kritik an der römischen Kirche. Er beseitigte die lateinischen Formeln aus dem Gottesdienst und spendete die Kommunion in beiderlei Gestalt.101 Eben infolge seiner Predigten flüchteten zwölf Magdalenerinnen aus dem Kloster. Die meisten von ihnen heirateten, was darauf hindeutet, dass es sich um relativ junge Schwestern handelte, die wohl stark mit dem städtischen, sich gerade lutherisierendem Milieu verbunden waren, wo sie vermutlich auch Verwandte hatten. Die Zeitgenossen begannen bald, den Prediger Heu deswegen zu kritisieren, weil er zu stark in die bisherigen Gepflogenheiten eingreife. Er habe nicht nur sämtliche Fastentage und Prozessionen verworfen, sondern auch das funktionierende und mit der katholischen Kirche verbundene Wohltätigkeits- und Bildungssystem abgeschafft, ohne sich um deren Ersatz zu kümmern. Sogar seine lutherischen Zeitgenossen, die Stadtchronisten, nannten ihn einen ,Stürmer‘, der das Kind mit dem Bade ausschüttete. So war es z. B. in der örtlichen Kirche üblich, dass die Schüler zusammen mit den Nonnen lateinisch sangen. An dem bereits erwähnten Ostersonntag 1525 wurden sie von Heu gezwungen, bei Gloria im lateinischen Gesang ein deutsches Lied zu singen, wodurch der Gottesdienst auf eine grobe Weise gestört wurde. Man erfährt auch von einer Papstpuppe mit den Spottversen: Christus ist erstanden, Der Papst ist gehangen. Dess wollen alle wir uns freun, Daß wir des Buben los nun sein. Sie wäre damals an einer alten Linde ,erhängt‘ worden.102 99 100 101 102 Vgl. K. G. Müller, Kirchengeschichte (wie Anm. 29), besonders S. 128 f. Vgl. ebd., S. 473 f. Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 200. Ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 536 Jan Zdichynec Der Stadtrat war bemüht, die Ordnung aufrechtzuerhalten und den Frieden zu wahren. Trotzdem beharrte er auf der Entlassung des katholischen Pfarrers Matthäus Hoffmanns. Schließlich wurde 1527 unter Vermittlung der Bautzener und Görlitzer ein Vertrag zwischen der Priorin und dem Stadtrat vereinbart. Seinen Ursprung hatte er wiederum in einem Streit um den Pfarrprediger. Der Stadtrat hatte den entlaufenen Mönch Ambrosius Kreusing eigenwillig auf diese Stelle berufen, was einen Eingriff in die Rechte des Klosters und des Pfarrers darstellte. Es wurde verabredet, dass der Prediger in seinem Amt bleiben und weiterhin uneingeschränkt Gottes Wort verkünden konnte, doch sollte er dabei kein Sektierertum dulden und niemanden belästigen dürfen. Seine Kost und Kleidung sollte er weiterhin wie seit jeher vom Kloster beziehen. Der Stadtrat musste sich nun jedoch verpflichten, anstelle des Klosters dessen Besoldung in Höhe von zwölf Mark zu zahlen. So entstand einmal mehr eine paradoxe Lage, wie man sie in der konfessionell gespalteten Oberlausitz häufig antrifft: Ein protestantischer Prediger findet einen regelmäßig gedeckten Tisch im katholischen Kloster, was noch Ende des 16. Jahrhunderts zu Problemen führen sollte. Die Priorin musste sich hingegen verpflichten, für jene zwölf Mark einen anderen Priester zu bestellen, der die Nonnen mit Sakramenten und Zeremonien in ihrer Kapelle in der Pfarr- und Klosterkirche versorgte, ohne dass ihn jemand daran hindere. Dadurch wurden die Ämter des Propstes und des Pfarrers faktisch voneinander getrennt. Der Rat musste sich darüber hinaus verpflichten, die Nonnen vor Angriffen der Lutheraner zu schützen.103 Das Zusammenleben beider Konfessionen dauerte in Lauban bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs an, und sie war nie ganz friedlich. So erfährt man z. B., dass 1542 das Fest der Einkleidung einer Novizin auf dem Nonnenchor in der Simultankirche von einer beleidigenden Predigt des lutherischen Pastors begleitet wurde, obwohl dieser der Stadtordnung zufolge ausschließlich friedlich und liebevoll hätte predigen sollen. Auf die angespannte Atmosphäre weisen neben dem bereits erwähnten Fall Matthias Scheuflers viele Ausschreitungen während der Gottesdienste hin, über die sich die Magdalenerinnen noch im 18. Jahrhundert beschwerten. Das örtliche Simultaneum können wir also sicher nicht als Ausdruck von Toleranz auffassen, wie dies manchmal geschieht, sondern eher als Manifestation einer erzwungenen Koexistenz. Für den Ausklang dieser Studie kann eine Konversion von 1763 dienen.104 Der Übertritt von Johann Christoph Schlegel zum Katholizismus löste derart großen 103 Vgl. J. Zdichynec, Abbayes féminines (wie Anm. 79); P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5); und zahlreiche Quellen in: AAW, vor allem Sign. V C 7 p), q), r). 104 Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 284. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop 537 Unmut unter den Stadtbewohnern aus, dass sie alsbald sein Haus verwüsteten und sein Leben bedrohten. Das Kloster gewährte Schlegel Zuflucht und setzte sich sodann für ihn beim Administrator in Bautzen sowie beim Landesherrn ein, woher die Hilfe schließlich auch kam. Schlegel durfte in Lauban bleiben, wobei er auch entschädigt wurde. Dieser Zwischenfall veranschaulicht, dass das Kloster mit seiner kleinen katholischen Gemeinde innerhalb der evangelischen Stadt noch im Jahrhundert der Aufklärung Konflikte hervorrief. Schon in den 1660er Jahren begegnet man konfessioneller Gewalt in den Klosterherrschaften. Damals kam ein Priester zu einem sterbenden katholischen Töpfer in Ostritz mit der Eucharistie. Beim Wegzug wurde er mit coth und steinen und lästerlichen Worten von den alten und jungen Bürgern angegriffen. Die Sache gelangte sogar vor den Landvogt (1645–1672) Curt Reinicke von Callenberg (1607–1672).105 Andererseits wurden die Kontakte zwischen den Klöstern und der lokalen Gesellschaft auch während des 17. Jahrhunderts nicht unterbrochen. So erwähnen die Laubaner Chroniken relativ häufig detaillierte Berichte über das Ablegen der Ordensgelübde im Kloster, aber auch – ein bisschen schadenfroh – die Flucht einer Schwester im September 1618.106 Nahezu alle Zittauer und Görlitzer Chroniken schildern die Absetzung der schon erwähnten St.-Marienthaler Äbtissin Ursula Queitsch (1623). Als im 18. Jahrhundert Streitigkeiten zwischen der St.-Marienthaler Äbtissin und dem Klosterpropst oder zwischen dem Kloster St. Marienstern und dem Bautzener Domstift wegen des Wallfahrtsorts Rosenthal/ Róžant aufkamen, befürchteten die Oberlausitzer Katholiken, dass dies ihrem Ruf in der protestantischen Umgebung schaden könne. Es gibt jedoch auch positive Beispiele wechselseitiger wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Beziehungen. Die Protestanten sandten z. B. den Äbtissinnen Gratulationsadressen zu deren Wahl; und die Schrift „Ehrentempel der Äbtissinnen Marienthals“, die 1761 anlässlich der goldenen Profess der St.-Marienthaler Äbtissin Scholastika Walde erschien, wurde sowohl vom protestantischen Pastor und Historiografen Christian Knauth(e) (1706–1784) als auch vom katholischen Priester Bernhard Augustin Pfalz (1710–1774) zusammengestellt.107 Die St.-Marienthaler Nonnen bestellten Bücher für ihre Bibliothek unter anderem über die Herrnhuter Brüdergemeine.108 105 NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief; 6.11.1668); vgl. dazu auch J. Zdichynec, Vývoj (wie Anm. 14). 106 Vgl. SLUB Dresden, Mscr. d 37 (Annales civitatis Laubanae […] durch Martinum Zeidler diese Zeit Burgermeistern daselbsten), S. 427. 107 Vgl. C. Knauth / B. A. Pfalz, Ehren-Tempel derer Hochwürdigen Abbatissinnen des Königl. Jungfräulichen Gestifts St. Marienthals, Cistercienser Ordens […], Görlitz: Johann Friedrich Fickelscherer 1761. 108 Vgl. J. Zdichynec, Les bibliothèques de moniales cisterciennes de Haute Lusace (Saxe) à Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 538 Jan Zdichynec Vielleicht sind dies schon Belege interkonfessioneller Zusammenarbeit im Zuge der Aufklärung, die jedoch nahezu ausschließlich am Beispiel der lokalen Eliten, keineswegs bei den Untertanen, beobachtet werden können. Schluss Im Alltag der Oberlausitz dauerten die häufig durch materielle Gründe bzw. bloße Rivalität motivierten Streitigkeiten bis tief ins 19. Jahrhundert an. Vor allem ging es um politische, rechtliche und wirtschaftliche Auseinandersetzungen; sie gewähren Aufschluss über die praktische Ebene der Konflikte, während anscheinend der ‚wahre Glaube‘ nur relativ selten zum Zankapfel wurde. Die Akteure scheinen vor allem ihre Macht und ihre Verhandlungstaktik demonstrieren zu wollen. Die Konversion der Tochter des lutherischen Bürgermeisters oder der Fall der katholischen Äbtissin, die Lutheraner zu unterstützen und Katholiken zu verfolgen begann, sind zwar Phänomäne, die für die Oberlausitz typisch waren; allerdings kennt man aus der Frühen Neuzeit bislang nur wenige derart gut illustrierte Beispiele. Auch dass sie sich auf der sozialen Bühne der Klosterherrschaften abspielten, hatte für die konfessionellen Konfrontationen m. E. keine allzu große Bedeutung. Die Frauenklöster verhielten sich ähnlich wie andere Obrigkeiten, sie passten sich an die lokalen Verhältnisse an. Die Hauptakteure waren die mit den Klöstern verbundenen Männer, konkret Pfarrer, Visitatoren und Vertreter der weltlichen Kirchenhierarchie. Sie waren die eigentlichen Motoren der Rekatholisierung, und zwar selbst im 18. Jahrhundert, wobei auch in dieser Spätphase eine gewissen Spannung zwischen den in der komplizierten Situation der bikonfessionellen Oberlausitz lebenden Ordensschwestern und ihren männlichen Superiores existierte, die im bereits rekatholisierten Böhmen kirchlich sozialisiert worden waren. l’époque moderne, in: T. Falmagne / D. Stutzmann / A.-M. Turcan-Verkerk (Hgg.), Les cisterciens et la transmission des textes (XIIe–XVIIIe siècles) (BHCMA 18), Turnhout 2018, S. 127–156. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 TRADITIONSÜBERHÄNGE UND TRADITIONSKONSTRUKTIONEN Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Hartmut Kühne „[…] so vns Gott seine gaben mit wunderwercken erzeigt / so halten wir es für ein gespöt oder fabel.“ Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren Von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in den lutherischen Territorien des Alten Reiches sog. Wunder- und Gnadenbrunnen. Durch das aus ihnen quellende Wasser bewirke Gott auf gnadenhafte Weise wunderbare Heilungen – davon waren lutherische Geistliche, die Landesherren und das Kirchenvolk gleichermaßen überzeugt. Diese besonderen Heilquellen wurden in wallfahrtsähnlicher Weise besucht. Es gab an ihnen zumindest seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eine geregelte kirchliche Betreuung der auf Heilung wartenden Patienten sowie der zahlreichen Schaulustigen durch Gottesdienste, Gebete und weitere Seelsorge. Für die geschehenen Wunder dankten die Geistlichen im Gottesdienst, die Geheilten hinterließen Krücken oder ähnliche Geräte zum Zeichen ihrer Rettung, die Heilungen wurden von den Geistlichen aufgezeichnet und wie die aus den katholischen Territorien bekannten Mirakelbücher zum Druck gebracht. (Abb. 1) Bei den Recherchen des Autors zu diesem Phänomen konnten bisher etwa 90 Orte zwischen dem Holsteinischen Itzehoe und dem fränkischen Weihenzell, zwischen Polzin/Połczyn-Zdrój in Hinterpommern und Stolzenau an der Weser identifiziert werden, an denen solche Wunder- und Gnadenbrunnen anzutreffen waren. Dieses Phänomen in seiner komplexen Geschichte von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts darzustellen, ist der Gegenstand einer kurz vor dem Abschluss stehenden Monografie.1 Im Rahmen dieses Beitrags soll der Ursprung dieses Wunderbrunnen-Konzeptes im Zusammenhang mit der ersten Blütezeit der lutherischen Wunder-Publizistik dargestellt werden. 1 Meine langjährige, allerdings stets von anderen Tätigkeiten unterbrochene Beschäftigung mit den lutherischen Wunderbrunnen, die im Jahre 2006 begann, konnte ich durch ein von der Gerda Henkel Stiftung gewährtes Forschungsstipendium von 2016 bis 2018 durch Archivstudien intensivieren und systematisieren. Das aus dieser Arbeit resultierende Buch steht kurz vor dem Abschluss und wird am Historischen Seminar der Universität Leipzig als Habilitationsschrift eingereicht werden. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 542 Hartmut Kühne Abb. 1: Anonym, Einblattdruck: Bericht Von dem nicht allein Gesundheit sondern auch Wunder-Brunnen […], Leipzig: Elias Fiebig [1677] (VD17 15:741852F) [Universitätsbibliothek Leipzig, Sign. Baln.369-h/2, Foto: Universitätsbibliothek Leipzig]. Der Wunderbrunnen von Pyrmont Die Vorstellung, dass Gott in der Gegenwart durch bestimmte Wasserquellen Heilungswunder bewirkt, wie es Christus zur Zeit seines irdischen Lebens tat, tauchte im Wirkungsbereich der lutherischen Reformation erstmals im Jahre 1556 auf. Der erste dieser Wunderbrunnen wurde in der Zwerggrafschaft Pyrmont entdeckt, einem Herrschaftsgebiet, das nur wenige Dörfer und die kleine Stadt Lügde umfasste.2 (Abb. 2) Die Residenz der Grafschaft, das Schloss Pyrmont, liegt in einem Talkessel des Weserberglandes. Hier steigt auch heute noch Mineralwasser aus der vulkanischen Tiefe durch die Spalten des Buntsandsteins zur Erdoberfläche auf und sichert so der heutigen Kurstadt Bad Pyrmont ihre wirtschaftliche Existenz.3 Die an verschiedenen Stellen in und um die Stadt aufbrechenden Mineralquellen wurden bereits in der Antike besucht, was ein 1863 in der Nähe des heutigen 2 3 Vgl. G. Engel, Politische Geschichte Westfalens, Köln/Berlin 41980, S. 122. Zur Geologie des Pyrmonter Talkessels vgl. W.-R. Teegen, Studien zu dem kaiserzeitlichen Quellopferfund von Bad Pyrmont (ErgBd. zum RGA 20), Berlin/New York 1999, S. 4–12. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 543 Abb. 2: Anonym, Die Grafschaft Pyrmont in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Ölbild auf Leinwand [Foto: Melanie Mehring, Museum im Schloss Bad Pyrmont]. Brodelbrunnens entdeckte Hortfund aus der römischen Kaiserzeit dokumentiert, der im Schacht einer solchen Quelle abgelagert wurde.4 In der Mitte des 14. Jahrhunderts berichtete der Dominikaner Heinrich von Herford (ca. 1300–1370) über zwei Brunnen in der Nähe der Stadt Lügde: Der eine heiße Heiliger Brunnen ( fons sacer); wer sich darüber neige, dem spritze das Wasser ins Gesicht. Der andere werde Brodelbrunnen ( fons bulliens) genannt, weil es darin so laut brodele, so dass man das Geräusch im Umkreis eines Armbrustschusses höre.5 Auch wenn der Dominikaner von dem säuerlichen Geschmack des Wassers sprach und seine abführende Wirkung kannte, ist keineswegs sicher, dass die Pyrmonter Quellen bereits im 14. Jahrhundert als Heilbrunnen besucht wurden.6 Belastbare Zeugnisse 4 5 6 Vgl. ebd. Der Passus aus der „Catena aurea entium“, für die keine Edition vorliegt, wird ausführlich zitiert von F. von Fürstenberg, Monumenta Paderbornensia […], Lemgo: Heinrich Wilhelm Meyer 41714, S. 192; dort aber irrtümlich dem „Liber de rebus et temporibus memorabilibus sive Chronicon“ des Heinrich von Herford zugeordnet. Vgl. W. Mehrdorf / L. Stemler, Chronik von Bad Pyrmont, Teil 1, Bad Pyrmont 1967, S. 31 ff. Vgl. ebd., S. 33. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 544 Hartmut Kühne über Heilwirkungen des Pyrmonter Wassers und seine therapeutische Nutzung finden sich jedenfalls nicht vor dem Jahre 1556.7 Den ersten gesicherten Hinweis auf die Heilwirkungen der Quelle bietet ein Brief, den Ernst Rhegius (1526–1568), der jüngste Sohn des Celler Superintendenten Urbanus Rhegius (1489–1541), in der ersten Februarhälfte 1556 an Philipp Melanchthon (1497–1560) richtete.8 Rhegius schrieb, in der Nähe Hamelns seien Heilbrunnen (thermae) durch einen von Dämonen besessenen Mann entdeckt worden. Dieser Mensch habe zuvor in der Wildnis gelebt; als er von dem Wasser trank, sei ein lautes Geräusch zu hören gewesen und sogleich wurde er von dem Dämon befreit. Anschließend reinigte er den Sprudelquell (scaturigo) und machte dessen heilende Wirkung bekannt. Inzwischen habe, so Rhegius, ein Zulauf zu der Quelle eingesetzt und weitere Heilungen seien geschehen. Der Ruf Pyrmonts verbreitete sich im Frühjahr 1556 rasch im ganzen Reichsgebiet. Da sich vor Ort keine einschlägige Überlieferung erhalten hat, ist man zur Rekonstruktion der Vorgänge auf die aus beiden konfessionellen Lagern reichlich vorhandenen Chroniken, einige Privatbriefe und die mindestens elf einschlägigen Drucke des Jahres 1556 angewiesen. Eine gründliche Auswertung der gesamten Nachrichten zu dem Ereignis wird die oben angekündigte Monografie bieten.9 Als 7 8 9 Vgl. J. Feuerberg [Pyrmontanus], FONS SACER, Das ist / Beschreibung der Wunderbaren / Köstlichen vnd Weitberümbten Heiligbrunnen / gelegen in der Graffschafft Pyrmont / seiner Edlen vnd Vieltugendreichen Krafft vnd Wirckung / […] Autore Johanne Pyrmontano alias Feurbergk / Lugdunensi, Scholae patriae Moderatore, Lemgo: s. i. 1597 (noch nicht im VD16 verzeichnet, vgl. UB Basel, Sign. hx VII 2: 4). Ebd., fol. A4v, wird behauptet, dass bereits Margarete zur Lippe, die Frau des Grafen Johann I. von Rietberg (1472–1516), im Jahre 1502 den Pyrmonter Heilbrunnen gebraucht habe. Diese Angabe ist aber schon deshalb fragwürdig, weil der Chronist an derselben Stelle behauptet, dass die Tugent des Brunnens verborgen blieb, solange das Volck noch im grewel des Bapstthumbs steckte. Möglicherweise liegt eine Verwechslung mit dem Brunnen der Wallfahrtskirche von Blomberg vor, die durch die Förderung des Edelherren Bernhard VII. zur Lippe (1429/46–1511), des Vaters der Margarete, gegründet wurde, und aus welchem die Landesherren auch Wasser zu Heilzwecken verschickten. Vgl. K.-F. Besselmann, Stätten des Heils. Westfälische Wallfahrtsorte des Mittelalters (SRK 6), Münster 1998, S. 69. Vgl. Melanthoniana. Regesten und Briefe über die Beziehungen Philipp Melanchthons zu Anhalt und dessen Fürsten, ed. C. Krause, Zerbst 1885, S. 152 ff., Nr. 64. Der undatierte Brief wurde von Heinz Scheible dem Februar 1556 zugeordnet, weil in ihm die Neuausgabe der „Definitiones“ erwähnt wird, die Melanchthon seit Ende Januar 1556 verschickte. Vgl. PM Bw, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 7: Regesten 6691–8071 (1553–1556), Stuttgart/Bad Cannstatt 1993, S. 395, Nr. 7722. Da auch die Vorbereitungen eines zu Fastnacht in Celle veranstalteten Turniers erwähnt werden, muss er in den Tagen unmittelbar vor dem 17.2.1556 verfasst worden sein. Das Ereignis Pyrmont wird in meiner Monografie in einem eigenen Kapitel umfassend dargestellt. Bis zu deren Erscheinen vgl. noch den, in Teilen inzwischen korrekturbedürftigen Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 545 knappes Ergebnis sei hier so viel verraten, dass der massenhafte Besuch bei dem Wunderbrunnen sich auf eine kurze Zeitspanne im Frühjahr, nämlich die Monate April und Mai 1556, konzentrierte. Immer wieder ist in den Chroniken davon die Rede, dass sich in der Hochzeit mehrere Tausend Menschen am Brunnen aufhielten. Die zahlreichen Besucher kamen aus einem Gebiet, das sich in etwa von Lübeck bis Coburg und von Osnabrück bis Wittenberg erstreckte. Der spektakuläre Erfolg des Brunnens habe auf seinen einzigartigen Heilwirkungen beruht, da hier auch als unheilbar geltende Erkrankungen kuriert wurden. Die Heilung von Lähmungen wird in den Chroniken besonders hervorgehoben. Häufig wird auch die Befreiung von Dämonen durch das Trinken des Wassers erwähnt. Für die Genese der Wunderbrunnen-Konzeption ist entscheidend, dass im Gegensatz zum traditionellen ‚medizinischen‘ Heilwassergebrauch, wie er zuvor besonders im deutschen Südwesten praktiziert wurde,10 in Pyrmont eine Generalindikation für die Anwendung des Wassers behauptet wurde. Dies bedeutet, das gnadenhaft gespendete Wasser hielt man zur Heilung aller Krankheiten und Gebrechen bis hin zu den sog. biblischen Krankheiten (Lähmungen, Taubheit, Blindheit nach Lk 7,22) für geeignet. In diesen Zusammenhang gehören ebenso Exorzismen, die auch bei den späteren Wunderbrunnen als besonders deutlicher Beweis für die wunderbare Wirksamkeit des Wassers galten. Die Flugschriften über den Pyrmonter Wunderbrunnen Wesentlich deutlicher als die retrospektiven chronistischen Berichte propagierten die im Kontext des ersten Wunderbrunnens entstandenen Flugschriften die universellen Anwendungsmöglichkeiten des Wunderwassers. Dies bezeugt im Rückblick ausdrücklich der Heidelberger Mediziner Jacobus Theodorus Tabernaemontanus (ca. 1522–1590), der den Zulauf nach Pyrmont als unsinnige Wallfahrt verdammte. Er warf etliche[n] ärzt[en] oder Doctores vor, dass sie ein offentlichen truck außgehen ließen, in dem sie behaupteten, der Wunderbrunnen könne alle Krankheiten heilen.11 Es handelte sich bei der so inkriminierten Schrift allerdings Aufsatz H. Kühne, „… diese Quelle übertrifft alle Thermen und anderen Quellen“. Der Wunderbrunnen von Pyrmont im Briefwechsel Melanchthons, in: I. Dingel / A. Kohnle (Hgg.), Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas (LStRLO 13), Leipzig 2011, S. 227–250. 10 Vgl. P. Kaufmann, Gesellschaft im Bad. Die Entwicklung der Badefahrten und der „Naturbäder“ im Gebiet der Schweiz und im angrenzenden südwestdeutschen Raum (1300–1610), Zürich 2009. 11 J. Theodorus [Tabernaemontanus], Neuw Wasserschatz / Das ist: Aller Heylsamen Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 546 Hartmut Kühne nicht nur um eine Publikation, sondern um eine Serie von Flugschriften, deren bislang bekannte zehn Einzeldrucke in der Regel ohne Verfasserangabe publiziert wurden.12 Auch wenn die Drucker diese Titel nicht immer unter dem Namen ihrer Werkstatt herausgaben, ließen sich die Drucke durch den Typenvergleich Druckereien in Magdeburg, Wittenberg, Leipzig, Erfurt, Nürnberg, Mainz, Straßburg/ Strasbourg und Nimwegen/Nijmegen zuweisen.13 Es gibt keine andere Schrift über einen Heilbrunnen bzw. ein balneologisches Thema, die im 16. Jahrhundert auch nur näherungsweise eine ähnliche Zahl von Nachdrucken erreichte.14 Die sonst am häufigsten gedruckte balneologische Schrift des 16. Jahrhunderts, die 1535 von Paracelsus (ca. 1493–1541) publizierte „Beschreibung des Bades Pfäfers“, erlebte bis zum Ende des Jahrhunderts – also in 60 Jahren [!] – insgesamt sieben Auflagen.15 Bädermonografien, also Beschreibungen eines einzelnen Bades, wurden im 16. Jahrhundert allenfalls dann innerhalb eines Jahres nachgedruckt, wenn sie von der Volkssprache in das Lateinische übertragen wurden oder umgekehrt. Schon die Herstellung der ersten Auflage einer Bädermonografie konnte Drucker und Autoren vor unüberwindliche Probleme stellen. So lehnte der Baseler Buchdrucker Johannes Oporinus (1507–1568) den Druck einer ihm angebotenen Schrift über einen Heilbrunnen ab, weil sich dessen Herstellung erst durch den Verkauf einer Auflage von mindestens 500 Stück wirtschaftlich rentierte.16 Daher zeigt allein schon die Zahl der Drucke, die 1556 über den Pyrmonter Brunnen erschienen, dass es sich in diesem Fall nicht um einen ‚normalen‘ balneologischen Text handelte. Werfen wir daher einen genaueren Blick auf den Inhalt dieser Flugschriftenserie. Diese lässt sich aufgrund unterschiedlicher Titel in zwei Gruppen teilen. Die erste Gruppe mit sechs verschiedenen Drucken wurde unter folgendem, in der Schreibweise leicht variierenden Titel verbreitet: „Gründlicher warhafftiger 12 13 14 15 16 Metallischen Minerischen Bäder vnd Wasser / sonderlich aber der new erfundenen Sawrbrunnen […] beschreibung […], Frankfurt a. M.: Nikolaus Basse 1581 (VD16 T 821), S. 361. Um den bibliografischen Apparat zu entlasten, beschränke mich darauf, in der Anm. 17 die VD16-Nr. der entsprechenden Drucke zu nennen. Ich bin Ulrich Kopp (Wolfenbüttel) außerordentlich dankbar, dass er bereits in Vorbereitung meines Aufsatzes [H. Kühne, Wunderbrunnen von Pyrmont (wie Anm. 9)], die bis dahin noch nicht identifizierten Pyrmont-Drucke durch Typenbestimmung zugewiesen hatte und dies 2017 nochmals für die inzwischen neu entdeckten Funde leistete. Diese Ergebnisse sind inzwischen in den VD16 eingeflossen. Vgl. F. Fürbeth, Bibliographie der deutschen oder im deutschen Raum erschienenen Bäderschriften des 15. und 16. Jahrhunderts, in: WmM 13 (1995), S. 217–252. Vgl. ebd., S. 225. Vgl. P. Kaufmann, Gesellschaft im Bad (wie Anm. 10), S. 123, Anm. 301. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 547 Abb. 3: Anonym, Titelblatt von: Gründtlicher / warhafftiger Bericht / vom dem new gefundenen wunder Brunnen / inn der Graffschafft Spiegelberg/ zwo meyl weges gelegen von Hamelen an der Weser. Jtem / Von Natur, eygendschafft vnd wirckung desselben Brunnen / in bewerten Exempeln angezeiget, Erfurt: Gervasius Stürmer 1556 (VD16 G 3608) [Bibliothek des Museums Hameln, Dauerleihgabe im Mu­ seum Pyrmont, ohne Inv.-Nr., Foto: Hartmut Kühne]. Bericht von dem neu gefundenen Wunderbrunnen in der Graffschafft Spiegelberg zwo meil weges gelegen von Hameln an der Weser. Item von Natur eigendschafft und wirckung desselben Brunnen in bewerten Exempeln angezeiget“.17 (Abb. 3) An diesem Titel ist bemerkenswert, dass er den Begriff ‚Wunderbrunnen‘ gezielt einsetzt – das Wort tauchte niemals zuvor im Titel eines gedruckten deutschen Textes auf. Mit der einleitenden Wendung Gründlicher warhafftiger Bericht wird eine in der Flugschriftenpublizistik bereits gebräuchliche Formulierung aufgegriffen, die allerdings erst kurz zuvor, nämlich im Zusammenhang des Schmalkaldischen Krieges (1546/47) häufiger benutzt und so für die Berichterstattung über politisch-konfessionelle Auseinandersetzungen typisch wurde.18 17 Wie bereits in Anm. 12 ausgeführt, beschränke ich mich auf die Nennung der VD16-Nr.: VD16 G 3610, VD16 G 3608, VD16 ZV 26676, VD16 G 3611; VD16 G 3609. Der aus der Magdeburger Offizin des Pankratius Kempf (1533–1570) stammende Druck in: Kirchenbibliothek Kalbe (Altmark), Sign. KEHB: 234,17m, ist noch nicht vom VD16 verzeichnet. 18 Die Formulierung taucht im Titel einer Druckschrift erstmals 1525 auf. Vgl. VD16 B 9382. Eine auffällig häufige Verwendung lässt sich aber erstmals im Konflikt zwischen Herzog Heinrich d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1514–1568) und dem Schmalkaldischen Bund bzw. dem hessischen Landgrafen Philipp (1509/18–1567) 1546 feststellen. Vgl. VD16 ZV 2395, Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 548 Hartmut Kühne Die zweite Gruppe der Pyrmont-Flugschriften, die vier Drucke umfasst, firmierte unter dem ebenfalls sprachlich leicht variierenden Titel „Beschreibung des neuen gefundenen Brunnens, in welchem der allmächtige Gott täglich seine Gaben und Guttat reichlich den Menschen erscheinen lässt“.19 Mit einer Ausnahme20 ist der Text all dieser Drucke aus zwei Teilen zusammengesetzt. Am Beginn steht stets ein chemisch-medizinisches Gutachten, das die Heilwirkung des Wassers in Pyrmont auf den hohen Gehalt von ‚Ocker‘ zurückführt und dafür auf ein klassisches Arzneihandbuch, die „Materia Medica“ des Dioscurides (ca. 40–90 n. Chr.), verweist.21 Der Autor warnt vor der inneren Anwendung des Wassers und will diese auf kräftige junge Menschen eingeschränkt wissen. Das Baden in dem Wasser soll hingegen gegen alle reudigkeit / kretz / grind / böse flüsse / Frantzosen [Syphilis, Anm. H. K.] / offene scheden / Gicht / das heilige ding [Wundrose, Anm. H. K.] vnd Podagra [Fußgicht, Anm. H. K.] / etc. helfen.22 Der Verfasser dieses Gutachtens war Burkhard Mithoff. Der renommierte Mediziner lehrte an der Universität Marburg und war zunächst für den hessischen Landgrafen Philipp, seit 1536/37 aber auch als Leibarzt am Hof des Herzogs Erich I. von Braunschweig-Calenberg-Göttingen (1495–1540) tätig.23 Nach dessen Tod blieb er als Mediziner im Dienst der Witwe seines ehemaligen Dienstherrn. Unter Herzogin Elisabeth von Brandenburg (1510–1558), die zunächst für ihren unmündigen Sohn regierte und in dieser Zeit die Reformation des Landes 19 20 21 22 23 VD16 G 3592, VD16 ZV 7851, VD16 B 7309, VD16 H 2847. Im Schmalkaldischen Krieg und im Zusammenhang der Magdeburger Belagerung (1550/51) wird er ebenfalls verwendet. Vgl. VD16 G 3593, VD16 B 2267. VD16 ZV 24438, VD16 ZV 29168, VD16 ZV 29445; vgl. auch die folgende Anm. Es handelt sich um den niederländischen Druck: Een gescrift des nieuwen gheuonde[n] Fonteyne ofte sprincborne / inde welcke die almechtige Godt syn gaven dagelyc etc. laet blycken / ende is gelegen in die Graeffschap van Speighelberghe twee mylen weechs van der stadt Hamelen an de Weser, Nimwegen: Peter von Elzen [1556]. Dessen einziges bekanntes Exemplar, ehemals im Heimatmuseum Coppenbrügge und jetzt im Museum Schloss Pyrmont befindlich, enthält nur den ersten Teil des sonst gebotenen Textes, also lediglich das Gutachten Burkhard Mithoffs (1501–1564). Nach der Angabe des Kolophons soll es sich um den Nachdruck einer in Magdeburg hergestellten Publikation handeln. Vgl. Pedanius Dioscurides aus Anazarba. Fünf Bücher über die Heilkunde, ed. M. Aufmesser (ATS 37), Hildesheim/Zürich/New York 2002, S. 324. Ich zitiere den Wittenberger Druck B. Mithoff, Gründlicher: warhafftiger Bericht / von dem new gefundenen wunder Brunnen / in der Graffschafft Spiegelberg […], Wittenberg: Georg Rhau (Erben) 1556 (VD16 ZV 26676), fol. A2v. Vgl. B. Streich, Fürstliche Repräsentation und Alltag am Hofe Herzogin Elisabeths von Braunschweig-Lüneburg (Calenberg-Göttingen), in: E. Schlotheuber (Hg.), Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1510–1558). Herrschaft – Konfession – Kultur (QDGNS 132), Hannover 2011, S. 138–166, bes. S. 148. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 549 durchsetzte, gehörte er zum Hofrat, also zum engsten Beraterkreis der Herzogin.24 Als Elisabeth 1546 eine zweite Ehe mit Graf Poppo XII. zu Henneberg (1513– 1574) einging, trat Mithoff als Leibarzt in den Dienst des Henneberger Grafen.25 Mithoff wird in den Drucken der zweiten Gruppe am Ende des Textes, in einem Fall auch auf dem Titelblatt als Verfasser genannt. Dass er der Verfasser eines entsprechenden Gutachtens war, ist auch aus anderen Zusammenhängen bekannt.26 Sein Text ist allerdings für den Abdruck in der Flugschriftenserie erweitert worden, indem man eine predigtartige Anpreisung der wunderbaren Heilungen hinzufügte, die mit dem Satz beginnt: Es hat / Gott lob / dieser brunnen vielen leuten geholffen / die etliche jar taub vnd blind gewesen sein. Desgleichen auch vielen Leuten / die den Krebs vnd Harwurm [ein flechtenartiger Hautausschlag, Anm. H. K.] gehabt / geholfen.27 Darauf folgt die ausführliche Schilderung eines Exorzismus, bei dem das Wasser einem besessenen Mann gegen seinen Willen eingeflößt wurde, so das der böse Geist von in hat müssen weichen.28 Nach dem summarischen Hinweis auf eine große Zahl von Heilungen durch das Wasser endet der erste Textteil mit der Wendung: Gott verleihe vns allen Christgleubigen seine gnade / Amen.29 Der zweite Teil des Flugschriftentextes wird als Brief eingeführt, den ein Pfarrer nicht weit vom Brunnen wonend / einem Bürger aus Lübeck […] zugeschrieben.30 Bei dem genannten Geistlichen muss es sich um den seit 1552 in Oesdorf als Pfarrer und zugleich als Hofprediger des Grafen Philipp von Pyrmont (1530–1557) amtierenden Dietrich bzw. Theodor von Collum (1521–nach 1595) handeln.31 In dem Brief 24 Vgl. ebd., S. 147 f.; M. Füssel, Vormoderne Politikberatung? Gelehrte Räte zwischen Standes- und Expertenkultur, in: ebd., S. 222–232, hier S. 225 f. 25 Vgl. Die Grafen von Henneberg. Eine illustrierte Genealogie aus dem Jahr 1567, edd. V. Kessel / J. Mötsch / (Red.) T. Wurzel / M. Lüders (Selecta 9; Sonderveröffentlichung des Hennebergisch-Fränkischen Gerschichtsvereins 17), Frankfurt a. M. 2003. 26 So hat Mithoff sein Gutachten am 12.4.1556 auch an Melanchthon geschickt. Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, praefationes, consilia, iudicia, schedae academicae […], in: Philippi Melanthonis opera, quae supersunt omnia, ed. C. G. Bretschneider (CR 8), Halis Saxonum 1841, Sp. 730 f, Nr. 5961; das Regest in: PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer (wie Anm. 8), Bd. 7, S. 416, Nr. 7780; wahrscheinlich dasselbe Gutachten, das Mithoff an Dietrich IV. von Plesse († 1571) adressierte, findet sich in der Wiedergabe bei J. Feuerberg [Pyrmontanus], FONS SACER (wie Anm. 7), fol. A4r f. 27 B. Mithoff, Gründlicher: warhafftiger Bericht (wie Anm. 22), fol. A2v f. 28 Ebd., fol. A3r. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Die spärlichen Angaben zu seiner Biografie stammen aus einer von ihm selbst in niederdeutscher Sprache verfassten Vita, auf der die Darstellung bei L. Curtze, Evangelische Geistliche zu Pyrmont seit der Reformationszeit bis auf die neueste Zeit (T. 1), in: Ders., Beiträge zur Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 550 Hartmut Kühne dieses Geistlichen werden zunächst die Indikationen des Heilwassers im Allgemeinen aufgeführt. Es helfe gegen alle Arten von Wunden, gegen Grind und Flechten, bei Lähmungen und erschlafften Gliedern sowie bei Vergiftungen und bösen Augen. Es folgen Berichte über einige exemplarische Heilungen. Einer vergifteten Frau aus Bielefeld seien nach dem Trinken des Wassers eine Eidechse und Würmer aus dem Leib gekrochen. Ein seit sieben Jahren stummer Mann habe auf dieselbe Weise seine Sprache wiedererlangt und ein erblindeter Schmiedeknecht konnte nach dreitägiger Waschung des Auges wieder sehen. Der Text schließt mit der Formel: Des sey Gott gelobet vnd gedancket in ewigkeit / dem kein ding vnmüglich ist / Amen.32 Der Flugschriftentext stellt eine eigentümliche Mischform zwischen einem balneologischen Gutachten und Mirakelaufzeichnungen dar, die allerdings in das Gewand tagesaktueller Berichterstattung, also der sog. Neuen Zeitungen gekleidet wurden. Auch wenn in den Darstellungen der Wunderheilungen ein predigtartiger Stil durchbricht, fehlen in fast allen Drucken deutliche theologische Aussagen, mit denen die Mirakel gedeutet werden. Allerdings findet sich in dem Mainzer Druck auf der letzten Seite ein Holzschnitt mit der Darstellung Christi an einem Krankenbett, also wohl einer neutestamentliche Krankenheilung, die mit der Bildunterschrift Die wunderzeichen Christi seind nicht zu verlachen / Die Blin­ den macht er sehent / die lamen gerade / die Tauben hörent / die Stummen redent / etc. kommentiert wird.33 (Abb. 4) Lediglich in einer Druckvariante wird eine explizite theologische Deutung der Pyrmonter Wunderheilung geboten. Daher soll diese Publikation genauer in den Blick genommen werden. Die Straßburger Pyrmont-Flugschrift aus der Zürcher „WickianaSammlung“ Der im Folgenden zu besprechende Druck gehört zur zweiten Gruppe der Pyrmont-Flugschriften mit dem Titel „Beschreibung des neuen gefundenen Brunnens […]“.34 Er bietet auffällig weitreichende Veränderungen des Basistextes der Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont, T. 2, Arolsen 1869, S. 571–577 und bei C. Völker, Geschichte der katholischen Kirche in der Grafschaft Pyrmont bis 1668. Mit Beiträgen zur Geschichte des Bistums Paderborn. Für die Herausgabe bearb. von H. Engel, Lügde 1991, S. 219; beruhen. 32 B. Mithoff, Gründlicher: warhafftiger Bericht (wie Anm. 22), fol. A4r. 33 VD16 ZV 24438, fol. A4v. 34 Vgl. B. Mithoff, Beschreibung des newen gefundnen Brunnens / in welchem der allmechtig Gott täglich seine gaben vnnd gůthat reichlich den menschen erscheinen laßt […], Straßburg: Thiebold Berger 1556 (VD16 ZV 29445). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 551 Abb. 4: Anonym, Holzschnitt aus: Beschreibung des neuwen gefundenen Bronnens / inn wellichem der Allmechtige ewige Gott / teglich seine gaben reychlich erscheynen lasset / Vnd ist derselb Bron gelegen in der Graffschafft von Speyelberge/ zwo meyl wegs von Hamelen an der Weser […], Mainz: Franz Behem 1556 (VD16 ZV 24438) [Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Sign. Js 10485, Foto: Staatsbiblio­ thek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, http://resolver. staatsbibliothek-berlin.de/SB­ B00009EBE00000000 (letz­ ter Zugriff am 25.5.2020)]. Flugschriftenserie, und ist damit der umfangreichste Druck dieser Gruppe. Er war lange Zeit nur durch die Abbildung seines Titelblattes und die Transkription des Textes bekannt, die Alfred Martin in seiner Kulturgeschichte des Badewesens im Jahre 1906 wiedergegeben hatte, ohne den Standort des benutzten Druckes anzugeben.35 Erst 2011 konnte ein Exemplar dieses Druckes in der Zürcher „Wickiana-Sammlung“ identifiziert werden.36 (Abb. 5) Diese bei Thiebold Berger (aktiv 1551 bis 1584) in Straßburg hergestellte Flugschrift ist für die Interpretation des 1556 entstehenden Wunderbrunnen-Konzeptes besonders aussagekräftig, weil sie zwei Aspekte deutlicher ausspricht, als es die anderen Druckfassungen tun, nämlich die Folgen sündigen Verhaltens am Brunnen und die Deutung der Heilungen als auf die Endzeit verweisende Wunderzeichen Gottes. 35 Vgl. A. Martin, Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen. Nebst einem Beitrag zur Geschichte der deutschen Wasserheilkunde, Jena 1906, S. 287–290. 36 Vgl. H. Kühne, Wunderbrunnen von Pyrmont (wie Anm. 9), S. 249. Da die Blätter des Druckes im zweiten Band der Sammlung Wicks einzeln auf Papier aufgeklebt wurden, ist er in der Handschriftenabteilung der Zürcher Zentralbibliothek nicht eigens katalogisiert worden. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 552 Hartmut Kühne Die Flugschrift stellt dem medizinisch-chemischen Gutachten eine knappe Chronik des Heilbrunnens voran, die sich von der durch Ernst Rhegius berichteten Version über die Entdeckung der Heilkraft des Wassers unterscheidet. Nach der Schilderung dieses Druckes war diese Quelle bereits 300 Jahren zuvor als Heilbrunnen genutzt worden. Weil die Landesherren aber damals für ihre Nutzung Tribut oder zinß forderten, sei das Wasser versiegt.37 Dass man aus dem Heilwasser keinen materiellen Gewinn ziehen dürfe und der Verkauf des Wassers eine Sünde sei, die das Versiegen des Brunnens bzw. den Verlust seiner Heilkraft nach sich ziehe, wurde für den Umgang mit den Wunderbrunnen in den lutherischen Gebieten grundlegend. Es wurde geradezu zu einem Dogma der lutherischen Wunderbrunnen-Theologie, dass Gott seine Gnade von den Wunderbrunnen abziehe, wenn man sich in ihrer Nähe sündig verhalte. Neben Geiz und materiellem Gewinnstreben spielte vor allem die Undankbarkeit für das Geschenk des Heilwassers in der theologischen Argumentation eine wichtige Rolle. Dies kommt auch im Text der in Straßburg gedruckten und hier zu besprechenden Flugschriftenvariante zur Sprache: An die Stelle der sonst in dem Brief des Ortspfarrers enthaltenen Erzählung über die Heilung des seit sieben Jahren stummen Mannes wurde ein Strafwunder gesetzt: Die Erzählung berichtete, wie drei Landsknechte unsinnig und toll wurden, nachdem sie über die Heilkraft des Brunnens gespottet hatten.38 In diesen Zusammenhang gehört auch, was der Lügder Schulmeister Johann Feuerberg (ca. 1530–nach 1597) im Rückblick auf das Ende des Zulaufs zum Pyrmonter Heilbrunnens schrieb: Da der gemeine hauffe sich kegen Gott vndanckbarlich angestalt / offentliche sunde / schande vnd Hurerey getrieben bey diesem Brunnen, habe Gott dem Brunnen / die krafft verschlossen.39 Aber zurück zu der in der Zürcher „Wickiana-Sammlung“ bewahrten Flugschrift und ihrer einleitenden Brunnenchronik! Nach deren Darstellung hätte der Brunnen erst im März des laufenden Jahres 1556 seinen fluß wider bekommen / auch sein vorige würckung vnd tugend durch die krafft Gottes wider erzeigt.40 Da bekannt war, dass Tiere, die von der Quelle trinken, sterben würden, habe ein schwer kranker, gesüchter [an Rheuma leidender, Anm. H. K.] Mann beschlossen, seinem Leben durch einen Trunk aus der Quelle ein Ende zu setzen. Als aber durch den Gebrauch des Wassers eine Besserung seines Zustands eintrat, habe er weiter getrunken, sich auch mit dem Wasser gewaschen und wurde auf diese 37 B. Mithoff, Beschreibung des newen gefundnen Brunnens (wie Anm. 34); die vorgeschaltete Brunnenchronik umfasst die fol. A1v f. 38 Ebd., fol. A3v. 39 J. Feuerberg [Pyrmontanus], FONS SACER (wie Anm. 7), fol. B3r. 40 B. Mithoff, Beschreibung des newen gefundnen Brunnens (wie Anm. 34), fol. A1v. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 553 Abb. 5: Anonym, Titelblatt von: Beschreibung des newen gefundnen Brunnens / in welchem der allmechtig Gott täglich seine gaben vnnd gůthat reichlich den menschen erscheinen laßt […], Straßburg: Thiebold Berger 1556 (VD16 ZV 29445) [Abb. nach H. Fehr, Massenkunst im 16. Jahr­ hundert mit 112 Abbildungen, Berlin 1924, S. 54]. Weise geheilt. Daraufhin setzte ein massenhafter Zulauf von den armen krüppelen / lamen / tauben / blinden / vnd besessenen menschen dorthin ein, so dass nicht alle Besucher vor Ort Unterkunft finden konnten und deshalb provisorische Hütten auf dem Feld errichten mussten. Nach dieser Einleitung folgen wie auch in den anderen Drucken das chemisch-medizinische Gutachten und der nach Lübeck adressierte Brief des Ortspfarrers. An diesen Brief, der sonst den Text der Flugschriften beendete, schließt sich in dem Straßburger Druck noch eine Reflektion über den Pyrmonter Brunnens an. Zum ersten wird nochmals das breite Spektrum der dort geheilten Krankheiten wie Lähmungen, Blindheit, Taubheit etc. exemplarisch beschrieben, was in einer Generalindikation des Wassers kulminiert: In sum[m]a / was doch presthafft ist / kein kranckheit vßgenommen / hat alles sein zuflucht zu disem brunnen.41 Eine zweite grundlegende Aussage betrifft die theologische Bedeutung des Brunnens. Es gäbe nämlich Menschen, die zu behaupten wagen, dass Gott bey vnsern zeiten […] nit so grosse wunderwerck vnd miracklen den menschen erzeigt / als zun zeiten 41 Ebd., fol. A4r. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 554 Hartmut Kühne Christi.42 Beachteten diese Leute die gegenwärtigen Wunder an dem Brunnen, so würden sie nicht so unwissend von Gott reden. Dieser Gedankengang wird in einer zweiten Argumentation wiederholt, allerdings anders akzentuiert. Einst offenbarte sich Gott den Kindern Israels durch Wunder. Weil diese aber undankbar waren und gegen Gott murrten, starben die meisten von ihnen in der Wüste, ohne in das gelobte Land zu kommen. Also ist es zu vnsern letsten zeiten gleich auch ein ding / so vns Gott seine gaben mit wunderwercken erzeigt / so halten wir es für ein gespöt oder fabel.43 Denn wenn Gott in der Gegenwart mit Plagen straft, so nimmt es sich niemand zu Herzen, außer jenen, die es unmittelbar betrifft. Warnt Gott aber mit Wunderzeichen, so halten es alle für eine Fabel, außer jenen, die es selbst gesehen haben. So werden Gottes Wunderwerke verlachet vnd verspottet, als ob sie ein erdichtet ding seien, wiewol die wunderwerck heiter am tag ligen.44 Die Argumentation endet schließlich im Aufruf zur Bekehrung und in der Anrufung der Gnade Gottes. Sollichs wöll er vns verleihen das wir durch ihn erwerben nach disem leben das ewig leben / Amen.45 Die am Pyrmonter Brunnen geschehenen Heilungen werden in der Flugschrift also als göttliche Wunder interpretiert, mit denen Gott am Ende der Zeiten zur Buße ruft. Dieses Argumentationsmuster erscheint ebenso in der lutherischen Wunderzeichenpublizistik, die gerade in der Mitte der 1550er Jahre einen ersten Höhepunkt erlebte. Im Falle Pyrmonts verband sich die Werbung für den neu entdeckten Heilbrunnen in auffälliger Weise mit dem gerade erst deutlich etablierten Interesse lutherischer Geistlicher und Gelehrter an der Beobachtung von ‚himmlischen Wunderzeichen‘. Daher waren die Ereignisse des Jahres 1556 im Weserbergland in ein mentales Klima eingebettet, das in besonderer Weise für himmlische Zeichen und Wunder sensibilisiert war. Dieser Zusammenhang soll im folgenden Abschnitt zumindest ansatzweise verdeutlicht werden. Beginn und erster Höhepunkt der lutherischen Wunderzeichenpublizistik Die publizistische Verbreitung und Interpretation von Wunderzeichen ist ein Phänomen, das in der Reformationsgeschichte und insbesondere in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung bis in die jüngste Vergangenheit keine 42 43 44 45 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 555 Rolle spielte. Zwar hatte der katholische Historiker Johannes Janssen (1829– 1891) schon am Ende des 19. Jahrhunderts den Protestanten deren „Wunder- und Schauerliteratur“ genüsslich unter die Nase gerieben, da diese Veröffentlichungen aus Janssens ‚ultramontaner‘ Sicht den kulturellen Niedergang zeigten, den die Reformation mit sich gebracht habe.46 Abgesehen von einzelnen, wissenschaftlich isolierten Arbeiten wie etwa der 1921 publizierten Monografie des Klimaforschers Gustav Hellmann (1854–1939) zu den meteorologischen Flugschriften des 16. Jahrhunderts begann sich erst in den 1960er Jahren die Germanistik und Erzählforschung mit dem Thema zu befassen.47 Aber auch diese grundlegenden Arbeiten von Rudolf Schenda (1930–2000)48 sowie von Wolfgang Brückner und dessen Schülern fanden zunächst in der Geschichtswissenschaft wenig und in der Kirchengeschichte keine Resonanz,49 da die in der Wunderzeichenliteratur zutage tretende apokalyptische Weltdeutung noch nicht als charakteristischer Zug der protestantischen, insbesondere der lutherischen Mentalität gewertet wurde. Erst als seit den 1990er Jahren auch in der Geschichtswissenschaft die eschatologischen Erwartungen ernster genommen wurden, die die Reformation weckte und die sich im konfessionellen Zeitalter noch verstärkten, begann man die Wunderzeichen-Drucke als relevante historische Quellen zu akzeptieren.50 Freilich war die Interpretation von besonderen Naturerscheinungen als göttliche Zeichen keine Erfindung der Reformation oder der konfessionellen Publizistik. Bereits in der griechischen Antike wurden sog. Prodigien als den Zorn der Götter verkündende Vorzeichen ernst genommen und in der Römischen Republik behandelte man sie als politische Angelegenheiten, die das ganze Gemeinwesen betrafen.51 Auch wenn die Prodigien in der Römischen Kaiserzeit ihre 46 J. Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, erg. und hrsg. von L. Pastor, Bd. 6: Culturzustände des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges, Freiburg i. Br. 121888, S. 431 f. 47 Vgl. G. Hellmann, Die Meteorologie in den deutschen Flugschriften und Flugblättern des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Meteorologie (APAW PMK 1921/1), Berlin 1921. 48 Vgl. R. Schenda, Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: AGB 4 (1963), Sp. 637–710. 49 Vgl. W. Brückner (Hg.), Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Berlin 1974. 50 Ein wesentlicher forschungsgeschichtlicher Impuls war der Aufsatz von H. Lehmann, Das 17. Jahrhundert als Endzeit, in: H.-C. Rublack (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (SVRG 197), Gütersloh 1992, S. 545–558. 51 Vgl. V. Rosenberger, Gezähmte Götter. Das Prodigienwesen der römischen Republik (HABES 27), Stuttgart 1998. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 556 Hartmut Kühne politische Bedeutung z. T. einbüßten,52 lebten sie als literarisches Traditionsgut in der Spätantike und im Mittelalter fort und erfuhren seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts im humanistischen Milieu eine Renaissance.53 Das neu erwachte Interesse an der Beobachtung und Deutung ungewöhnlicher Erscheinungen als himmlischer Vorzeichen spiegelt sich besonders deutlich im Werk Sebastian Brants (1457/58–1521).54 Mit seiner Deutung des 1492 bei dem elsässischen Städtchens Ensisheim niedergegangenen Meteoriten, des sog. Donnersteins, avancierte er zum ‚Erzaugur‘ des Reiches.55 Die systematische Beschäftigung mit den himmlischen Vorzeichen erhielt zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch die Wiederentdeckung einer von dem sonst unbekannten Schriftsteller Julius Obsequens (ca. Mitte des 4. Jhs. n. Chr.) geschaffene Kompilation himmlischer Vorzeichen einen wichtigen Impuls. Dieser „Liber Prodigiorum“, eine vor allem aus dem Geschichtswerk des Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.) geschöpfte Zusammenstellung aller Prodigien der Jahre 249 bis elf vor Christus, wurde erstmals 1508 in Venedig als Anhang zu einer Briefausgabe des jüngeren Plinius (61–113 n. Chr.) gedruckt.56 Eine ergänzte Neuausgabe durch Conrad Lycosthenes (1518–1561) im Jahre 1552 wurde zum Impuls für die sich kurz darauf etablierenden Prodigiensammlungen reformatorisch-humanistischer 52 Vgl. ebd., S. 201–240. 53 Vgl. J. Beyer, Art. Prodigien, in: R. W. Brednich / H. Bausinger / W. Brückner u. a. (Hgg.), EM, Bd. 10: Nibelungenlied – Prozeßmotive, Berlin/New York 2002, Sp. 1378–1382; C. Daxelmüller, Art. Vorzeichen, in: LexMa, Bd. 8, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 1869 f., mit weiterer Literatur. 54 Die Drucke sind gesammelt zugänglich in: Flugblätter des Sebastian Brant, ed. P. Heitz (JGElsässLit 3), Straßburg 1915; zur Prodigiendeutung Brants vgl. D. Wuttke, Sebastian Brants Verhältnis zu Wunderdeutung und Astrologie, in: W. Besch / G. Jungbluth / G. Meissburger / E. Nellmann (Hgg.), Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. FS für Hugo Moser zum 65. Geburtstag, Berlin 1974, S. 272–286; Ders., Wunderdeutung und Politik. Zu den Auslegungen der sogenannten Wormser Zwillinge des Jahres 1495, in: K. Elm / E. Gönner / E. Hillenbrand (Hgg.) / O.-H. Elias (Red.), Landesgeschichte und Geistesgeschichte. FS für Otto Herding zum 65. Geburtstag (VGGL B 92), Stuttgart 1977, S. 217–244; Ders., Sebastian Brants Sintflutprognose für Februar 1524, in: M. Krejci / K. Schuster (Hgg.), Literatur, Sprache, Unterricht. FS für Jakob Lehmann zum 65. Geburtstag, Bamberg 1984, S. 41–46. 55 Vgl. D. Wuttke, Sebastian Brant und Maximilian I. Eine Studie zu Brants Donnerstein-Flugblatt des Jahres 1492, in: O. Herding / R. Stupperich (Hgg.), Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung der DFG 3), Boppard 1976, S. 141–176. 56 Vgl. zum Werk P. L. Schmidt, Iulius Obsequens und das Problem der Livius-Epitome. Ein Beitrag zur Geschichte der lateinischen Prodigienliteratur (AAMZ 1968/5), Mainz 1968. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 557 Autoren.57 Diese Bearbeitung des singulären antiken Textes durch den Baseler Humanisten Lycosthenes gehörte aber bereits einer neuen Phase des gelehrten, aber auch des publizistischen Umgangs mit den Wunderzeichen an, denn in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts spielten Publikationen über Prodigien gemessen an der gesamten Druckproduktion nur eine untergeordnete Rolle; „erst danach [schnellte, Anm. H. K.] die Publikationsrate rasant nach oben“, wie Harry Oelke konstatiert, der den Anteil von Wunderzeichendrucken an der gesamten Flugblatt-, d. h. Einblattdruckproduktion im 16. Jahrhundert mit 36 Prozent berechnete.58 Schon Gustav Hellmann hatte festgestellt, dass die Zahl meteorologischer Flugschriften und Einblattdrucke seit den 1530er Jahre signifikant anstieg, wobei er auch Berichte über Blut- und Schwefelregen sowie Polarlichter aufnahm.59 Auch beobachtete er, wie seit den 1540er Jahren in der Darstellung der geschilderten Ereignisse eine „moralisierende Betrachtungsweise“ Einzug hielt, d. h. die meteorologischen Erscheinungen wurden zunehmend als göttliche Zeichen gedeutet.60 Die Zunahme einschlägiger Printerzeugnisse lässt sich an den von Hellmann verzeichneten Flugschriften und Einblattdrucken gut nachvollziehen.61 Zählte er für die 1520er Jahre nur 13 Drucke, so waren es in den 1530er Jahren bereits 38 und in den 1540er Jahren 47 Drucke; in den 1560er Jahren stieg die Zahl gar auf 97 und in den 1570er Jahren auf 103 Drucke an.62 Innerhalb dieser steigenden Publikationskurve fallen besondere Ereignisse auf, die stärker als andere öffentlich rezipiert wurden und dadurch wohl auch dafür sorgten, dass sich Wunderzeichen als Bestandteil der publizistischen Kommunikation etablieren konnten. Schon Hellmann hatte eine Liste jener Ereignisse zusammengestellt, die „ein ganz besonderes Interesse geweckt haben müssen“, da über sie mindestens sechs Drucke hergestellt wurden.63 Unter diesen Ereignissen nimmt eine Serie wegen ihres Umfangs – von mindestens vierzehn Flugschriften – eine Ausnahmestellung ein. Es handelt sich um Drucke, die von den Folgen eines Unwetters berichten, das am 7. August 57 Vgl. Iulii ObsequenTIS PRODIGIORUM LIber, ab Urbe condita us[que] ad Augustum Caesarem, cuius tantum extabat Fragmentum, nunc demum Historiaru[m] beneficio, per CONRADVM LYCOSTHENEM Rubeaquensem […], Basel: Johannes Oporin 1552 (VD16 O 178). 58 H. Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter (AKG 57), Berlin/New York 1992, S. 380. 59 Vgl. G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 13. 60 Ebd., S. 21. 61 Trotz VD16 ist Gustav Hellmann durchaus nicht überholt, da er auch die im VD16 nicht enthaltenen Einblattdrucke verzeichnet und die inzwischen verlorenen oder nur durch den einstigen Antiquariatshandel bekannten Exemplare erfasste. 62 Vgl. G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 13. 63 Ebd., S. 14. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 558 Hartmut Kühne 1546 die burgundische Stadt Mecheln/Mechelen heimsuchte.64 Das Witterungsereignis wurde für die flämische Stadt zu einer Katastrophe, weil der Blitz in das dortige Sandtor einschlug, das als Pulvermagazin diente. Die Explosion zerstörte das Gebäude, dessen glühende Trümmer über der Stadt niedergingen. Hunderte Häuser wurden beschädigt und etwa 150 Menschen starben an den Folgen der Detonation. Unmittelbar nach dem Ereignis hatten bereits ein französischer Druck und zwei niederländische Nachdrucke über das spektakuläre Geschehen berichtet, ohne freilich eine moralische oder gar theologische Wertung vorzunehmen.65 Auf eine ganz andere Resonanz trafen diese Nachrichten in der angespannten Situation des beginnenden Schmalkaldischen Krieges im Reichsgebiet, war doch die prominente habsburgische Nebenresidenz Kaiser Karls V. (1519–1556) betroffen, der sich gerade zur militärischen Unterwerfung der Protestanten im Reich anschickte. Antonius Corvinus (1501–1553), der General-Superintendent des Fürstentums Braunschweig-Calenberg, übersetzte den niederländischen Text ins Deutsche und ließ ihn mit einem aktuell-theologischen Kommentar versehen in Hannover drucken.66 Die Übersetzung von Antonius Corvinus erlebte noch 1546 mit unterschiedlicher Kommentierung des Ereignisses im Reichsgebiet mindestens zehn Nachdrucke.67 Die Wittenberger Ausgabe dieser Flugschrift behauptete, das Schießpulver hätte von Mecheln wenige Tage später in das kaiserliche Lager geführt werden sollen, um es gegen die Protestanten einzusetzen, aber nu vnser HE rr Gott […] durch einen schos sie selbest zum teil gestraffet.68 Und ein anonym bleibender Magdeburger Prediger versicherte seinen Lesern, Gott habe durch das Unwetter begonnen fur vns [zu, Anm. H. K.] streiten; er habe dem Keyser Carolo 64 Vgl. zum Ereignis R. Foncke, Die Explosion des Mechelner Sandtores (1546) in Flugschriften der damaligen Zeit (Faculteit van de Wijsbegeerte en Letteren, Universiteit te Gent. Werken 68), Antwerpen 1932, S. 12–18; G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 43 f., verzeichnet nur zehn Drucke. 65 Vgl. R. Foncke, Die Explosion (wie Anm. 64), S. 19–35. 66 Vgl. A. Corvinus, Warhafftige anzeigung der schrecklichen / grausamen / erbermlichen geschichten vnd vngewitters / so sich aus Gottes verhengnis vnd straff / zu Mecheln in Braband / am VII. Augusti dieses XLVI. Jars / in der nacht zwischen zehen vnd eilff vhren / zugetragen haben. […], Hannover: Henning Rüdem 1546 (VD16 W 183); zur Übersetzung durch Corvinus und seine heute verlorene Vorlage, einen bei Peter Jans Sone in Leiden hergestellten Druck, vgl. R. Foncke, Explosion (wie Anm. 64), S. 52–55. 67 Nach Durchsicht des VD16 ließen sich folgende Drucke feststellen: VD16 W 4600, VD16 ZV 1375, VD16 B 2213, VD16 W 4601, VD16 ZV 19215, VD16 B 2212, VD16 N 738, VD16 N 737, VD16 W 607, VD16 ZV 3834; vgl. auch G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 43. 68 Warhafftige Zeitung von dem schrecklichen Wetter zu Maehem in Brobant, Wittenberg: Josef Klug 1546 (VD16 W 607), fol. A2v. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 559 Abb. 6: Anonym, Titelblatt von: Newe zeittung / der man furmals nicht viel gehöret / die sich begeben haben in Nidderlandt / zu Mecheln vnnd andern vmbligenden Stedten […], Magdeburg: Michael Lotter 1546 (VD16 N 738) [Staatsbi­ bliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Sign. Flugschr. 1546/31/5, Foto: http://resol­ ver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0001966200000000 (letzter Zugriff am 25.5.2020)]. ein zeichen gegeben […] / ob er sich besinnen wolt / vnd von seinem vnchristlichen […] fürnemen […] abstehen.69 (Abb. 6) Mit mindestens 14 Drucken bzw. Nachdrucken war diese Druckserie die erfolgreichste Wunderzeichenpublikation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zu diesem außerordentlichen Erfolg hat zweifellos die besondere religionspolitische Situation am Beginn des Schmalkaldischen Krieges beigetragen. Da die folgenden militärischen Auseinandersetzungen anders verliefen, als von Corvinus und seinen literarischen Parteigängern prognostiziert, ist diese publizistische Episode allerdings schnell wieder vergessen worden. Auch das zeitlich nächste wunderbare Ereignis, das medial Aufsehen erregte, da es in sieben Auflagen verbreitet wurde, war religionspolitisch brisant. Es handelte sich um ein in der Nacht vor dem Pfingstfest 1548 in der Nähe von Braunschweig beobachtetes ‚Feuerzeichen‘ (d. h. ein Nordlicht), das den Zuschauern unter anderem den nach der Schlacht von Mühlberg gefangenen sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich I. (1532–1547/54), eine 69 Newe zeittung / der man furmals nicht viel gehöret / die sich begeben haben in Nidderlandt / zu Mecheln vnnd andern vmbligenden Stedten […], Magdeburg: Michael Lotter 1546 (VD16 N 738), fol. A3v f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 560 Hartmut Kühne Kreuzigungsszene und das Erscheinen Christi zum Jüngsten Gericht vor Augen stellte.70 Von dem Braunschweiger Superintendenten Nikolaus Medler (1502– 1551) wurde der Bericht in eine literarische Form gebracht, die geeignet war, den Widerstand gegen die kaiserliche Religionspolitik zu unterstützen.71 Da sich dieser Widerstand besonders in Magdeburg formiert hatte, wurden alle sieben Auflagen der Schrift – teilweise mit einem Vorwort von Matthias Flacius (1520–1575) versehen – in der Elbestadt gedruckt.72 Diese Veröffentlichung steht am Beginn einer Reihe von Publikationen, die sich mit der Deutung ähnlicher Chasmata (‚Feuerzeichen‘) befassten und die in einer Serie von neun Drucken über ein Feuerzeichen kulminierte, das im Juli 1556 im Vogtland beobachtet wurde.73 Diesen frühen ‚Erfolgsgeschichten‘ der protestantischen Wunderzeichenliteratur wird an anderer Stelle ausführlicher nachgegangen.74 Für die jetzige Argumentation muss es genügen, darauf hinzuweisen, dass die Kumulation dieser Wunderzeichen-Drucke im selben Jahr stattfand, als auch der Pyrmonter Wunderbrunnen bekannt wurde. Dies ist sicher kein Zufall, denn das Jahr 1556 darf als Epochenjahr der protestantischen Wunderzeichen-Literatur gelten. Das literarisch markanteste Datum dieses Jahres ist die Publikation der ersten Wunderzeichenchronik des Jenenser Lutheraners Hiob Fincel († nach 1568).75 Der Band enthält auf etwa 450 Seiten jahrweise geordnete Nachrichten über Wunderzeichen, die sich seit dem Jahr 1517 ereigneten – d. h. seit dem Beginn der Reformation, also dem Beginn 70 Vgl. G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 44 f., der nur drei unterschiedliche Drucke kannte. 71 Vgl. zum Verhältnis Medlers zum Interim und den Magdeburger Theologen T. Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburg „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2) (BHTh 123), Tübingen 2003, S. 257–266. 72 Vgl. VD16 ZV 21685, VD16 M 1894, VD16 ZV 25077, VD16 M 1892, VD16 M 1895, VD16 M 1893. 73 Vgl. G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 49 f. 74 Vgl. dazu meinen in Vorbereitung befindlichen Beitrag H. Kühne, Von Oels nach Mecheln und von Braunschweig nach Elsterberg. Frühe Erfolgsgeschichten der lutherischen Wunderzeichenliteratur, in: S. Dornheim (Hg.), Götzenkammern. Entsorgung, Umdeutung und prämuseale Bewahrung vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum (Bausteine ISGV), Dresden 2021. 75 Vgl. H. Fincel, Wunderzeichen Warhafftige beschreibung und gründlich verzeichnus schrecklicher Wunderzeichen und Geschichten, die von dem Jar an MDXVII. bis auff itziges Jar MDLVI. geschehen und ergangen sind nach der Jarzal, Jena: Christian Rödinger d. Ä. 1556 (VD16 F 1103); zur Biografie Fincels und der Programmatik seiner Wunderzeichensammlungen vgl. H. Schilling, Job Finzel und die Zeichen der Endzeit, in: W. Brückner (Hg.), Volkserzählung (wie Anm. 49), S. 326–392; Ders., Art. Fincelius, Job, in: W. Kühlmann / J.-D. Müller / M. Schilling / J. A. Steiger / F. Vollhardt (Hgg.) / J. K. Kipf (Red.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd. 2, Berlin/Boston 2012, Sp. 349–354. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 561 der heilsgeschichtlichen Endzeit, in der Gott mit sichtbaren Zeichen am Himmel, im Wasser und auf der Erde zur Buße ruft. Fincels Kompilation einschlägiger Flugblätter und anderer Nachrichten zu einem großen Wunderpanorama wurde zum literarischen Erfolg, was sich daran ablesen lässt, dass das Werk in den folgenden zehn Jahren vier weitere Auflagen erlebte.76 1559 veröffentlichte Fincel einen ersten77 und 1562 einen zweiten Nachtrag78 zu seinem Wunderzeichenbuch, die ebenfalls Nachauflagen erlebten. Im selben Jahr 1556 verfasste Ludwig Lavater (1527–1586), Archidiakon am Zürcher Großmünster, angeregt von der Erscheinung eines Kometen im März 1556 einen Kometenkatalog, der von den Zeiten des Kaisers Augustus (44 v. Chr.–14 n. Chr.) bis in die eigene Gegenwart reichte.79 Im folgenden Jahr erschien die reich bebilderte, die gesamte Weltgeschichte seit der Schöpfung umfassende Prodigienchonik von Conrad Lycosthenes zunächst in einer lateinischen Fassung80 und wenig später in deutscher Übersetzung.81 Noch im selben Jahr wurde auch das nach einer sachlichen Systematik gegliederte Wunderzeichenbuch des Lutherschülers und Reformators von Nassau-Weilburg Kaspar Goltwurm (1524–1559) gedruckt.82 In diesem Jahr 1557 begann sehr wahrscheinlich auch der Zürcher Chorherr Johann Jacob Wick (1522–1588) mit der 76 Dem ersten Jenenser Druck folgten der ebenfalls in Jena hergestellter Nachdruck. Vgl. VD16 ZV 5854 und die beiden Nürnberger Nachdrucke, vgl. VD16 F 1104 sowie ZV 5856; 1557 folgte eine verbesserte Leipziger Neuauflage mit Holzschnitten, vgl. VD16 F 1105; zehn Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes wurde dieser zusammen mit dem ersten Nachtragsband in Frankfurt am Main nochmals nachgedruckt. Vgl. VD16 F 1108 und VD16 F 1109. 77 Vgl. H. Fincel, Der ander Teil Wunderzeichen […], Leipzig: Jakob Bärwald 1559 (VD16 F 1106, VD16 ZV 22131). 78 Vgl. Ders., Wunderzeichen / Der dritte Teil […], Jena: Donat Richtzenhan/Thomas Rebart 1562 (VD16 1107, VD16 ZV 15882). 79 Vgl. L. Lavater, COMETARVM OMNIVM FERE CATALOGVS, QVI AB AVGVSTO, QVO IMPERANTE Christus natus est, usque ad hunc 1556. annum apparuerunt […], Zürich: Andreas und Hans Jakob Geßner 1556 (VD16 L 814); vgl. zum Werk F. Mauelshagen, Wunderkammer auf Papier. Die „Wickiana“ zwischen Reformation und Volksglaube (FF 15), Epfendorf 2011, S. 67 ff. 80 Vgl. C. Lycosthenes, PRODIGIORVM AC OSTENTORVM CHRONICON […], Basel: Heinrich Petri 1557 (VD16 W 4314). 81 Vgl. Ders., Wunderwerck Oder Gottes vnergründtliches vorbil / den / das er inn seinen gschöpffen allen / so Geystlichen / so leyblichen […] von anbegin der weldt / biß zů vnserer diser zeit / erscheynen […] lassen […], Basel: Heinrich Petri 1557 (VD16 W 4315). 82 Vgl. K. Goldwurm, Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch. Darinne alle fürnemste Göttliche / Geistliche / Himlische / Elementische / Jrdische vnd Teuflische wunderwerck / so sich in solchem allem von anfang der Welt schöpfung biß auff vnser jetzige zeit / zugetragen vnd begeben haben / kürtzlich vnnd ordentlich verfasset sein […], Frankfurt a. M.: David Zöpfel 1557 (VD16 G 2602); zu diesem Werk vgl. B. Deneke, Kaspar Goltwurm. Ein lutherischer Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 562 Hartmut Kühne Sammlung von Wunderzeichen-Zeugnissen, die bis zu seinem Tode 1588 auf 25 Foliobände anwuchs.83 Dass der Straßburger Pyrmont-Druck seinen Weg in diese Sammlung gefunden hat, ist ein zusätzliches Argument dafür, dass die mediale Kommunikation über den ersten Wunderbrunnen in den Zusammenhang der Wunderzeichen-Konjunktur mit ihrem Epochenjahr 1556 gehört. Der hier skizzierte Überblick zur frühen Wunderzeichen-Publizistik hat einen weiteren Berührungspunkt zu den Pyrmont-Drucken offengelegt, der bisher noch nicht ausdrücklich thematisiert wurde. Der Impulsgeber für die äußerst erfolgreichen Druckserie über das Unwetter in Mecheln 1547, Antonius Corvinus, und der Verfasser des chemisch-medizinischen Gutachtens der Wunderbrunnen-Drucke, Burkhard Mithoff, standen über Jahre in engem persönlichen Kontakt und gehörten beide dem Hofrat der Herzogin Elisabeth von Brandenburg an.84 Beide zählten damit zur gelehrten und politisch einflussreichen Führungselite des deutschen Protestantismus, was auch für den Autor des erfolgreichen Wunderzeichendrucks über das 1548 bei Braunschweig sichtbare Nordlicht, Nikolaus Medler, gilt.85 Auch wenn von jenen Autoren, die 1556/57 durch die Publikation von Wunderzeichenchroniken hervortraten, nur Goltwurm und Lavater zur intellektuellen Führungselite ihres jeweiligen Territoriums zu rechnen sind, handelte es sich bei allen Verfassern um ernst zu nehmende Gelehrte. Dass gelehrte und politisch einflussreiche Personen Wunderzeichen-Texte publizierten und zu Initiatoren entsprechender Kampagnen wurden, widerspricht freilich einem tief verwurzelten Wahrnehmungsschema, dass diese Literatur „häufig mit der Sensations- und Boulevardpresse des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts verglichen“ hat.86 Dieser Einschätzung hat auch Rudolf Schenda als Pionier der Prodigienforschung Vorschub geleistet, indem er den „Sensationshunger des Menschen“ für die massenhafte Verbreitung der Wunderzeichen-Drucke seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mitverantwortlich machte.87 Schon damals hätte „die Sensationslust“ auf dem Publikationsmarkt „die 83 84 85 86 87 Kompilator zwischen Überlieferung und Glaube, in: W. Brückner (Hg.), Volkserzählung (wie Anm. 49), S. 124–177. Zur Sammlung und ihrer Intention vgl. F. Mauelshagen, Wunderkammer (wie Anm. 79); zum Beginn der Sammeltätigkeit vgl. ebd., S. 22 f., und das zweite Kapitel im ersten Teil des Buches. Die Einblattdrucke der Sammlung wurden herausgegeben. Vgl. Die Wickiana. Die Sammlung der Zentralbibliothek Zürich, edd. W. Harms / M. Schilling (DIF 6–7), 2 Bde., Tübingen 1997/2005. Vgl. oben Anm. 23 f. Vgl. R. Stupperich, Medler, Nikolaus, in: NDB, Bd. 16, Berlin 1990, S. 603 f. Dies beklagte ausdrücklich F. Mauelshagen, Wunderkammer (wie Anm. 79), S. 65 f. R. Schenda, Deutsche Prodigiensammlungen (wie Anm. 48), Sp. 638 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren 563 Oberhand gewonnen“.88 Die weite Verbreitung der Wunderzeichen-Drucke darf allerdings einen elementaren Unterschied nicht verwischen, der zwischen dieser frühneuzeitlichen Literaturgattung und der modernen Boulevardpresse besteht. Die Wunderzeichen-Beobachtung und Deutung war wie etwa die frühe reformatorische Flugschriftenpublizistik kein kulturell mediokres oder gar Unterschichtenphänomen, das sich vom gelehrten Diskurs und den intellektuellen Eliten entkoppelt hatte. Die Beobachtung und Deutung himmlischer Vorzeichen wurde vielmehr besonders im lutherischen Bereich als eine Aufgabe gerade dieser intellektuellen Führungsgruppen begriffen.89 Dass dies auch jenseits der literarischen Produktion galt, soll abschließend an einem Beispiel gezeigt werden. Am 25. Januar 1560 schrieb Caspar Kayser, Pfarrer von Malitzschkendorf (etwa 60 km südöstlich von Wittenberg gelegen) und einstiger Wittenberger Student, an Philipp Melanchthon und Paul Eber (1511–1569) einen Brief, in welchem er Folgendes berichtete:90 Als ein Bauer in seinem Filialdorf Jagsal am 17. Januar ein Brot anschnitt, sei Blut aus dem Laib hervorgequollen. Der entsetzte Mann hatte seinen Nachbarn berichtet, wie bei jedem neuen Schnitt immer mehr Blut aus dem Brot austrat. Als der Grundherr Hans Stauchwitz von Schlieben von dem Vorfall erfuhr, ließ er den Bauern zu sich zitieren und befragte ihn im Beisein des Pfarrers. Da der Ortsgeistliche das Wunder nicht selbstständig deuten wollte, schickte er einen Brief an seine akademischen Lehrer nach Wittenberg mit der Bitte, sie mögen ihm ihr judicium und guttdüncken, was daraus mechte verstanden werden, mithteylen.91 Paul Eber, Generalsuperintendent des Kurkreises, antwortete auf die Anfrage und interpretierte das Ereignis als zeichen künfftiger straffen, über das er hart erschrocken sei, da solch blut, im brot gefunden, bedeut ein gemein blutvergießen durch krig oder andere verwüstung.92 Diese theologische Beurteilung entspricht in auffäl88 Ders., Wunder-Zeichen. Die alten Prodigien in neuen Gewändern. Eine Studie zur Geschichte eines Denkmusters, in: Fabula 38 (1997), S. 14–32, hier S. 22. 89 Zwei typische Vertreter waren die Pfarrer und Chronisten Cyriakus Spangenberg (1528–1604) (vgl. H. Kühne, Der Prediger als Augur – Prodigien bei Spangenberg, in: S. Rhein / G. Wartenberg (Hgg.), Reformatoren im Mansfelder Land. Erasmus Sarcerius und Cyriakus Spangenberg (SLSA 4), Leipzig 2006, S. 229–244) und Johannes Letzner (1531–1613) (vgl. R. Kirstan, Die Welt des Johannes Letzner. Ein lutherischer Landpfarrer und Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts (VHKNS 278), Göttingen 2015, bes. S. 287–336). 90 Zur Person vgl. V. Albrecht-Birkner, Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen, Bd. 2, Leipzig 2004, S. 142. 91 Der Brief wurde ohne Angabe der Fundstelle ediert von T. Wotschke, Das Mirakel von Jagsal bei Herzberg, in: ZVKGS 21 (1926), S. 90 ff., hier S. 91; Fundstelle in: FB Gotha, Cod. chart. A 123, fol. 334r–335v. 92 T. Wotschke, Mirakel (wie Anm. 91), S. 91 f.; FB Gotha, Cod. chart. A 123, fol. 330r–331v. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 564 Hartmut Kühne liger Weise der Deutung, die Hiob Fincel in seinem ersten Wunderzeichenbuch für ein Blutwunder bietet, das sich 1550 in einem polnischen Dorf ereignet haben soll. Eine Witwe, die ihren sechs Kindern nichts zu essen geben konnte, bat ihre Schwägerin um Brot. Aber die hartherzige Frau verweigerte ihr die Hilfe. Als ihr Mann, der Bruder der Witwe, nach Hause kam und das Geschehen guthieß, begann das von ihm zum Essen geschnittene Brot zu bluten.93 Fincels Interpretation dieses Blutwunders als Vorzeichen eines Krieges entspricht fast wörtlich dem Brief Paul Ebers zum Blutwunder in Jagsal. Anders als Eber klärte Fincel seine Leser aber auch über die historischen Grundlagen seiner Deutung auf, da er auf ein ähnliches Vorzeichen verwies, das in Arezzo zur Zeit der Römischen Republik geschehen wäre und das er aus dem von Lycosthenes bearbeiteten Prodigienbuch des Julius Obsequens kannte.94 Auch bei einer summarischen Angabe, dass im Jahre 1551 zahlreiche Blutzeichen in Sachsen beobachtet wurden, urteilte Fincel: Blutige wunderzeichen bedeuten gemeiniglich krieg / wie diese historien vnd erfarung zeu­ get, wofür mehrere historische Belege angeführt werden, die überwiegend aus dem Prodigienbuch des Julius Obsequens stammen.95 Mit ihren Beobachtungen und Deutungen von Blutwundern stehen Hiob Fincel und Paul Eber freilich nur am Beginn einer lutherischen Blutwunder-Literatur, die ebenso wie die lutherischen Wunderbrunnen erst im 17. Jahrhundert ihre volle Entfaltung erleben sollte.96 93 Vgl. H. Fincel, Wunderzeichen (wie Anm. 75), fol. R3r f. 94 Vgl. ebd., fol. R4v; die Vorlage findet sich in: Iulii ObsequenTIS PRODIGIORUM LIber (wie Anm. 57), S. 108. 95 H. Fincel, Wunderzeichen (wie Anm. 75), fol. S5r. 96 Einen Überblick zur lutherischen Blutwunderliteratur bietet H. Kühne, „Zufällige Begebenheiten als Wundergeschichten sammeln“. Über dingliche Wunderzeugnisse im Luthertum, in: H. Röckelein (Hg.), Der Gandersheimer Schatz im Vergleich. Zur Rekonstruktion und Präsentation von Kirchenschätzen (SFGEK 4), Regensburg 2013, S. 281–299, hier S. 284–288. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Stefan Dornheim Götzenkammern Zum Umgang mit vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum „Die arme schöne Maria! Hätte ich dafür das Bildnis eines trunkenen Silens entdeckt gehabt, alle Pfarrer der Umgebung wären entzückt gewesen; die Mutter ihres Heilands aber, zu dessen Lob ihre Lungenkraft kaum ausreichte, mußte in der Finsternis bleiben.“1 So resümierte der Schriftsteller Julius Mosen (1803–1867) eine Episode in den Erinnerungen an seine Kindheit im sächsischen Vogtland. Die Wiederentdeckung einer einst als wundertätig geltenden Marienfigur und weiterer Holzskulpturen in einer Götzenkammer unterm Dach der Kirche des ehemaligen Wallfahrtsortes Marieney bei Oelsnitz hatte im frühen 19. Jahrhundert in seinem Umfeld noch für wenig Begeisterung gesorgt. Als Sohn des örtlichen Kantors und Lehrers hatte er in dem kleinen Ort seine Schulzeit verbracht und war mit dem Kirchenschlüssel des Vaters regelmäßig in der alten Dorfkirche auf Erkundungstouren gegangen. Mosen schreibt: An die eine Seite der Kirchenwand war die Sakristei angebaut, deren Dachstuhl in einem rechten Winkel bis in den Glockenboden hinaufreichte, welcher hier mit Brettern verschlagen war. In diesen Dachboden der Sakristei hinein führte kein Zugang, auch war er nicht erleuchtet; doch befand sich in dieser Bretterwand ein Astloch; Aufforderung genug, zuweilen hineinzublicken. In dem Dach oder in der Wand mochte eine Ritze sein, durch welche ein gebrochenes Tageslicht sich hineinstahl, ohne die Finsternis erhellen zu können, doch war es meinem Auge, wenn ich recht lange hineingeschaut hatte, als sähe es undeutliche Umrisse von Figuren, welche jedoch bald in Nacht und Dämmerung wieder verschwanden. Aber einst hatte der Zufall zur günstigen Stunde mich dorthin geführt, ich blickte hinunter in den geheimnisvollen Raum, in welchen gerade ein Lichtstrahl hineinfiel, und stieß einen Freudenschrei aus, denn sichtbar stand unten mit der funkelnden Krone im goldenen, wallenden Mantel mit dem Jesuskinde auf dem Arme, die schöne Himmelskönigin.2 Der junge Mosen unterrichtete seinen Vater von der merkwürdigen Beobachtung. Die Anregung des aufklärerisch gesinnten Lehrers, die Objekte als wertvolle ‚Kunstaltertümer‘ zu bergen, stieß bei seinem Vorgesetzten zu Beginn des 1 2 J. Mosen, Erinnerungen, ed. M. Zschommler, Plauen/Vogtland 1893, S. 47–53, hier S. 52. Ebd., S. 50 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 566 Stefan Dornheim 19. Jahrhunderts allerdings auf noch wenig Verständnis. Die alsbald durch den örtlichen Pfarrer bestellten Handwerker erschienen nicht, um die entdeckte Götzenkammer zu öffnen. Vielmehr war es ihr Auftrag, das alte Bilderdepot wieder fest und blickdicht zu vernageln.3 In diesem Depot befanden sich neben der genannten spätgotischen Madonna mit dem Jesuskind4 eine Reihe weiterer Bildwerke eines inzwischen verlorenen Flügelaltarwerkes und vier Figuren einer Ölberggruppe. Eine Bergung der Figuren scheint erst Jahrzehnte nach Mosens Entdeckung geschehen zu sein. Die Literatur erwähnt sie erstmals im Jahr 1841 als noch gut erhaltene Reste eines auf die Zeit um 1507 zu datierenden Flügelaltares, der spätestens im Jahr 1751 durch ein neues barockes Altarretabel ersetzt worden war.5 Die Bildwerke blieben bis zum Abbruch der alten Dorfkirche im Jahr 1892 in derselben deponiert und wurden danach im Pächterhaus des örtlichen Gutes zwischengelagert. Erst im Jahr 1918 erfolgte eine fachwissenschaftliche Begutachtung der Objekte durch die Königliche Kommission für Kunstdenkmäler und deren Verbringung nach Dresden zu ihrer Sicherung und konservatorischen Behandlung. Im Februar 1945 wurde die Figur der heiligen Barbara, im Landesamt für Denkmalpflege auf ihre Restaurierung wartend, bei der Bombardierung der Stadt zerstört. Die Figuren der Madonna sowie der Anna Selbdritt blieben glücklicherweise erhalten und gelangten nach Kriegsende ins Vogtlandmuseum Plauen, wo sie sich bis heute befinden. (Abb. 1) Der Fall Marieney ist ein durchaus typisches Beispiel für den Umgang mit vorreformatorischer Bildkultur im frühneuzeitlichen Luthertum. Er zeigt den Willen zur Erhaltung der sakralen Bildwerke bei gleichzeitiger Umdeutung, Separierung und Tabuisierung und verweist dabei auf das bisher kaum untersuchte Phänomen sog. Götzenkammern, einer Form kirchlicher Bildnisdepots im Luthertum, welche im Folgenden als eine der vielfältigen Formen des Umgangs mit dem materiellen Bilderbe der spätmittelalterlichen Kirche näher thematisiert werden soll. Der Fall Marieney verdeutlicht zugleich die beginnende Neubewertung der Objekte in den Jahrzehnten um 1800 als erhaltenswerte ‚Kunstaltertümer‘ von historischem und künstlerischem Wert, welche neben den Funden des ‚klassischen‘ Altertums vor 3 4 5 Vgl. ebd. Die 125 cm hohe Madonna entstand in der Zeit um 1500 zusammen mit dem einst zugehörigen Flügelaltarretabel in einer vermutlich in Hof ansässigen Werkstatt, der bisher kein Name zugeordnet werden konnte; weiterführend G. Hummel, Julius Mosen und die alte Marieneyer Dorfkirche, in: Heimatbote 40 (1994), H. 2, S. 74–78; G. Werner (Red.), Mittelalterliche Kunstwerke. Kat., Saalfeld/Saale 1977, S. 22; R. J. Hartenstein, Eine Hofer Altarwerkstatt um 1500, in: MVVGA 40 (1937), S. 45–60. Vgl. R. Steche, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, H. 10: Amtshauptmannschaft Oelsnitz, Dresden 1888, S. 9 f. (Marieney). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 567 Götzenkammern Abb. 1: Unbekannter Meister aus Hof, Madonna aus Marieney. Lindenholz, um 1500 [Vogtlandmuseum Plauen, Inv.-Nr. V 4459, Foto: Steve Schneider]. dem Hintergrund erwachender nationalpatriotischer Ideen nun zunehmend eine neue Wertschätzung erfuhren. In der Verknüpfung kulturgeschichtlicher und religionsethnologischer Perspektiven mit Ansätzen der historischen Bildkunde6 und der materiellen Kultur geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, wie sich im frühneuzeitlichen lutherischen Protestantismus der Umgang mit altgläubigen Bild-, Symbol- und Sakralitätskonzepten entwickelte.7 Die inzwischen relativ gut erforschte Ebene der zeitgenössischen theoretischen Diskurse und Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, Lutheranern und Calvinisten um den ‚richtigen‘ 6 7 Zur Methodendiskussion vgl. unter anderem C. Maar / H. Burda (Hgg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004; H. Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; H. Talkenberger, Von der Illustration zur Interpretation. Das Bild als Historische Quelle. Methodische Überlegungen zur Historischen Bildkunde, in: ZHF 21 (1994), S. 289–313; O.-G. Oexle (Hg.), Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch (GGG 4), Göttingen 1997; K.-H. Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003. Vgl. U. Köpf, Protestantismus und Heiligenverehrung, in: P. Dinzelbacher / D. R. Bauer (Hgg.), Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, Ostfildern 1990, S. 320–344. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 568 Stefan Dornheim Bildgebrauch bildet dabei die Basis und Kontext für eine weiterreichende Fokussierung auf den tatsächlichen praktischen Umgang mit kirchlichen Ausstattungen und sakralen Objekten in den lutherischen Gebieten Mitteldeutschlands zwischen Reformation und Spätaufklärung.8 Angeregt wurde dies unter anderem durch die neuere Forschungsperspektive der materiellen Kultur,9 welche Objekte als semiotische Zeichen und Bedeutungsträger begreift, die mit Sinn aufgeladen, aber auch neutralisiert oder umcodiert werden können und mitunter eine eigene Macht entfalteten, die es seitens der Theologen zu disziplinieren galt.10 Der Blick richtet sich dabei nicht wie so häufig allein auf Wittenberg und den Bildersturm Andreas Bodensteins/Karlstadt (1486–1541), an dem sich die damaligen Diskussionen maßgeblich entzündeten und der bis heute in der Forschung eine prominente Rolle spielt. Vielmehr wird nun auch die Situation in den kleineren Stadt- und Dorfkirchen des lutherischen Mitteldeutschland untersucht, wo sich – soweit mit dem Blick auf das zu untersuchende Material die Vermutung – breitenreligiöse Beharrungskräfte, Kontinuitäten, Kompromisswille und nur langsamer Wandel beobachten lassen.11 Nicht zuletzt entwickelte sich im Luthertum ein besonderes kulturhistorisches Phänomen, welches der 8 Vgl. hierzu I. Dingel, „Dass wir Gott in keiner Weise verbilden.“ Die Bilderfrage zwischen Calvinismus und Luthertum, in: A. Wagner / V. Hörner / G. Geisthardt (Hgg.), Gott im Wort – Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bedingung des Monotheismus?, Neukirchen-Vluyn 2005, S. 97–112; C. Göttler, Die Disziplinierung des Heiligenbildes durch altgläubige Theologen nach der Reformation. Ein Beitrag zur Theorie des Sakralbildes im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, in: R. W. Scribner (Hg.), Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (WF 46), Wiesbaden 1990, S. 263–298. 9 Zentral für das vorliegende Thema sind dabei insbesondere K.-H. Kohl, Macht (wie Anm. 6); S. Laube, Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011; C. Jäggi / J. Staecker (Hgg.), Archäologie der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle Kultur (AKG 104), Berlin/New York 2007. 10 Vgl. H. Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 52000, S. 11–28; C. Göttler, Disziplinierung (wie Anm. 8). 11 Vgl. dazu die Arbeiten von S. R. Boettcher, Von der Trägheit der Memoria. Cranachs Lutheraltarbilder im Zusammenhang der evangelischen Luther-Memoria im späten 16. Jahrhundert, in: J. Eibach / M. Sandl (Hgg.), Protestantische Identität und Erinnerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR (FdE 16), Göttingen 2003, S. 47–69; G. Wartenberg, Bilder in den Kirchen der Wittenberger Reformation, in: J. M. Fritz (Hg.), Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen Kirchen, Regensburg 1997, S. 19–33; G. Seebass, Mittelalterliche Kunstwerke in evangelisch gewordenen Kirchen Nürnbergs, in: ebd., S. 34–53; E. Wolgast, Die Reformation im Herzogtum Mecklenburg und das Schicksal der Kirchenausstattungen, in: ebd., S. 54–70; M. Wandersleb, Luthertum und Bilderfrage im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel und in der Stadt Braunschweig im Reformationsjahrhundert, in: JGNKG 66 (1960/61), ND 1996. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 569 Götzenkammern zeitgenössische Begriff „Götzenkammer“ beschreibt:12 die Verbergung theologisch problematisch gewordener sakraler Objekte (Figuren, Bildnisse, Reliquien etc.) in speziellen, mehr oder minder unzugänglichen Räumen der Kirchengebäude. Bildnisse und sakrale Objekte wurden durch Theologen aus dem öffentlichen kirchlichen Sicht- und Handlungsfeld herausgenommen und gewissermaßen in ‚Schutzhaft‘ gesetzt vor ikonoklastischem Eifer einerseits und falschverstandener Verehrung andererseits. Durch diese sich verstetigenden Provisorien, welche die weithin indifferente Haltung der Lutheraner zu den sakralen Bildern verdeutlichen, war es möglich, sich im öffentlichen Raum problematisch gewordener vorreformatorischer Bildprogramme zu entledigen, ohne die mitunter materiell wie ideell wertvollen Objekte zu zerstören oder zu veräußern. Zugleich lassen sich erste Formen prämusealer Bewahrungs- und Historisierungsstrategien erkennen, die für die spezifisch lutherische Erinnerungskultur durchaus typisch sind.13 Geradezu idealtypisch und quellenmäßig gut dokumentiert und auch in ihrem untersuchbaren Bestand an Objekten weitgehend erhalten sind die Götzenkammern des Domes in Freiberg und der Marienkirche in Zwickau.14 Dokumentiert, wenn auch inzwischen verloren sind, neben St. Jacobi in Wilsdruff, die Götzenkammern der Kreuzkirche in Dresden und in der St. Annenkirche zu Annaberg, welche neben Bildnissen auch bedeutende Reliquiensammlungen enthielten. Während die Dresdner Götzenkammer unter anderem mit der bedeutenden Kreuzreliquie 1760 kriegsbedingt einem Brand zum Opfer fiel, wurden die Reliquien des sog. „großen Annaberger Heiligthums“ erst Mitte des 17. Jahrhunderts durch den Superintendenten Georg Seidel (1604–1675) „an einem verborgenen Orte“ beigesetzt, „damit das Volk welches ohnehin dem Aberglauben sehr geneigt, dieselben nicht mehr sehen und sich daran ärgern sollte“.15 Aus den Götzenkammern 12 J. Grimm / W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 8 = Bd. 4, Abt. 1, T. 5: Glibber–Gräzist, München 1999 [fotomechanischer ND der Erstausgabe 1958], Sp. 1461: „kirchlicher Raum zur Aufbewahrung alter Heiligenbilder und zerstörter kirchlicher Requisiten“. Vgl. auch die online-Version dieses Wörterbuchs (und Stichworts): http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/ WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG24172#XGG24172 (letzter Zugriff am 20.2.2020). 13 Vgl. S. Dornheim, Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis. Lutherische Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit zwischen Religion und sozialer Kohäsion (SSGV 40), Leipzig 2013, S. 45–79 sowie 201–254. 14 Vgl. E. Fabian, Der erste Versuch, in Zwickau ein Museum zu errichten, in: MAVZ 11 (1914), S. 1–13; Im Himmel zu Hause. Christliche Kunst zwischen Gotik und Barock, hrsg. von den Kunstsammlungen Zwickau, Zwickau 2011; G. F. Klemm / H. von Friesen, Zweiter Bericht über die Begründung eines Museums vaterländischer Alterthümer und Kunstwerke in den Kreuzgängen des Doms zu Freiberg, Dresden 1838. 15 R. Wolfram, Von dem großen Heiligthum der St. Annenkirche zu Annaberg, in: ASG 1 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 570 Stefan Dornheim in den Dachböden von St. Jacobi in Wilsdruff oder der Dorfkirche in Otzdorf bei Roßwein hingegen sind vorreformatorische Figurengruppen überliefert, welche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Sammel- und Dokumentationsinteresse des Dresdner Altertumsvereins weckten. Der Idee der Götzenkammer der großen Kirchen folgend, aber doch um Einiges schlichter, gestaltet sich die Situation in vielen Dorfkirchen, wo sich häufig in einem Verschlag hinter der Orgel oder in Truhen auf dem Dachboden vorreformatorische Bildnisse deponiert fanden, wie die Auswertung der Archivalien des Sächsischen Altertumsvereins und der umfassenden bau- und kunsthistorischen Inventarwerke für Sachsen und Thüringen für bestimmte Regionen zeigt.16 Innerhalb des 1825 in Dresden gegründeten Sächsischen Altertumsvereins hatte sich nach der Aufsehen erregenden Öffnung der Götzenkammer des Freiberger Domes seit den späten 1830er Jahren eine regelrechte Entdeckungs- und Dokumentationseuphorie entfaltet, wie die durch den Verein geführten Briefwechsel und Registerbände belegen.17 Landesweit wurden nun Stadt- und Dorfkirchen durch eifrige Vereinsmitglieder auf der Suche nach Depots vorreformatorischer Sakralgegenstände systematisch durchstreift. So konnten im Königreich Sachsen um 1840 bereits mehr als 55 Depots mit Marien- und anderen Heiligenfiguren, vor allem in Dachboden- und Kirchturmkammern, in ehemaligen Sakristeien oder hinter Orgeln, teils aber auch auf Rathausböden und in alten Stadttürmen registriert werden.18 Superintendenten, Ortspfarrer, Lehrer, Stadträte oder ansässige Adlige wurden zwecks Erteilung näherer Auskünfte angeschrieben und gegebenenfalls zu Konsultationen herangezogen, wie vorgefundene ‚Kunstaltertümer‘ vor Ort besser aufgestellt und erhalten werden könnten. Vor allem in vielen ländlichen Regionen fanden die neuartigen Ideen vom künstlerischen und historischen Wert der spätmittelalterlichen Bildwerke erst durch jene Aktionen eine erstmalige Verbreitung. (Abb. 2) (1863), S. 229–235, hier S. 235; A. Tacke (Hg.), „Ich armer sündiger Mensch.“ Heiligenund Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter (Schriftenreihe der Stiftung burg 2), Göttingen 2006. 16 Vgl. R. Steche / C. Gurlitt (Hgg.), Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, 41 Hefte, Dresden 1882–1923; P. Lehfeldt / G. Voss (Red.), Die Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, 24 Teilbde., Jena 1888–1928; Beschreibende Darstellung der Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, hrsg. von der Historischen Kommission der Provinz Sachsen und des Herzogtums Anhalt, 33 Teilbde., Halle/Berlin/Magdeburg 1879–1923. 17 Vgl. HStA Dresden, Bestand Sächsischer Altertumsverein 12508, Sign. Nr. 58 Memento Registrande 1840, sowie Nr. 072 bis 074 Erfassung von Altertümern 1847–1851. 18 Vgl. ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 571 Götzenkammern Abb. 2: Pietà und Christusfragment aus dem Bilderdepot der Kirche in Rosendorf bei Neustadt an der Orla, Bergungszustand um 1930 [Stadtarchiv Neustadt an der Orla, Sammlung Dr. Karl Ehrlicher, unerschlossen, Foto: Karl Ehrlicher]. Die bei diesen Bergungen häufig erstellten Inventarlisten und schriftlichen Mitteilungen erlauben Einblicke in die Anzahl und die Art der verschiedenen deponierten Objekte. Während es sich bei kleineren Dorfkirchen meist um Teile einstiger spätgotischer Flügelaltäre oder einzelne Figuren oder Figurengruppen jener Zeit handelte, so lassen die Götzenkammern großer städtischer Kirchen wie etwa die in Freiberg oder Zwickau mit ihrer Fülle an Objekten aus verschiedenen Zeiten mit Vorsicht eine Art Nutzungsgeschichte dieser Bilderdepots zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert rekonstruieren.19 Die Götzenkammern füllten sich demnach schrittweise in mehreren Phasen. Im 16. Jahrhundert waren es in einer ersten Welle vor allem unter Idolatrieverdacht stehende Bildwerke und Teile funktionslos gewordener Nebenaltäre, welche ihren Platz den nun vielerorts geplanten Kirchenstuhl- und Emporeneinbauten zu überlassen hatten. Das protestantische Gottesdienstideal, nach dem eine Gemeinde möglichst vollzählig und regelmäßig einer ausführlichen Predigt folgen sollte, 19 Vgl. die Inventarliste der Götzenkammer im Dom zu Freiberg aus dem Jahr 1836 in: HStA Dresden, Bestand Sächsischer Altertumsverein 12508, Signatur Nr. 316 Freiberger Dom-Kreuzgänge, fol. 19 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 572 Stefan Dornheim stellte neue praktische Anforderungen an den Kirchenraum. Die Veränderung von Todes- und Jenseitsvorstellungen im Zusammenhang mit Luthers (1483–1546) Rechtfertigungslehre und die Ablehnung der Vorstellung von der ‚Gerechtigkeit der Guten Werke‘ initiierten einen fundamentalen Wandel der Memorialkultur und des Stiftungswesens20 und führten zu einem Wegfall21 bzw. zu einem strukturellen Wandel diesbezüglicher Aufträge an entsprechende Werkstätten und Künstler.22 Ähnliche Folgen ergaben sich aus der geminderten Bedeutung der Heiligenverehrung. Die sukzessive Umgestaltung der lokalen sakralen Topografien und Kirchenräume hob folglich alte symbolische Bezugssysteme auf oder deutete sie um. So verschwand etwa sukzessive die Vielfalt der auf einzelne Heilige bezogenen Nebenaltäre aus den Kirchenräumen und die Kanzel rückte als Symbol und neue repräsentative Gestaltungsaufgabe stärker in den Mittelpunkt des Kirchenraumes und des nicht mehr ritual-, sondern nunmehr wortzentrierten evangelischen Gottesdienstes.23 Luther selbst hatte vor diesem Hintergrund bereits zur Zeit der Frühreformation wichtige Hinweise zum Bildgebrauch gegeben, welche auch für die meisten seiner Nachfolger als Richtschnur ihres Handelns galten. Sein anfangs noch heftigerer bildkritischer Tonfall milderte sich unter dem Eindruck aktueller ikonoklastischer Ereignisse vor dem Hintergrund des Bauernkrieges und der Auseinandersetzungen mit den radikaleren Anschauungen und Vorgehensweisen um Karlstadt, Calvin (1509–1564) oder die Täuferbewegung.24 Ihnen sollte bewusst ein moderates und geordnetes Vorgehen entgegengestellt werden, bei dem lediglich problematische oder überflüssige Bilder ab- und unter Verschluss genommen werden konnten, aber möglichst nicht zerstört werden sollten. 20 Vgl. B. Jussen / C. Koslofsky (Hgg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600 (VMPIG 145), Göttingen 1999; C. Koslofsky, From Presence to Remembrance. The Transformation of Memory in the German Reformation, in: A. Confino / P. Fritzsche (Hgg.), The Work of Memory. New Directions in the Study of German Society and Culture, Urbana/Chicago 2002, S. 25–38; Ders., The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Modern Germany, 1450–1700 (Early Modern History: Society and Culture), Houndmills/Basingstoke/Hampshire/London 2000. 21 So etwa Seitenaltäre, Heiligenbilder, Reliquiare und Monstranzen, vgl. A. Tacke (Hg.), Heiligen- und Reliquienkult (wie Anm. 15). 22 Vor allem die Grabmale der Geistlichen und Honoratioren, Stifterepitaphien, Altarbilder. 23 Vgl. H. Belting, Bild und Kult (wie Anm. 10); T. Lentes, Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation, in: R. Hoeps (Hg.), Handbuch der Bildtheologie, Bd. 1: Bild–Konflikte, Paderborn/München/Wien/Zürich 2007, S. 213–240. 24 Vgl. H. Feld, Der Ikonoklasmus des Westens (SHCT 41), Leiden/New York/København/ Köln 1990, S. 122 ff.; B. Heal, A Magnificent Faith. Art and Identity in Reformation Germany, Oxford 2017, S. 268 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 573 Götzenkammern Im Falle fortwährender Idolatrie empfahl sich die Entfernung der aus protestantischer Sicht durch ihre falsche Behandlung zu Abgöttern bzw. Götzen verkommenen Bilder aus dem Kirchenraum und ihr Verschluss an einem uneinsehbaren und unzugänglichen Ort. Eine solche Entfernung hatte nach Ansicht der Wittenberger Reformatoren möglichst im Konsens mit der lokalen weltlichen Obrigkeit geordnet und ohne ikonoklastischen Eifer vor sich zu gehen.25 In den Kirchendepots wurden die aus dem liturgischen Raum und Gebrauch herausgelösten Bildnisse mit der Zeit zu historischen Gegenständen lutherischer Identitätsbildung und Erinnerungskultur. Anhand der Objekte ließen sich sinnbildlich und visuell erlebbar die Grundideen und der Verlauf der lutherischen Reformation vor Ort ebenso erläutern wie die Grenzlinien zu den konfessionellen Gegnern: den idolatrieaffinen Katholiken einerseits und den ikonoklastisch gesinnten Calvinisten und Täufern andererseits. So geschah es etwa in den frühneuzeitlichen Chroniken und Städtebeschreibungen Zwickaus, Freibergs und Dresdens. Die historischen Narrative zur lokalen Einführung der Reformation verbanden sich in diesen Städten eng mit der Beschreibung der geordneten Entfernung verehrter ‚papistischer‘ Bildwerke und Reliquien.26 Der performative Akt ihrer Entfernung und Disziplinierung scheint zumindest für die städtische konfessionelle Erinnerungskultur als Gründungsmythos nicht minder bedeutsam gewesen zu sein als die erste lutherische Predigt oder die Einführung des Abendmahls in beiderlei Gestalt. Es scheint naheliegend, dass die Bildnisdepots auch der regelmäßig in unmittelbarer Nähe auf den Kirchenemporen probenden und singenden Schuljugend durch den Pfarrer oder den Lehrer und Kantor in diesem Sinne gezeigt und erläutert wurden. Konfessionspolemisch ausgeschmückte Legenden über die Existenz mechanisch manipulierter Bildwerke, mit denen die ‚Papisten‘ einst das leichtgläubige Volk in die Irre geführt und betrogen hätten, waren in der 25 Vgl. ebd., S. 270 ff.; P. Knüvener, Was bleibt? Was kann weg? Die Umwandlung mittelalterlicher Kirchenausstattungen nach Einführung der Reformation in Brandenburg und in den Lausitzen, in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.), Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (SBVL 20), Berlin 2017, S. 362–389; H. Jaddatz, dann drei altaria on bild genug sein. Die Veränderung spätmittelalterlicher Kirchenausstattungen durch die Wittenberger Reformation, in: U. Siewert (Hg.), Die Stadtpfarrkirchen Sachsens im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Bausteine ISGV 27), Dresden 2013, S. 165–178. 26 Vgl. T. Schmidt, Chronica Cygnea, Oder Beschreibung Der sehr alten / Löblichen / und Churfürstlichen Stadt Zwickaw […], Bd. 1, Zwickau 1656 (VD17 23:235985G), S. 51–77 sowie 377–382; A. Moller, Theatrum Freibergense Chronicum, Beschreibung der alten löblichen BergHauptStadt Freyberg in Meissen […], Freiberg 1653 (VD17 23:238100M), S. 58 f.; P. C. Hilscher, Etwas zu der Kirchen=Historie in Alt=Dreßden […], Dresden/Leipzig 1721, S. 17. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 574 Stefan Dornheim Bevölkerung noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein lebendig. So habe es etwa in der Götzenkammer von St. Marien in Zwickau die Figur eines ‚nickenden Mönchs‘ gegeben und eine Pietà habe durch Löcher in den Augen und eingefülltes Wasser im ausgehölten Hinterkopf künstliche Tränen weinen können – Narrative, die man auch der Pietà der Gottesackerkirche des thüringischen Pößneck27 und Marienfiguren in Eilenburg und im niederlausitzischen Mochow nachsagte. Erste konservatorische Untersuchungen der Objekte verwiesen diese volksläufigen Überlieferungen bereits im 19. Jahrhundert in den Bereich der Legende.28 Gut möglich, dass die Implementierung solch entlarvender protestantischer ‚Predigermärlein‘ helfen sollte, die Fama bestimmter Heiligenfiguren besonders zu diskreditieren und ins Negative umzudeuten – hatte die Bevölkerung mit ihnen bis zur Einführung der Reformation doch mitunter vielfältige Mirakel- und Heilungserzählungen verbunden.29 Zumindest die vier genannten Bildwerke galten vor der Reformation als mirakulöse Gnadenbilder. Es waren gewissermaßen sakralisierte Objekte, welche es zu entsakralisieren galt, indem man die mit ihnen verbundenen Geschichten öffentlich und möglichst glaubhaft diskreditierte und publikumswirksam gegen neue Narrative austauschte. Wie Karl-Heinz Kohl in seiner Theorie sakraler Objekte verdeutlicht, bekommen materielle Gegenstände ihre Sakralität in der Regel erst durch den breiten Konsens einer sozialen Gruppe zugesprochen oder aber auch abgesprochen.30 In diesem Sinne lassen sich auch 27 Die Figur befindet sich heute im Germanischen Museum Nürnberg. 28 Vgl. O. Langer, Über drei Kunstwerke der Marienkirche zu Zwickau: den Altar, die Beweinung Christi und das Heilige Grab, in: MAVZ 12 (1919), S. 75–101; K. Ernst, Das Pößnecker Vesperbild aus der Gottesackerkirche, in: Pößnecker Heimathefte 22 (2016), H. 1, S. 10–13. Für den freundlichen Hinweis auf das Mochower Marienbildnis danke ich Frau Corinna Juncker vom Museum Lübben. Vgl. dazu auch G. Lohde, Vergessene Wallfahrtsorte im Kreise Lübben, in: Lübbener Kreiskalender 1935, S. 82 f.; zu Eilenburg ausführlich S. Bräuer, Wallfahrt in reformationsgeschichtlicher Perspektive. Forschungsgeschichte und Desiderata, in: J. Hrdina / H. Kühne / T. T. Müller (Hgg.), Wallfahrt und Reformation – „Pouť a reformace“. Zur Veränderung religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen der Frühen Neuzeit (Europäische Wallfahrtsstudien 3), Frankfurt a. M. 2007, S. 29–62, hier S. 53–55. 29 Vgl. weiterführend J. Tripps „Denn man sieht weder Schnur noch Draht … so dass es wie Zauberei erscheint“. Handelnde Bildwerke in Sachsen um 1500, in: E. Bünz / H. Kühne (Hgg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“ (SSGV 50), Leipzig 2014, S. 715–734; W. Brückner (Hg.), Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradition und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Berlin 1974; vgl. vor allem Ders., Historien und Historie, Erzählliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts als Forschungsaufgabe, in ebd., S. 13–123. 30 Vgl. K.-H. Kohl, Macht (wie Anm. 6), S. 151–162. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 575 Götzenkammern öffentliche Aktionen gegen einst weithin bekannte Gnadenbilder und sich mit ihnen verbindende Wallfahrten verstehen, denen dabei die kollektive Anerkennung entzogen werden soll. So hatte man etwa das genannte Eilenburger Gnadenbild nach einer skandalisierenden Predigt aus der Kirche auf den Markt schaffen lassen, um der versammelten Menge öffentlich den ‚papistischen‘ Betrug und die Wirkungslosigkeit des Bildnisses zu demonstrieren und es anschließend zu zerschlagen. Die Aktion wurde später ausführlich in der lutherischen Stadt- und Landeschronistik beschrieben und damit als ein zentraler Topos der Eilenburger Reformationsgeschichte stilisiert und auf Dauer gestellt. Ähnliches geschah mit dem Gnadenbild aus Eichen bei Mühlhausen.31 Über das vermeintlich präparierte Marienbild dieses überregional bekannten Wallfahrtsortes, der übrigens nach einer Zwangsumsiedelung der Bevölkerung mitsamt der Kirche um 1588 geschlossen und später abgerissen wurde, berichtet um 1571 der Mühlhausener Superintendent Johannes Petreius (ca. 1518–1574) im Vorwort eines durch ihn als Nachdruck herausgegebenen vorreformatorischen Pilgerführers aus dem Jahr 1491, den er in seiner vorausgegangenen Zwickauer Amtszeit entdeckt und mitgebracht hatte. Petreius argumentierte in der Vorrede, es wäre notwendig, alte Mess- und Legendenbücher, Breviere und sonstige Dinge und Beweismittel in den Kirchen und Bibliotheksräumen zu sammeln und für die Nachwelt aufzubewahren, damit die Erinnerung an den einstigen Betrug und die Abgötterei des Papsttums in der Bevölkerung nicht verblasse, was inzwischen leider schon zu beklagen sei.32 Petreius war zuvor durch den über Jahre schwelenden Streit um die durch ihn propagierte Beseitigung des großen Zwickauer Marienaltars aufgefallen, bei dem er sich letztlich dem Mehrheitswillen beugen musste und die Stadt schließlich verließ.33 Ob die Entstehung der Götzenkammer in St. Marien in Zwickau auf eine Initiative von Petreius zurückzuführen ist, muss derzeit mangels direkter Belege noch Vermutung bleiben. Die Einrichtung derartiger Depots wird zumindest von Petreius publizistisch gefordert und als Idee verbreitet. Dass 31 Vgl. S. Bräuer, Wallfahrt (wie Anm. 28), S. 40 f., 52–55; J. Petreius, Ablas Buechlein. Erzelunge des Heilthumbs / Gnade vnd Ablaß / aller Kirchen in Rom / Ein altes Buechlein fur 90. Jharn zu Rom Lateinisch / vnd hernachmals zu Nuernberg Deutzsch ausgangen. Jetzt aber zu dienst fromer Christen / auffs new gedruckt. Mit einer Vorrede Johannis Petreij / Superattendenten zu Muelhausen, Mühlhausen 1571 (VD16 I 182), Vorrede (unpag.) [Exemplar der FB Gotha]. 32 Vgl. S. Bräuer, Wallfahrt (wie Anm. 28), S. 40 f. 33 Vgl. O. Langer, Der Kampf des Pfarrers Johann Petrejus gegen den Wohlgemuth’schen Altar in der Marienkirche, in: MAVZ 11 (1914), S. 31–49; S. Bodechtell (Red.), Der Zwickauer Wolgemut-Altar. Beiträge zu Geschichte Ikonographie, Autorschaft und Restaurierung (Arbeitshefte LfDS), Görlitz/Zittau 2008. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 576 Stefan Dornheim die Götzenkammern in Dippoldiswalde und vermutlich auch in Freiberg die Räume der einstigen Kirchenbibliotheken nutzten und die Bildwerke teils mit den vorreformatorischen Buchbeständen zusammen lagerten, sodass die ehemals sakralen Bildwerke gewissermaßen von Objekten des Kultes zu Gegenständen des Wissens und der Geschichte umgedeutet worden waren, scheint die Verbreitung von Petreius’ Idee zu bestätigen. Der lutherische Umgang mit der vorreformatorischen Bildkultur gestaltete sich in der Praxis zeitlich und regional dennoch sehr differenziert. Veränderungen von Kirchenausstattungen ergaben sich meist aus Initiativen einzelner lokaler Akteure, in der Regel der örtlichen Pfarrer, welche sich mit den Ansichten und Interessen ihrer Kollatoren und Gemeinden auseinanderzusetzen hatten. Amtskirchliche Vorgaben, etwa im Rahmen der evangelischen Kirchenordnungen, gab es kaum. Luther selbst hatte die Bilder als Mitteldinge (Adiaphora) eingeordnet, welche nichts nutzten, aber auch nicht schadeten und häufig noch didaktisch als Mittel der Belehrung dienen konnten. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurde die eigene Bildkultur zunehmend im entstehenden konfessionellen Selbstverständnis der Lutheraner verankert. Der demonstrative disziplinierte Gebrauch von tradierten Zeremonien und Bildern wurde bald zu einem wahrnehmbaren konfessionellen Marker kultiviert, mit dem sich die Lutheraner gegenüber der Radikalität der Täuferbewegung und der Calvinisten zu unterscheiden suchten.34 Die Bilder dienten aber nicht nur als Symbole konfessioneller Abgrenzungen. Vielmehr galten sie auch als notwendiger Teil religiöser Erfahrung. Die lutherische Begeisterung gegenüber dem Hören des Gotteswortes führte nicht unmittelbar zu einer völligen Ablehnung der Bedeutung von Bildwerken und Monumenten. Die Bedeutung innerer (spiritueller) und äußerer (materieller) Bilder für das menschliche Vorstellungs-, Erkenntnis- und Erinnerungsvermögen wurde frühzeitig auch im Rahmen humanistischer und bildungstheoretischer Diskurse reflektiert. Die Bildlichkeit war nach wie vor ein wichtiger Teil frühneuzeitlicher lutherischer Frömmigkeit. Die disziplinierte Benutzung aller Sinne, insbesondere des Hörens und Sehens, sollte einen Zugang zur Erfahrung des Göttlichen vorbereiten.35 34 Vgl. B. Heal, Magnificent Faith (wie Anm. 24), S. 43–73; S. Wegmann, Der sichtbare Glaube. Das Bild in den lutherischen Kirchen des 16. Jahrhunderts (SMHR 93), Tübingen 2016, S. 199 ff.; für den thüringischen Raum ausführlich M. Sladeczek, Vorreformation und Reformation auf dem Land in Thüringen. Strukturen – Stiftungswesen – Kirchenbau – Kirchenausstattung (QFThZR 9), Köln/Weimar/Wien 2018, S. 436–554. 35 Vgl. B. Heal, Magnificent Faith (wie Anm. 24), S. 268 ff.; T. Lentes, Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: K. Schreiner (Hg.) / M. Müntz (Mitarb.), Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 577 Götzenkammern Im populären Bewusstsein ebenso wie in der kulturwissenschaftlichen Forschung galt der lutherische Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts aufgrund seiner konfessionellen Festlegungen lange Zeit als bilder- und brauchtumsfeindlich. So nahm man an, dass sich in den lutherischen Kirchen von sich aus keine eigenen religiösen Darstellungsformen und darauf bezogene Zuwendungs- und Umgangspraxen (etwa in Form emotionaler Hinwendung und Verehrung, sog. ‚Bräuche‘) entwickeln und verbreiten konnten. Zeitweise sprach man – so etwa Reinhard Raffalt (1923–1976) – sogar von der ‚Fastenzeit der christlichen Kultur‘. Das Entfernen der Bilder aus den Kirchen wurde zu einem äußerlichen, weithin sichtbaren Konfessionsmerkmal, so Irene Dingel, das den theologischen Laien eine unkomplizierte konfessionelle Selbstverortung bot und für die Herausbildung und Festigung bekenntnismäßiger Identitäten ausschlaggebend wurde.36 So wundert es nicht, dass sich auch die historische und volkskundliche Forschung bis nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mit Fragen spezifisch protestantischer Religiosität und Alltagskultur befasste.37 Der älteren Forschung war neben wenigen kontrastiven Untersuchungen zwischen katholischer und protestantischer Kultur von Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897)38 allerdings auch schon das Kuriosum des Fortbestehens vorreformatorischer Gebräuche und Anschauungen in der evangelischen Popularkultur aufgefallen.39 Das protestantische Selbstbild des 19. Jahrhunderts bestätigende und die Konfessionen kontrastierende historische Phänomene, wie die sog. Bilderstürme des 16. Jahrhunderts, fanden 36 37 38 39 Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 179–220. Vgl. I. Dingel, Bilderfrage (wie Anm. 8), S. 111. Vgl. hier vor allem die Arbeiten von W. Brückner, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, Berlin 1966; Ders. / W. Braun (Mitarb.), Einführung in die Ausstellung Bildwelt und Glaube. Volkstümliche Kulte und Verehrungsformen, Frankfurt a. M. 1957; Ders., Volkskunde als historische Kulturwissenschaft, T. 10: Frömmigkeit und Konfession. Verstehensprobleme, Denkformen, Lebenspraxis (VVK 86), Würzburg 2000; sowie R. W. Scribner, Volkskultur und Volksreligion: zur Rezeption evangelischer Ideen, in: P. Blickle / A. Lindt / A. Schindler (Hgg.) / H. R. Schmidt (Red.), Zwingli und Europa, Zürich 1985, S. 151–161; Ders., Ritual and Popular Belief in Catholic Germany at the Time of the Reformation, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London/Ronceverte 1987, S. 17–47; Ders., The Reformation, Popular Magic and the „Disenchantement of the World“, in: JIH 23 (1993), S. 475–494. Vgl. W. H. Riehl, Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859. Vgl. R. Andree, Katholische Überlebsel im evangelischen Volke, in: Zf V 21 (1911), S. 113– 125; N. A. Bringéus, Volkstümliche Bilderkunde. Formale Kennzeichen von Bildinhalten, München 1982. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 578 Stefan Dornheim hingegen bis heute reges und wiederholtes Interesse40 – ganz im Gegensatz zu den im Luthertum wohl weitaus häufigeren Tendenzen der Beharrung, der Kontinuität, des Kompromisses und des sanften Wandels in der Bilderfrage.41 Bei aller Wertschätzung des Wortes war bereits Luther in seiner Argumentation gegen den Bilderstürmer Karlstadt davon überzeugt, dass menschliches Denken und Erkennen auf Bilder angewiesen sei. Bilder, kirchliche Ornamentik und Ausstattung seien zwar für das menschliche Heil nicht zwingend notwendig und dem Ermessen des Einzelnen freigestellt. Dennoch betont Luther, dass bilder aus der schrifft und von guten Historien sehr nützlich seien.42 „Die zunehmende Wertschätzung der Künste im Allgemeinen und der Bilder als pädagogischer und didaktischer Hilfsmittel im Besonderen“ sei, so Thomas Kaufmann, „weitergeführt, kultiviert und lebenspraktisch umgesetzt“ worden.43 Auch Thomas Lentes betonte, wie seit dem Spätmittelalter der Augensinn und das von ihm ausgeprägte innere Bildgedächtnis als wichtige theoretische Grundlage der Bildung erkannt wurden.44 Auch die weitgehende Toleranz, ja gar ein gesteigertes – wenn auch selektives – Interesse lutherischer Theologen an volkskultureller Bildlichkeit im Brauchtum, Erzähl- und Liedgut scheint sich unter anderem dieser bildungstheoretischen Einsicht zu verdanken.45 Bilder hatten als Mitteldinge (Adiaphora) die Aufgabe historisch-didaktischer Lehrvermittlung, der Verschönerung sowie heils- und eigengeschichtliche Erinnerung zu stiften. Neben solchen Phänomenen des Wandels sollte die starke Beharrungskraft tradierter Vorstellungen, Symbole und Deutungsmuster jenseits der theologisch 40 Vgl. N. Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm, Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996; S. Michalski, Die Ausbreitung des reformatorischen Bildersturms 1521–1537, in: C. Dupeux / P. Jezler / J. Wirth (Hgg.), Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Kat. zur Ausstellung, Bern/Straßburg 2000, S. 46–51, hier S. 50; Ders., Das Phänomen Bildersturm. Versuch einer Übersicht, in: R. W. Scribner (Hg.), Bilder und Bildersturm (wie Anm. 8), S. 69–124. 41 Vgl. B. Welzel, Die Vertreibung der Heiligen und die Folgen für die Bilder, in: S. Wegmann / G. Wimböck (Hgg.), Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums in der Frühen Neuzeit (SKGMFN 3), Korb 2007, S. 365–379; C. Jäggi / J. Staecker (Hgg.), Archäologie der Reformation (wie Anm. 9). 42 M. Luther, Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis. 1528, in: WA, Bd. 26, Weimar 1909, S. 241–509, hier S. 509. 43 T. Kaufmann, Die Bilderfrage im frühneuzeitlichen Luthertum, in: P. Blickle / A. Holenstein / H. R. Schmidt / F.-J. Sladeczek (Hgg.), Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte (HZ Beiheft NF 33), München 2002, S. 407–454, hier S. 416 mit vielen Nachweisen. 44 Vgl. T. Lentes, Inneres Auge (wie Anm. 35). 45 Vgl. W. Brückner, Historien und Historie (wie Anm. 29), S. 13–110. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 579 Götzenkammern gebildeten amtskirchlichen Eliten im Bereich der Breitenreligiosität nicht außer Acht gelassen werden. Jüngere Untersuchungen zum Wandel von Memorial-, Ritual- und Sakralitätskonzepten in der Frühen Neuzeit haben hier beachtliche Ungleichzeitigkeiten und Differenzen in der Deutung von Bildern und Symbolen festgestellt.46 So hat sich etwa jenseits der reformatorischen Zentren in vielen Dorf- aber auch Stadtkirchen Mitteldeutschlands das vorreformatorische Inventar bis zur Gegenwart erhalten. Luthers Adiaphora-Postulat, wonach die Bildwerke als Mitteldinge nichts nützten, aber auch nicht schadeten und meist noch der Belehrung dienen könnten, hat diesen Freiraum eröffnet.47 Dem Vorkommen verschiedener Bilderstürme stehen viele Fälle gegenüber, bei denen sich soziale Gruppen, trotz Zustimmung zur neuen Lehre, geradezu weigerten, sich von ihren Bildwerken zu trennen, welche mitunter jahrhundertelang ein ebenso vielfältiges wie ambigues Spektrum an Funktionen für die Gemeinschaft erfüllten und oft unter enormem materiellen Aufwand angeschafft worden waren. Neben ihrer sakralen bzw. heilsvermittelnden Funktion besaßen die Objekte einen Bedeutungsüberschuss, der auch memoriale, identifikatorische, schutzmagische, repräsentative, politische und ökonomische Dimensionen miteinschloss. So wurden viele Stücke häufig erst durch die veränderten Bildkonzepte der rationalistischen Theologie der Aufklärungszeit entfernt oder verändert.48 46 Vgl. E. Muir, Ritual in Early Modern Europe (New approaches to European history 33), Cambridge/New York 22005; S. C. Karant-Nunn, Ritual, Ritualgegenstände und Gottesdienst: Revision der Sakralumgebung in der Reformation, in: S. Rau / G. Schwerhoff (Hgg.), Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, München/Hamburg 2008, S. 90–102; Dies., The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany, London/New York 1997; R. W. Scribner, Volkskultur und Volksreligion (wie Anm. 37); Ders., Ritual and Popular Belief (wie Anm. 37), S. 17 ff. 47 Vgl. T. Lentes, Zwischen Adiaphora und Artefakt (wie Anm. 23); vgl. auch die verschiedenen Beiträge zu Entwicklungen in den lutherischen Territorien in J. M. Fritz (Hg.), Bewahrende Kraft (wie Anm. 11). 48 Vgl. B. Welzel, Vertreibung (wie Anm. 41); G. Wimböck, Kirchenraum, Bilderraum, Handlungsraum: Die Räume der Konfessionen, in: S. Wegmann / Dies. (Hgg.), Konfessionen (wie Anm. 41), S. 31–54; A. Pietsch / B. Stollberg-Rilinger (Hgg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit (SVRG 214), Gütersloh 2013; B. Seyderhelm, Die „bewahrende Kraft des Luthertums“ gegen die Beseitigung vorreformatorischer Kirchenausstattungen. Von der Erhaltung mittelalterlicher Goldschmiedearbeiten und anderer Kirchenausstattungen in mitteldeutschen evangelischen Kirchen, in: J. Bulisch / D. Klingner / C. Mai (Hgg.), Kirchliche Kunst in Sachsen. FS für Hartmut Mai zum 65. Geburtstag, Beucha 2002, S. 32–51; E. Koch, Die Wittenberger Reformation und das Gedenken an die Heiligen, in: B. Seyderhelm (Hg.), Goldschmiedekunst des Mittelalters. Im Gebrauch der Gemeinden über Jahrhunderte bewahrt, Dresden 2001, S. 73–87, hier S. 73–75. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 580 Stefan Dornheim Im lutherischen Glauben ändere sich nicht nur der Status der neugeschaffenen, sondern auch der weiterverwendeten Bilder, konstatiert Barbara Welzel und erkennt darin weitreichende Aufgaben für den Dialog zwischen Konfessionalisierungsforschung und Kunstgeschichte.49 Bisher habe sich das Hauptaugenmerk entweder auf die Bilderstürme oder auf die für den evangelischen Gebrauch neu geschaffenen Werke gerichtet.50 Nicht minder bedeutsam sei für die kulturellen Verschiebungen aber auch der veränderte Umgang mit den ererbten Bildern.51 Konnte eine fortgesetzte Idolatrie ausgeschlossen werden, so versuchte man im 16. Jahrhundert vielerorts zumindest die spätmittelalterlichen Hauptaltäre an ihren ursprünglichen Standorten zu erhalten. Bei Erneuerungen der Ausstattungen in bedeutenden Kirchen der städtischen Zentren, aber auch bei der Schließung von Klosterkirchen wurden wertvolle Altarwerke in der Frühen Neuzeit häufig in periphere Kirchen der Vorstädte oder umliegender Dörfer umgesetzt. Nach dem auch für die sakrale materielle Kultur verlust- und zerstörungsreichen Dreißigjährigen Krieg vollzog sich im Kirchenbau seit dem späten 17. Jahrhundert und insbesondere das gesamte 18. Jahrhundert hindurch eine bauliche und ästhetische Erneuerungsbewegung, welche sich mit der Epoche des Barock verbindet. Neue sakrale Raumideen ließen die alten sakralen Bilder und vorreformatorischen Raumausstattungen oft als ästhetisch überholt und einer Erneuerung im Wege stehend erscheinen. Von sakralen Objekten längst zu Trägern historischer Erinnerung umgedeutet, stand eine Zerstörung der Bildwerke meist außer Frage. Vielmehr wanderten die abgenommenen Bildnisse und Tafeln in einer zweiten großen Welle in die seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Depots. So etwa in Freiberg, wo um 1713 im Zuge einer Barockisierung des Domes das Gros der nach der Reformation noch verbliebenen reichen Ausstattung mit gotischen Schnitzwerken, darunter die bekannten Zyklen der Apostel sowie der sog. klugen und törichten Jungfrauen, in die Götzenkammer wanderten.52 Viele noch bestehende vorreformatorische Flügelaltäre müssen im Laufe des 18. Jahrhunderts zudem dem lutherischen Trend des barocken Kanzelaltars weichen, bei dem der Kanzelkorb über den Altar ins Zentrum des Kirchenraumes rückte und den Platz des Retabels einnahm. Die Erzählungen der Altarbilder sollten durch den 49 Vgl. B. Welzel, Vertreibung (wie Anm. 41), S. 374 f. 50 Vgl. etwa T. Packeiser, Zum Austausch von Konfessionalisierungsforschung und Kunstgeschichte, in: ARG 93 (2002), S. 317–338. 51 Vgl. B. Welzel, Vertreibung (wie Anm. 41), S. 374 f. 52 Vgl. H. Magirius, Der Dom zu Freiberg, Berlin 1977, S. 36–38; S. Bürger u. a., Der Freiberger Dom. Architektur als Sprache und Raumkunst als Geschichte (Kulturreisen 15), Wettin-Löbejün 2017, S. 59 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 581 Götzenkammern Abb. 3: Kanzelaltar des frühen 18. Jahrhunderts mit recycelten Elementen eines spätmittelalterlichen Flügelaltars in Moderwitz bei Neustadt an der Orla, Zustand um 1930 [Stadtarchiv Neustadt an der Orla, Sammlung Dr. Karl Ehrlicher, unerschlossen, Foto: Karl Ehrlicher]. predigenden Pfarrer ersetzt werden. Die alten Bildwerke wanderten ins Depot, wurden an den Seitenwänden des Kirchenraumes aufgestellt oder auch zerlegt und im Rahmen neuer barocker Raumideen recycelt. Letzteres Phänomen zeigt sich überraschend häufig im ländlichen Raum, etwa in thüringischen, sächsischen, lausitzischen und brandenburgischen Dorfkirchen, wo vielerorts die Bildwerke gotischer Altarretabel und andere vorreformatorische Ausstattungsteile in neuen barocken Rahmungen an Kanzelaltären, an Kanzelkörben, Rednerpulten und Emporenbrüstungen wieder erscheinen und damit im Kirchenraum sichtbar erhalten blieben,53 so etwa in Moderwitz bei Neustadt an der Orla, wo die figürlichen 53 Vgl. P. Knüvener, Umwandlung (wie Anm. 25); zum Altar in Moderwitz vgl. P. Lehfeldt, Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens [1]: Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Bd. 5 = H. 24/25: Amtsgerichtsbezirke Neustadt an der Orla, Auma und Weida, Jena 1897, S. 45 ff. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 582 Stefan Dornheim Elemente eines spätmittelalterlichen Flügelaltars nahezu komplett in den Kanzelaltar des frühen 18. Jahrhunderts integriert wurden. (Abb. 3) Die sich in den Jahrzehnten um 1800 auch im mitteldeutschen Raum verbreitende rationalistische Aufklärungstheologie zeigte weniger Sympathie für solche ästhetisch mehr oder minder geglückten Verbindungen. Sie konnten zudem unter den Verdacht gestellt werden, nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein ideeller Kompromiss mit einer noch veralteten und abergläubischen Frömmigkeitspraktiken verhafteten Gemeinde zu sein. Die rationalistisch gesinnten Pfarrer der Spätaufklärung, die auf dem Land zudem überwiegend die Hauptakteure der Volksaufklärungsbewegung stellten, übten erneut Kritik an ‚altväterischer‘ Bildlichkeit im Kirchenraum, die ihren theologischen Modernisierungsgedanken und ihrem Kampf gegen sog. Aberglauben im Wege standen. Purifizierung wurde zu einem Leitgedanken, der die oft tatsächlich mit memorialen und historischen Artefakten überfüllten Kirchenräume leeren und die Götzenkammern in einer weiteren Welle füllen sollte. Die Lichtmetaphorik der Aufklärung wurde auf den Glauben angewendet und sollte bei Gottesdienst und Predigt auch vom Gemeinwesen in seinem vornehmsten Raum sinnlich erfahrbar werden. Große Fenster, lichte Kirchenräume in Weiß und etwas Gold spiegelten die neuen Ideale. Der Kanzelaltar blieb in neuen klassizistischen Versionen im Trend und verdrängte weiterhin gotische Flügelaltäre in die Götzenkammern. Ihnen folgten nun auch infolge der Purifizierungen abgenommene Erinnerungszeichen der städtischen Honoratiorenfamilien, vor allem Wappenschilde und Epitaphien, aber auch erstmals einzelne nachreformatorische Bildausstattungen der Renaissance und des Barock, welche vor allem aus ästhetischen Erwägungen mit den neuen Raumkonzepten nicht mehr vereinbar waren. Die ritual- und traditionskritische Ausrichtung der rationalistischen Theologen schickte in den Jahrzehnten um 1800 etwa auch das im erzgebirgischen und westsächsischen Raum weit verbreitete sog. Bornkinnel in die Götzenkammern. Die an das römische Santo Bambino oder das Prager Jesuskindlein erinnernde Figur des stehenden Jesuskindes, welches in der Weihnachtszeit kostbar eingekleidet vom Altar grüßte, war weniger ein altkirchliches Relikt, sondern hatte sich in Sachsen, im kulturellen Austausch mit den böhmischen Nachbarn, erst in nachreformatorischer Zeit infolge von Luthers Aufwertung des Weihnachtsfestes im kirchlichen Festkalender als regionale evangelische Tradition entwickelt.54 Im Zuge der Reformation wurde kirchlichen Bildern und Gegenständen zunehmend ihre sakrale Qualität abgesprochen. Dem gegenüber wurden die memorialen, 54 Vgl. G. Hummel / H.-J. Beier (Hgg.) / F. Ficker (Mitarb.), 500 Jahre Bornkinnel. Sakrale Kunst aus dem Erzgebirge und dem Vogtland, Langenweißbach 2000. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 583 Götzenkammern historischen, künstlerischen und bildungsdidaktischen Funktionen der Objekte betont, was ihren Erhalt für die Gemeinde im Kirchenraum, zumindest aber in den anwachsenden kirchlichen Bilderdepots sicherte. Der Kirchenraum wurde damit zu einem für das Gemeinwesen bedeutsamen Erinnerungsraum, der neben der christlichen Heilsgeschichte auch die Erinnerung an die Geschichte des eigenen Ortes, seiner politischen, religiösen und kulturellen Entwicklungen materiell repräsentierte und dabei konfessionelle und regionale Identitätsbildungen sicherte.55 Diese gewissermaßen prämuseale Funktion lutherischer Kirchenräume und Depots stand bald im Spannungsfeld mit aufkeimenden theologischen, ästhetisch-kulturellen aber auch politisch-sozialen Erneuerungsbewegungen, denen die vielfältigen materiellen Zeugnisse im Kirchenraum zunehmend als eine Last der Vergangenheit galten. Die historisch gewordenen Objekte ließen sich inzwischen vom Sakralraum lösen und wanderten seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts in großer Zahl in die Sammlungen der überregional und lokal entstehenden Altertumsvereine und bildeten später den Grundbestand zahlreicher städtischer Museen. Die Götzenkammer im Dom St. Marien zu Freiberg spielte zu Beginn dieser Entwicklung eine bedeutsame Rolle. Sie genoss seit den 1830er Jahren in kunstinteressierten Fach- und Laienkreisen landesweite Bekanntheit, nachdem ihr reichhaltiges Inventar zur Objektgrundlage des 1837 in den Domkreuzgängen eröffneten ersten sächsischen Altertumsmuseums wurde. Viele der mehr als 55 gotischen Heiligenfiguren, die heute wieder an ihren rekonstruierten ursprünglichen Standorten die reiche Ausstattung des Freiberger Domes ausmachen – darunter neben den Zyklen der zwölf Apostel und den sog. klugen und törichten Jungfrauen auch eine nahezu lebensgroße Pietà –, lagerten lange Zeit hinter einer dreifach verschließbaren, eisenbeschlagenen Tür in einem Gewölberaum im Obergeschoss des Südturmes.56 Die Bergung der Objekte aus der Götzenkammer, deren Neuinventarisierung, kunsthistorische Beschreibung, Beschilderung und öffentliche Ausstellung in den frisch restaurierten Räumen der seinerzeit gerade vor Verfall und Abriss geretteten Domkreuzgänge bedeuteten nicht nur deren Konservierung und Musealisierung, sondern auch ihre Umdeutung von theologisch 55 Vgl. S. Dornheim, Der Kirchenraum als Erinnerungsraum. St. Johannis und das vormoderne Gedächtnis der Stadt, in: W. Greiling / U. Schirmer / R. Schwalbe (Hgg.), Der Altar von Lucas Cranach d. Ä. in Neustadt an der Orla und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation (QFThZR 3; Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, Sonderbd.), Köln/ Weimar/Wien 2014, S. 285–307; Ders., Pfarrer (wie Anm. 13), S. 45–79 sowie 201–254. 56 Vgl. H. Magirius, Geschichte der Denkmalpflege. Teil: Sachsen. Von den Anfängen bis zum Neubeginn 1945, Berlin 1989, S. 54–62; HStA Dresden, Bestand Sächsischer Altertumsverein 12508, Sign. Nr. 316 Freiberger Dom-Kreuzgänge, insbesondere fol. 19 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 584 Stefan Dornheim und teils auch ästhetisch als problematisch angesehenen religiösen Gegenständen hin zu Kunstwerken, deren Erhaltung und wissenschaftliche Beachtung als ‚vaterländische Altertümer‘ nunmehr empfohlen wurde. Zugleich verband sich mit dem Projekt zur Rettung der Freiberger Domkreuzgänge und der Musealisierung des Götzenkammerinventars ein wichtiger Gründungsimpuls der sich damit formierenden sächsischen Denkmalpflegebewegung.57 57 Vgl. H. Ermisch, Zur Geschichte des Koeniglich Saechsischen Altertumsvereins 1825–1885, in: NASG 6 (1885), S. 1–50; E. Fabian, Erster Versuch (wie Anm. 14); G. F. Klemm / H. von Friesen, Zweiter Bericht (wie Anm. 14); H. Magirius, Geschichte der Denkmalpflege (wie Anm. 56), S. 54–62. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Wolfgang Flügel Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt Ewer Christlichen Lieb ist anzumelden, das in dieser jetzt angehenden Wochen ein solches Fest feyerlich sol gehalten werden, welches dergestalt in gantzen ein hundert Jahren nicht geschehen. Dann auff künfftigen Freytag werden es vollstendig hundert Jahr, daß der Allmächtige Gott durch seinen Außerwelten Rüstzeug Herrn D. Martin Luthern, seligen, den Anfang gemacht, die hoch­ bedrengte Kirch aus dem schweren gefengniß des Römischen Antichrists zu erlösen.1 Diese Worte verlasen alle Pastoren im Kurfürstentum Sachsen am 26. Oktober 1617 während des Sonntagsgottesdienstes, unmittelbar im Anschluss an die Predigt.2 Dadurch erfuhren die Gemeinden zeitgleich, dass und warum sie auf Geheiß des Kurfürsten keine Woche später, am 31. Oktober 1617, ein Reformationsjubiläum zu feiern hatten. Allerdings dürfte diese Anordnung in den Gemeinden Erstaunen ausgelöst haben. Denn während sich die protestantischen Kirchen in der Gegenwart zehn Jahre lang auf das Reformationsjubiläum 2017 vorbereiteten, war 1617 die Vorstellung, mit einer Jahrhundertfeier die Ereignisse des 31. Oktober 1517 zu vergegenwärtigen, in doppelter Hinsicht ein Novum. Zuvor war nämlich der 31. Oktober weder in Kursachsen noch in anderen protestantischen Territorien als Gedenktag begangen worden.3 Vielmehr hatte sich die Reformationserinnerung, die als Ergebnis der seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts betriebenen Luther-Stilisierung entstanden war, am Todes- bzw. am Geburtstag des Reformators orientiert.4 Ebenso wenig bekannt wie das Feierdatum war im frühen 17. Jahrhundert die kulturelle Praxis, ein historisches Jubiläum zu begehen. Das Wesen eines 1 2 3 4 Formula, wie den 19. Sonntag, welcher ist der 26. Octobris, das instehende Evangelische Jubelfest, also bald nach gehaltenen Predigten und vor Ablesung des gemeinen Gebets, von allen Cantzeln soll intimiret werden, [o. O., s. i.] 1617 (VD17 14:016670Q). Der Aufsatz folgt in weiten Teilen W. Flügel, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830 (SSGV 14), Leipzig 2005, S. 11–84; hier auch weiterführende Literatur. Allgemein zur Reformationserinnerung vor 1617 vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist, Weltheilsgeschehen und Gottes Werkzeug. Römische Kirche, Reformation und Luther im Spiegel des Reformationsjubiläums 1617 (VIEG AARG 88), Wiesbaden 1978, S. 10–13. Vgl. ebd. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 586 Wolfgang Flügel historischen Jubiläums besteht bekanntlich darin,5 unter dem Zwang der runden Zahl jene zentralen Ereignisse der eigenen Vergangenheit zu vergegenwärtigen, die als ‚Erinnerungsfiguren‘ zum festen Bestandteil des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ zählen und Leitideen von Institutionen und Personen symbolisieren.6 Damit wird ein doppelter affirmativer Zweck verfolgt. Erstens besteht die jubiläumsspezifische Leistung darin, die seit dem Ereignis vergangene Zeitspanne als Ausweis für Stabilität und Zukunftsfähigkeit der das historische Jubiläum begehenden Institution zu behaupten. Hinzu tritt, wie bei jeder Form der Geschichtspolitik, eine zweite Sinnstiftung. Es gilt, im Interesse einer kollektiven Identitätsstiftung die Festgemeinde auf gemeinsame Leitideen einzuschwören und Zustimmung im Sinne eines Wir-Gefühls zu generieren.7 Die Zeitgenossen verstanden unter einem Jubiläum noch nicht oder zumindest selten diese Form der Geschichtserinnerung, sondern meinten damit eine in der katholischen Kirche gängige Praxis. Gemeint war der an einen festen zeitlichen Rhythmus – eben den Jubiläumszyklus – gebundene Sündenstrafenablass, an dem sich die Reformation einst entzündet hatte und der bis in die Gegenwart hinein sowohl während der in regelmäßigen Zeitzyklen wiederkehrenden Heiligen Jahre als auch zu besonderen Anlässen vergeben wird; zuletzt geschah dies 2016 anlässlich des Außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit.8 Angesichts dieser doppelten Voraussetzungslosigkeit interessieren nicht nur der Vorbereitungsprozess und Intentionen, die die Initiatoren und Träger der Säkularfeier verfolgten, sondern auch deren Resonanz und Verbreitung – immerhin ist das Reformationsjubiläum 1617 zum zentralen Ausgangspunkt der modernen Jubiläumskultur geworden.9 Einen ersten Hinweis auf den speziellen strukturellen Rahmen, der die Jahrhundertfeier prägte, gibt Johannes Burkhardt, indem er pointiert darauf verweist, dass diese Säkularfeier den Endpunkt des Reformationsjahrhunderts markierte.10 Damit beschloss sie einen Zeitabschnitt, in dem die Druckmedien eine 5 Vgl. W. Müller, Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion, in: Ders. (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus (GFW 3), Münster 2004, S. 1–75. 6 Vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 21997, S. 37. 7 Vgl. ebd., S. 9–19. 8 Vgl. etwa D. O’Grady, Alle Jubeljahre. Die „Heiligen Jahre“ in Rom von 1300 bis 2000, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1999. 9 Vgl. W. Flügel, „Und der legendäre Thesenanschlag hatte seine ganz eigene Wirkungsgeschichte“. Eine Geschichte des Reformationsjubiläums, in: BThZ 28 (2011), S. 28–43. 10 Vgl. J. Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 587 „Glaubens- und Kommunikationsrevolution“ bewirkt hatten und in dem eine in konfessionellen Belangen sensibilisierte „reformatorische Öffentlichkeit“ entstanden war.11 Die Bedeutung, die der Buchdruck als Motor dieser Revolution nicht nur für die reformatorischen Ereignisse des Jahres 1517, sondern auch für das Reformationsgedenken 1617 besaß, belegt unter anderem die Fülle der zu diesem Anlass erschienenen illustrierten Einblattdrucke.12 Letztendlich wurde das Reformationsjubiläum 1617 zu einem Medienereignis, insofern die Medien es mit vorbereiteten und inhaltlich ausdeuteten. Von dieser Beobachtung ausgehend interessieren die verschiedenen Kommunikationsprozesse, die bereits im Vorfeld der Jubiläumsfeier eingesetzt hatten und die Feier prägten. Kommunikation wird dabei verstanden als die Übermittlung von Informationen zum Zweck der Steuerung von Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Diesen Prozess der Einflussnahme beschreibt die von dem amerikanischen Kommunikationswissenschaftler Harold Dwight Lasswell (1902–1978) bereits 1948 vorgelegte ‚Lasswell-Formel‘ folgendermaßen: Wer sagt was über welche Kommunikationskanäle zu wem mit welcher Wirkung.13 Sie kennzeichnet das grundlegende Modell der Massenkommunikation, das letztendlich auch auf das Reformationsjubiläum anzuwenden ist. Da diese Säkularfeier wie jede außerordentliche lutherische Kirchenfeier in der Frühen Neuzeit landesherrlich angeordnet wurde, ist ein unidirektionaler, die gesellschaftlichen Hierarchien abbildender Kommunikationsverlauf anzunehmen. Dadurch erweist sich ein zentraler Einwand gegen die ‚Lasswell-Formel‘, wonach das ‚Feedback‘ der Rezipienten nicht berücksichtigt werde, zumindest für den Vorbereitungsprozess als gegenstandslos. In den Blick geraten jedoch nicht nur die Akteure und Träger des Vorbereitungsprozesses und der Jubiläumsfeier sowie deren Intentionen, sondern auch die rituellen und symbolischen Kommunikationsstrukturen, in welche die Festgemeinden eingebunden waren, sowie deren performative und visuelle Medien, etwa Flugblätter und Schuldramen. Insofern diese zumindest partiell der landesherrlichen Kompetenz und Verfügungsgewalt entzogen waren, Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002, S. 9: „Am Ende stand ein Jubiläum.“ 11 G. Lottes, Medienrevolution, Reformation und sakrale Kommunikation, in: S. Kronenburg (Hg.), Die Aktualität der Geschichte. Historische Orientierung in der Mediengesellschaft. Siegfried Quandt zum 60. Geburtstag, Gießen 1996, S. 247–261, hier S. 252 und 260. 12 Eine Auswahl von 40 dieser Flugblätter analysiert R. Kastner, Geistlicher Rauffhandel. Form und Funktion der illustrierten Flugblätter zum Reformationsjubiläum 1617 in ihrem historischen und publizistischen Kontext (Mikrokosmos 11), Frankfurt a. M./Bern 1982. 13 Zur Lasswell-Formel vgl. etwa W. Schulz, Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung, Wiesbaden 32011, S. 57 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 588 Wolfgang Flügel können sie zugleich als Gradmesser für jenes ‚Feedback‘ dienen, das die Kritiker der ‚Lasswell-Formel‘ eingefordert haben. Der Vorbereitungsprozess Nachdem sich im Ergebnis der Jahrhundertwende 1600 das Jahrhundert als feste Größe in ein immer breiteres Bewusstsein eingebrannt hatte, mehrten sich seit 1616 die Anzeichen für ein langsames Bewusstwerden der Bedeutung des Jahres 1617.14 Einzelne Pastoren in verschiedenen Territorien des Reiches verwiesen auf den bevorstehenden 100. Jahrestag der Reformation,15 und auch der Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wittenberg erinnerte in einer Rede am 25. November 1616 daran, dass a Reformatione Divi Lutheri centesimo currente,16 ohne dass jedoch der Wunsch nach einer besonderen Säkularfeier artikuliert wurde. Auf solchen Äußerungen aufbauend ging die erste nachweisbare Initiative, am 31. Oktober 1617 ein Reformationsjubiläum zu zelebrieren, von der Universität Wittenberg aus. In zwei Briefen baten die Wittenberger Universitätstheologen am 27. März 1617 zunächst das Oberkonsistorium in Dresden, und, als eine Reaktion ausblieb, am 24. April 1617 direkt den sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. (1611–1656) um die Erlaubnis, am 31. Oktober 1617 ein primus Jubilaeus Christi­ anus begehen zu dürfen.17 Dass dieser Vorstoß von den Wittenberger Professoren ausging, verwundert nicht. Immerhin waren sie bereits jubiläumserfahren, hatten sie doch am 18. Oktober 1602 mit einer Säkularfeier an den 100. Gründungstag ihrer Universität erinnert.18 Welche Bedeutung ein Universitätsjubiläum als Katalysator für die Jubiläumsinitiative 1617 besaß, zeigt der Blick in die Kurpfalz. 14 Zur Jahrhundertwende vgl. A. Brendecke, Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frankfurt a. M./New York 1999. Tatsächlich mussten die Theologen 1617 nicht den Jahrhundertbegriff nicht erklären. In den wenigen Fällen, in denen sie es doch taten, heißt es lapidar: weil hundert Jahr der großen Zahlen eine ist damit wir zu zehlen und zu rechnen pflegen und nun heutigen tages hundert Jahre verflossen sind. ThHSta Weimar, Eisenacher Archiv, Konsistorialsachen 3, fol. 32–39 (Vorschlag und Entwerffung; undat., 1617). 15 Vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 12. 16 Zitiert nach F. Loofs, Die Jahrhundertfeiern der Reformation an den Universitäten Wittenberg und Halle 1617, 1717 und 1817, in: ZVKGS 14 (1917), S. 1–80, hier S. 5. 17 HStA Dresden, Loc. 1891, Jubilaeum Reformationis Lutheri Ao. 1617, fol. 1 (Theologische Fakultät an Oberkonsistorium; 27.3.1617); zum Schreiben vom 24.4.1617 vgl. auch UBUW, ed. W. Friedensburg, Bd. 2: 1611–1813 (GQProvSachs NR 4), Magdeburg 1927, S. 34, Nr. 600; zum Vorgang vgl. W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 29–33 und S. 41–45. 18 Auch andere protestantische Universitäten begingen seit dem späten 16. Jahrhundert Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 589 Nachdem dort zunächst die Universität Heidelberg 1587 und das für die Theologenausbildung zuständige Collegium Sapientiae 1606 ihre Stiftungsjubiläen begangen hatten, folgte Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz (1610–1623) diesem Beispiel und ordnete am 11. April 1617 ebenfalls ein Reformationsjubiläum an.19 Die Wittenberger Universität lud ihren Wunsch nach einem Reformationsjubiläum mit einer besonderen Sinnhaftigkeit auf. In ihrem Schreiben an Johann Georg I. nutzten die Professoren Argumente, die sie bereits während des Universitätsjubiläums 1602 entwickelt hatten. Damals stilisierten sie die Reformation zum zweiten, prestigeträchtigen Gründungsereignis ihrer Universität.20 Angesichts dieser Identitätsprägung erscheint es als folgerichtig, dass 1617 erneut auf die Verschränkung von Universität und Reformation zurückgegriffen wurde. Entsprechend behaupteten die Professoren in ihrem Gesuch an das Oberkonsistorium, die Reform der Kirche sei durch Martinum Lutherum in […] dieser Universität begonnen worden.21 Dadurch sei die Wittenberger Alma Mater, wie der Festprediger am 1. November 1617 feststellte, ein neues geistliches Jerusalem und die Residenz Gottes geworden.22 Offenkundig zielte die geplante Säkularfeier nicht nur auf die Reformation und ihre theologischen Inhalte, sondern sollte zugleich als Medium dienen, um die eigene Exklusivität zu demonstrieren. Dass eine solche Außenwirkung tatsächlich eingeplant war, belegt der Hinweis, man wolle auch andere Universitäten zur Feier einladen.23 Der entscheidende Schritt lag nun beim Kurfürsten. Dieser entsprach zwar dem Wunsch der Wittenberger nach einem lokalen Gedenken, aber er weitete zusätzlich das Jubiläum zu einer landesweiten Feier aus.24 Aufbauend auf ein positives 19 20 21 22 23 24 Universitätsjubiläen, etwa Heidelberg, Tübingen oder Leipzig. Vgl. W. Müller, Historisches Jubiläum (wie Anm. 5), S. 21–24. Die Gründung des Collegium Sapientiae 1556 fällt zusammen mit der Einführung der Reformation in der Kurpfalz; zum Jubiläum des Collegiums. Vgl. Q. Reuter, Jubileus primus Collegii Sapientiae quod est Heidelbergae celebratus […], [Heidelberg: s. i.] 1606 (VD17 23:247922G); zur Jubiläumsinitiative 1617 von Kurfürst Friedrich V. Vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 13 f. Vgl. V. Gummelt, Die Theologische Fakultät und das Jubiläum der Universität Wittenberg im Jahr 1602, in: I. Dingel / G. Wartenberg (Hgg.) / M. Beyer (Red.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea (LStRLO 5), Leipzig 2002, S. 223–235, hier S. 229 f. HStA Dresden, Loc. 1891, Jubilaeum Reformationis Lutheri Ao. 1617, fol. 1 (Theologische Fakultät an Oberkonsistorium; 27.3.1617). So Balthasar Meisner (1587–1626) in seiner Predigt am 1.11.1617; zitiert nach: W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 31. Vgl. HStA Dresden, Loc. 1891, Jubilaeum Reformationis Lutheri Ao. 1617, fol. 1 (Theologische Fakultät an Oberkonsistorium; 27.3.1617). Vgl. zum Ablauf W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 41–45. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 590 Wolfgang Flügel Gutachten, das das Oberkonsistorium am 15. Mai 1617 im Auftrag von Johann Georg I. verfasst hatte,25 befahl dieser in Abstimmung mit dem Geheimen Rat am nächsten Tag dem Oberkonsistorium, einen ersten Ablaufplan für die Säkularfeier vorzulegen.26 Dem folgten die Theologen und präsentierten dem Landesherrn am 11. Juni detaillierte Ergebnisse.27 Am 18. Juli gab der Kurfürst seine Zustimmung, forderte jedoch Überarbeitungen im Detail.28 Damit war ein erster Teil des Vorbereitungsprozesses abgeschlossen. Der nun erreichte Planungsstand wurde im engen Zusammenspiel von weltlichen und geistlichen Behörden unter Rückgriff auf verschiedene Kommunikationsmedien verbreitet. Dabei nutzte man ein bereits erprobtes Verfahren, das die Uniformität der Jubiläumsfeier in allen Kirchen des Landes garantierte; die intendierte Zielsetzung, einheitliche Inhalte und Riten zu formulieren und durchzusetzen, war gerade im konfessionellen Zeitalter wichtig für die Herstellung und Generierung von Gruppenkohärenz.29 Um das Reformationsjubiläum landesweit zu kommunizieren, ließ das Oberkonsistorium zum 12. August 1617 drei Formulare im handlichen Oktavformat drucken, die als Handlungsaufforderung über die Konsistorien an die Super­ intendenten und schlussendlich an alle Pastoren verteilt wurden. Mit diesem Schneeballsystem in Übereinstimmung steht, dass mindestens drei verschiedene Offizinen mit dem Druck dieser Dokumente beauftragt wurden.30 Das erste und wichtigste Dokument war die Instruction und Ordnung.31 Entsprechend der Vorschläge des Oberkonsistoriums vom 11. Juni 1617 enthielt sie gleich einer Gebrauchsanweisung alle Details für ein dreitägiges Kirchenfest nach dem Vorbild höchster kirchlicher Feiertage, das am 31. Oktober 1617 beginnen sollte. Im 25 Vgl. UBUW, ed. W. Friedensburg, Bd. 2 (wie Anm. 17), S. 34, Nr. 601, Anm. 2. 26 Vgl. F. Loofs, Jahrhundertfeiern (wie Anm. 16), S. 5 f.; H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 16. 27 Vgl. HStA Dresden, Loc. 7423/2, fol. 83–87 (Oberkonsistorium an Johann Georg I.; 11.6.1617); UBUW, ed. W. Friedensburg, Bd. 2 (wie Anm. 17), S. 34 f., Nr. 602; vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 16 f. 28 Vgl. HStA Dresden, Loc. 7423/2, fol. 82 und 88 (Oberkonsistorium an Johann Georg I.; 11.6.1617); F. Loofs, Jahrhundertfeiern (wie Anm. 16), S. 8; H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 18. 29 Vgl. W. Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ZHF 10 (1983), S. 257–277, hier S. 263. 30 In Freiberg: Georg Hoffmann, in Wittenberg: Georg Kellner und Paul Helwig, sowie eine nicht genannte in Dresden. 31 Instruction und Ordnung nach welcher in Vnsern von Gottes Gnaden Johanns Georgen […] Landen das instehende Evangelische Jubelfest soll gehalten werden, [Dresden] 1617 (VD17 3:003477R). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 591 Mittelpunkt standen täglich zwei Festgottesdienste mit Abendmahl, wobei mit Werner Freitag die Liturgie als Kommunikationsmedium verstanden werden kann.32 Hinzu traten weitere Regieanweisungen, etwa die Bestimmung, sowohl die Jubiläumsfeier am Vorabend als auch die einzelnen Gottesdienste mit einem längeren Glockengeläut zu beginnen. Weiterhin schrieb die Instruktion auf den Jubiläumsanlass abgestimmte Perikopen vor, die anstelle der üblichen Epistel und Evangelien zu verlesen und in den Predigten zu erläutern waren. Als zweiter Druck erschien ein spezielles Dankgebet, das jeder Pastor in allen sechs Festgottesdiensten verlesen musste. Drittens ist die bereits erwähnte Formula zu nennen, mit der die Pfarrer die Gemeinden über das anstehende Reformationsjubiläum informierten. In welchem Maß die Behörden versuchten, mit ihren Vorgaben das Verhalten der Bevölkerung zu steuern, zeigt der Umstand, dass sowohl die Instruction als auch die Formula Disziplinar- und Verhaltensvorschriften enthielten, die eine breite Teilnahme an den Gottesdiensten und damit die Rezeption der genormten Inhalte gewährleisten sollten: fressen, sauffen, spielen sowie nächtliches tumultie­ ren und dergleichen waren bei Strafe verboten, Handel und Gewerbe hatten zu ruhen.33 In Absprache mit den Superintendenten hatten die weltlichen Lokalbehörden auf die Umsetzung dieser Bestimmungen zu achten. Über einen zweiten ergänzenden Kommunikationsstrang sorgte Oberhofprediger Matthias Hoë von Hoënegg (1580–1645) für eine weitere Vereinheitlichung der Predigtinhalte. Er befürchtete, dass viel Pastores und Diaconi auf dem Lande, zumal in Dörfern, nicht so recht in das werck schicken möchten, was sie predigen und worauf sie insonderheit ihren zweck richten sollten.34 Deshalb verfasste er eine Musterpredigtsammlung und ließ diese drucken.35 Die Exemplare wurden den Pfarrern ab dem 1. Oktober 1617 zum Kauf angeboten. Zugleich erging die Anweisung, die Pastoren ihrerseits sollten den vorgesetzten Behörden ihre Festpredigten zum Druck einschicken, wodurch die Nutzung der Musterpredigten fast erzwungen wurde – tatsächlich finden sich in manchen dieser gedruckten Predigten Formulierungen, die Hoë von Hoënegg vorgegeben hatte. Doch mit der Predigtsammlung normierte der Oberhofprediger nicht nur die Auslegung der angeordneten Perikopen, die an gewöhnlichen Sonn- und Feiertagen 32 Vgl. W. Freitag, Die Kirche im Dorf, in: J. Burkhardt / C. Werkstetter (Hgg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (HZ Beiheft NF 41), München 2005, S. 147–157, hier S. 147. 33 Aus dem Formular zitiert nach: W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 48. 34 Zitiert nach F. Loofs, Jahrhundertfeiern (wie Anm. 16), S. 6. 35 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Parasceve ad sollenitatem Jubilaeam Evangelicam […], Leipzig 1617 (VD17 3:312278T). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 592 Wolfgang Flügel den Pastoren überlassen wurde, sondern gab den Pfarrern auch eine Begriffsbestimmung in die Hand, was ein Jubiläum sei. Danach diente dieses Jubelfest zunächst dazu, Gott Lob, Ehr und Preis für die Reformation und den Erhalt des Luthertums darzubieten.36 Auf den Jubel als adäquate Form des Dankens verweisen der lateinische Begriff des Jubiläums oder die in den deutschsprachigen Drucken genutzte – auf Martin Luthers (1483–1546) etymologisch falsche Übersetzung des alttestamentarischen Jobeljahrs zurückgehende – Bezeichnung als Jubelfest oder Jubelfreude. Damit stand das Jubiläum in der Tradition der seit dem 16. Jahrhundert bekannten Lob- und Dankfeste, mit denen Gott aus Anlass bestimmter Ereignisse, etwa für den Türkenfrieden 1606, zumeist mit landesweit einheitlichen Gottesdienstfeiern gedankt wurde.37 Nun war zwar 1617 die Reformation kein tagesaktuelles Geschehen, aber da sie und ebenso die Geschichte des Luthertums als Ergebnis göttlichen Handelns verstanden wurden, konnte 1617 eben auch ein Ereignis gewürdigt werden, das im aktuellen Zeithorizont lag: Die Erinnerung galt dem von Gott in diesen Landen […] offenbarte[n] Licht des heiligen Evangelii […] das er […] diese hundert Jahr erhalten hat, gegen alle Angriffe des Papstes.38 Zugleich vollzog Hoë von Hoënegg in seinen Schriften eine Abgrenzung der Säkularfeier vom katholischen Jubiläum, d. h. dem Heiligen Jahr. Dies erschien vor allem deshalb als notwendig, weil Papst Paul V. (1605–1621) am 12. Juni 1617 ein außerordentliches Heiliges Jahr ausgerufen hatte.39 Während das katholische Jubiläum aufgrund des Ablassgedankens in den Augen der lutherischen Geistlichkeit diskreditiert war, konnte der Oberhofprediger das Reformationsjubiläum in eine alttestamentarische Tradition einbinden und es damit als wahrhaft christliche Feier bezeichnen. Gott selber habe, so Hoë von Hoënegg, um ein Vergessen seiner Gnadenwerke zu verhindern, deren feierliche Erinnerung geboten (Dtn 4 und 16,1; Ex 13 und 14,23).40 In Umsetzung dieses Befehls habe schließlich König David Jubelfeste wegen der Auffindung der Bundeslade oder wegen der Befreiung aus Ägypten ausgerichtet.41 Damit bezeichnete der Theologe nicht die alttestamentarischen Jobeljahre, sondern ausdrücklich die alttestamentarischen 36 Ebd., Titelblatt. 37 Vgl. etwa A. Flügel, „Gott mit uns“ – zur Festkultur im 17. Jahrhundert am Beispiel der Lob- und Dankfeste und Fastnachtsbräuche in Leipzig, in: K. Keller (Hg.), Feste und Feiern. Zum Wandel städtischer Festkultur in Leipzig, Leipzig 1994, S. 49–68. 38 HStA Dresden, Loc. 7432/2, fol. 81 ( Johann Georg I. an Oberkonsistorium; 16.5.1617). 39 Vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 20 f. 40 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 2, 29–33. 41 Vgl. Ders., Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde In der Churfürstlichen Sächsischen Schloßkirchen zu Dreßden […] auff gnedigste anordnung gehalten, Leipzig 1617 (VD17 23:245823A), Vorwort, unpag.; vgl. auch Instruction und Ordnung (wie Anm. 31). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 593 Gedächtnisfeiern als Vorbild für das lutherische Jubiläum.42 Zugleich legitimierte der Hinweis auf die Initiative König Davids die Anordnungshoheit, die Kurfürst Johann Georg I. für ein Kirchenfest in Anspruch nahm. Die Jubiläumsfeier und ihre Sinnhorizonte Beschreibungen der Feierlichkeiten zeigen, dass die Vorgaben getreulich umgesetzt wurden. In Dresden, so schrieb Hoë von Hoënegg, habe man am 30. Oktober 1617: nach mittag in und vor der Stadt in allen Kichen das Fest eingeleutet, Vespern gehalten und Beicht gesessen. In der Churfuerstlichen Schloßkirchen hat der Churfuerst zu Sachsen […] sampt seiner Churf. Gn. Gemahl […] selbiges Tages gebeichtet. Den 31. Octob. war der erste Festtag, wurden nach 6. Uhr frue etliche große Geschütz loßbrennet und geschahen sonderliche Frewdenschuesse wie an hohen Festen allhie gebreuchlich. selbigen Tages so woln den 1. und 2. Novemb. Hat man vor und nach Mittag neben herrlicher musica Predigten gehalten. Es haben auch Hoëchstermelte J. Churf. Gn. beyderseits […] am ersten Festtag offentlich in volckreicher versammlung das H. Abendmahl des HErrn Jesu Christi nach desselben erster Stifftung und einsetzung mit grosser Andacht emp­ fangen. Nicht weniger ist in den andern Kirchen alle drey Feyertage uber das heilige Nachtmahl des HErrn ausgetheilt ingleichen das gantze Fest uber zu den Jubelpredigten ein uberaus großer zulauff des Volcks in allen Kirchen gespuret […] und bey den Leuten eine sonderbare Devotion und Andacht vermercket worden.43 Diese Beschreibung liefert zugleich Hinweise auf die integrative Funktion der Jubiläumsfeier. Indem Johann Georg I. an der Spitze seines Hofes in demonstrativer Art und Weise an dem von ihm angeordneten und darum gut besuchten Gottesdienst in der Sophienkirche teilnahm und hier auch das Abendmahl empfing, stilisierte er sich seinen Untertanen gegenüber als Glaubensvorbild.44 Dieser Sachverhalt zielte zunächst auf eine durch die landesherrliche Jubiläumsanordnung hergestellte und auf den Kurfürsten verweisende „repräsentative Öffentlichkeit“,45 42 Der ausdrückliche Hinweis, dass die Jobeljahre keine Erinnerungsfeiern waren, vgl. bei M. Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum. Zur Entstehung und Entwicklung öffentlicher Gedenktage, in: E. Brix / H. Stekl (Hgg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 23–90, hier S. 62. 43 M. Hoë von Hoënegg, Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41), Vorwort, unpag. 44 Zur Vorbildwirkung des Fürsten vgl. V. Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (FN 12), Tübingen 1993, S. 66–70. 45 Zum Begriff vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 594 Wolfgang Flügel bei der die Bevölkerung lediglich als passive Staffage für die Repräsentation des Landesherrn im öffentlichen Raum fungierte; besonders deutlich wurde dies beim Einzug des Kurfürsten in die Kirche. Hinzu kommt jedoch ein darüber hinausweisender Aspekt. Das gemeinsame Hören der Predigten, der gemeinsame Gesang und der gemeinsame Empfang der Eucharistie besaßen nicht nur eine theologische Komponente, sondern dienten der Demonstration jener konfessionellen Einheit zwischen Landesherrn und Untertanen, der im konfessionellen Zeitalter grundlegende Bedeutung für die Stabilität des Gemeinwesens zukam. Damit korrespondierte auch die Symbolik der repräsentativen Inszenierungsformen. Wenn Hoë von Hoënegg ausdrücklich den Verzicht auff äußerliche gepräng betonte, dann bezog sich das auf personalintensive kirchliche Feierrituale und war der Abgrenzung von katholischen Kirchenfeiern geschuldet.46 Der Oberhofprediger meinte aber nicht das herrschaftlich-repräsentative Zeremoniell. Vor allem jene Elemente wurden in den Jubiläumsablauf integriert, die weitreichende und unüberhörbare Öffentlichkeitswirkung besaßen und von den Feierlichkeiten kündeten, etwa das Abfeuern der Kanonen von den Stadtmauern, das Musizieren mit Pauken und Trompeten von den Kirchtürmen herab oder ein festlicher Einzug in die Kirche. Es wurden also jene Zeremonien genutzt, die wie das Salutschießen und das Trompetenspiel als traditionelle Sieges- und Ehrenzeichen47 zu den wichtigen Bestandteilen des landesherrlichen Zeremoniells gehörten und z. B. beim festlichen Einzug eines Fürsten in die Stadt Anwendung fanden.48 Mit ihnen waren etwa Kaiser Matthias (1612–1619) und Erzherzog Maximilian (1558–1618), die vom 4. bis zum 13. August 1617 in Dresden weilten, bei ihrer Ankunft begrüßt worden.49 Bei einem Vergleich beider Ereignisse fällt allerdings auf, dass anlässlich 46 47 48 49 Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (STW 891), Frankfurt a. M. 1990, S. 58–66; zur Kritik vgl. unter anderem A. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert (FF 1), Tübingen 1995, S. 29–41. M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 3. Vgl. W. Herbst, Das religiöse und das politische Gewissen. Bemerkungen zu den Festpredigten anläßlich der Einhundertjahrfeier der Reformation im Kurfürstentum Sachsen, in: Schütz-Jb 18 (1996), S. 25–38; D.-R. Moser, Friedensfeiern und Festmusik im Verhältnis der Konfessionen, in: J. Burkhardt / S. Haberer (Hgg.), Das Friedensfest. Augsburg und die Entwicklung einer neuzeitlichen Toleranz-, Friedens- und Festkultur (CA 13), Berlin 2000, S. 278–295, hier S. 290. Zum Trompetenspiel im höfischen Zeremoniell vgl. S. Henze-Döhring, Der Stellenwert der Musik im höfischen Zeremoniell, in: J. Riepe (Hg.), Musik der Macht – Macht der Musik. Die Musik an den sächsisch-albertinischen Herzogshöfen Weissenfels, Zeitz und Merseburg (SMDMG 8), Schneverdingen 2003, S. 23–32, hier S. 26 ff. Vgl. G. Klemm, Chronik der königlich-sächsischen Residenzstadt Dresden, Bd. 1: Die Geschichte Dresdens bis zum Jahr 1694, Dresden 1837, S. 260 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 595 des Jubiläums nur solche Elemente des weltlichen Zeremoniells genutzt wurden, die auf die Konfession als gemeinsames Bindeglied zwischen Kurfürst und Ständen bzw. zwischen lokaler Obrigkeit und Stadtbevölkerung verwiesen. Im Gegensatz zu den Feierlichkeiten anlässlich des Kaiserbesuchs fehlten hingegen solche repräsentativen Formen, die, wie das Feuerwerk, durch ihre Symbolik die soziale Distinktion betonten bzw. bloße Schaulust provozierten.50 Der behauptete Zusammenhang von Landesherrschaft und Luthertum musste schließlich noch im Bewusstsein der Bevölkerung verankert werden. Dies erfolgte zunächst durch die namentliche Erwähnung des Kurfürsten im vorgeschriebenen Festgebet, das die Theologen nach jeder Predigt, also sechs Mal in drei Tagen, verlasen. Bei der Rückbindung der Reformation an den Landesherrn leisteten außerdem die Theologen in ihren Predigten eine gute „Einprägearbeit“.51 Indem sie das kontinuierliche Eintreten des sächsischen Kurfürsten für die lutherische Kirche betonten, stellten sie die Regierung Johann Georgs I. als Umsetzung des göttlichen Willens dar und legitimierten sie somit theologisch.52 Daraus erwuchs natürlich für die lutherische Bevölkerung zwangsläufig eine Gehorsamspflicht gegenüber dieser gottgewollten Obrigkeit. Neben diese Kommunikationsprozesse, die die innersächsische Ebene betrafen, traten weitere, die auf eine Krisensituation im außenpolitischen Bereich abzielten.53 Nachdem sich das Luthertum bis in die Regierungszeit Kaiser Maximilians II . (1564–1576) im Reich ausgebreitet und innerlich gefestigt hatte, verschlechterte sich seine Situation seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts. Sogar Johann Georg I. musste feststellen, dass das Luthertum fast gantz und gar auf der nase lieget.54 Diese Sichtweise resultierte aus einer komplexen Situation, in der den Lutheranern nicht nur eine im Tridentinum erneuerte katholische Kirche als Gegner gegenüberstand, sondern auch ein zweiter Rivale erwachsen war. Infolge tiefgreifender theologischer Differenzen hatte sich das evangelische Lager in zwei Konfessionen gespalten: in das lutherische und in das außerhalb der Confessio Augustana stehende, reichsrechtlich nicht anerkannte reformierte 50 Zum Feuerwerk vgl. E. Fähler, Feuerwerke des Barock. Studien zum öffentlichen Fest und seiner literarischen Deutung vom 16. bis 18. Jahrhundert, Stuttgart 1974, S. 95–98. 51 H.-C. Rublack, Lutherische Predigt und soziale Wirklichkeiten, in: Ders. (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (SVRG 197), Gütersloh 1992, S. 344–395, hier S. 346. 52 Vgl. etwa M. Hoë von Hoënegg, Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41), Epigramma Seculare. 53 Hierzu vgl. ausführlich W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 33–41. 54 Zit. nach A. Gotthard, „Politice seint wir bäpstisch“. Kursachsen und der deutsche Protestantismus im frühen 17. Jahrhundert, in: ZHF 20 (1993), S. 275–319, hier S. 311. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 596 Wolfgang Flügel Bekenntnis. Die Kluft zwischen beiden war derart tief, dass einige kursächsische Theologen die Meinung verfochten, die Lutheraner sollten lieber mit den Papis­ ten gemeinschafft haben […] denn mit den Calvinisten.55 Beiden war allerdings gemein, dass sie in den Jahrzehnten um 1600 zu Lasten der Lutheraner Boden gut machen konnten. Verschiedene lutherische Landesherren konvertierten nämlich zum reformierten oder zum katholischen Bekenntnis, was unmittelbaren Einfluss auf die konfessionelle Prägung ganzer Territorien besaß. In dieser Situation bezog Kursachsen eine ambivalente Stellung. Das Land galt als Hochburg der lutherischen Orthodoxie,56 war aber territorial und konfessionell saturiert. Seine Politik zielte mithin auf die Wahrung des Status quo, und es versuchte, sie im Schulterschluss mit dem katholischen Kaiser durchzusetzen.57 Politice seint wir bäpstisch hieß das bekannte Motto.58 In der Folge büßte Kursachsen seine führende Rolle im protestantischen Lager ein. Der Kurfürst wurde von den lutherischen Reichsständen ob seines Auftretens gegenüber dem Kaiser argwöhnisch beobachtet, während die Kaisertreuen ihrerseits in jeder distanzierenden Äußerung Johann Georgs I. gegenüber habsburgischen Plänen Hochverrat witterten. Zudem gewann die reformierte Kurpfalz als Führungsmacht des protestantischen Kampfbündnisses, der Union, der Kursachsen nicht angehörte, an Einfluss. In dieser Situation nutzte Johann Georg I. das Reformationsjubiläum in doppelter, fast widersprüchlicher Weise als Medium einer symbolischen Kommunikation: Einerseits wollte er seinen Anspruch als Schutzfürst der Reformation und als Haupt der Protestanten im Reich unterstreichen. Andererseits aber sandte er im Reformationsjubiläum Signale der Deeskalation an Kaiser Matthias. Die Demonstration einer behaupteten Stärke des Luthertums und des kursächsischen Führungsanspruches gewinnt vor dem Hintergrund der innerprotestantischen Jubiläumskonkurrenz eine tiefere Dimension. In seiner Jubiläumsinitiative vom 11. April 1617 hatte Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz nämlich ein gemeinsames Reformationsgedenken der Union und darüber hinaus aller 55 P. Leyser, Eine wichtige und in diesen gefährlichen Zeiten sehr nützliche Frag: Ob, wie und warumb man lieber mit den Papisten gemeinschafft haben und gleichsam mehr vertrawen zu ihnen tragen solle, denn mit zu den Calvinisten, Leipzig 1620 (VD17 14:050507D). 56 Vgl. H. Smolinsky, Albertinisches Sachsen, in: A. Schindling / W. Ziegler (Hgg.), Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 2: Der Nordosten (KLK 52), Münster 21991, S. 8–33, hier S. 23–30. 57 Vgl. F. Müller, Kursachsen und der böhmische Aufstand 1618–1622 (SVG 23), Münster 1997, S. 22–30. 58 A. Gotthard, Politice seint wir bäpstisch (wie Anm. 54), passim. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 597 Protestanten angeregt.59 Damit verfolgte er zwei Ziele.60 Erstens wollte er die eigene, reichsrechtlich nicht anerkannte Konfession symbolisch aufwerten und als der Confessio Augustana zugehörig, d. h. den Lutheranern ebenbürtig, etablieren. Zweitens verfolgte er den Plan, vor dem Hintergrund der angespannten politischen Situation das zerstrittene gesamtprotestantische Lager gegenüber den Katholiken zu stärken. Allerdings geriet das Reformationsjubiläum der Union gegenüber der kursächsischen Säkularfeier ins Hintertreffen. Erstens dauerte es nicht drei, sondern nur einen Tag, zudem wurde nicht am symbolträchtigen 31. Oktober, sondern am darauffolgenden Sonntag, dem 2. November, gefeiert. Außerdem konnte man sich innerhalb der Union nicht auf einen einheitlichen Ablauf einigen, vielmehr feierte jedes Mitglied nach seinen eigenen Vorstellungen, wobei Brandenburg unter seinem reformierten Landesherrn die Teilnahme sogar verweigerte. Damit konnte der in der Union herrschende konfessionelle Dissens auch durch den Verweis auf einen gemeinsamen Ursprung beider Konfessionen nicht vermindert werden. Johann Georg I. hingegen setzte seine Jubiläumsplanungen wesentlich erfolgreicher um und konnte so seinen Führungsanspruch im eigenen konfessionellen Lager untermauern. Er hatte zu diesem Zweck seine Jubiläumsanordnung an weitere lutherische Reichsstände mit Bitte um Nachahmung geschickt. Dem folgten vor allem die lutherischen Territorien in Norddeutschland. Aber auch Straßburg/ Strasbourg, eine tonangebende Stadt der Union, verwies in seinem Jubiläum auf die kursächsische Säkularfeier.61 Die so entstandene gleichförmige Jubiläumsfeier nach kursächsischem Vorbild unterstrich Johann Georgs I. politischen Geltungsanspruch als wichtigstem Schutzfürsten des Luthertums. Diesen brachte er auf den Münzen, die er anlässlich des Reformationsjubiläums 1617 prägen ließ, unmissverständlich zum Ausdruck: Sie zeigen ihn gemeinsam mit dem Beschützer Luthers, dem sächsischen Kurfürsten Friedrich III. (1486–1525). Vor dem Hintergrund der prohabsburgischen Politik Johann Georgs I. besaß diese Selbststilisierung als lutherischer Fürst eine Signalwirkung für den Protestantismus, ließ sie sich doch als Bekräftigung des konfessionellen Status quo in Kursachsen verstehen. Allerdings ging diese Demonstration keineswegs zu Lasten der Verbindungen zum Kaiserhaus. Zumindest unterschwellig signalisierte die Säkularfeier, dass der lutherische Kurfürst sämtliche Rechte, die der Kaiser als Haupt des Reiches besaß, auch künftig respektieren werde. 59 Vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 13 ff. 60 Vgl. W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 54 ff. 61 Vgl. zu den Jubiläumsfeiern in den Territorien H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 36–75. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 598 Wolfgang Flügel Eine solche Haltung baute auf dem lutherischen Obrigkeitsverständnis auf. Das Luthertum hat bekanntlich im Gegensatz zur römischen Kirche die augustinische Trennung von civitas Dei und civitas terrena radikalisiert. Aus der Forderung „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (Mk 12,17) und dem Gebot „Jedermann ist Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“ (Röm 13) – beide Perikopen waren für die Festgottesdienste vorgeschrieben –, folgte nichts weniger als eine Emanzipation der politischen Gewalt von der kirchlichen Bevormundung. Hierauf spielten die Festprediger an, wenn sie behaupteten, der Papst schont keinen hohen Potentaten, damit er selbst der höchste bleibe.62 Daher, so die Argumentation, profitiere auch das Kaisertum von der Reformation, insofern es dank deren (indirekter) Hilfe aus seiner Reduzierung auf den Stegreiffhalter und Truchsäß des Papstes befreit und wieder als autonome weltliche Macht etabliert worden sei.63 Damit war der Hinweis verbunden, dass für den Kaiser in weltlichen Fragen der Papst Konkurrent war, nicht aber die lutherischen Kurfürsten, die das Reichsoberhaupt als legitime Obrigkeit verstanden.64 Damit war das Reformationsjubiläum für Johann Georg I. ein integratives staatliches Herrschaftsinstrument, mit dem er angesichts einer politischen Krise gegenüber dem In- und Ausland seine lutherische Zugehörigkeit demonstrierte, sich als protestantischer Schutzfürst stilisierte und zugleich sein politisches Tun auf Reichsebene legitimierte. Doch nicht nur der Landesherr zeigte ein Interesse am Reformationsjubiläum. Auch das Oberkonsistorium nutzte die Säkularfeier als Chance, um gegen ein allgemeines Gefühl existenzieller Bedrohung vorzugehen. Hoë von Hoënegg beklagte, dass eine uberauß geschwinde und bei Menschen gedenken fast unerhörte Theurung und Hungersnoth dieses Land drucket, hierneben Pestilenz und ander gefehrlichkeiten.65 Nun waren Krieg, Epidemien und ökonomische Notlagen den Zeitgenossen zwar als ständige Bedrohungen präsent. Sie wurden aber durch die Theologen in einen Sinnzusammenhang mit der Krise des Luthertums gebracht und in Übereinstimmung mit Luthers Lehre als Strafe Gottes für menschliches Fehlverhalten interpretiert:66 Weil der Glaubenseifer 62 W. Franz, Predigt 2.11.1617, in: Christliche evangelische Lutherische Jubel-Predigten […], Wittenberg 1618 (VD17 23:245876F, 23:245819Q, 23:327814F, 23:280672F), S. 335. 63 M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 11, 61. 64 Mit Hinweis auf den Kaiser als legitime Obrigkeit beteiligte sich Kursachsen während des Böhmischen Aufstandes 1618 nicht am Kampf gegen das Haus Habsburg. Vgl. H. Duchhardt, Protestantisches Kaisertum und Altes Reich. Die Diskussion über die Konfession des Kaisers in Politik, Publizistik und Staatsrecht (VIEG AUG 87; BSVGAR 1), Wiesbaden 1977, S. 52 ff. 65 HStA Dresden, Loc. 7423/2, fol. 79 (Hoë von Hoënegg an Johann Georg I.; 15.5.1617). 66 Vgl. V. Leppin, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618 (QFRG 69), Gütersloh 1999, S. 151–159. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 599 erlahmt sei, verhänge Gott Krankheit und Hungersnot als gerechte Strafen.67 Jedoch war das Eingreifen Gottes in die menschlichen Schicksale weder unabänderlich noch willkürlich. Angesichts des vom Christentum (und ebenso vom Judentum) behaupteten Bündnisses zwischen Gott und dem Volk Israel, an dessen Stelle mit Hoë von Hoënegg nun das sächsische Volk getreten war,68 bestand die Möglichkeit, durch Buße und einer Änderung des Lebenswandels die von Gott verhängten Strafen abzuwenden.69 Hier setzte das Oberkonsistorium an. Es galt, „einer müde gewordenen evangelischen Christenheit die heilsgeschichtliche Bedeutung der durch Luther als Werkzeug von Gott selbst heraufgeführten Reformation“ zu verdeutlichen und sie zum Festhalten an der eigenen Konfession als Voraussetzung für das Seelenheil zu ermuntern.70 Um dieses Ziel zu erreichen, nutzten die Theologen die vielfältigen und in ihrer Wirkungsweise aufeinander abgestimmten Medien des Gottesdienstes, die wie Predigt und Gesang eine Massenkommunikation ermöglichen.71 So muss das gemeinsame Singen der Kirchenlieder als aktives Wiederholen und Aneignen von Glaubensaussagen verstanden werden. Dabei vermittelte der Gesang, gerade im responsiven Wechselspiel von Pfarrer und Gemeinde, ein Gemeinschaftserlebnis, das das Zugehörigkeitsgefühl zur gemeinsamen Konfession bestärken sollte.72 Der identitätsstiftende Charakter zeigte sich unter anderem darin, dass zahlreiche 67 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41), S. 107. 68 Vgl. Ders., Parasceve (wie Anm. 35), S. 38: Gott ist in Sachsen bekanndt, in Deutschland ist sein Name herrlich, zu Dreßden ist sein Gezelt. 69 Vgl. V. Leppin, Antichrist (wie Anm. 66), S. 165, 247; T. Kaufmann, Lutherische Predigt im Krieg und zum Friedensschluß, in: K. Bussmann / H. Schilling (Hgg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa, Textbd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, Münster 1998, S. 245–250, hier S. 247. 70 T. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur (BHTh 104), Tübingen 1998, S. 18 f.; vgl. auch H. Bollbuck, Martin Luther in der Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung, in: H. Rössler (Hg.), Luthermania. Ansichten einer Kultfigur (Ausstellungskat. HAB 99), Wiesbaden 2017, S. 47–68, hier S. 57–62. 71 Zum Gottesdienst als Ort der Kommunikation, zur Predigt und zu den liturgischen Handlungen als Kommunikationsmedien der Kirche vgl. G. Schwerhoff, Kommunikationsraum Dorf und Stadt. Einleitung, in: J. Burkhardt / C. Werkstetter (Hgg.), Kommunikation (wie Anm. 32), S. 137–146, bes. S. 139, 144. 72 Zur exponierten Stellung des Kirchenliedes vgl. auch D. Wendebourg, Lust und Ordnung. Der christliche Gottesdienst nach Martin Luther, in: J. Brademann / K. Thies (Hgg.), Liturgisches Handeln als soziale Praxis. Kirchliche Rituale in der Frühen Neuzeit (SKGWS 47), Münster 2014, S. 111–122, hier S. 121; zur gemeinschaftsbildenden Funktion des Kirchengesangs vgl. unter anderem S. Michel, Gesangbuchfrömmigkeit und regionale Identität. Ihr Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 600 Wolfgang Flügel Lieder aus der Feder Luthers stammten und als Bekenntnislieder den kämpferischen Geist der frühen Reformationszeit beschworen. Außerdem wurden Musikstücke aufgeführt, die eigens für das Reformationsjubiläum komponiert worden waren und in denen die für die Festpredigten vorgeschriebenen Perikopen aufgegriffen und nach Vorgabe von Hoë von Hoëneggs „Parasceve“ ausgelegt wurden.73 Damit unterstützte die Festmusik das Verständnis der Predigtinhalte. Der Predigt selbst, die nach Artikel fünf der Confessio Augustana als viva vox evangelii unmittelbar von Gott eingesetzt ist, fiel die Aufgabe zu, die reine evangelische Lehre zu verkünden und zur Einhaltung der religiösen und sittlich-moralischen Normen zu ermahnen.74 Mit dieser Funktionalität stimmt überein, dass die Jubiläumspredigten auf solchen Bibelstellen aufbauten, die traditionell in Hinblick auf das Papsttum und die katholische Kirche sowie auf Martin Luther und die Reformation ausgedeutet wurden.75 Dies erschien möglich aufgrund der charakteristischen Grundannahme der lutherischen Orthodoxie, wonach die Bibel göttliche Weissagungen über den künftigen Geschichtsverlauf enthalte und somit eine unfehlbare Quelle der Geschichtsdeutung sei. Gestützt auf die Autorität der Schrift sollten die Pastoren den Gemeindemitgliedern während des Reformationsjubiläums die grundlegenden identitätsstiftenden und deshalb altbekannten Basistopoi des Luthertums einschärfen. Dabei ging es jedoch weniger um rationale Überzeugung als vielmehr um eine emotionale Einwirkung und die Affirmation, wenn nicht gar Radikalisierung bestehender Standpunkte.76 In Sinne einer affirmativen Wirkung wurden deshalb altbekannte grundlegende Topoi wiederholt, etwa die beiden wichtigsten Antichrist-Stellen der Bibel (Dan 12 und 2 Thess 2). Beide Textstellen verifizierten im Verständnis der zeitgenössischen Theologen die für die lutherische Identität grundlegende Aussage, wonach eine strukturelle Identität des Papstes mit dem Antichrist als dem Störer der gottgewollten Kirche bestand.77 Hiervon ausgehend konnte Hoë 73 74 75 76 77 Zusammenhang und Wandel in den reußischen Herrschaften vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Leipzig 2007, S. 10 ff. Vgl. M. Rathey, Gaudium christianum. Michael Altenburg und das Reformationsjubiläum 1617, in: Schütz-Jb 20 (1998), S. 107–122, hier S. 116. Damit war die Predigt ein Mittel der Sozialdisziplinierung. Vgl. etwa W. Reinhard, Zwang (wie Anm. 29), S. 257–277. Vgl. H.-J. Schönstädt, Das Reformationsjubiläum 1617. Geschichtliche Herkunft und geistige Prägung, in: ZKG 93 (1982), S. 5–57, hier S. 20–23. Vgl. R. Kastner, Geistlicher Rauffhandel (wie Anm. 12), S. 303. Vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 200–303; V. Leppin, Antichrist (wie Anm. 66), S. 220, 229, 233, bes. Anm. 194; M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 63. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 601 von Hoënegg in seiner Predigtsammlung mit drastischen Argumenten die katholische Kirche als falsche abgoettische Kirch, in der ein elend ding gepredigt werde, abqualifizieren.78 Weitere zahlreiche Verweise auf die katholische Lehrmeinung sollten belegen, dass sich die katholische Kirche von der göttlichen Offenbarung entfernt habe. Die Spannbreite der Aufzählung reicht vom Fegefeuer über den Ablasshandel, dessen eigentliche Ursache im Geldmangel der Päpste läge, vom Heiligen- und Reliquienkult über die Einführung neuer Sakramente, wobei die alten grausam entheiligt wurden,79 bis hin zu weiteren Freweleien des Papstes.80 Das Resümee, das Hoë von Hoënegg nach dem Jubiläum zog, belegt sowohl die identitätsstiftende Bedeutung der Antichrist-These als auch die Intensität und den erhofften Erfolg, mit dem sie den Gemeinden nahegebracht wurden: Unsere klei­ nen Kinder, Gott Lob, die wissen jetzt, wofür sie den Bapst zu Rom erkennen sollen.81 Diesem Negativurteil stellten die Theologen einen zweiten, ebenso bekannten Topos konträr gegenüber. Mit Verweisen auf zahlreiche Bibelstellen deuteten sie die Reformation als Ergebnis göttlichen Handelns. Ausgehend von Am 3, wonach Gott den Einsatz von sog. Wunderleuten im Kampf gegen den Antichrist bekannt gibt, sahen die Pastoren die Reformation in der Auffindung der Bundeslade (2. Sam 6), im Sturz des endzeitlichen Tyrannen (Dan 11,44) und schließlich in den Weissagungen der Offenbarung (Offb 12 und 14 und 18) präfiguriert. Martin Luther selbst galt als Schwan,82 als neuer Elias und als das ewige Evangelium verkündender Engel (Offb 14,6).83 Damit stilisierten die Pastoren den Reformator zum Werkzeug Gottes, wobei sie seine individuellen Züge zugunsten des hier deutlich werdenden hagiographischen Charakters verwischten. Dies war jedoch keine Erfindung des Reformationsjubiläums, vielmehr konnten die Pfarrer nahtlos an die Predigtliteratur des 16. Jahrhunderts anknüpfen.84 Diese Ausdeutungen sollten den Festgemeinden den Beweis liefern, der einzig wahren, weil gottgewollten Konfession anzugehören. Dieses Argument unterstrichen die Theologen mit zusätzlichen Verweisen auf die Geschichte des Luthertums, etwa indem sie es als Wunder deklarierten, dass ein einzelner Mann der 78 79 80 81 82 M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 116–120. Ebd., S. 8. Ebd., S. 58. Ders., Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41), S. 63. Dies bezog sich auf die bekannte Prophezeiung von Jan Hus (tschech. husa = Gans), wonach ein Schwan sein Werk vollenden werde. 83 Vgl. H.-J. Schönstädt, Reformationsjubiläum (wie Anm. 75), S. 34–37; M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 17, 76 f. 84 Vgl. H. Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Göttingen 21970, S. 13–18. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 602 Wolfgang Flügel katholischen Kirche erfolgreich den Kampf hatte ansagen können und dass sich die Reformation trotz des Schmalkaldischen Krieges (1546/47) und des Interims (1548) ausgebreitet hatte.85 Damit war die Reformation nicht nur in der Bibel präfiguriert, sondern die seit der Publikation der Ablassthesen vergangene Zeit barg in sich den Hinweis, dass der Allerhöchste auch solches [das Evangelium, Anm. W. F.] wider alles Wieden und Toben des höllischen Feindes [der katholischen Liga, Anm. W. F.] […] erhalten habe.86 Aus dem andauernden Eingreifen Gottes musste gefolgert werden, dass dieser seiner lutherischen Kirche wohlgesonnen sei.87 Massenmedien Die Festbeschreibungen, die der Oberhofprediger und andere Pastoren verfasst und ihren Predigtdrucken beigefügt haben, bildeten gleichsam – mehr oder weniger repräsentative – Denkmale aus Papier, welche die Besonderheit der Säkularfeier gegenüber anderen Kirchenfeiertagen herausstellten und die Erinnerung an sie perpetuierten. Ihre inhaltliche Darstellung widerspiegelt die von den landesherrlichen Behörden vorgegebene Sichtweise auf das Jubiläum. Zwar sind Predigten aufgrund ihrer Funktionalität allgemein auf die dem Pastor bekannten Adressaten abgestimmt,88 aber im speziellen Fall mussten sie den vorgegebenen Perikopen und Deutungen folgen, weshalb sie lediglich Varianzen bilden konnten. Diesen quasi-offiziösen Drucken gegenüber stehen illustrierte Einblattdrucke, sog. Flugblätter, die als Handelsware zwangsläufig auf die mutmaßlichen Empfindungen der potenziellen Käufer abgestimmt, aber eben kaum den obrigkeitlichen Deutungsschemata unterworfen waren. Damit enthalten sie wichtige Hinweise darauf, ob die identitätsstiftende Erzählung des Jubiläums von den Festgemeinden angenommen wurde bzw. ob die benutzten Symbole vertraut waren. Dies gilt umso mehr, als die bei späteren Jubiläumsfeiern beliebten, von den Bürgern selbst veranlassten – und daher als Ego-Dokumente zu verstehenden – ephemeren 85 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 18. 86 Instruction und Ordnung (wie Anm. 31); ähnlich: M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 22, 47; Ders., Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41), S. 10. 87 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41), S. 107. 88 Vgl. A. Beutel, Kommunikation des Evangeliums. Die Predigt als zentrales theologisches Vermittlungsmedium in der Frühen Neuzeit, in: I. Dingel / W.-F. Schäufele (Hgg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit (VIEG AARG Beiheft 74), Mainz 2007, S. 3–15. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 603 Abb. 1: C. Grahle, Entlaufener Ablasskrämer und hell leuchtendes evangelisches Licht, Radierung, Leipzig 1617 [Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Sign. fl IX 1037, Foto: Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt]. Festarchitekturen oder emblematischen Illuminationen der Wohnhausfassaden 1617 noch fehlten. Ein Beispiel von vielen, in welchem Maß in diesen Drucken Argumentationsfiguren aufgegriffen wurden, die auch in den Jubelpredigten Verwendung fanden, liefert ein Flugblatt des Leipziger Kupferstechers Conrad Grahle († 1630), das die lutherische Fundamentalkritik am Papsttum aufgreift. (Abb. 1) Eine Musterpredigt von Hoë von Hoënegg bildlich umsetzend, zeigt die Abbildung, wie Martin Luther ein löwenähnliches Untier abwehrt. In ihm ist das apokalyptische Tier (Offb 11,7), d. h. das Teuflische, zu erkennen, wobei die Tiara auf dessen Identität mit dem Papst verweist. Luther nun vertreibt dieses Tier ebenso wie den bereits geflohenen Ablasskrämer Johann Tetzel (ca. 1465–1519). Als einzige Waffe dient ihm seine Glaubenslehre, die unmittelbar vom Wort Gottes, d. h. der Bibel, inspiriert war. Abbildungen des Ablasskrämers Tetzel begegnen auf mehreren Flugblättern, die zum Jubiläum 1617 erschienen waren.89 (Abb. 2) Die Gesamtkomposition 89 Dieser Absatz folgt unmittelbar M. Schilling, Luther als Engel des Jüngsten Gerichts, in: H. Rössler (Hg.), Luthermania (wie Anm. 70), S. 169–172, Kat.-Nr. 15. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 604 Wolfgang Flügel Abb. 2: Anonym, Wunderwerk Dr. Martin Luthers. Der päpstliche Stuhl wird sinken, Kupferstich, 1617 [Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Sign. fl IX 9079, Foto: Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt]. eines zunächst im sächsischen Freiberg publizierten Druckes zeigt ihn als Nebenfigur im Kontext einer Darstellung, die Luther als Engel der Apokalypse auf der einen und den Papst auf einem stürzenden, aber von seinen Anhängern gestützten Thron auf der anderen Seite zeigt – eine klare Anspielung auf die beiden in Kursachsen vorgeschriebenen Perikopen (Dan 12 und Offb 14). Gerade dieses Bild verdeutlicht, wie auf verschiedene Motive der konfessionspolitischen Polemik zurückgegriffen wurde. Der stürzende Thron geht etwa auf den Holzschnitt LVTHERVS TRIVMPHANS von Lucas Cranach d. J. (1515–1586) aus dem Jahr 1567 zurück. Ein ähnlicher Transfer lässt sich auch für den Text des Flugblattes nachweisen, der in seiner Aussage wie bei illustrierten Einblattdrucken generell üblich mit der Abbildung verschränkt ist: Es handelt sich um ein Dramolett, in dem der Ablass, an dem sich die Reformation entzündet hatte und der deshalb als Sinnbild für das negativ konnotierte Papsttum ein konstituierendes Element lutherischer Identität fest im kollektiven Gedächtnis der Lutheraner verankert war, verspottet und falsifiziert wird. Neben Luther treten unter anderem der Papst und Tetzel auf, wobei auch jene bekannten Worte fallen, die bereits Hans Sachs (1494–1576) in seiner „Wittenbergischen Nachtigall“ von 1523 Tetzel in den Mund gelegt hatte: So bald der Grosch im Kasten klingt / Von Mund die Seel im Himmel schwingt. Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Ablass wirkungsvoll thematisiert wurde, liefern die beiden Schuldramen „Lutherus Reformator“ und „Indulgentiarius Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 605 Confusus“ (Wirrer Ablasskrämer), die am Gymnasium in Eisleben, dem Geburtsund Sterbeort Luthers, aufgeführt wurden.90 Zwar benötigten diese Stücke eine deutlich längere Produktionsphase als die in kürzester Zeit herstellbaren Flugblätter, aber dies stellte kein Problem dar, weil ihr Dichter Martin Rinckart (1586–1649) als Pastor und Schulmeister bereits seit dem Spätsommer über die anstehenden Feierlichkeiten informiert war. Solche Theaterstücke, die in den Schulunterricht eingebunden wurden, dienten einerseits der sprachlichen Übung und andererseits der moralischen und religiösen Belehrung, weshalb sie oft in polemischer Absicht vor einem breiteren Publikum aufgeführt wurden.91 Aufgrund des Zusammenspiels von akustischen und visuellen Reizen befriedigten sie das Unterhaltungsbedürfnis in besonderem Maß und besaßen daher ein enormes Meinungsbildungspotenzial. Aufschlussreich ist, dass sowohl in den beiden Theaterstücken als auch in dem Flugblatttext identische Delegitimationsstrategien genutzt wurden: In allen drei Texten wurde Tetzel etwa die Behauptung zugeschrieben, er habe mit seinem Ablass bereits mehr Seelen aus dem Fegefeuer erlöst als der Apostel Petrus während seines gesamten irdischen Lebens.92 Solche polemisch zugespitzten Aussagen diskreditierten den Ablasshändler, stilisierten ihn zum Narren und wiesen ihm jene Rolle zu, die er auch in den Illustrationen einnahm. Nicht umsonst trägt er auf Grahles Abbildung eine Narrenkappe. Damit stellt sich die Frage, wie das Ereignis des 31. Oktober 1517 während des Reformationsjubiläums 1617 kommuniziert wurde. Den sog. Thesenanschlag, in späteren Jahrhunderten das ‚Icon‘ der Reformation schlechthin, schilderte Rinckart als unspektakuläres Ereignis. Ich will gehen in mein Stub hinauff / und etzlich Thesen setzen auff / Widr deinen Ablaß disputirn, lässt er den Reformator sagen. Doch nicht Luther, sondern dessen Famulus schlegt die thesen an.93 Tatsächlich spielte der Thesenanschlag ebenso wenig eine Rolle in der Vorstellungswelt des zeitgenössischen Luthertums wie der 31. Oktober als Gedenktag etabliert war. 90 Die Titel lauten: M. Rinckart Lutherus Reformator. Das ist: Evangelische JubelComoedi […], Halle/Saale 1618 (VD17 23:260792T); Ders., Indulgentiarius Confusus, Oder Eißlebische Mansfeldische Jubel-Comoedia […], Eisleben 1618 (VD17 23:248820R); insgesamt sind für 1617 fünf Schuldramen nachgewiesen. 91 Vgl. G.-M. Schulz, Einführung in die deutsche Komödie, Darmstadt 2007, bes. S. 51. 92 Vgl. M. Rinckart, Indulgentiarius Confusus (wie Anm. 90), Akt 1, Szene 4; Ders., Lutherus Reformator (wie Anm. 90), Akt 2, Szene 4; bei Conrad Grahle vgl. M. Schilling, Luther als Engel (wie Anm. 89), S. 169. 93 M. Rinckart, Lutherus Reformator (wie Anm. 90), Akt 2, Szene 8. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 606 Wolfgang Flügel In welchem Maß die Lutheraner 1617 auf einen gemeinsamen Symbolvorrat zurückgreifen konnten, belegt schließlich der Umstand, dass Rinckart in seinen beiden Lutherdramen, Hoë von Hoënegg in seinem „Parasceve“ und mindestens zwei in Mitteldeutschland verbreitete Flugblätter unter Rückgriff auf eine im späten 16. Jahrhundert verfasste Erzählung die Thesenpublikation zum Gegenstand einer Offenbarung machten, welche die Reformation als gottgewollt legitimierte. Danach berichtete der sächsische Kurfürst Friedrich III. von einem Traum – verstanden als eine seit dem Mittelalter vertraute Form der göttlichen Offenbarung –, den er in der Nacht zum 31. Oktober 1517 gehabt habe.94 (Abb. 3) In diesem sei ihm ein Mönch erschienen, zugleich habe er die Stimme Gottes vernommen. Sie befahl ihm, dem Mönch eine Nachricht, nämlich die 95 Thesen, an die Tür der Schlosskirche schreiben zu lassen. Dazu bediente sich der nunmehr als Luther zu identifizierende Mönch einer langen Feder, was erneut auf die Prophezeiung von Jan Hus (ca. 1370–1415) und Luther verweist. Die Feder selbst reichte bis nach Rom, durchbohrte dort einem Löwen – Papst Leo X. (1513–1521) – die Ohren und stieß ihm die Tiara vom Kopf. Daraufhin rief der Löwe die Reichsstände zusammen und forderte sie auf, dem Reformator die Feder zu entreißen. Dieser Versuch brachte jedoch nicht nur nicht den gewünschten Erfolg, vielmehr sprossen immer mehr Federn nach, die sich im ganzen Land verbreiteten. Neben dieser offenkundigen Prophezeiung enthält der Traum noch einen versteckten Hinweis auf das lutherische Selbstverständnis. Nach Aussage des Kurfürsten war der Mönch Luther – man beachte! – dem heiligen Paulus gantz ähnlich. Damit wurde das Luthertum in eine Traditionslinie gestellt, die bis in die apostolische Zeit zurückreicht. Dies erwies sich als geschickte Entgegnung auf die Angriffe der katholischen Kirche, die dem vergleichsweise jungen Luthertum ihre bis auf Petrus zurückreichende Kontinuität entgegenstellte, um so den eigenen Wahrheitsanspruch zu untermauern.95 Mit dieser Geltungsbehauptung lässt sich der Bogen schlagen zunächst zurück zu den Musterpredigten des Hoë von 94 Zum Traum des Kurfürsten vgl. R. Kastner, Geistlicher Rauffhandel (wie Anm. 12), S. 278– 288; zur ambivalenten Stellung von Träumen bei Luther vgl. H.-J. Goertz, Träume, Offenbarungen und Visionen, in: Ders., Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen (FKDG 93), Göttingen 2007, S. 164–187. 95 Zu diesem Standardargument der katholischen Kirche vgl. T. Fuchs, Protestantische Heiligen-Memoria im 16. Jahrhundert, in: HZ 267 (1998), S. 587–614, hier S. 587. Dabei gehörte es zum Anspruch, die jeweils eigene Kirche als alt, die andere hingegen als neu, als Abweichler, zu bezeichnen. Vgl. J. Burkhardt, Alt und Neu. Ursprung und Überwindung der Asymmetrie in der reformatorischen Erinnerungskultur und Konfessionsgeschichte, in: P. Burschel / M. Häberlein / V. Reinhardt / W. E. J. Weber / R. Wendt (Hgg.), Historische Anstöße. FS für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag, Berlin 2002, S. 152–171, hier S. 153–158. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt 607 Abb. 3: C. Grahle, Der Traum Friedrich des Weisen, Holzschnitt, 1617 [Stiftung Luther­ gedenkstätten Sachsen-Anhalt, Sign. fl VI 1184, Foto: Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-­ Anhalt]. Hoënegg und schließlich zu Martin Luther selbst. Dieser hatte behauptet, dass wir bey der rechten alten Kirche blieben, ja dass wir die alte Kirche sind, Ihr aber […] eine newe Kirche angerichtet hab wider die alte Kirche.96 Zusammenfassung In einer ‚Top-Down-Kommunikation‘, die ein Indiz für das Funktionieren der vormodernen Bürokratie war, ordneten die landesherrlichen Behörden in Kursachsen das Reformationsjubiläum 1617 an. Innerhalb kürzester Zeit gelang es ihnen so, die gesamte Bevölkerung zu erreichen und deren Handeln beim Ablauf der Säkularfeier zu synchronisieren. Mit einem Bündel von Kommunikationsprozessen 96 M. Luther, Wider Hans Worst. 1541, in: WA, Bd. 51, Weimar 1914, S. 461–572, hier S. 478 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 608 Wolfgang Flügel wurden dabei sowohl ‚Face-to-Face-Kommunikation‘, etwa in den Predigten, als auch Druckmedien genutzt. Diese einseitige Kommunikation in der Vorbereitungsphase wurde während der Säkularfeier ergänzt durch Kommunikationsformen, bei denen die Festgemeinden – oder Teile von ihnen – nicht nur als Empfänger, sondern auch als Sender agierten. Hier sind etwa der gemeinschaftsstiftende Gesang von Kirchenliedern sowie die Aufführung von Schuldramen zu nennen. In einem derart verdichteten Kommunikationsprozess galt es, eine identitätsstiftende ‚Einprägearbeit‘ bei der Verfestigung lutherischer Glaubenswahrheiten zu leisten. Dabei wurde sowohl inhaltlich als auch bei der Auswahl formaler Gestaltungsmittel an einen bekannten Symbolvorrat und verbreitete Argumentationsmuster angeknüpft. In welchem Maße diese Allgemeingut waren, lassen die Übereinstimmungen der Musterpredigten mit den Abbildungen der Flugblätter und mit Rinckarts Schuldramen erahnen. Im Ergebnis der Kommunikationsprozesse, die das Reformationsjubiläum 1617 geprägt hatten, ist schließlich die Vorstellung selbst, ein historisches Jubiläum zu begehen, zum Allgemeingut geworden. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 EPILOG Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Jiří Mikulec Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628) Der politische Kampf um die Repräsentanz der böhmischen Stände gegen die habsburgischen Herrscher im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts war mit dem Kampf zwischen den Religionen eng verbunden. Während die Herrscher konsequent die katholischen Positionen vertraten, war die übergroße Mehrheit der den böhmischen Ständen angehörenden Opposition den sog. Nichtkatholiken zuzuordnen.1 Dieser umfassende und breite Begriff wird in der tschechischen Historiografie als Terminus technicus verwendet und bringt die schwierige Situation der Religionen, die in den böhmischen Ländern vor Beginn der Rekatholisierung im Zuge der Niederschlagung des Ständeaufstands von 1618–1620 herrschte, am besten zum Ausdruck. In den böhmischen Ländern gab es den traditionellen Utraquismus, der vom Hussitentum ausging und in dem sich unter dem Einfluss der deutschen Reformation verschiedene Strömungen – angefangen von konservativen bis hin zu radikalen – herausbildeten. Daneben findet man die Brüderunität, ebenfalls eine einheimische Kirche, die auf dem Hussitentum basierte. Es war aber auch die lutherische Kirche vertreten, in geringerem Umfang auch der Calvinismus und ebenso verschiedene protestantische Minderheiten wie z. B. die Täufer. Um diese bunte Mischung religiöser Gemeinschaften treffend zu bezeichnen, sind die an die Tradition der deutschen Reformation geknüpften Begriffe ‚Protestanten‘ oder ‚Evangelische‘ nicht ausreichend. Deshalb erscheint eine breitere, wenn auch 1 Zur Ständegesellschaft in den böhmischen Ländern vor der Schlacht am Weißen Berg vgl. W. Eberhard, Monarchie und Wiederstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystem Ferdinands I. in Böhmen (VCC 54), München 1985; J. Pánek, Stavovská opozice a její zápas s Habsburky 1547–1577. K politické krizi feudální třídy v předbělohorském českém státě [Die Ständeopposition und ihr Kampf mit den Habsburgern 1547–1577. Zur politischen Krise der Feudalklasse im böhmischen Staat vor der Schlacht am Weißen Berg] (Studie ČSAV 2 [1982]), Praha 1982; P. Maťa, Český zemský sněm v pobělohorské době (1620–1740). Relikt stavovského státu nebo nástroj absolutistické vlády? [Der böhmische Landtag in der Epoche nach dem Weißen Berg (1620–1740). Ein Relikt des Ständestaats oder ein Instument der absolutistischen Herrschaft?], in: M. J. Ptak (Hg.), Sejm czeski od czasów najdawniejszych do 1913 roku [Der böhmische Landtag seit der ältesten Zeit bis zum Jahr 1913], Opole 2000, S. 49–67; V. Bůžek u. a., Společnost českých zemí v raném novověku. Struktury, identity, konflikty [Die Gesellschaft der böhmischen Länder in der Frühen Neuzeit. Strukturen, Identitäten, Konflikte] (Edice Česká historie [Edition Tschechische Geschichte] 22), Praha 2010. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 612 Jiří Mikulec negativ abgegrenzte Fassung des Begriffs passender, nämlich: Es waren Christen, die nicht der römisch-katholischen Kirche angehörten, also ‚Nichtkatholiken‘. Die bereits erwähnte Niederschlagung des Ständeaufstands in der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620 öffnete Ferdinand II. (1619–1637) Tür und Tor zu gewaltigen Veränderungen in Böhmen, unter anderem zu einer breitangelegten Rekatholisierung des größten Teils der böhmischen Bevölkerung. Im ersten Jahrzehnt nach der Schlacht am Weißen Berg wurde mit der Abschaffung des Religionspluralismus begonnen, d. h. mit der Abschaffung des Pluralismus, der zwei Jahrhunderte lang ein charakteristischer Wesenszug des religiösen Lebens in den böhmischen Ländern gewesen war. Im Folgenden geht es um die Anfänge und die Ausgangssituation der Rekatholisierung. Außerdem spielen Haltungen von Nichtkatholiken eine Rolle, die dem Druck von Seiten des Staates und der katholischen Kirche ausgesetzt waren. Zugleich soll anhand einiger Beispiele gezeigt werden, wie sich der Rekatholisierungsprozess in der zeitgenössischen Kommunikation niedergeschlagen hat. *** Wenn man das Geschehen unmittelbar nach der Schlacht am Weißen Berg näher betrachtet, wird deutlich, dass Böhmen auf eine radikale religiöse Veränderung, d. h. auf eine umfassende Rekatholisierung, in dem Sinne gar nicht vorbereitet war. Dass für die Anhänger des nichtkatholischen Lagers in den ersten Monaten nach der Schlacht am Weißen Berg ein allgemeiner zwangsweiser Übertritt zum römisch-katholischen Glauben keineswegs vorstellbar war, ist durchaus verständlich. Mit Sicherheit hatten sie sich wohl kaum vorstellen können, dass ihre Niederlage solch katastrophale Folgen nach sich ziehen würde. Viele politische Repräsentanten der böhmischen Stände glaubten nach der Niederschlagung des Aufstandes auch nicht daran, dass harte Strafen folgen würden, und so waren sie in Böhmen geblieben und warteten, wie sich die Lage entwickeln würde. Einige von ihnen bezahlten dann im Juni 1621 für diese Haltung auf dem Richtplatz auf dem Altstädter Ring in Prag mit ihrem Leben.2 Es scheint jedoch, dass nicht einmal die Katholiken selbst am Anfang mit einem direkten und umfassenden Verbot anderer Konfessionen rechneten.3 2 3 Vgl. J. Petráň, Staroměstská exekuce [Die Altstädter Exekution], Praha 42004. Ein systematischer Überblick über die Vorschläge zur Lösung der Religionssituation in Böhmen, die von Würdenträgern der katholischen Kirche und weltlichen Politikern unterbreitet wurden, in E. Čáňová, Vývoj správy pražské arcidiecéze v době násilné rekatolizace Čech (1620–1671) [Die Entwicklung der Verwaltung der Prager Erzdiözese in der Zeit der gewaltsamen Rekatholisierung Böhmens (1620–1671)], in: SAP 35 (1985), S. 486–557. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628) 613 Am 1. Dezember 1620, also drei Wochen nach der Schlacht am Weißen Berg, legte der Prager Erzbischof Johann Lohelius (1612–1622) dem Kaiser einen Vorschlag zur Neuregelung der Glaubensverhältnisse in Böhmen vor.4 Zwar hatte er in seinem Antrag die katholischen Positionen hervorgehoben und vorgeschlagen, die geistliche Verwaltung anderer Konfessionen einzuschränken, aber ein direktes Verbot nichtkatholischer Glaubensrichtungen war darin vorerst nicht enthalten. Diesen Schritt unternahm der Erzbischof, unterstützt von seinem Umfeld, erst ein Jahr später. Relativ gemäßigt war auch der Vorschlag zur Neuregelung der Glaubensverhältnisse in Böhmen, der in dieser Zeit von den kaiserlichen Ratgebern unterbreitet wurde.5 Diesen katholischen Politikern ging es in ihren Forderungen zwar auch um die Festigung der Positionen der katholischen Kirche und um die Einschränkung nichtkatholischer Glaubensrichtungen, jedoch war ein generelles Verbot auch hier nicht vorgesehen. Die zweihundertjährige Tradition des Zusammenlebens mehrerer Konfessionen war in Böhmen so fest verwurzelt, dass es eine gewisse Zeit dauerte, bis sich die katholische Seite vollkommen von ihr verabschiedete. Darin unterschieden sich die einheimischen, d. h. die böhmischen Katholiken auch von denen, die zum engsten Kreis des Kaisers gehörten, von dessen Beichtvätern und vom päpstlichen Nuntius Carlo Caraffa (1584–1644), die alle ein schnelles und konsequentes Vorgehen gegen die Ketzer in den böhmischen Ländern gefordert hatten. Den größten Feind sahen die gemäßigten Katholiken in Böhmen in der Brüderunität, deren Liquidierung von Anfang an verfolgt wurde. Man betrachtete sie – vereinfacht ausgedrückt – als Teil der calvinischen Welt und diese galt sowohl aus religiösen als auch aus politischen Gründen als Erzfeind.6 Der 4 5 6 Der Inhalt des Vorschlags von Erzbischof Lohelius wurde von Anton Gindely (1829–1892) in seiner Ende des 19. Jahrhunderts verfassten bedeutenden Monografie über die Anfänge der Rekatholisierung Böhmens nach der Schlacht am Weißen Berg beschrieben. Er verwies dabei auf ein Schriftstück aus dem Prager Erzbischöflichen Archiv und zitierte aus diesem, ohne jedoch ausführliche Angaben über die Archivierung dieser Quelle zu machen. Das Erzbischöfliche Archiv ist darüber hinaus seitdem neu geordnet und als ein Bestand des Nationalarchivs in Prag archiviert worden. Die von Gindely angeführte Quelle ist bisher noch nicht identifiziert worden. Vgl. A. Gindely, Geschichte der Gegenreformation in Böhmen, Leipzig 1894, S. 88 f.; vgl. auch E. Čáňová, Vývoj správy (wie Anm. 3), S. 508 ff. Vgl. A. Gindely, Geschichte (wie Anm. 4), S. 87; E. Čáňová, Vývoj správy (wie Anm. 3), S. 512. Zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Brüderunität und dem Calvinismus vgl. O. Odložilík, Bohemian Protestants and the Calvinist Churches, Chicago 1939; J. Dworzaczkowa, Čeští bratří – kalvinisté – reformovaní evangelíci. Problém terminologie [Die Böhmischen Brüder – die Calvinisten – die reformierten Evangelischen. Ein Problem der Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 614 Jiří Mikulec Calvinismus war auch die Religion des pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. (1610–1623), der – nachdem Ferdinand II . abgesetzt worden war – für ein Jahr böhmischer König wurde. Er erlangte starke Unterstützung bei den böhmischen Politikern aus den Reihen der Brüderunität. Diese fanden sich überraschend schnell mit der sog. Säuberung des Veitsdoms ab, bei der die Calvinisten aus dem Umfeld des neuen Königs im Dezember 1619 den Veitsdom von Altären, Bildern und Plastiken gesäubert und die meisten Kunstschätze der Kathedrale zerstört hatten.7 Die dogmatische Nähe der Calvinisten und der Brüderunität kam in Prag auch durch die räumliche Nähe ihrer Kirchen zum Ausdruck. Nach der Ausstellung des Majestätsbriefes (1609) von Kaiser Rudolf II. (1576–1611/12) siedelten sich beide Kirchen in unmittelbarer Nachbarschaft am Rande der Prager Altstadt/ Staré Město pražské am Ufer der Moldau/Vltava an. Hier stand die mittelalterliche Kirche der heiligen Simon und Judas, die der reformierten calvinistischen Kirche zufiel. Gleich daneben errichtete die Brüderunität ihre Kirche. Der Hass gegen sie und die Calvinisten veranlasste die Sieger der Schlacht am Weißen Berg dazu, rasch gegen diese beiden Religionsgemeinschaften vorzugehen, und schon im Dezember 1620 wurden beide Kirchen dem Orden der Barmherzigen Brüder übergeben. Dieser erbaute dann am selben Ort und unter teilweiser Ausnutzung des ursprünglichen Mauerwerkes seine neue Spitalkirche.8 7 8 Terminologie], in: SCetH 36 (2006), S. 302–305; A. Kostlán, Der böhmische Calvinismus zwischen Majestätsbrief und der Schlacht am Weißen Berg, in: J. Hausenblasová / J. Mikulec / M. Thomsen (Hgg.), Religion und Politik im frühneuzeitlichen Böhmen. Der Majestätsbrief Kaiser Rudolfs II. von 1609 (FGKÖM 46), Stuttgart 2014, S. 183–194; J. Bahlcke, Calvinismus, kulturelle Prägungen und ständische Freiheitsbewegungen in Böhmen und Ungarn (1570–1620), in: Ders., Gegenkräfte. Studien zur politischen Kultur und Gesellschaftsstruktur Ostmitteleuropas in der Frühen Neuzeit (SOMF 31), Marburg 2015, S. 168–189. Dieser Gewaltakt im Veitsdom, der nicht nur religiöses Zentrum, sondern auch Krönungsort und Grabstätte der böhmischen Könige und damit ein bedeutsamer Ort für die böhmische Staatlichkeit war, rief bei der überwiegenden Mehrheit der Prager Gesellschaft – einschließlich bei Nichtkatholiken – Protest hervor. Von der Brüderunität wurde er dagegen befürwortet. Vgl. M. Šroněk (Hg.), Vincenc Kramář. Zpustošení Chrámu svatého Víta v roce 1619 [Vincenc Kramář. Die Verwüstung des St. Veitsdoms 1619] (FHA 6), Praha 1998. Vgl. Ders., Kalvinisté v Čechách [Die Calvinisten in Böhmen], in: K. Horníčková / Ders. (Hgg.), Umění české reformace (1380–1620) [Die Kunst der böhmischen Reformation (1380–1620)], Praha 2010, S. 355–362, hier S. 358 ff.; P. Vlček / E. Havlová, Praha 1610–1700. Kapitoly o architektuře raného baroka [Prag 1610–1700. Einige Kapitel über die Architektur des Frühbarocks], Praha 1998, S. 28–31; zur calvinistischen Gemeinde in Prag vgl. N. Mout, The International Calvinist Church of Prague, the Unity of Brethren and Comenius 1609–1635, in: AC 4 [28] (1979), S. 65–77. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628) 615 Im Kontrast zu dieser schnellen Abschaffung der calvinistischen Gemeinde und der Gemeinde der Brüderunität in Prag stand der wesentlich wohlwollendere Umgang des Herrschers und seiner Regierung mit den Prager Lutheranern. Diese nutzten in Prag zwei Kirchen, die sie sich nach Ausstellung des Majestätsbriefes von Kaiser Rudolf II. in der Prager Altstadt und in der Prager Kleinseite/Malá Strana hatten erbauen lassen.9 Nach der Schlacht am Weißen Berg konnten die Gemeinden der Lutheraner in Prag noch zwei Jahre bestehen. Selbstverständlich spielten dafür weder religiöse noch theologische Gründe eine Rolle, sondern es war vielmehr nur politische Rücksichtnahme auf den damaligen Verbündeten des Kaisers, den sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. (1611–1656).10 Der Utraquismus, dem in Böhmen die Mehrheit der Bevölkerung angehörte, wurde von den einheimischen gemäßigten Katholiken als geringere Gefahr betrachtet als die religiösen Strömungen, die von der deutschen Reformation ausgingen. Der größte Teil der Utraquisten stand unter dem Einfluss des Luthertums. Daneben gab es aber nach wie vor auch konservative Utraquisten, die ausschließlich von den Traditionen des böhmischen Hussitentums ausgingen. In der böhmischen Historiografie haben sich für diese Strömungen im Rahmen des Utraquismus die Bezeichnungen ‚Neuutraquisten‘ und ‚Altutraquisten‘ eingebürgert.11 Diese Bezeichnungen sind jedoch ungenau, denn sie deuten auf die Unterteilung des Utraquismus in zwei sich relativ deutlich voneinander unterscheidende Gruppen hin.12 In Wirklichkeit handelte es sich nach wie vor um eine (einheitliche) utra9 Es handelte sich um die Dreifaltigkeitskirche auf der Kleinseite (heute Kirche Mariä vom Siege) und die Kirche des Heiligen Salvators in der Altstadt. Vgl. J. Just, Luteráni v našich zemích do Bílé hory [Die Lutheraner in unseren Ländern bis zur Schlacht am Weißen Berg], in: Ders. / Z. R. Nešpor / O. Matějka u. a., Luteráni v českých zemích v proměnách staletí [Die Lutheraner in den böhmischen Ländern im Wandel der Jahrhunderte], Praha 2009, S. 23–126, hier S. 115 ff. 10 Vgl. Z. R. Nešpor, Luteráni v českých zemích v období protireformace a náboženské tolerance (1620–1861) [Die Lutheraner in den böhmischen Ländern im Zeitalter der Gegenreformation und der religiösen Toleranz (1620–1861)], in: J. Just / Z. R. Nešpor / O. Matějka u. a., Luteráni v českých zemích (wie Anm. 9), S. 127–218, hier S. 132. 11 Diese Begriffe wurden vom protestantischen Historiker Ferdinand Hrejsa (1867–1953) verbreitet. Vgl. F. Hrejsa, Česká konfesse, její vznik, podstata a dějiny [Die Confessio Bohemica, ihre Entstehung, ihr Wesen und ihre Geschichte] (Rozpravy [Abhandlungen] ČAVU I/46), Praha 1912, S. 4–12; Ders., Dějiny křesťanství v Československu [Die Geschichte des Christentums in der Tschechoslowakei], Bd. 4: Za krále Vladislava a Ludvíka. Před světovou reformací a za reformace [Unter den Königen Wladislaw und Ludwig. Vor der Weltreformation und während der Reformation] (Spisy [Schriften] HČEFB A 6), Praha 1948, S. 256 f. 12 Auf die Problematik der Konstruktion des Alt- und Neuutraquismus hat der tschechisch-amerikanische Historiker Zdeněk V. David in einer ganzen Reihe seiner Arbeiten hingewiesen. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 616 Jiří Mikulec quistische Kirche, in deren Intentionen der konservative Flügel und der unter dem Einfluss der deutschen Reformation stehende Flügel eher als Extrempositionen zu betrachten waren, zwischen denen ein breites Spektrum verschiedenster Haltungen zu den Traditionen der böhmischen und der deutschen Reformation lag. Relativ gemäßigt und friedlich verhielten sich die Sieger der Schlacht am Weißen Berg vor allem gegenüber den konservativen Strömungen des Utraquismus, die sich dem Einfluss der deutschen Reformation entzogen hatten und sich schon seit dem 16. Jahrhundert an die römisch-katholische Kirche annäherten, z. B. indem sie weiterhin die apostolische Sukzession anerkannten, und ihre Priester damit der Weihe durch katholische Bischöfe unterlagen. Das wichtigste liturgische Spezifikum dieser konservativen Utraquisten war übrigens das Abendmahl unter beiderlei Gestalt, welches 1564 vom Papst persönlich für Böhmen und Mähren genehmigt wurde. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weihte der Prager Erzbischof mehrmals utraquistische Priester. Die Legalisierung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt für die böhmischen und mährischen konservativen Utraquisten wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durchaus als Mittel zum Zweck eingeführt, um im Laufe der Zeit eine allmähliche Verschmelzung mit der katholischen Kirche herbeiführen zu können, was auch dem habsburgischen Rekatholisierungskonzept von Kaiser und König Ferdinand I. (1526–1564) entsprochen hätte.13 Dieses war jedoch bis 1620 nicht umgesetzt worden und nach der Niederschlagung des Ständeaufstandes wurde die Genehmigung der Kommunionsspendung sub utraque specie für Böhmen zu einem Anachronismus, den das katholische Lager eigentlich nicht mehr nötig hatte. Der Prager Erzbischof Lohelius interpretierte in seinem an den Herrscher gerichteten Brief vom Frühjahr 1621 das päpstlich genehmigte Abendmahl unter beiderlei Gestalt als Deckmantel, unter dessen Schutz sich Vgl. z. B. Z. V. David, Celistvost církve pod obojí a otázka novoutrakvismu [Die Integrität der Kirche sub utraque und die Frage des Neuutraquismus], in: ČČH 101 (2003), S. 882–910; Ders., Finding the Middle Way. The Utraquists’ Liberal Challenge to Rome and Luther, Washington/Baltimore/London 2003. 13 Zu den Bemühungen Ferdinands I., den konservativen Teil der utraquistischen Kirche als Bollwerk gegen das Vordringen der deutschen Reformation nach Böhmen zu nutzen, und diesen im Laufe der Zeit zur völligen Verschmelzung mit der römisch-katholischen Kirche zu führen, vgl. F. Kavka / A. Skýbová, Husitský epilog na koncilu tridentském a původní koncepce habsburské rekatolizace Čech. Počátky obnoveného pražského arcibiskupství 1561–1580 [Der hussitische Epilog auf dem Konzil in Trient und die ursprüngliche Konzeption der habsburgischen Rekatholisierung Böhmens. Die Anfänge des erneuerten Erzbistums Prag von 1561 bis 1580] (Práce z dějin Univerzity Karlovy v Praze [Arbeiten aus der Geschichte der Karls­ universität Prag] 8), Praha 1969. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628) 617 in Böhmen die Häresie breitmachen würde. Die römische Kurie entschied also Ende 1621 über die Abschaffung des Laienkelchs. Im Januar des darauffolgenden Jahres trat auf Initiative des Papstes in Wien die sog. Consulta zusammen, eine Expertensitzung katholischer Theologen unter Teilnahme kaiserlicher Politiker, auf der Argumente für diese Entscheidung zusammengetragen und Bedingungen beraten wurden, unter denen die Abschaffung der Kelchkommunion ablaufen sollte.14 Die hier erwähnte anfängliche Toleranz der katholischen Kreise in Böhmen hatte natürlich auch noch andere Gründe, so z. B. eine gewisse Angst davor, dass ein rasantes Vorgehen gegen die Nichtkatholiken Widerstand in der Bevölkerung hätte hervorrufen können. So wurde die Verkündung des Patents vom 13. Dezember 1621, mit dem verfügt wurde, dass nichtkatholische Geistliche, die sog. Prädikanten, aus Prag vertrieben werden sollen, vom Fürsten Karl von Liechtenstein (1569–1627), der in Prag Ferdinand II. vertrat, gegen den Druck des Hofes hinausgezögert, mit der Begründung, dass Befürchtungen vor Unruhen bestehen.15 Von Interesse ist auch die in diesem Patent angeführte Argumentation, in der religiöse Motive vermieden wurden. Die nichtkatholischen Geistlichen wurden nicht wegen ihres Glaubens des Landes verwiesen, sondern aus politischen Gründen. Ihnen wurde zur Last gelegt, dass under jüngst fürgangenen Tumult und Auffstandt etliche böhmische praedicanten den ersten Ursprung und Anfang dieses vergiefften Unkrauts der Rebellion außgesäet hätten.16 Im Patent wurde ihr Wirken als unmittelbare Ursache für den Ausbruch des Ständeaufstandes, als Aufwiegelei, bezeichnet. Diese Berufung auf eine politische Schuld, welche die nichtkatholischen Geistlichen angeblich auf sich geladen hätten, war Ausdruck einer gewissen Zurückhaltung und Vorsicht in einer Zeit, als in Böhmen noch die päpstliche Erlaubnis zum Empfang des Abendmahls in beiderlei Gestalt gültig war. Der Brief des Nuntius Caraffa mit der Mitteilung, dass diese Erlaubnis von der päpstlichen Kurie aufgehoben worden sei, ist erst neun Tage nach der 14 Vgl. N. Richard, Vídeňská teologická Consulta z ledna 1622. Studie o zrušení přijímání podobojí laiků, vyhnání luteránských predikantů z Prahy a katolické reformě v Čechách [Die Wiener theologische ‚Consulta‘ vom Januar 1622. Eine Studie über die Aufhebung der Kommunion unter beiderlei Gestalt der Laien, über die Vertreibung der lutherischen Prädikanten aus Prag sowie über die katholische Reform in Böhmen], in: FHB 30 (2015), S. 279–339. 15 Vgl. J. Mikulec, 31.7.1627. Rekatolizace šlechty v Čechách. Čí je země, toho je i náboženství [31.7.1627. Die Rekatholisierung des Adels in Böhmen. Wessen Land, dessen Religion] (Dny, které tvořily české dějiny [Tage, welche die tschechische Geschichte formten] 11), Praha 2005, S. 41 f. 16 NA Praha, fond [Bestand]: SM, Sign. R 109/1, Kart. 1977 (der deutsche Druck des Patents vom 13.12.1621). Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 618 Jiří Mikulec Verkündung dieses Patents datiert.17 Mit Rücksicht auf das Bündnis des Kaisers mit dem sächsischen Kurfürsten waren die lutherischen Priester von diesem Patent vorerst noch nicht betroffen. Diese wurden erst ein knappes Jahr später – am 24. Oktober 1622 – des Landes verwiesen.18 Ferdinand II. war selbstverständlich ganz und gar nicht daran interessiert, den traditionellen Religionspluralismus in den böhmischen Ländern aufrechtzuerhalten. Dazu hatte er mindestens zwei Gründe. Der erste Grund war ein politischer, indem er nämlich die böhmischen Nichtkatholiken zwang, denselben Glauben anzunehmen, dem er angehörte, wurde ein großes und traditionelles Konfliktpotenzial zwischen den Habsburger Herrschern und ihren böhmischen Untertanen aus der Welt geschafft. Und der zweite Grund lag in Ferdinands persönlicher tiefer katholischer Frömmigkeit. Als Herrscher fühlte er sich für das Seelenheil seiner Untertanen verantwortlich und seine jesuitischen Beichtväter bestärkten ihn mit Hilfe der spanischen Moraltheologie noch in dieser Haltung.19 Da für ihn der katholische Glaube den einzigen Weg zur Erlösung darstellte, betrachtete er die Rekatholisierung als seine vorrangige Aufgabe. Allein die Konversion zum katholischen Glauben – und sei es unter Zwang – konnte seiner Anschauung nach die Seelen seiner Untertanen vor ewiger Verdammnis retten. Diese Entschlossenheit Ferdinands, Andersgläubige um jeden Preis zum katholischen Glauben zu bekehren, die sich bei ihm nach der Niederschlagung des böhmischen Aufstandes herausbildete, stand im Gegensatz zu seinen 17 Der Brief des päpstlichen Nuntius Caraffa an den Prager Erzbischof Lohelius über das Verbot der Kommunionsspende unter beiderlei Gestalt in Böhmen ist zum 22.12.1621 datiert, öffentlich publiziert wurde diese Maßnahme erst am 23.4.1622. Vgl. N. Richard, Vídeňská teologická Consulta (wie Anm. 14), S. 289 f. 18 Vgl. F. Hrejsa, U Salvátora. Z dějin evangelické církve v Praze (1609–1632) [Zum Salvator. Aus der Geschichte der evangelischen Kirche in Prag (1609–1632)], Praha 1930, S. 71 f.; V. Líva, Studie o Praze pobělohorské [Studien über Prag nach der Schlacht am Weißen Berg], T. 2: Rekatolisace [Rekatholisierung], in: SPDHMP 7 (1933), S. 1–120, hier S. 30. 19 Das geht unter anderem auch aus dem Beichtspiegel hervor, der von Ferdinands Beichtvätern verwendet wurde. Sie nutzten Fragen, die für die Beichte von Herrschern vom Generaloberen des Jesuitenordens P. Claudio Acquaviva (1543–1615) unter der Bezeichnung „Instructio pro confessariis principum“ zusammengestellt wurden. Unter diesen befanden sich auch Fragen, wie ein Herrscher in seinen Ländern die Häresie bekämpft. Damit hielten die Beichtväter dem Herrscher beständig vor Augen, dass der Kampf gegen die nichtkatholischen Kirchen eine wichtige politische und geistliche Pflicht des Herrschers darstelle. Vgl. Correspondenz Kaisers Ferdinand II. und seiner erlauchten Familie mit P. Martinus Becanus und P. Wilhelm Lamormaini, ed. B. Dudík, Wien 1876, S. 16–24; J. Mikulec, Rekatolizace (wie Anm. 15), S. 19 f. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628) 619 Standpunkten, die er früher vertreten hatte und in denen noch eine gewisse Kompromissbereitschaft zu verzeichnen war.20 In der landesweiten Rekatholisierung der böhmischen Länder im ersten Jahrzehnt nach der Schlacht am Weißen Berg können – vereinfacht betrachtet – im Wesentlichen drei Etappen unterschieden werden.21 In den Jahren 1621 bis 1623 wurden Maßnahmen gegen die nichtkatholische Geistlichkeit durchgesetzt. 1624 fand die Rekatholisierung der königlichen Städte ihren Höhepunkt. 1627 wurde die römisch-katholische Religion als der einzige erlaubte christliche Glaube verkündet, und zugleich erfolgte die Rekatholisierung des Adels (einschließlich der hohen Beamten). Diese letztgenannte Maßnahme war die notwendige Voraussetzung dafür, um anschließend die Untertanen auf den Gütern der nichtkatholischen Adligen zur Konversion zu zwingen. Dieser Prozess verlief jedoch während des Dreißigjährigen Krieges infolge der Kriegsereignisse reichlich unsystematisch und konnte erst im Jahrzehnt nach dem Westfälischen Frieden von 1648 abgeschlossen werden. Für die Glaubenskonversion der Vertreter der privilegierten Schichten kam den sog. Reformationskommissionen große Bedeutung zu. In Böhmen waren mehrere solche Kommissionen tätig.22 Die Hauptaufgabe der ersten Reformationskommission, die 1624 gebildet wurde, bestand darin, einzelne Pfarreien zu visitieren und festzustellen, wie diese mit römisch-katholischen Pfarrern besetzt sind. Nichtkatholische Geistliche, die trotz des Verbots in einigen Pfarren in ländlichen Gegenden noch anwesend waren, wurden aus ihren Ämtern entlassen. Die nächste Kommission führte dann von 1627 bis 1629 die eigentliche Rekatholisierung durch. Die Mitglieder der einzelnen Unterkommissionen verhandelten in den Rathäusern größerer Städte mit bislang noch nichtkatholischen Einwohnern, 20 Zur Fähigkeit Ferdinands II., nach der Niederschlagung des Ständeaufstandes bei Verhandlungen mit untergebenen Andersgläubigen in religiösen Fragen Teilkompromisse einzugehen vgl. T. Brockmann, Dynastie, Kaiseramt und Konfession. Politik und Ordnungsvorstellungen Ferdinands II. im Dreißigjährigen Krieg (QFG NF 25), Paderborn/München/Wien/Zürich 2011, S. 75–99, 185–192. 21 Zum Fortschreiten der Rekatholisierung in den 1620er Jahren vgl. J. Mikulec, Rekatolizace (wie Anm. 15), S. 27–72. 22 Aus den Arbeiten zur Problematik der Reformationskommissionen in Böhmen vgl. Dopisy reformační komisse v Čechách z let 1627–1629 [Die Briefe der Reformationskommission in Böhmen von 1627 bis 1629], ed. A. Podlaha (Sbírka pramenů církevních dějin českých století XVI.–XVIII. [Quellensammlung zur böhmischen Kirchengeschichte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert] 1), Praha 1908; E. Čáňová, Vývoj správy (wie Anm. 3), S. 517–526; Dekrety reformační komise pro Nové Město pražské z let 1627–1629 [Die Dekrete der Reformationskommission für die Prager Neustadt von 1627 bis 1629], ed. J. Mendelová (DP Monographia 24), Praha 2009. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 620 Jiří Mikulec Bürgern, Vertretern des Adels und Beamten der Obrigkeit aus der jeweiligen Umgebung und versuchten, sie zum Religionswechsel zu bewegen. 1637 wurde eine Sonder-Reformationskommission für die ehemaligen Besitztümer Albrechts von Wallenstein/Waldstein (1583–1634) gebildet, da dieser zu seinen Lebzeiten seine Territorien aus wirtschaftlichen Gründen vor einer gewaltsamen Rekatholisierung geschützt hatte. Nach Ende des Krieges war in Böhmen von 1652 bis 1655 die letzte Reformationskommission tätig. Ihre Aufgabe war, in der Mehrheit der Gebiete den Rekatholisierungsprozess zu Ende zu bringen, da dieser in den 1630er und vor allem in den 1640er Jahren ständig durch kriegerische Konflikte unterbrochen worden war. Das System von Reformationskommissionen war in der Habsburgermonarchie bei weitem nichts Neues. Diese wirksame Methode zur Ausübung von behördlichem Druck auf Andersgläubige hatte Ferdinand II. schon an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert in Innerösterreich angewandt, als er noch als Erzherzog von der Steiermark die Rekatholisierung dieser Länder betrieb.23 Mit Blick auf die Bezeichnung dieser Kommissionen lässt sich Folgendes festhalten: Für die Bekehrung der Andersgläubigen zum römisch-katholischen Glauben wurden von katholischen Kreisen die Begriffe ‚Reform‘ oder ‚katholische Reformation‘ bevorzugt verwendet. Dies hatte seine Logik, denn die Kirche reformierte sich auf dem Konzil zu Trient/Trento (1545–1563), wobei ein Bestandteil dieser Reform auch die Bekämpfung ihrer spirituellen Gegner war. Selbstverständlich ging es auch um die Beseitigung des Monopols der Protestanten auf die Nutzung dieses Begriffes. Die Nichtkatholiken, die in den böhmischen Ländern diesem Druck gegen ihren Glauben ausgesetzt waren, verhielten sich angesichts dieser Situation sehr unterschiedlich.24 Einige traten zum katholischen Glauben über, stellten sich damit auf die Seite der Sieger und öffneten sich Wege, um Karriere zu machen. Viele lehnten es ab, sich unterzuordnen, und widersetzten sich. Das funktionierte vor allem in den ersten Jahren der Rekatholisierung, als der Widerstand noch durch die Unsicherheit der Kriegsjahre und durch die Hoffnung genährt wurde, 23 Vgl. K. Amon, Innerösterreich, in: A. Schindling / W. Ziegler (Hgg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 1: Der Südosten (KLK 49), Münster 1989, S. 102–116. 24 Zur Problematik der unterschiedlichen Strategien der Bewohner der böhmischen Länder, mit denen sie auf die gewaltsame Rekatholisierung reagierten, vgl. J. Mikulec, Mezi konverzí a emigrací. Vídeňský dvůr a náboženská loajalita šlechty v prvních pobělohorských desetiletích [Zwischen Konversion und Emigration. Der Wiener Hof und die konfessionelle Loyalität des Adels in Böhmen in den ersten Jahrzehnten nach der Schlacht am Weißen Berg], in: OH 10: Šlechta v habsburské monarchii a císařský dvůr (1526–1740) [Der Adel in der Habsburgermonarchie und der kaiserliche Hof (1526–1740)] (2003), S. 397–414. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628) 621 dass sich die Lage doch noch ändern könnte und die Habsburger vernichtet oder zumindest den Einfluss auf die böhmischen Länder verlieren würden. Nachdem der Druck jedoch stärker wurde, gingen die Betroffenen entweder ins Ausland oder sie konvertierten formell zum katholischen Glauben. Sobald aber der Druck wieder nachließ, kehrten viele dieser Konvertiten zu ihrem ursprünglichen Glauben zurück. Auch diejenigen, die ins Ausland abgewandert waren, kehrten in den 1630er und 1640er Jahren wieder nach Böhmen zurück – entweder im Umfeld von Streitmächten, die in die böhmischen Länder einfielen, oder ganz legal mit Genehmigung der böhmischen Behörden, um ihre Vermögensverhältnisse zu ordnen. Solche Genehmigungen wurden ihnen erteilt, weil eine gewisse Hoffnung bestand, dass wenigstens einige der Rückkehrer letztendlich zum Katholizismus übertreten würden, damit sie dauerhaft im Land bleiben konnten. Der legale Aufenthalt in Böhmen war an die Auflage geknüpft, dass die Rückkehrer während ihres Aufenthalts Gespräche mit einem katholischen Priester zu absolvieren hatten.25 Die Auswanderung ins Ausland begann unmittelbar nach der Schlacht am Weißen Berg, zunächst aus politischen Motiven,26 denn die Politiker und Heerführer der böhmischen Stände verließen das Land, da sie wegen ihrer Teilnahme am Aufstand eine Bestrafung befürchteten. Der wachsende Rekatholisierungsdruck führte aber auch zu einem Exodus aus religiösen Gründen. Schon in der ersten Hälfte der 1620er Jahre wanderten in geringerem Umfang Nichtkatholiken aus Böhmen aus. Eine gewaltige Auswanderungswelle wurde jedoch durch die Maßnahmen von 1627 ausgelöst, d. h. als der römisch-katholische Glaube als einzige zugelassene Religion gesetzlich verankert und ein Patent verkündet wurde, das den Adel zur Glaubenskonversion zwang. Damals verließen viele Vertreter der gesellschaftlichen Elite, die sich nicht mit einer erzwungenen Glaubensbekehrung abfinden wollten, das Land. *** 25 Vgl. ebd., S. 406 ff. 26 Zusammenfassende Darstellungen des Exils in den ersten Jahrzehnten nach der Schlacht am Weißen Berg vgl. in: L. Bobková, Exulant [Der Exulant], in: V. Bůžek / P. Král (Hgg.), Člověk českého raného novověku [Der Mensch der böhmischen Frühen Neuzeit] (Každodenní život [Alltagsleben] 28), Praha 2007, S. 297–326; J. Mikulec, Die staatlichen Behörden und das Problem der konfessionellen Emigration aus Böhmen nach dem Jahr 1620, in: J. Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4), Berlin/Münster 2008, S. 165–186; I. Čornejová / J. Kaše / J. Mikulec, Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone], Bd. 8: 1618–1683, Praha/Litomyšl 2008, S. 102–107. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 622 Jiří Mikulec Die dramatischen Ereignisse, welche die landesweite Rekatholisierung, die nach der Niederschlagung des Ständeaufstandes einsetzte, mit sich brachte, fanden ihren Niederschlag auch in der Terminologie. Für die Auswanderung ins Ausland aus religiösen Gründen wurden Bezeichnungen eingeführt, in denen sich der gedankliche Konflikt widerspiegelte. In den Quellen aus dem 17. Jahrhundert werden zur Bezeichnung der Auswanderer zwei Begriffe verwendet: zum einen der Begriff ‚Exulanten‘ (Verbannte, Vertriebene), zum anderen der Begriff ‚Emigranten‘ (Auswanderer). Die jeweilige Verwendung dieser Begriffe war vom Standpunkt des Verfassers eines Schriftstückes abhängig. Die Begriffe ‚Exulanten und Exil‘ wurden grundsätzlich von denen verwendet, die darauf verweisen wollten, dass sie ihre Heimat gezwungenermaßen verlassen mussten, dass sie vertrieben wurden. Im Gegensatz dazu nutzten die staatlichen Behörden recht konsequent die Begriffe ‚Emigranten und Emigration‘, um den Aspekt der Freiwilligkeit der Auswanderung zu betonen. Dieser Ansatz wurde jedoch von den Betroffenen, die ihre Heimat aufgrund ihres Glaubens verlassen mussten, kategorisch abgelehnt.27 So z. B. verwendete der Leitmeritzer/Litoměřice Bürger Václav/Wenzel Nosidlo von Geblice (1592–1649), der aufgrund seines Glaubens in Sachsen Zuflucht fand, in seinem Tagebuch für diejenigen, die aus Glaubensgründen ausgewandert waren, konsequent den Begriff ‚Exulanten‘ und zeigte sich sehr verärgert darüber, dass die Behörden in Böhmen von ‚Emigranten‘ sprachen.28 Ähnlich wird in der propagandistischen Schrift über die Unterdrückung der Nichtkatholiken in den böhmischen Ländern „Historia persecutionum ecclesiae Bohemiae“ (‚Historie von den schweren Bedrängungen der böhmischen Kirche‘), die in Kreisen um Johann Amos Comenius (1592–1670) entstand, direkt zum Ausdruck gebracht, dass die katholischen Feinde die Glaubensflüchtlinge absichtlich mit dem Begriff ‚Emigranten‘ bezeichnen und es ablehnen würden, den Begriff ‚Exulanten‘ zu verwenden.29 Für die Bewohner des Königreiches Böhmen, die ihr Land verlassen hatten, weil sie nicht zum katholischen Glauben überwechseln wollten, war es nachvollziehbar, dass sie auf den Begriffen ‚Exil‘ und ‚Exulanten‘ beharrten. Aus ihrer Sicht handelte es sich ganz klar um Vertreibung, weil sie nicht bereit waren, zu einer Religion zu konvertieren, die ihnen aufgezwungen werden sollte. Die katholischen 27 Vgl. J. Mikulec, Staatliche Behörden (wie Anm. 26), S. 185. 28 Vgl. Die Chronik des Václav Nosidlo von Geblice. Aufzeichnungen aus der böhmischen Exulantengemeinde in Pirna zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Edition und Übersetzung, ed. M. Lisa (FGKÖM 47), Stuttgart 2014, S. 90. 29 Vgl. J. A. Komenský, Historie o těžkých protivenstvích církve české [Geschichte der Verfolgung der böhmischen Kirche], ed. M. Kaňák, Praha 1952, S. 170. Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0 Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628) 623 Kreise hatten naturgemäß eine andere Sichtweise. Ihrer Meinung nach wären diese Menschen deshalb ausgewandert, weil sie nicht bereit waren, sich dem Befehl des Herrschers zu unterwerfen, und die Auswanderung wurde als freiwillige Entscheidung interpretiert. Dem Staat und der katholischen Kirche zufolge sei es nicht das Ziel der Rekatholisierungsmaßnahmen gewesen, die Bewohner aus dem Land zu vertreiben, sondern sie zum Übertritt zu einem anderen Glauben zu bewegen. Übrigens hieß auch das Recht auf Emigration (Auswanderung), das den freien Angehörigen höherer gesellschaftlicher Schichten zustand, ius emigrandi. Diese widersprüchliche Verwendung dieser beiden Begriffe hielt so lange an, solange der Exodus aus Religionsgründen ein sensibles Thema war und ein Politikum darstellte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde auch von katholischen Historikern – z. B. von František Jan/Franz Johann Beckovský (1658–1725) und Jan/Johann Florian Hammerschmidt (1652–1735), beide katholische Geistliche – bei der Beschreibung der Ereignisse nach der Schlacht am Weißen Berg schon der Begriff ‚Exulanten‘ verwendet.30 100 Jahre nach diesen dramatischen Geschehnissen wurde demnach von der katholischen Kirche mit der Verwendung dieses Begriffes eingeräumt, dass ein Teil der Bevölkerung Böhmens nach der Schlacht am Weißen Berg de facto wegen ihres Glaubens aus der Heimat vertrieben worden war. Dies ist auch insofern verständlich, weil die Nichtkatholiken, die das Land im 17. Jahrhundert verlassen hatten, z