NORM UND STRUKTUR
Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit
Petr Hrachovec, Gerd Schwerhoff,
Winfried Müller, Martina Schattkowsky (Hg.)
Reformation als
Kommunikationsprozess
Die böhmischen Kronländer und Sachsen
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0
NORM UND STRUKTUR
STUDIEN ZUM SOZIALEN WANDEL
IN MITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT
IN VERBINDUNG MIT
GERD ALTHOFF, HEINZ DUCHHARDT,
PETER LANDAU (†), GERD SCHWERHOFF
HERAUSGEGEBEN VON
GERT MELVILLE
Band 51
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0
REFORMATION ALS
KOMMUNIKATIONSPROZESS
Böhmische Kronländer und Sachsen
Herausgegeben von
PETR HRACHOVEC
GERD SCHWERHOFF
WINFRIED MÜLLER
MARTINA SCHATTKOWSKY
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0
Dieser Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung, die mit den Mitteln der
Strategie AV 21 „Formy a funkce komunikace [Formen und Funktionen der
Kommunikation]“ vom 28. bis 30. 11. 2017 am Historischen Institut der
Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag veranstaltet wurde.
Der Druck wurde mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im
Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1285 „Invektivität. Konstellationen und
Dynamiken der Herabsetzung“ an der TU Dresden gefördert.
Open Access : Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der
Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0
siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
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© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln
Umschlagabbildung :
Allegorische Darstellung der „Traditionskette der Reformation“ (John Wyclif
mit einem Feuerstein, Jan Hus mit einer Kerze und Martin Luther mit einer Fackel)
im sog. Malostranský graduál [Kleinseitner Graduale von 1572], in: Národní
knihovna České republiky Praha [Nationalbibliothek der Tschechischen Republik
Prag], Sign. XVII A 3, fol. 363r.
Korrektorat: Klara Vanek, Köln
Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien
Satz : Michael Rauscher, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-412-51951-3
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0
Inhalt
Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller /
Martina Schattkowsky
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
PROLOG
Heinz Schilling
1517 – der Mönch und das Rhinozeros. . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
DY NA MIK EN DER ÖFFENTLICHK EIT
Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
Der Narrheit närrisch spotten. Mediale Ausprägungen und invektive
Dynamiken der Öffentlichkeit in der frühen Reformationszeit. . . . .
37
Thomas Kaufmann
Buchdruck und Reformation. Buchkulturgeschichtliche
Beobachtungen, insbesondere zu Innovationen in der Wittenberger
Produktion der Jahre 1517 und 1520. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Pavel Soukup
Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck . . . . . . . . .
101
Petr Voit
Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526) . . . . . . . . . . .
127
Martin Holý
Die protestantischen Lehrbücher als
Kommunikationsmedium in den Ländern der Böhmischen Krone
im 16. und frühen 17. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
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6
Inhalt
DIE POLITISCHEN A KTEUR E: STÄ NDE – A DEL – FÜR STINNEN
Jiří Just
Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation des
16. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171
Martina Schattkowsky
Adel und Reformation. Adliges Engagement zur Konfessionsbildung
im ländlichen Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
Jens Klingner
Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen
(1502–1557). Eine reformationsgeschichtliche Quelle . . . . . . . . .
203
INSTITUTIONEN IM R EFOR MATOR ISCHEN
KOMMU NIK ATIONSPROZESS
Enno Bünz
Stadtpfarrkirchen und Reformation. Wandel und Bestand am Beispiel
Leipzigs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
Winfried Müller
Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel im höheren
Schulwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
DIE KU NST DER R EFOR MATION A LS
KOMMU NIK ATIONSMEDIUM
Kateřina Horníčková
Framing the Difference. Visual Strategies of Religious Identification
in the Czech Utraquist Towns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
Kai Wenzel
Zirkulierende Zeichen. Konfessionelle Codierungen im
frühneuzeitlichen Kirchenraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287
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7
Inhalt
Marius Winzeler
Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien als Spiegel des
Reformationsprozesses. Oberlausitzer Kunstwerke als
Kommunikationsmedien im konfessionellen Zeitalter. . . . . . . . . .
313
Ondřej Jakubec
Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
Nichtkatholische Grabmäler in den böhmischen Ländern als
konfessionelle Objekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
DIE V ER BR EITU NG DER R EFOR MATION – R ÄUME U ND
W ISSENSTR A NSFER
Martin Rothkegel
Mähren als Gelobtes Land. Migrationserfahrung und Heilsgeschichte
bei den Hutterischen Brüdern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361
Gabriela Wąs
Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen.
Kommunikation und Transfer von Ideen und Personen. . . . . . . . .
381
Martin Wernisch
Der Adiaphoristische Streit in Böhmen. Ein Beitrag zum Verständnis
des spezifischen Verlaufs der böhmischen Reformation. . . . . . . . .
401
Petr Hrachovec
Die Reformation der langen Distanz. Der Zittauer Stadtschreiber
Oswald Pergener († 1546) und sein zwinglianischer deutschböhmischer Lesezirkel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
449
Jan Zdichynec
Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop. Beispiele aus der
Oberlausitz vor und nach 1600. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
511
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8
Inhalt
TR A DITIONSÜBER HÄ NGE U ND
T R A DITIONSKONSTRUKTIONEN
Hartmut Kühne
„[…] so vns Gott seine gaben mit wunderwercken erzeigt /
so halten wir es für ein gespöt oder fabel.“ Von Wunderzeichen und
Wunderbrunnen in den 1550er Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . .
541
Stefan Dornheim
Götzenkammern. Zum Umgang mit vorreformatorischer Bildkultur
im Luthertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
565
Wolfgang Flügel
Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt . . . . .
585
EPILOG
Jiří Mikulec
Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628) . . . . . . . . . .
611
A NHA NG
Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
627
Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
648
Ortsregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
656
Autorinnen und Autoren des Bandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
662
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Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky
Einleitung
Der vorliegende Band fasst die Ergebnisse einer Tagung zusammen, die vom Historischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, dem Dresdner Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde und dem Lehrstuhl für
die Geschichte der Frühen Neuzeit am Institut für Geschichte der Technischen
Universität Dresden gemeinsam vom 28. bis 30. November 2017 in Prag durchgeführt wurde. Damit fand diese Konferenz, deren organisatorische Hauptlast
bei den Prager Kolleginnen und Kollegen lag, fast schon in letzter Stunde des
weltweit begangenen 500. Jubiläumsjahres der Reformation statt. Vorausgegangen war die von der Evangelischen Kirche Deutschlands organisierte Reformations- oder Lutherdekade. Zwischen 2008 bis 2016 wurden, in Vorbereitung auf
das eigentliche Jubiläumsjahr, zentrale Aspekte der Reformation und der von ihr
ausgegangenen Impulse aufgegriffen. Das Spektrum dieser Themenjahre reichte
dabei von „Luther – Die Ankunft“ (2008) über „Reformation und Freiheit“ (2011)
oder „Reformation und Toleranz“ (2013) bis „Reformation und die Eine Welt“
(2016), die die Vielfalt reformatorischer Kirchen weltweit beleuchteten. Kulminationspunkt war dann natürlich das eigentliche Jubiläumsjahr 2017, für das
nach wie vor der legendäre Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche
vom 31. Oktober 1517 das Referenzereignis war.
Changierend zwischen Public History und wissenschaftlichem Anspruch, historischer Eventkultur und religiöser Feier, wurden in der Reformationsdekade und
mit dem 500. Reformationsjubiläum so gut wie alle Optionen der Vergangenheits
inszenierung ausgeschöpft, um die Vitalität des reformatorischen Gedankens in
der Gegenwart und seine Geltungsansprüche für die Zukunft zu dokumentieren:
Ausstellungen und Konzerte sind ebenso zu nennen wie historische Feste und
Festzüge. Die gute alte Denkmalsetzung spielte zwar keine prägende Rolle mehr,
der im 19. Jahrhundert monumentalisierte Luther reüssierte 2017 vielmehr vor
allem als Playmobil-Figur aus Plastik. Immerhin wurde aber die Idee des Naturdenkmals wiederbelebt. Hatte das 19. Jahrhundert Luthereichen gepflanzt, so
initiierte nun der Lutherische Weltbund den Luthergarten in Wittenberg, in dem
seit 2009 500 Bäume gepflanzt wurden; denn „auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt zugrunde geht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen“.
Natürlich waren in die Jubiläumsveranstaltungen auch die dem religiösen Anlass
angemessenen Festgottesdienste integriert – der zentrale fand in Verbindung mit
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10
Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky
einem staatlichen Festakt in Wittenberg statt – und nicht zuletzt war die Zahl
der wissenschaftlichen Vorträge und Konferenzen Legion.
Hier reihte sich die Prager Tagung „Reformation als Kommunikationsprozess.
Böhmische Kronländer – Sachsen – Mitteleuropa“ ein, die mit ihrer Fokussierung auf Vermittlungs- und Überlieferungsprozesse gerade auch die Erinnerungskultur der Reformation einschloss und den Sachverhalt reflektierte, dass
das Jubiläumsjahr 2017 auch eine selbstreferenzielle Dimension hatte: Das 500.
Reformationsjubiläum war das bislang letzte Glied einer langen Erinnerungskette,
die – in einem Beitrag dieses Bandes wird es aufgezeigt – bis zum ersten großen
Reformationsjubiläum der lutherischen und reformierten Landeskirchen in den
Territorien des Alten Reiches von 1617 zurückreicht.1 Während auf diese lange
(Vor-)Geschichte der Traditionsbildung 2017 regelmäßig hingewiesen wurde,
kam ein grundsätzlicher Aspekt dabei kaum zur Sprache: dass nämlich die im
Jubiläum sich vollziehende Skalierung der Geschichte ganz wesentlich durch das
Reformationsjubiläum von 1617 etabliert und popularisiert wurde und dass man
die moderne historische Jubiläumskultur in gewisser Weise als eine protestantische
Erfindung bezeichnen kann – die allerdings auf dem 1300 eingeführten Heiligen
Jahr der katholischen Kirche aufbaute.2
Die Abfolge der Reformationsjubiläen – 1617, 1717, 1817, 1917 und 2017 – lädt
natürlich dazu ein, in der longue durée auch nach dem Wandel in der protestantischen Erinnerungskultur zu fragen. Dass 2017 mit der Reformationsdekade ein
volles Jahrzehnt als Vorlauf für das Hauptereignis genutzt wurde, war beispielsweise
ein bis dato unbekanntes Novum, gerade wenn man auf die extrem kurze Vorbereitungszeit von nur wenigen Monaten 1617 zurückblickt. Und auch die polemisierende Abgrenzung der beiden Konfessionskulturen, die sich 1617 im unmittelbaren
Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges abgespielt und die sich im 19. Jahrhundert in
der Heroisierung Luthers auf protestantischer, dem Bonifatius-Kult auf katholischer Seite fortgesetzt hatte, gehörte 2017 der Vergangenheit an. Gefeiert wurde
im Geist der Ökumene, symbolisiert etwa 2009 durch die Pflanzung einer Linde
im Wittenberger Luthergarten durch Kardinal Walter Kasper oder 2016 durch die
1
2
Vgl. V. Leppin, Identitätsstiftende Erinnerung: das Reformationsjubiläum 1617, in: B. J.
Hilber ath / A. Holzem / V. Leppin (Hgg.), Vielfältiges Christentum. Dogmatische
Spaltung – kulturelle Formierung – ökumenische Überwindung?, Leipzig 2016, S. 45–67;
sowie den Beitrag von Wolfgang Flügel in diesem Band.
Vgl. W. Müller, Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion,
in: Ders. (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004, S. 1–75; zuletzt Ders., Das
historische Jubiläum als Motor der Public History, in: Westfälische Forschungen 69 (2019),
S. 53–67.
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11
Einleitung
Teilnahme von Papst Franziskus, der gemeinsam mit dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes Munib Younan in die Arena von Malmö einzog, unterlegt von
der aus anderen Zusammenhängen bekannten Hymne „You’ll Never Walk Alone“.
Kritiker einer vom Kalender und Zahlenfetischismus diktierten Eventkultur
durften sich durch diese Form der Inszenierung bestätigt fühlen.3 Doch Lutherdekade und Reformationsjubiläum können nicht nur auf Events reduziert werden,
vielmehr gab es eben auch – zu verweisen ist für Deutschland etwa auf die Reihe
der Nationalen Sonderausstellungen u. a. im Deutschen Historischen Museum
in Berlin, auf der Wartburg und in Wittenberg – ein wissenschaftlich fundiertes
Ausstellungswesen und die eingangs angesprochene Fülle von Tagungen, darunter
die diesen Band konturierende Prager Konferenz. Dass dieser wissenschaftlichen
Begleitung von Jubiläumsereignissen gelegentlich durchaus mit Skepsis begegnet
wird, soll dabei nicht verschwiegen werden. Dass die Geschichtswissenschaft in
den Sog einer massenmedial gesteuerten Aufmerksamkeitsökonomie hineingezogen wird, dass also die Jubiläumsarithmetik die Themen vorgibt und die
Wissenschaft sich des ‚Königsrechts‘ des Agenda Setting begibt, wurde nicht zu
Unrecht kritisch angemerkt. Zugleich sah sich die fachwissenschaftliche Jubiläumsproduktion von jeher einer gewissen methodischen Skepsis ausgesetzt, die
vom affirmativen Charakter vieler Jubiläumsfestschriften gespeist wurde. So kam
jüngst eine prominente Gruppe von Autoren zu dem lakonischen Schluss, dass
„anniversary moments do not seem to be the best time für scholarly innovation“.4
Ein selbstkritischer und selbstreflexiver Umgang der Geschichtswissenschaft mit
der Jubiläumssituation erscheint mithin angebracht.
Trotz des formulierten Vorbehalts erscheint der wissenschaftliche Ertrag des
Reformationsjubiläums durchaus von imposantem Umfang, wie sich bereits Ende
2017 abzeichnete.5 Gerade vor diesem Hintergrund bedarf jeder weitere Beitrag
zum Forschungsfeld eines klaren Fokus, um seine Existenz zu rechtfertigen. Der
vorliegende Band hat eine doppelte Zielstellung sowohl in systematischer wie auch
in raumzeitlicher Hinsicht. Systematisch eint seine Beiträge ein kommunikationsgeschichtlicher Blick auf die Reformationszeit. Sie folgen dabei einer Agenda,
die sich in den letzten Jahrzehnten als äußerst fruchtbar erwiesen hat und die in
3
4
5
Zur Kritik vgl. nur T. Kaufmann, Der Sieg der Inszenierung. Impressionen zum 500. Reformationsjubiläum in bilanzierender Absicht, in: Wartburg-Jahrbuch 2017, S. 39–64.
J. Arnold / T. A. Brady / T. Grady / D. Healey / F. McGarry, Anniversaries, in: GH
32 (2014), S. 79–100, hier S. 96.
Vgl. M. Pohlig, Jubiläumsliteratur? Zum Stand der Reformationsforschung im Jahr 2017, in:
ZHF 44 (2017), S. 213–274; H. Lehmann, 500 Jahre Reformation. Neuerscheinungen aus
Anlass des Jubiläums, in: HZ 307 (2018), S. 85–131; R. Slenczka, Zum Reformationsjubiläum 2017, in: ZHF 46 (2019), S. 47–82.
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12
Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky
der Konsequenz des zweiten großen forschungsleitenden Perspektivwechsels der
internationalen Reformationsgeschichtsschreibung liegt.6 Zunächst war es die
Sozialgeschichtsschreibung, die einen Paradigmenwandel hin zur Erweiterung der
klassischen Kirchen- und Theologiegeschichte einläutete, nicht zuletzt angeregt
durch die Herausforderung der marxistischen Historiografie. In der Konsequenz
kam es zu einer Aufwertung des Religiösen als Gegenstand auch einer allgemeinen
Geschichtswissenschaft bzw. zu einer stärkeren Verklammerung von Kirchen- und
Profangeschichte. Mit der seit dem späten 20. Jahrhundert eingeleiteten kulturwissenschaftlichen Wende (‚cultural turn‘) waren neue Impulse verknüpft, insbesondere der Abschied von allzu eindimensionalen Modernisierungstheorien und
von impliziten Annahmen einer gleichsam ‚natürlichen‘ Affinität zwischen einzelnen sozialen Gruppen wie ‚den‘ Bauern oder ‚den‘ Stadtbürgern und bestimmten
theologischen Positionen. Neben dem ‚Was?‘, den inhaltlichen Positionen, und
dem ‚Wer?‘, den individuellen und kollektiven Akteuren, rückte nun das ‚Wie?‘
stärker ins Zentrum der Analyse, nämlich der Charakter der Reformation als eines
pfadabhängigen, ergebnisoffenen Prozesses, dessen Dynamik, die binnen weniger
Jahre grundlegende Umwälzungen auslöste, deswegen umso erstaunlicher erscheint.
Das Thema „Reformation als Kommunikationsprozess“ hat viele Facetten. Insbesondere die Rolle der neuen Druckmedien bei der Verbreitung der reformatorischen Botschaft wird seit einigen Jahrzehnten intensiv diskutiert. Martin Luther
hat als erster Medienstar des Gutenberg-Zeitalters neue Beachtung gefunden, seine
Reformation gilt als Medienereignis und die ‚reformatorische Öffentlichkeit‘ als
ein verdichteter Kommunikationszusammenhang, der für den innovativen Charakter der Epoche überhaupt steht.7 Dabei reicht das Thema weit über die Welt
der Bücher und Bibelübersetzungen, der illustrierten Flugblätter und Flugschriften
hinaus, indem es auch die vielfältigen Aspekte der handschriftlichen und mündlichen Kommunikation umgreift, vom Brief bis zur Schmähschrift, von der Predigt
bis hin zur mündlichen „Zeitung“ und zum Gerücht; indem es auch Bilder und
künstlerische Erzeugnisse als Kommunikationsmedien begreift; und indem es nicht
zuletzt symbolisch-performatives Handeln von der ostentativen Verbrennung einer
Bannbulle bis hin zum Ikonoklasmus thematisiert. Auf der anderen Seite können
6
7
Nach O. Mörke, Die Reformation. Voraussetzung und Durchsetzung (EDG 74), München
2005, S. 135 ff.
Pars pro toto M. Nieden, Die Wittenberger Reformation als Medienereignis, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG),
Mainz 2012-04-23, http://www.ieg-ego.eu/niedenm-2012-de (letzter Zugriff am 15.5.2020);
vgl. weiterhin den Beitrag von Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff im vorliegenden Band.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0
13
Einleitung
auch traditionellere Themen in diesem Kontext neu aufgegriffen werden, ob es
sich um bestimmte Akteure handelt wie die Fürstinnen, den Adel oder bürgerliche Gruppen bzw. um institutionelle Gegebenheiten wie das Pfarrsystem oder die
Bildungseinrichtungen.8 Schließlich hat das Thema „Reformation als Kommunikationsprozess“ nicht zuletzt auch eine starke räumliche Dimension, insofern es
um inter- und transregionale Vermittlungsprozesse gehen muss.
Damit ist bereits die zweite, die raumzeitliche Zielstellung des Bandes angesprochen. Räumlich liegt der Fokus mit Kursachsen und den Ländern der Corona
Bohemiae auf zwei Nachbarregionen, die politisch beide unter dem Dach des
Reiches angesiedelt waren und die in intensiven ökonomischen und kulturellen
Austauschbeziehungen standen. Profiliert erscheinen sie aber auch und gerade in
religionsgeschichtlicher Hinsicht: Kursachsen war das Geburtsland und die wichtigste politische Schutzmacht jener Wittenberger Reformation, die die christliche
Kirche so stark verändern sollte wie kaum eine Bewegung vor oder nach ihr; Böhmen
war, wenige Generationen zuvor, der Resonanzraum von Jan Hus gewesen, eines
Mannes, dessen kirchenkritische Lehren ihn 1415 in Konstanz auf den Scheiterhaufen gebracht hatten und zu Kirchenbildungen führen sollten, die zu Luthers
Zeiten in den südöstlichen Nachbarregionen Sachsens ungebrochen lebendig waren.
Zu Beginn von Luthers öffentlichem Wirken handelte es sich bei seiner theologischen Nähe zum ‚Ketzer‘ Hus eher um eine Zuschreibung von gegnerischer
Seite: Johannes Eck charakterisierte den Wittenberger Professor im Zuge der
Leipziger Disputation von 1519 eindeutig als einen vom böhmischen Gift (virus
Bohemicum) erfüllten Ketzer. Auf der anderen Seite verfuhr ein Hus-Verehrer wie
Wenzel Rožďalovský, ein Priester der Prager Utraquisten, ganz ähnlich, wenn er
ihn in einem Brief als direkten Nachfahren des böhmischen Reformators ansprach:
„Was Johannes Hus für Böhmen war, bist nun Du, Martin, für Sachsen.“ Dagegen
hatte Luther trotz seiner affirmativen Bezugnahme auf einige der vom Konstanzer
Konzil 1415 verurteilten Lehrartikel zunächst eher eine traditionell-skeptische
Haltung eingenommen. Dies wich allerdings bei näherer Beschäftigung einer regelrechten Begeisterung; so äußerte Luther nach der Lektüre von Hus’ „De ecclesia“
im März 1520 zunächst im Vertrauen gegenüber Spalatin, sie seien allesamt, ohne
8
Vgl. KES, Bd. 1: Die Jahre 1505 bis 1532, ed. A. Thieme (QMSGV III/1), Leipzig 2010; KES,
Bd. 2: Die Jahre 1533 und 1534, ed. J. Klingner (QMSGV III/2), Leipzig 2016; H. Wunder / A. Jendorff / C. Schmidt (Hgg.), Reformation – Konfession – Konversion. Adel
und Religion zwischen Rheingau und Siegerland (VHKN 88), Wiesbaden 2017; M. Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement
(SSGV 55), Leipzig 2016; Dies. (Hg.), Adel – Macht – Reformation. Konzepte, Praxis und
Vergleich (SSGV 60), Leipzig 2020.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0
14
Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky
es zu wissen, Hussiten gewesen.9 Im Herbst desselben Jahres bekannte er dann
öffentlich, anlässlich der wahrscheinlich in Wittenberg erfolgten ersten Drucklegung von „De ecclesia“, ein so verständiges und edles Buch sei in 400 Jahren nicht
geschrieben worden. Die Identifikation mit dem Ketzer Hus transformiert sich
allerdings mit der Verbrennung von Bannandrohungsbulle und einigen Büchern
des kanonischen Rechts im Dezember 1520 schnell in seine Überbietung: Er sei
„fünfmal“ radikaler als Hus, der ja lediglich einen tyrannischen Papst aus der Christenheit ausgeschlossen sehen wollte, während er, Luther, grundsätzlich bestreite,
dass das Papsttum einer göttlichen Ordnung entstamme.10 In den folgenden Jahren
und Jahrzehnten wird Hus nicht nur von Luther selbst, sondern von der gesamten protestantischen Bewegung zum Vorläufer der Reformation stilisiert, seine
Schriften werden ediert und seine Person wird zum Gegenstand textlicher und
bildlicher Propaganda gemacht. So brachte Johann Agricola, Schüler Luthers
und Editor etlicher Hus-Schriften, eine „Tragedia Johannis Huss“ (1537) auf die
Bühne, in der das Leben und Sterben des böhmischen Märtyrers im Stil einer echten
Heiligenerzählung dramatisiert wurde. In der Vorrede zum Stück deutete er eine
angebliche (apokryphe) Prophezeiung von Hus aus, die Luther bereits früher auf
sich bezogen hatte: Die geröstete Gans (Hus auf dem Scheiterhaufen) werde sich
in einen schneeweißen Schwan mit einer hellen und klaren Stimme verwandeln,
dessen Gesang nicht nur in Böhmen, sondern in der ganzen Welt erschallen werde.11
Allein diesen beiden Gestalten – die ‚Gans‘ Hus und der ‚Schwan‘ Luther –
verklammern so die beiden Untersuchungsgebiete Böhmen und Sachsen. Dabei
erscheint heute, historiografisch gesehen, die Deutungsfigur einer möglichen
„Vorläuferschaft“ der böhmischen Reformation zu stark mit der lutherischen
Eigengeschichte verknüpft und dadurch tendenziell überholt. In anderer Hinsicht freilich fügt sie sich hervorragend in übergreifende neuere Forschungstendenzen ein. In deren Konsequenz ist die früher selbstverständliche Prämisse, der
Reformation sei ein grundlegender Umbruchscharakter eigen gewesen, produktiv
in Frage gestellt worden. Von verschiedener Seite her hat deren Zäsurcharakter
eine Relativierung insofern erfahren, als sie nun stärker als Kern eines weiter ausgreifenden temps des réformes begriffen wurde.12 In dieser Perspektive ließe sich
9 T. Kaufmann, Häresiologie. Jan Hus und die reformatorische Bewegung, in: Ders., Der
Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), Tübingen 2018, S. 30–67,
Zitate S. 39 und 51; vgl. auch P. Soukup, Jan Hus, Stuttgart 2014, S. 209–219.
10 T. Kaufmann, Häresiologie (wie Anm. 9), S. 53 und 57.
11 P. Haberkern, ‚After Me There Will Come Braver Men‘. Jan Hus and Reformation Polemics
in the 1530s, in: GH 27 (2009), H. 2, S. 177–195, hier S. 187.
12 H. Schilling, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in:
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0
15
Einleitung
vielleicht auch aus dem strukturellen Vergleich beider Bewegungen noch stärkerer
analytischer Gewinn ziehen.
Davon weitgehend unabhängig, aber ebenso interessant erscheint die Frage,
wie sich die religiösen Verhältnisse in den Ländern der Böhmischen Krone im
Verlauf der Reformationsgeschichte gestalteten. Die Entwicklung dort ist allerdings kaum auf einen einfachen Nenner zu bringen. Zum einen besaßen die
betroffenen Länder (Böhmen, Mähren, Schlesien und die Lausitzen) trotz der
Vereinigung unter einem Monarchen, ab 1526 dem Habsburger Ferdinand I., eine
gewisse Eigenständigkeit, auf deren Bewahrung Adel und Ständevertreter bedacht
waren. Zum anderen blieb die religiöse Landkarte in den betroffenen Ländern
von Pluralität geprägt: Neben der utraquistischen Mehrheitskirche der Hussiten,
die wenigstens zeitweilig mit der römischen Kurie bzw. dem Basler Konzil einen
gewissen Ausgleich erreichte und (in den Baseler Kompaktaten von 1433) den
Laienkelch zugestanden bekam, konnte sich unter dem Schutz adliger Patrone
zudem eine radikalere ‚taboritische‘ Strömung in Gestalt der Böhmischen Brüder
behaupten, die in vielen Aspekten ähnliche Positionen vertraten wie später die
Täufer. Seit den 1520er Jahren gelangten umgekehrt nicht nur lutherische Positionen und Personen aus Deutschland in die östlichen Nachbargebiete, sondern
auch Vertreter der radikaleren Strömungen der Reformation wie Hans Hut und
Balthasar Hubmaier. Überdies hatte sich in vielen deutschsprachigen Randgebieten und in einigen Flecken im Inneren des Königreiches auch der Katholizismus
gehalten. Von daher wären idealtypisch mindestens zwei Entwicklungen nachzuzeichnen, einmal nämlich die Begegnung der reformatorischen Bewegung mit
den existierenden hussitischen Bekenntnissen, zum anderen die Verbreitung des
Luthertums in bisher katholischen (vorwiegend deutschsprachigen) Gebieten.13
Dass die religiöse Entwicklung dabei nicht vor Territorialgrenzen haltmachte,
ist wenig verwunderlich. So kam es im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet der
Erzgebirgsregion im Jahrhundert zwischen 1520 und 1620 zu einer kulturellen
Integration im Zeichen der Confessio Augustana, die unter anderem von einem
lebhaften Austausch von Künstlern und Gelehrten geprägt war.14
B. Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998,
S. 13–34; B. Hamm, Wie innovativ war die Reformation?, in: A. Holzem (Hg.), Normieren, Tradieren, Inszenieren. Das Christentum als Buchreligion, Darmstadt 2004, S. 141–155.
13 W. Eberhard, Bohemia, Moravia and Austria, in: A. Pettegree (Hg.), The Early Reformation in Europe, Cambridge/New York 1992, S. 23–48, hier S. 27.
14 P. Hlaváček, Catholics, Utraquists and Lutherans in Northwestern Bohemia, or Public
Sphere as a Medium for Declaring Confessional Identity, in: M. Bartlová / M. Šronĕk
(Hgg.), Public Communication in European Reformation. Artistic and other Media in Central Europe 1380–1630, Prague 2007, S. 279–297, hier besonders S. 281.
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Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky
Die Beiträge des vorliegenden Bandes können der angedeuteten Vielschichtigkeit nur mit großen Einschränkungen bzw. exemplarisch gerecht werden. Nach
einem Prolog aus der Feder von Heinz Schilling, der die Vorgänge des Jahres 1517 pointiert in globale Zusammenhänge der Epoche einordnet, beschäftigen sich die Beiträge der ersten Sektion mit Dynamiken der Öffentlichkeit in
medienhistorischer Perspektive. Alexander Kästner und Gerd Schwerhoff
entfalten die Dimensionen einer Kommunikationsgeschichte der Reformation
beispielhaft in Bezug auf die Buchholzer Spottprozession des Jahres 1524 und
loten dabei besonders die Chancen einer analytischen Herangehensweise aus,
die den Akzent auf die invektiv-polemischen Kommunikationsformen legt. In
filigraner Beweisführung zeigt Thomas Kaufmann sodann auf, dass die Bedeutung des Buchdruckes für die Reformation kaum zu überschätzen ist und wie entschlossen und reflektiert Martin Luther sich dieses Instrumentes bediente. Der
Hussitismus war demgegenüber eine Reformation ohne Buchdruck, und Pavel
Soukup erläutert in seinem Aufsatz unter anderem die Bedeutung verschiedener
anderer Kommunikationskanäle, auf denen sich der Utraquismus in der Frühzeit
in Böhmen und Mähren zu etablieren vermochte. Den dünn gesäten Spuren des
Frühdrucks im Umfeld der utraquistischen Prager Städte spürt Petr Voit in seinem Beitrag nach. Auch im späteren 16. und im frühen 17. Jahrhundert wurden
in den böhmischen Ländern vielfach aus den protestantischen Nachbargebieten
importierte Lehrbücher benutzt, wie Martin Holý zeigt; das lag zum Teil an
der konfessionellen Nähe, zum Teil hatte es aber auch praktische Gründe, wobei
die Bücher ohnehin oft keinerlei ausgeprägtes konfessionelles Profil aufwiesen.
Ausgewählte politische Akteure werden in den Aufsätzen der folgenden Sektion thematisiert. Dass in Böhmen und Mähren dem Adel, traditionell bereits
Patron der utraquistischen Kirche, bei der Entfaltung reformatorischer Bestrebungen bzw. bei der Abwehr katholischer Restaurationsbemühungen eine entscheidende Rolle zukam, demonstriert Jiří Just. Aber auch für den sächsischen
Raum bringt Martina Schattkowsky das Konzept ‚Adelsreformation‘ ins Spiel
und plädiert zugleich dafür, künftig stärker das Mit- und Gegeneinander von
Adel und weiteren Akteuren der Reformation zu erforschen. In diesem Kontext
widmet sich Jens Klingner mit der Korrespondenz der sächsischen Herzogin
Elisabeth (1502–1557) einer bedeutenden Reformationsfürstin, die am Dresdner Hof eine beachtliche politische Gestaltungsmacht erlangte. Die folgenden
beiden Beiträge beschäftigen sich mit Pfarrkirchen und Schulen als wichtigen
Institutionen im Reformationsprozess. Enno Bünz zeigt am Beispiel Leipzig
sowohl die Ausdünnung des Netzes von kirchlichen Institutionen als auch die
Veränderungen ihrer Erscheinungsformen, wobei die beiden Stadtpfarrkirchen
ein wichtiges Kontinuitätselement zwischen vor- und nachreformatorischer Zeit
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17
Einleitung
darstellten. Mit der Reformation als Impuls für die Entwicklung des höheren
Schulwesens befasst sich Winfried Müller, indem er insbesondere die drei
sächsischen Landesschulen als neue Ebene zwischen lokaler Lateinschule und
Universität ins Zentrum der Betrachtung stellt.
Kunst als Kommunikationsmedium im Zeitalter der Reformation haben die
Aufsätze der folgenden Sektion zum Thema. Kateřina Horníčková kann zeigen, wie die künstlerische Darstellung bestimmter Personen wie Jan Hus oder Jan
Žižka bzw. von Symbolen wie des Kelchs im öffentlichen Raum zur Markierung
konfessioneller Positionen benutzt wurde. Konfessionelle Codierungen stehen
auch im Zentrum des Beitrags von Kai Wenzel, der belegt, dass Bilder aus vorreformatorischer Zeit und sogar aus dem nachtridentinischen Katholizismus in
lutherische Sakralräume integriert wurden, dabei allerdings spezifischen Veränderungen unterzogen wurden – eine an den konfessionellen Rahmen angepasste
Neucodierung. Darum geht es im Grunde auch, wenn Marius Winzeler das
vorreformatorische Große Zittauer Fastentuch mit dem nachreformatorischen,
nachweislich bis 1684 in Gebrauch gebliebenen Kleinen Zittauer Fastentuch
vergleicht. In der Wechselwirkung von Bild und Text hebt er dabei vor allem den
kollektiven Aspekt von Belehrung, Unterrichtung, ja auch Unterhaltung hervor,
während bei den gleichfalls untersuchten Zittauer Epitaphien das individuelle
Zeugnis im Sinne einer Memorial- und Vorbildwirkung im Vordergrund gestanden habe. Gleichfalls den Epitaphien gilt das Interesse von Ondřej Jakubec. In
seinem Beitrag über lutherische Epitaphien in den tschechischen Ländern warnt
er dabei von einer überzogenen Betonung des konfessionellen Moments und
akzentuiert vielmehr deren überkonfessionelle Verträglichkeit.
Räume und Wissenstransfer bilden das thematische Zentrum der folgenden
Sektion. Eine interessante eschatologische Aufladung ihres Asyls beobachtet Martin Rothkegel bei den Hutterern, die seit Mitte der 1520er Jahre im südlichen
Mähren Zuflucht gefunden hatten. Eine andere kleine Gruppe radikaler Reformatoren, die Schwenckfelder und ihr Wirken im Herzogtum Preußen, macht
Gabriela Wąs zum Gegenstand ihrer Betrachtungen, wobei deutlich wird, dass sie
trotz einer Kommunikationsoffensive auf mehreren Ebenen den machtgestützten
Abwehrbemühungen der Lutheraner letztlich wenig entgegenzusetzen hatten. Am
Beispiel des weitgehend unbekannten ‚utraquistischen Flacianers‘ Viktorin Anxiginus geht Martin Wernisch der Adaption der Adiaphora-Lehre in Böhmen
nach und stellt Verbindungen sowohl zur europäischen Reformationsgeschichte
als auch zur hussitischen Vorgeschichte heraus. Mit der überraschenden Pluriformität der Reformation im oberlausitzischen Zittau macht der Aufsatz von
Petr Hrachovec vertraut, der den Briefwechsel und Wissenstransfer zwischen
Zürich und einem Kreis von Zwinglianern um den Zittauer Stadtschreiber Oswald
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Petr Hrachovec / Gerd Schwerhoff / Winfried Müller / Martina Schattkowsky
Pergener behandelt. Welche Herausforderungen die konfessionelle Vielgestaltigkeit in der Oberlausitz sowohl für Herrschaftsträger als auch für einzelne Gläubige bedeutete und welche Konflikte daraus resultierten, zeigt Jan Zdichynec
anschaulich am Beispiel der dortigen Frauenklöster und der Stadt Lauban/Lubań.
Mit markanten Ausprägungen spezifisch lutherischer Traditionskonstruktion
befassen sich die Beiträge der letzten Sektion. Dazu gehörte das Phänomen der –
medial weit verbreiteten – heiltätigen ‚Wunder- oder Gnadenbrunnen‘, das Hartmut Kühne am Beispiel von Pyrmont vorstellt und in die Prodigien-Tradition
einordnet. Eine andere Traditionslinie betont Stefan Dornheim mit seinem
Beitrag zum Umgang mit der vorreformatorischen Bildkultur im Luthertum. Er
zeigt, wie die Artefakte teilweise in den sog. Götzenkammern entsorgt wurden –
sozusagen prämuseale Depots, die dann im 19. Jahrhundert Impulse für die Denkmalpflege gaben und zu Objekten der Musealisierung wurden. Traditionsbildung
steht dann im Zentrum des Beitrags von Wolfgang Flügel. Er beschäftigt sich
mit dem bereits angesprochenen Reformationsjubiläum von 1617 sowohl im Hinblick auf seine kommunikative Vorbereitung und ‚Anbahnung‘ sowie in Bezug
auf seine öffentliche Begehung und mediale Verbreitung. Den Schlusspunkt des
Bandes schließlich setzt Jiří Mikulec mit seiner Skizze zum Ende der Reformation bzw. dem Beginn der Rekatholisierung in Böhmen in den 1620er Jahren.
Zweifellos vermag auch der vorliegende Band bestehende Forschungslücken
zur Reformation als Kommunikationsprozess in den Böhmischen Kronländern,
in Sachsen und den benachbarten Gebieten nicht in Gänze zu schließen. Dennoch sollte er deutlich machen, wie fruchtbar ein grenzüberschreitender Austausch ist. Der Vergleich der verschiedenen historiografischen Traditionen und
Schwerpunktsetzungen ist zweifellos anregend – inklusive der unvermeidlichen
Provokation, die etwa in der Charakterisierung von Ereignissen als ‚erste‘ bzw.
‚zweite‘ Reformation liegt.15
Einmal mehr tritt mit dem speziellen räumlichen Zuschnitt des Bandes die
Vielfalt der reformatorischen Bewegungen hervor, was auf die Notwendigkeit
einer Verständigung über unterschiedlich gehandhabte Begrifflichkeiten und
Theorien verweist. Hier schließt sich vielleicht auch der Kreis zu dem von Heinz
Schilling in diesem Band präsentierten Dürer’schen Rhinozeros, das nicht nur
als Symbol für die Begegnung Europas mit der Welt gilt, sondern auch als Erweiterung des Wissenshorizonts zur Reformationsgeschichte.
15 Vgl. den Beitrag von Pavel Soukup in diesem Band.
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PROLOG
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Heinz Schilling
1517 – der Mönch und das Rhinozeros
1. Eine Ausweitung der Perspektive
Es könne nur „Geschmack am Paradoxen“ sein, so Benedetto Croce (1866–1952),
wolle man in Zweifel ziehen, „daß am 1. November 1517 [sic!] Luthers Thesen an
der Kirchentüre in Wittenberg zu lesen waren und daß am 14. Juli 1789 das Volk
von Paris die Bastille erstürmte“ und dass mit beiden Ereignissen welthistorische
Umbrüche eingeleitet wurden.1 Ich leiste mir im Folgenden diesen ‚Geschmack
am Paradoxen‘: Nicht im Sinne einer post-faktischen Geschichte, die die Realität
der Thesen in Zweifel zieht, wurden sie nun verschickt, angeschlagen – oder gar
angeklebt, so die neueste Volte in einer schier unendlichen Geschichte reformationsgeschichtlicher Selbstbespiegelung; vielmehr soll es darum gehen, den historischen Reflexionsraum über die bislang vorherrschende nationale und europäische Perspektive auszuweiten und dadurch zu überprüfen, ob es stimmt, was
noch Adolf von Harnack (1851–1930), der wohl bedeutendste protestantische
Theologe und Wissenschaftsorganisator der Weimarer Republik, vor knapp 100
Jahren protestantisch selbstbewusst feststellte: „Die Neuzeit hat mit der Reformation Martin Luthers ihren Anfang genommen, und zwar am 31. Oktober 1517; die
Hammerschläge an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet.“2
Anfang des 21. Jahrhunderts ist die protestantisch nationale Geschichtsdeutung
dieser Art überwunden. Die Frage nach dem Beginn der Neuzeit, also unserer
heutigen Zeit, ist in einen weiteren Rahmen zu stellen, nämlich in eine transkonfessionelle und globale Perspektive. Die Welt war im Jahr 1517 durch eine bunte
Vielfalt von Neuansätzen, Hoffnungen und Ängsten bestimmt. Es ist unsere
gegenwärtige Welt mit all ihren Bedrohungen und Ängsten, aber auch Chancen,
die damals vor einem halben Jahrtausend geboren wurde. Im Einzelnen führt
1
2
B. Croce, Aesthetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft.
Theorie und Geschichte, übersetzt von H. Feist / R. Peters (Gesammelte philosophische
Schriften, Reihe 1: Philosophie des Geistes 1), Tübingen 1930, S. 31 f.; im Folgenden kommt
mein im November 2017 in Prag gehaltener Vortrag weitgehend unverändert zum Abdruck.
Es wurden nur die unumgänglichen Anmerkungen hinzugefügt. Detaillierter ausgeführt und
belegt finden sich meine Überlegungen in H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit
des Umbruchs, München 42017; Ders., 1517 – Weltgeschichte eines Jahres, München 32017.
A. von Harnack, Die Reformation und ihre Voraussetzung, in: Ders., Erforschtes und
Erlebtes (Adolf von Harnack. Reden und Aufsätze NF 4), Gießen 1923, S. 72–140, hier S. 110.
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22
Heinz Schilling
der Blick durch das historische Teleskop vor Augen, wie die Welt damals, in vielen Regionen in religiöser Ehrfurcht erregt, auf große Dinge wartete, die dann
auch kamen: Wie einzelne Weltregionen zum Ursprung neuer Religionen, neuer
Umstände werden, die dann die Welt verändern. Wie im kastilischen Valladolid
ein dynastischeres Pokern die Habsburger zur Weltmacht werden lässt. Wie in
Kairo ein arabischer Frühling aufbricht, und sich in Dschidda entscheidet, wer
Herr über Mekka wird, oder in Moskau eine Mission am Hof des Zaren ergebnislos endet, dem Westen Europas aber erstmals zuverlässige Kunde über den bislang
weitgehend unbekannten und daher gefürchteten Teil Europas, ‚gen Mitternacht
hin gelegen‘, bringt. Wie in Peking, wo ein portugiesischer Aufbruch ins Reich
der Mitte erstmals seit Jahrhunderten bis an den Kaiserhof gelangt, dieser dann
elendiglich scheitert, weil die Europäer unsensibel die kosmische Begründung des
kaiserlichen Herrschaftsanspruchs und dessen ritueller Symbolisierung verletzen.
Wie schließlich in Yucatán, wo die aus der Karibik aufs mexikanische Festland
vorstoßenden Spanier durch die folgenschwere Verwechslung mit rückkehrenden
Göttern durch Majas und Azteken Glanz und Macht der meso-amerikanischen
Hochkulturen vernichten.
Gleichzeitig ist zu berichten, wie in Mitteleuropa in Straßburg/Strasbourg die
Hexenjagd propagiert wird oder in Regensburg eine Treibjagd gegen die Juden
beginnt. Wie in Joachimsthal/Jáchymov, auf dem böhmischen, bald unter habsburgischer Herrschaft stehenden Teil des Erzgebirges die berühmte Silbermünze
geprägt wurde, die als Thaler Jahrzehnte lang den europäischen Geldverkehr
beherrschte, und die schließlich der heute noch führenden Weltwährung den
Namen gab – dem Dollar: Thaler – Daler – ‚Dollar‘. Zur selben Zeit plagt sich im
Ermland/Warmia (im heutigen nordöstlichen Polen) ein Domherr mit Frage der
Geldstabilität, die angesichts der Silberknappheit und des rasch expandierenden
Handels vor allem in der Ostsee zur Achillesferse der europäischen Wirtschaft
geworden ist. Ergebnis ist die erste moderne Geldwerttheorie, aus der Feder von
niemand geringerem als Nikolaus Kopernikus (1473–1543), der wenig später als
Astronom Weltruhm erringen sollte. In einer frühen Reaktion auf dieses Kopernikus-Kapitel meines 1517er-Buchs titelte „Die Welt“: „500 Jahre Euro-Krise“.3
Somit hatte sich 1517 das diplomatische, politische wie militärische Aktionsfeld der Europäer deutlich ausgeweitet. Doch wichtiger noch: Es war eine
mächtige Flut von Informationen über Geographie, Flora und Fauna der neu
erschlossenen Welträume, ebenso über die dort lebenden Menschen und deren
Kulturen in Europa angekommen. Sie vertiefte dort das neue Weltwissen und
3
M. Kamann, 500 Jahre Euro-Krise, in: Die Welt (28.1.2017), https://www.welt.de/print/
die_welt/article161602524/500-Jahre-Euro-Krise.html (letzter Zugriff am 21.3.2020).
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1517 – der Mönch und das Rhinozeros
23
amalgamierte sich mit dem innereuropäischen Wissensaufbruch im Zuge von
Humanismus und Renaissance. Europa trat immer enger mit den anderen Kontinenten in Beziehung. Das europäische Wissen erweiterte und vertiefte sich, es
wurde bunter und komplexer.
Für rasche Verbreitung sorgte der Buchdruck. Sigismund von Herbersteins
(1486–1566) Reisechronik ersetzte die verzerrenden Gerüchte durch eigene
Anschauung und begründete die neuzeitliche rationale Russlandkunde. Die
„Summa Orientalis“ des portugiesischen Gesandten Tomé Pires (ca. 1465–
1524/40) erschloss den Fernen Osten bis hin zum Essen mit Stäbchen. Vielleicht
wichtiger noch wurde die Druckgrafik, die das Neue abbildete und vervielfältigt
den Menschen vor Augen stellte – berühmt Albrecht Dürers (1471–1528) Konterfei des Rhinozeros Odysseus, das bis heute als Ikone des neuen Weltwissens gilt.
Das aus der Begegnung mit den neuen Welten entstandene Wissen wurde methodisch und theoretisch gleichsam europäisiert und in Herrschafts- und Nutzwissen
umgeschmolzen. Das ließ die neuzeitlichen Naturwissenschaften aufblühen. Der
moderne Höhepunkt dieser im frühneuzeitlichen Aufbruch wurzelnden Tradition europäischer Wissenskultur sollte dann im 19. Jahrhundert mit Alexander
von Humboldt (1769–1859) erreicht werden.
2. Dimensionen der Veränderung
Ich kann nicht die ganze Vielfalt der umwälzenden Veränderungen zu Anfang
des 16. Jahrhunderts vor Augen stellen. Ich konzentriere mich daher auf drei
Hauptkreise, die ich gleichsam von innen nach außen abschreite – den innerchristlich-europäischen Kreis, fokussiert auf das kirchliche und religiöse Reformpotenzial (1); den über Europa hinausreichenden militärisch-machtpolitischen Kreis
(2); schließlich den kulturell-wissenssoziologischen Kreis, der die Welt insgesamt
umschließt (3).
2.1 Innovationen innerhalb des Christentums – Reformen ohne den Papst:
Spanien als Vorreiter
Martin Luthers (1483–1546) großer und rascher Erfolg ist ohne den Resonanzboden eines die lateinische Christenheit seit Generationen tief bewegenden
Reformverlangens nicht denkbar. Indes gelang es noch im März 1517 Papst Leo X.
(1513–1521) das Fünfte Laterankonzil (1512–1517) feierlich zu beenden, ohne
religiöse oder institutionelle Reformen zuzulassen; er tat das kraft seiner Position
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Heinz Schilling
als ‚souveräner Pontifex‘ – nach Paolo Prodi (1932–2016) – und als erster
semi-absolutistische Fürst Europas.4
Längst waren allerdings Reformen ohne den Papst auf dem Weg, so die Devotio moderna, die moderne Frömmigkeit der Laien, Ausdruck ihres subjektiven
Heilsverlangens; oder das landesherrliche oder nationale Kirchenregiment der
Fürsten, das das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt neu regelte.
Beide waren Antworten auf grundlegende soziale und politische Veränderungen,
einerseits auf den Aufstieg eines gebildeten, selbstbewussten Laienstandes in den
Städten, teils sogar bereits auf dem Lande, andererseits auf die Herausbildung
eines auf Autonomie angelegten frühmodernen Staates. Angesichts der damals
engen strukturellen Verzahnung von Religion, Politik und Gesellschaft waren das
nachgerade fundamentale Voraussetzungen für einen universellen Umbruch, auf
der Ebene individueller Frömmigkeit ebenso wie für den politisch-gesellschaftlichen Wandel im Sinne der Säkularisierung.
Schauen wir konkret auf das Jahr 1517, so zeigt sich Spanien, das in nach
reformatorisch-protestantischer Sicht gar zu gerne auf die Inquisition reduziert
wird, als Vorreiter kirchlicher und religiöser Reformen. Dort war die soziale,
disziplinarische und geistig-moralische Reform des Klerus vorangeschritten, in
den Orden ebenso wie bei den Weltgeistlichen. Das war die Leistung der katholischen Könige, aber auch der Kirche selbst, in der sich ein beeindruckend offenes und lebendiges Reformklima entfaltet hatte. Man denke nur an den 1373
gegründeten Reformorden der Hieronymiten oder Jeromiten, der Anfang des
16. Jahrhunderts das Land mit 49 Konventen überzog; diese Reformgruppen der
Benediktiner hatten sich der neuen Spiritualität der niederländischen Devotio
moderna angeschlossen.
Leitender Kopf war Francisco Jimenez de Cisneros (1436–1517), Erzbischof
von Toledo und seit 1507 Großinquisitor, als Beichtvater der Königin und Regent
von Kastilien (1516/17) einer der mächtigsten Männer der vereinigten Kronländer.
Cisneros hatte begierig die neuen religiösen Ideen reformerischen und mystischen
Charakters aus dem Ausland aufgegriffen, insbesondere Gedanken Girolamo
Savonarolas (1452–1498), Katharinas von Siena (1347–1380) und Erasmus’ von
Rotterdam (1466/69–1536). Um die Verbreitung der Reformschriften zu beschleunigen, förderte Cisneros gezielt den Buchdruck. 1499 gründete er die Universität
von Alcalá de Henares oder (nach dem römischen Namen der Stadt) Complu
tense. Sie wurde sogleich zum Zentrum des geistigen und religiösen Aufbruchs
auf den Grundlagen der neuesten wissenschaftlich-humanistisch-philologischen
4
Vgl. P. Prodi, The Papal Prince. One body and two souls: The papal monarchy in early modern Europe, aus dem Italienischen von S. Haskins, Cambridge/New York/Melbourne 1987.
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1517 – der Mönch und das Rhinozeros
25
Kenntnisse, hierin der Wittenberger Neugründung vergleichbar, die nur wenige
Jahre später ihre Arbeit aufnahm.
Für diese Bestrebungen brachte das Jahr 1517, das zugleich das Sterbejahr des
großen Kirchenmannes werden sollte, einen Höhepunkt – den Abschluss eines
vor 15 Jahren begonnenen großen Editionsprojektes; es war weitgehend aus dem
Privatvermögen des Erzbischofs finanziert worden, weil dieser, wie man sagte,
reich wie ein Fürst war, aber wie ein Mönch lebe. Mit der Vollendung des druckfertigen Manuskripts des Alten Testaments war im Frühjahr 1517 die Arbeit an
der „Complutense Polyglotte“ zu einem glücklichen Ende gekommen, nachdem
das Neue Testament bereits 1514 gedruckt worden war. Damit hatte Spanien die
erste polyglotte Gesamtausgabe der Bibel auf dem Stand der neuesten philologischen Erkenntnisse hervorgebracht.5 Das bedeutete einen Meilenstein in der
frühmodernen Bibelwissenschaft.
Die 1517 abgeschlossene Ausgabe des Alten Testaments war besonders an
spruchsvoll: Die Seite wurde in drei Textspalten gesetzt – außen Hebräisch, in
der Mitte das Latein der „Vulgata“ und in der Innenspalte der griechische Text
der „Septuaginta“, im Falle des „Pentateuchs“ am unteren Rand noch um erläuternde aramäische Texte und deren lateinische Übersetzung ergänzt. Innerhumanistische Querelen, vor allem mit Erasmus, verzögerten den Druck, sodass die
„Complutensische Polyglotte“ erst Anfang der 1520er Jahre in sechs stattlichen
Bänden vorlag – vier für das Alte, einer für das Neue Testament, der sechste mit
aramäischen, hebräischen und griechischen Wörterbüchern und sonstigen philologischen Hilfsmitteln. Doch hatten sich inzwischen durch Luthers Auftreten
die religiösen und wissenschaftlichen Konfliktlinien dermaßen verändert, dass
die unmittelbaren Wirkungen dieses spanischen Pionierwerks begrenzt blieben.
1517 indes war nicht Wittenberg, sondern Alcalá das Zentrum moderner Bibelwissenschaften in Europa, daneben auch Basel, wo Erasmus eben das Neue Testament in der griechischen Ursprache veröffentlicht hatte.
Vergleichbare Ansätze praktischer Kirchenreformen brachen auch in anderen
Ländern, ja auch in Rom selbst auf. Dort stieß der französische Gesandte Guillaume
Briçonnet (ca. 1470–1534), Bischof von Meaux, 1517 auf eine eben entstandene
Reformgruppe mit Namen „Oratorium der Göttlichen Liebe“, deren Verbindung
5
Detailliert zu Bibeldrucken vgl. E. Cameron (Hg.), The New Cambridge History of the
Bible, Bd. 3: From 1450 to 1750, New York 2016; Überblicke in den Bibelartikeln vgl. in den
verschiedenen Bänden der TRE sowie in H. J. Hillebrand (Hg.), The Oxford Encyclopedia
of the Reformation, 4 Bde., New York 1996; weiter vgl. A. Coroleu, Anti-Erasmianism in
Spain, in: E. Rummel (Hg.), Biblical Humanism and Scholasticism in the Age of Erasmus
(BCCT 9), Leiden/Boston 2008, S. 73–92, hier S. 74 ff.
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Heinz Schilling
von mystischer Frömmigkeit und praktischer Nächstenliebe ihn faszinierte und
deren Reformansatz er, während seiner Wirkungszeit als Abt von St-Germaindes-Prés in Paris, nach Frankreich zu übertragen versuchte.6
Anders als Savonarola in Florenz zu Beginn der 1490er Jahren oder später
Luther in Deutschland lag diesen Gruppen allerdings eine Rebellion gegen die
Papstkirche fern. Es ging ihnen vielmehr um deren Festigung durch Beseitigung
der Missstände und Rückkehr zu den ursprünglichen apostolischen Lebensformen.
Die Bruderschaft des „Oratorio del Divino Amore“, das Oratorium der göttlichen
Liebe also, zu der sich die Reformströmungen im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts – zunächst in Genua/Genova, dann in Rom und andernorts – institutionalisierten, stellte nicht fromme Werke zu Gunsten des eigenen Seelenheils
ins Zentrum, sondern das Ideal gelebter, die Person durchdringender caritas, die
sie als eine von Gott geschenkte Gnade begriff – eine Distanz zur herrschenden
Werkfrömmigkeit also, wie sie im selben Jahr auch in den Ablassthesen des Wittenberger Augustiners zum Ausdruck kam. Bei der Realisierung im kirchlichen
Alltag schlugen beide aber unterschiedliche Wege ein. Die Italiener setzten auf den
Klerus selbst, der durch Verbesserung seiner Bildung, Frömmigkeit und Disziplin
den Laienstand gleichsam organisch nach sich ziehen und damit die Priesterkirche
wieder auf den Stand der Reinheit bringen sollte. Luther dagegen entwickelte aus
seiner Gnadenlehre die These vom Priestertum aller Getauften und machte damit
einen zur Vermittlung des göttlichen Heils notwendigen Priesterstand überflüssig.7
1517 indes war ein solcher fundamentaler Gegensatz noch nicht zu erkennen.
Erst als die römische Hierarchie keine Antwort auf die im Oktober 1517 veröffentlichten Ablassthesen gab, trat das in der lateinischen Christenheit tiefverwurzelte Reformverlangen in zwei alternative Wege des religiösen und kirchlichen
Aufbruchs auseinander: den radikalen Systembruch der Wittenberger mit der
daran anschließenden Reformationen einerseits und die systemkonforme Reform
der römischen Papstkirche andererseits. Die so heraufbeschworenen Gegensätze
erscheinen in der Perspektive der Gemeinsamkeiten im Jahr 1517 inhaltlich-sachlich ganz und gar unbegründet – was die Hochschätzung der Bibel und das Verständnis der Gnade ebenso betrifft wie die Marienfrömmigkeit oder die Bewertung
der Sexualität von Priestern oder Pfarrern, um nur die wichtigsten zu nennen.
6
7
Vgl. D. MacCulloch, Die Reformation 1490–1700, aus dem Englischen von H. Voß-Becher / K. Binder / B. Leineweber, München 2008, S. 43, 138.
Näher ausgeführt in H. Schilling, Martin Luther (wie Anm. 1), S. 153–156.
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1517 – der Mönch und das Rhinozeros
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2.2 Militärisch-machtpolitische Entscheidungen von geostrategischer
(weltgeschichtlicher) Tragweite
Was 1517 die europäische Christenheit aktuell in Atem hielt, war nicht die Reform,
sondern ein Ereignis auf der nordafrikanischen Gegenküste: Am 23./24. Januar
1517 war unter dem Ansturm der osmanischen Janitscharenheere das Mamelukenreich zusammengebrochen, das sich Mitte des 13. Jahrhunderts als Herrschaft
von Heerführern ehemaliger Militärsklaven in Syrien und Ägypten etabliert hatte.
Von Sultan Selim I. (1512–1520) persönlich angeführt, war das osmanische Heer
in einem triumphalen Siegeszug über Aleppo und Damaskus vor die Hauptstadt
Kairo gelangt, wo es der Mamelukenherrschaft den Todesstoß versetzte. In Europa
verbreitete sich sogleich Angst und Schrecken, vor allem in Italien, wo noch der
Terror in frischer Erinnerung war, den der Blitzüberfall der Türken in den 1480er
Jahren in Otranto ausgelöst hatte. Gerüchte sprachen bereits von einer gewaltigen
Flotte, die der Sultan in Alexandrien zusammenziehe, um zum Sprung auf die
italienische Gegenküste anzusetzen. Selbst das norditalienischen Bergamo wurde
von unheilverkündenden Vorzeichen erschüttert – einer in wabernden Wolkengebilden zu erkennende Geisterschlacht, in der die andrängenden Türkenheere
als Strafe Gottes gegen die sündige Christenheit erschien.
Realgeschichtlich machte der Fall Kairos den Weg die nordafrikanische Küste
entlang Richtung westliches Mittelmeer und vor allem nach Arabien frei, ein folgereicher Wendepunkt für das osmanische Weltreich und seine Beziehungen zu
den europäischen Mächten. Einige Monate später fiel weit im Westen eine komplementäre Entscheidung, die die frühmoderne Staatenwelt Europas neu ordnete
und gegenüber einem islamischen Weltreich der Osmanen positionierte, das sich
zunehmend an Europa interessiert zeigte: Am 23. November 1517 zog der eben siebzehnjährige Burgunderherzog Karl (1500–1558), Enkelsohn des römischen Kaisers
Maximilian i. (1493–1519) und der burgundischen Erbtochter Maria (1457–1482)
einerseits und der katholischen Könige Spaniens Isabellas I. (1474–1504) und Ferdinands II. (1468–1516) andererseits, in die kastilische Hauptstadt Valladolid ein.
Damit machte er zeremoniell wie politisch unmissverständlich klar, dass er allen
widerstrebenden Kräften zum Trotz alleine und ausschließlich das durch den Tod
Ferdinands II. von Aragón angefallene spanische Erbe einzunehmen entschlossen
war. Mit Kastilien fielen ihm die von Jahr zu Jahr durch neue Entdeckungen anwachsenden Länder in Übersee zu; mit Aragón das Königreich Neapel und damit die
entscheidende Legitimation, die Interessen seines Hauses in Italien zu verfolgen.8
8
Zu diesen Zusammenhängen jetzt ausführlich H. Schilling, Karl V. – Der Kaiser, dem die
Welt zerbrach, München 2020.
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Heinz Schilling
Damit war das europäisch-amerikanische Weltreich des Hauses Habsburg geboren – was wenig später auch formell und rituell befestigt wurde, als es Karl nach
dem Tod seines deutschen Großvaters 1519 gelang, seine Wahl zum römischen
Kaiser durchzusetzen. Diese in ihrem Ergebnis umstürzenden Vorgänge waren für
die Zeit ebenso alltäglich wie außergewöhnlich: alltäglich, weil der Zuschnitt von
Reichen durch dynastische Heiratspolitik bestimmt wurden; außergewöhnlich,
insofern es konkret einer ganzen Reihe von ‚glücklichen‘ (passenden) Sterbefällen
bedurft hatte, bevor sich die von den Großeltern am Ende des 15. Jahrhunderts
durch Ehe- und Erbverträge eröffnete Möglichkeit zum Erbrecht Karls eröffnete
und sich auch politisch in Spanien wie in Deutschland durchsetzen ließ.
Der kastilische Herbst leitete den Aufstieg des ersten christlich-europäischen
Weltreiches ein. Damit begann die Konkurrenz zu dem älteren osmanischen Weltreich, das in Kleinasien verankert war, nun aber immer entschiedener nach Westen
vordrang – zu Land auf dem Balkan und die afrikanische Küste entlang sowie zu
Wasser ins westliche Mittelmeerbecken. Wichtiger als die geostrategisch-territoriale
Konstellation waren die mit den beiden Weltreichen verbundenen religiös-ideologischen Kraftlinien. Sie wirkten über die Jahrhunderte fort, in gewandelter Konfigu
ration sogar bis heute. Während der Habsburgerkaiser Karl V. (1519–1556) die
christliche Rittertradition aufnahm und als miles christianus gegen die inneren wie
äußeren Feinde der Kirche zu Feld zog, traten die Sultane der Osmanen nach ihrem
Sieg über die Mameluken die Oberherrschaft über Mekka und damit die Führung
über die islamische Welt an. Mehr noch, mit der Mamelukenherrschaft war auch das
Mitte des 13. Jahrhunderts von Bagdad nach Kairo übertragene abbasidische Kalifat
beendet. Zwar kam es nicht sogleich zu einem institutionalisierten osmanischen
Kalifat. Doch traten einzelne Sultane zu besonderen Anlässen als Kalifen auf, wie
bereits Selims Nachfolger Soliman I. (1520–1566), ‚der Prächtige‘, ein hochgebildeter, urbaner Herrscher, der in einem Gesetzestext nicht nur als ‚Chagan (Groß
khan) des Erdkreises‘, sondern auch als ‚Chalīfa des Gottesgesandten‘ tituliert wurde.
Die 1517 eröffnete Tradition des osmanischen Kalifates bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine der Reformation im lateinisch-christlichen Zivilisationskreis
vergleichbare weltgeschichtliche Weichenstellung: Sie festigte die osmanisch-sunnitische Interpretation des wahren Islams und ermöglichte ein entsprechendes disziplinierendes Vorgehen gegen die der Schia zuzurechnenden Bevölkerungsgruppen im Innern des Reiches. Macht- und außenpolitisch verlieh sie dem Gegensatz
zum benachbarten schiitischen Persien eine vertiefte und die osmanischen Kräfte
stärkende Legitimation. Und schließlich gab die neue geistliche Würde Sultan
Soliman I., Sohn und Nachfolger des Siegers von Kairo, die Legitimation und
das propagandistische Rüstzeug, sich im Ringen mit dem lateinisch-christlichen
Europa als Endzeitherrscher darzustellen und dadurch in der damals weit über
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1517 – der Mönch und das Rhinozeros
29
Europa hinaus üblichen eschatologischen Interpretation der Zeitgeschichte mit
dem römischen Kaiser und dem Papst gleichzuziehen.9
Die weltgeschichtliche Bedeutung der Ereignisse in Syrien und Arabien kann
eine kontrafaktische Überlegung verdeutlichen: Etwa gleichzeitig mit der Eroberung Kairos durch die Osmanen unternahm der portugiesische Vizekönig des
‚Estado da Índia‘ Lopo Soares de Albergaria (ca. 1460–1520) den Versuch, die
Hafenstadt Dschidda, den wichtigsten Umschlagplatz der Arabischen Halbinsel
und das Tor zu den Heiligen Stätten der Muslime, handstreichartig einzunehmen.
Die Operation scheiterte, die weltgeschichtliche Perspektive eines Erfolges ist aber
faszinierend: Die katholischen Portugiesen und nicht die muslimischen Ottomanen als Herren über die arabische Halbinsel. Das hätte der Neuzeit einen völlig
anderen Verlauf gegeben bis hin zur gegenwärtigen Situation in Syrien und dem
2014 ausgerufenen neuen „Kalifat“ des Islamischen Staates.
2.3 Übersee in Europa
Dem europäischen Selbstverständnis nach kam das Neue in Wissenschaft, Kunst
und Kultur in Gestalt einer Rückbesinnung auf die eigene Tradition, vor allem
auf die Antike, zum Durchbruch. In Wahrheit hatten aber auch andere Weltregionen Anteil am Aufstieg der Neuzeit und der Moderne. Denn seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert, verstärkt in eben jenem Jahr 1517, das die Europäer
als Reformationsjahr und Beginn der Neuzeit feiern, strömte eine Welle neuen
Weltwissens nach Europa ein – von Westen durch die Begegnung der Spanier mit
der ersten amerikanischen Hochkultur auf Yucatán; von Osten durch das Vordringen der Portugiesen Fernão Pires de Andrade († 1552) und Tomé Pires in
das seit Jahrhunderten verschlossene chinesische Reich der Mitte; und – kaum
weniger bedeutsam – auf dem alten Kontinent selbst durch die Moskaureise des
kaiserlichen Gesandten Sigismund von Herberstein.
Die davon erweckte Wissbegierde auf fremde Lebenswelten amalgamierte
sich mit dem innereuropäischen Aufbruch des Wissens im Zeichen von Humanismus und Renaissance und trieb einen Prozess voran, der Europa immer enger
mit anderen Kontinenten in Beziehung brachte und so das europäische Wissen
erweiterte, vertiefte und immer bunter werden ließ.
9
Vgl. die Abb. Soliman I., des Prächtigen, mit Tiara (New York Metropolitanmuseum of Art.
Harris Brisbane, Dick Fund 1942, 42/41/1), abgebildet in H. Schilling, 1517 (wie Anm. 1),
S. 294.
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30
Heinz Schilling
Der Buchdruck, vor allem aber die Anschaulichkeit der Druckgrafik, ließen
das neue Weltwissen rasch in eine breite Öffentlichkeit von Kaufleuten, Wissenschaftlern, Intellektuellen und Künstlern gelangen. Herbersteins Reisechronik
erfuhr schnell hintereinander mehrere Auflagen und sollte über Generationen
hin das Russlandbild prägen. Heute noch gilt sie als Beginn einer empirischen,
rationalen Osteuropakunde. Die überseeischen Lebenswelten mit ihren exotischen Bewohnern, Tieren, Pflanzen und Artefakten menschlicher Kunst konnte
jeder Interessierte direkt in Augenschein nehmen. Denn die Entdecker ließen die
Zeugnisse der fremden Welten nach Europa bringen, wo sie in Ausstellungen,
voran in Sevilla, Valladolid und Brüssel/Bruxelles, zu Exponaten der Neugier
wurden. Wem Zeit und Geld zu einer direkten Besichtigung fehlten, dem gaben
wohlfeil auf den Markt gebrachte Flugblätter mit genauen Beschreibungen und
Holzschnitten die Möglichkeit, seinen europäischen Gesichtskreis in die Welt
hinaus zu erweitern.
Berühmte und gefragte Meister wie Giovanni Giacomo Penni mit Stephano
Guilireti in Rom oder die Deutschen Hans Burgkmair d. Ä. (1473–1531), Albrecht
Altdorfer (ca. 1480–1538), Jörg Breu d. Ä. (ca. 1475/80–1538) und vor allem
Albrecht Dürer, der die wunderliche künstlich ding [aus dem, Anm. H. S.] neuen
gulden land 1520 in Brüssel selbst gesehen hatte, sorgten dafür, dass die viel
bestaunten Artefakte, allen voran die beiden kunstvoll in Gold und Silber gearbeiteten großen Sonnenscheiben, sogleich Aufnahme in den europäischen Wissensund Kulturkanon fanden. Auch darin kam es zu einer fruchtbaren Verbindung
mit dem Renaissance-Aufbruch des Wissens, Sammelns und Kategorisierens, der
in den fürstlichen Kunst- und Wunderkammern bereits kostbare artificalia und
außergewöhnliche naturalia zusammengetragen hatte.
Dasselbe gilt für die neuentdeckten Völker und ihre Lebensart oder für die
Kunde über die exotische Pflanzen- und Tierwelt. Nur wenige Monate nach den
Neuentdeckungen des Jahrs 1517 waren die Europäer mit den Kalikutischen
Leuten bekannt, wie man die Inder oder Indianer der westlichen Hemisphäre als
Verwandte der längst bekannten Inder des Ostens meinte bezeichnen zu können.
Und dass dabei auch afrikanische Völker erscheinen, die die Künstler mit Schilden und Holzschwertern nach Aztekenart auftreten lassen, gibt zu erkennen, wie
vorsichtig man sich vorantasten musste, um das Neue und Fremde angemessen
zu beschreiben und zu kategorisieren.10 Doch dauerte es nicht lange, bis man
10 Vgl. C. Feest, Von Kalikut nach Amerika, Dürer und die „wunderliche künstlich ding“ aus
dem „neuen gulden land“, in: J. Sander (Hg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext, Städel-Museum, Frankfurt am Main, 23. Oktober 2013–2. Februar 2014, München/London/New York
2013, S. 366–375; sowie ebd., S. 306 f. (Abb.).
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1517 – der Mönch und das Rhinozeros
31
erkannte, dass es sich bei den vermeintlich einheitlichen ‚Indern‘ um Bewohner
zweier weit auseinander gelegener Erdteile handelte, deren Gestalt, Geschichte
und Kultur ganz unterschiedlich waren.
Wie präsent die fremden, exotischen Welten bereits 1517 in Europa waren,
zeigt das berühmte asiatische Rhinozeros Odysseus, das der Gouverneur von
Portugiesisch-Indien Afonso de Albuquerque (1453–1515) dem portugiesischen
König Manuel I. (1495–1521) aus Indien geschickt hatte. Am 20. Mai 1515 in
Lissabon/Lisboa angekommen, konnte es dort im königlichen Gehege von jedermann bewundert werden. Aber auch außerhalb Portugals machten binnen kurzem
hunderte von Flugblättern sein Konterfei bekannt – am Papsthof in Rom bereits
im Juli durch den Vers-Traktat „Forma e natura e costumi de lo Rinocerante“ des
Florentiner Humanisten und Arztes Giovanni Giacomo Penni. Wie rasch sich
Wissen und Anschauung über die neuen Welten über Europa verbreiteten, belegt
der bis heute berühmte Holzschnitt Albrecht Dürers, den der Nürnberger noch
im selben Jahr riss und vertrieb. Das Bild wird auf der Beschreibung eines Nürnberger Kaufmanns fußen, der das Tier in Lissabon sah.
Womöglich lagen Dürer aber auch bereits Holzschnitte anderer Künstler vor.
Um ganz genau zu informieren, fügte Dürer der Abbildung einen Herkunft und
Lebensgewohnheiten des Rhinozeros’ erklärenden Text bei, übrigens mit der
nachweislich falschen Mitteilung, das Tier sei bereits 1513 in Lissabon angekommen – der Künstler hatte die Schnelligkeit des Informationsflusses von Lissabon
nach Nürnberg offenbar nicht erfasst. Zum besseren Verständnis greift der Text
auf einen Vergleich mit dem in Europa seit längerem bekannten Elefanten zurück:
Nach Christus geburt 1513. Jar Adi. 1.May. Hat man dem großmechtigen Kunig von Portugall
Emanuell gen Lyssabona pracht aus India / ein sollich lebendig Thier. Das nennen sie Rhinocerus
[…]. Es hat eine farb wie eine gespreckelte Schildkrot. Und ist von dicken Schalen uberlegt fast fest.
Und ist in der größ als der Helefandt Aber nydertrechtiger von peynen / und fast werhafftig. Es
hat ein scharff starck Horn vorn auff der nasen / Das begyndt es albeg zu wetzen wo es by steynen
ist. Das dosig Thier ist des Heleffantz todt feyndt. Der Helffant furcht es fast ubel / dann wo es In
ankumbt / so laufft Im das Thier mit dem kopff zwischen dye fordern payn und reyst den Helef
fandt unden am pauch auff und erwürt In / des mag er sich nit erwern, Dann das Thier ist also
gewapent / das Im der Heleffandt nichts kann thun. Sie sagen auch das der Rhynocerus Schnell /
Fraydig und Listig sey.11
11 H. Schilling, 1517 (wie Anm. 1), S. 147 f. Vor und neben Dürer sind weitere sieben zeitgenössische Darstellungen des Rhinozeros Odysseus bekannt. Vgl. dazu J. Sander, Dürer (wie
Anm. 10), S. 306 f. (Abb.).
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32
Heinz Schilling
Dürers Rhinozeros wurde immer wieder popularisiert, etwa in Meißner Porzellan.
Es gilt auch heute noch als Symbol für die Begegnung Europas mit der weiteren
Welt und deren intellektuelle und künstlerische Aneignung, für die sammelnde
und ordnende Aufnahme fremder Welten und deren Integration in das europäische Wissen und Selbstverständnis.
Das Rhinozeros Odysseus ist aber zugleich ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich präsent das neue Weltwissen in den einzelnen Regionen Europas war: Odysseus war 1517 in Rom am päpstlichen Hof zu bestaunen, wenn auch nur als ausgestopfter Kadaver, denn das als Geschenk des portugiesischen Königs Manuel I.
an Leo X. verschiffte Tier hatte vor der Küste Liguriens Schiffbruch erlitten. Dass
es dennoch sogleich in das Renaissance-Wissen Aufnahme fand, beweist Raffaels
(1483–1520) Fresko in der 1517/18 ausgemalten Loggia der Papstgemächer, das
das Rhinozeros in trauter Eintracht mit seinem bereits seit längerem in der päpstlichen Menagerie lebenden ostasiatischen ‚Landsmann‘, dem Elefanten Hanno, zeigt.
Ganz anders in der Stadt, die sich noch im selben Jahr den Weg zum Antipoden Roms und Kathedralstadt des Protestantismus antreten sollte: Die Stadt
‚am Rande der Zivilisation‘, wie der aus der Großstadt Erfurt kommende Luther
klagte, war 1517 zwar alles andere als verschlafen. Wittenberg boomte geradezu
mit der aufstrebenden Universität ebenso wie durch mächtige und ambitionierte
Herrschaftsbauten, allen voran das wettinische Residenzschloss, wo bedeutende
Künstler Deutschlands und Italiens beschäftigt waren und das der Bramante-Ruine
von Neu-St.-Peter in Rom die solide Finanzierung voraushatte. Von dem bereits
im Süden Deutschlands begierig aufgenommenen neuen Weltwissen indes findet
sich dort keine Spur.
3. Epilog
Und der Mönch, dessen Hammerschlägen nach guter protestantischer Lesart Ende
Oktober 1517 die Neuzeit eröffneten? Luders Elternhaus scheint wenig, wenn
überhaupt, von den neu entdeckten Welten berührt worden zu sein. Jedenfalls
befanden sich in der an zeitgenössischen Überresten reichen Baugrube, die die
Archäologen unlängst neben dem Mansfelder Elternhaus entdeckten, keinerlei Haushaltsgegenstände, Textilien oder Nahrungsmittel außereuropäischen
Ursprungs.12 Das gilt auch für den eigenen Haushalt, den der Reformator ein
Vierteljahrhundert später im Wittenberger Augustinerkloster gründen sollte.
12 Vgl. H. Meller (Hg.), Luther in Mansfeld. Forschungen am Elternhaus des Reformators
(ASA Sonderbd. 6), Halle/Saale 2007.
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1517 – der Mönch und das Rhinozeros
33
Luthers Weltbild blieb kontinental und von dem neuen Wissen seltsam unberührt. In den 1520er Jahren handelt er kurz über den scheinbaren Widerspruch,
dass einerseits die Bibel von der Mission der Apostel sagt: ir stimm ist in die gantze
welt außgangen, andererseits vil inseln erfunnden wordenn noch zu unseren zeiten,
die da heiden seind und niemant hat in gepredigt.13 Und in seiner Geschichtstabelle
„Supputatio annorum mundi“ der 1540er Jahre deutet er neue Krankheiten, die
von Übersee nach Europa gelangten, als Unum de signis magnis ante diem Extre
mum, also als ein Zeichen des Weltendes.14 Jenseits dieser missionsgeschichtlichen und eschatologischen Perspektive fand Luther kein Interesse am Ausgreifen
Europas auf die anderen Kontinente.
Diese Begrenztheit darf indes nicht missverstanden werden, etwa im Sinne
eines Gegensatzes von Weltläufigkeit des Papstes und Roms versus Provinzialität Luthers und Wittenbergs. Dem widerspricht schon die Tatsache, dass die
Elbestadt sogleich zur ‚Kathedralstadt‘ Luthers und ‚Gegen-Rom‘ aufstieg – hoch
bewundert oder abgrundtief gehasst.
Somit lässt sich als Ergebnis unserer Gegenüberstellung von Mönch und Rhinozeros als zwei symbolische Repräsentationen des im Jahr 1517 über die lateinische Christenheit oder Europa hereinbrechenden Neuen festzuhalten:
Das Reformationsjahr 1517 als ein Jahr der Weltgeschichte zu betrachten,
macht Luthers am 31. Oktober 1517 versandte „95 Thesen“ und die damit ausgelöste Reformation nicht zu einer belanglosen Episode. Wohl aber befreit die
weltgeschichtliche Kontextualisierung den deutschen Protestantismus von der
Last des Mythos, Luther hätte am 31. Oktober 1517 die Neuzeit oder gar die
Moderne eingehämmert.
Der tiefgreifende Wandel, der die Neuzeit und schließlich die Moderne hervorbrachte, war vielmehr das Ergebnis eines Syndroms, in dem drei unabhängige
Kräfte zusammenwirkten: erstens der innereuropäische Aufbruch von Humanismus und Renaissance als Rückbesinnung auf die eigene antike Tradition; zweitens
das mit Macht einströmende neue Weltwissen; und drittens schließlich natürlich
die christlichen Reformationen, die protestantischen wie die von ihnen provozierte katholische.
13 M. Luther, Predigten des Jahres 1522, in: WA, Bd. 10/III, Weimar 1905, hier S. 139; vgl.
auch Ders., Weihnachtspostille 1522, in: ebd., Bd. 10/I 1, Weimar 1910, hier S. 21 f.
14 Ders., Supputatio annorum mundi. 1541. 1545, in: ebd., Bd. 53, Weimar 1920, S. 1–184, hier
S. 169.
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DYNAMIKEN DER ÖFFENTLICHKEIT
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
Der Narrheit närrisch spotten
Mediale Ausprägungen und invektive Dynamiken der Öffentlichkeit
in der frühen Reformationszeit*
Einleitung
Gegen Ende des Jahres 1524 besang ein anonym verfasstes Nachrichtenlied ein
denkwürdiges Spektakel, bei dem wer tzu sahe, hab an vnd lacht / Das Jm der gur
tell bei zersprang.1 Der Verfasser des Liedes wollte indes weit mehr als Leser und
Zuhörer mit einer vergnüglichen Geschichte lediglich zu unterhalten. Vielmehr
sollte das beschriebene und besungene Ereignis anzeigen, wie christo sey alleyn /
Das mittel vnd keyn todten / beynn.2 Solum Christum statt Reliquienkult – dieser
Verweis auf reformatorische Grundpositionen besaß zugleich einen konkreten
zeithistorischen Bezug, denn es handelte sich zweifellos um eine Anspielung auf
die hitzige Kontroverse um die Heiligsprechung des Bischofs Benno von Meißen.3 Im Sommer 1524 hatten im Gefolge dieser Debatte eine große Menge Berg
knappen und andere junge Leute in der ernestinischen Bergstadt Buchholz eine
Spottprozession veranstaltet, um die kurz zuvor erfolgte Erhebung der Gebeine
des Meißener Bischofs zu verhöhnen. Die rechte erhebung Bennonis ym Buchholtz
geschehen wurde in der Folge zum Gegenstand mehrerer Flugschriften, die wiederum die Vorlage für das zitierte Lied bildeten.
Die Buchholzer Spottprozession von 1524 soll uns in diesem Beitrag in
mehrfacher Hinsicht als Paradigma dienen: Erstens sollen einige Grundzüge
*
1
2
3
Der Beitrag entspringt der gemeinsamen Arbeit im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs 1285. Wir danken den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Prager Konferenz „Reformation als Kommunikationsprozess“
für Anregungen zum Vortrag, der diesem Beitrag zugrundelag. Insbesondere danken wir Stefan
Beckert, Maximilian Rose, Jan Siegemund und Wiebke Voigt für eine kritische Diskussionen
verschiedener Fassungen des Textes.
ALB Dessau, Georg Hs. 101. 8°, fol. 50r.
Ebd., fol. 45v.
C. Volkmar, Die Heiligenerhebung Bennos von Meißen (1523/24). Spätmittelalterliche
Frömmigkeit, landesherrliche Kirchenpolitik und reformatorische Kritik im albertinischen
Sachsen in der frühen Reformationszeit (RGST 146), Münster 2002; zu den Buchholzer Vorgängen insbesondere S. 172–180.
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38
Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
der Forschungsdebatte über die ‚Reformation als Kommunikationsprozess‘ in
Erinnerung gerufen werden; zweitens lassen sich an diesem Beispiel die Diskussionen über die Intermedialität der reformatorischen Öffentlichkeit rekonstruieren, illustrieren und in eine neue Perspektive rücken; drittens schließlich soll
mit der Analysekategorie der ‚Invektivität‘ ein neuer Aspekt in die Debatte um
die reformatorische Öffentlichkeit eingebracht werden.
Buchholz – Kontext und Relevanz des Fallbeispiels
Die kurfürstlich-ernestinisch regierte Bergstadt Buchholz (St. Katharinenberg im
Buchholz, gegr. 1501) drängt sich als Untersuchungsgegenstand sowohl räumlich
als auch zeitlich für das Jahr 1524 geradezu auf:4 Buchholz grenzte als kursächsische Enklave an die katholischen Territorien der Abtei Grünhain, der Grafschaft
Wolkenstein sowie an die obere Grafschaft Hartenstein der Herren von Schönburg. Vor allem aber lag die Bergstadt an der Nahtstelle zum streng katholisch
ausgerichteten albertinischen Herzogtum Sachsen, wo Herzog Georg mithilfe von
landesherrlichem Kirchenregiment und reformkatholischen Initiativen, darunter strikter Zensur und großzügiger finanzieller und logistischer Unterstützung
antireformatorischer Autoren, konsequent gegen die aus seiner Sicht hussitische
Ketzerei der Anhänger Luthers vorging.5 Zugleich behielt Georg die Vorgänge
jenseits seiner Landesgrenzen scharf im Blick und kommunizierte regelmäßig mit
seinen ernestinischen Vettern über vermeintlich ketzerische Umtriebe nahe der
Grenzen seines Herzogtums.6
4
5
6
Im Folgenden kann dies nur knapp skizziert werden. Eine ausführliche Analyse des lokalen und intermedialen Kontextes wird derzeit im Rahmen eines Projektes im Teilprojekt
G des SFB 1285 erarbeitet. Vgl. A. Kästner, Invektive Dynamiken frühreformatorischer
Öffentlichkeit im Erzgebirge, 1519–1524 (Arbeitstitel). Nach wie vor grundlegend sind für
die Reformationsgeschichte von Buchholz die quellengesättigten Studien des ehemaligen
Buchholzer Schuldirektors und passionierten Heimatforschers Ernst Louis Bartsch, über
dessen umfassende Quellenkenntnis auch neuere Arbeiten nicht hinausgelangt sind. Vgl. E.
L. Bartsch, Kirchliche und schulische Verhältnisse der Stadt Buchholz während der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts [T. 1], in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Buchholz 3 (1897),
S. 25–72; T. 2, ebd. 4 (1899), S. 73–216.
Hierzu äußerst umfassend C. Volkmar, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525 (SMHR 41), Tübingen 2008.
Siehe hierzu die entsprechenden Dokumente in: ABKG, ed. F. Gess, Bd. 1: 1517–1524 (SSKG
10), Leipzig/Berlin 1905, passim. Weiteren Aufschluss über die Kommunikation in Religionsangelegenheiten zwischen den wettinischen Linien dürften die derzeit bearbeiteten Briefe
und Akten zur Kirchenpolitik Friedrichs des Weisen und Johanns des Beständigen 1513 bis
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Der Narrheit närrisch spotten
39
In Sichtweite von Buchholz lag gegenüber dem Flüsschen Sema mit der Bergstadt
St. Annaberg zudem das bedeutendste reformkatholische Stadtgründungsprojekt
des sächsischen Herzogs – die Hauptkirchen beider Städte trennten gerade einmal 1.500 Meter Luftlinie.7 Im Sommer 1524 predigte in Buchholz unter großem
Aufsehen der dortigen Bevölkerung ein Mann, der kurz zuvor aus seiner Klosterhaft im Annaberger Franziskanerkonvent entwichen war, nämlich Friedrich
Myconius, vormals Seelsorger in Zwickau und späterer Reformator Gothas.8 Sein
ebenfalls 1524 von Schönsperger und Gastel in Zwickau publizierter Sendbrief
an die protestantische Untergrundgemeinde Annabergs (die unter anderem enge
Kontakte zu Erfurter Humanistenkreisen und nach Wittenberg pflegte) verweist
zudem auf die Bedeutung Zwickaus, der nominell größten kursächsischen Stadt,
als nahes intellektuelles Zentrum und als regional wichtiger Zentralort für den
Druck und die Distribution frühreformatorischer Schriften.9
Überdies lagen mit dem Kondominat Schneeberg und dem böhmischen Grenzgebiet weitere Regionen in unmittelbarer Nähe, in denen sich in den 1520er
Jahren nicht nur soziale Konflikte zuspitzten, sondern vor allem auch die Auseinandersetzungen in Religionsfragen erheblich verschärften. Zugleich gab es
mit Böhmen sehr enge soziale und intellektuelle Austauschbeziehungen, deren
7
8
9
1532, edd. A. Kohnle / M. Rudersdorf, Bd. 1: 1513–1517, Leipzig 2017, bieten, von denen
bislang mit Bd. 1 die Jahre 1513 bis 1517 publiziert sind.
Vgl. für Hinweise auf die ältere Literatur und auf einige relevante Quellen zur Geschichte
Annabergs im frühen 16. Jahrhundert den knappen Beitrag von B. Moeller, Annaberg als
Stadt der Reformation, in: H. Marx / C. Hollberg (Hgg.), Glaube und Macht. Sachsen
im Europa der Reformationszeit. 2. Sächsische Landesaustellung, Torgau, Schloss Hartenfels,
2004, 2 Bde., Dresden 2004, Bd. Aufsätze, S. 103–111; überdies die ausnahmslos wichtigen
Beiträge in B. Stephan / M. Lange (Hgg.), Wortwechsel. Das Kolloquium zum 475. Geburtstag der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 2014, Annaberg-Buchholz 2015.
Zur Biografie trotz aller Schwächen im Detail gegenüber neueren Studien noch immer die
grundlegende und lesenswerte Darstellung von P. Scherffig, Friedrich Mekum von Lichtenfels. Ein Lebensbild aus dem Reformationszeitalter. Nach den Quellen dargestellt (QDRG
12), Leipzig 1909.
F. Myconius, Eyn Freüntlich Ermanung vnd tröstung aller freündt vnd liebhaber gottis
wort yn der loblichen berümpte[n] Pergkstadt S: Annapergk, von wegen viler anstöß die sie
teglich überfallen um[b] Euangelischer lere un[d] Christliche freyheit willen […], Zwickau:
Johann Schönsperger d. J. 1524 (VD16 M 7351); zu Zwickau als Druckort siehe H. Claus,
Die Zwickauer Drucke des 16. Jahrhunderts, T. 1: Johann Schönsperger 1523–1528, Gabriel
Kantz 1527–1529 (VFG 23), Gotha 1985; aber auch schon E. Fabian, Die Einführung des
Buchdrucks in Zwickau 1523, in: MAVZ 6 (1899), S. 41–128; jetzt T. Kaufmann, Die Mitte
der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu
ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen (BHTh 187),
Tübingen 2019, S. 229–232.
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
Komplexität hier gar nicht angemessen dargestellt werden kann.10 Hierzu zählen an erster Stelle die Mobilität breiter Bevölkerungsschichten (nicht zuletzt
auch des niederen sächsischen Adels) dies- und jenseits der sehr durchlässigen
Grenze im Gefolge des sog. Großen Berggeschreys und die frühzeitige Rezeption
von Lutherschriften durch die utraquistische Mehrheitskirche Böhmens.11 Fer10 Siehe hierzu nur die vielfältigen Beiträge in M. Schattkowsky (Hg.), Das Erzgebirge im
16. Jahrhundert. Gestaltwandel einer Kulturlandschaft im Reformationszeitalter (SSGV 44),
Leipzig 2013.
11 Vgl. den Beitrag von Pavel Soukup im vorliegenden Band. All dies kann hier bibliografisch
kaum angemessen gewürdigt werden. Siehe hierzu die Beiträge in F. Naumann (Hg.),
Sächsisch-böhmische Beziehungen im 16. Jahrhundert. 6. Agricola-Gespräch, Chemnitz
2001, hier vor allem die Aufsätze von Jan Martínek, Margarethe Hubrath und Günther
Wartenberg; vgl. ferner noch immer S. Sieber, Geistige Beziehungen zwischen Böhmen und Sachsen zur Zeit der Reformation, T. 1: Pfarrer und Lehrer im 16. Jahrhundert,
in: Bohemia 6 (1965), H. 1, S. 146–172. Das Verhältnis der böhmischen zur lutherischen
Reformation hat in der Forschung seit Jahrzehnten Aufmerksamkeit erfahren; der Einfluss
Luthers und dessen Positionen sowohl gegenüber den Neo-Utraquisten als auch gegenüber
den Böhmischen Brüdern ist wiederholt kontrovers diskutiert worden. Vgl. unter den älteren
Darstellungen insbesondere F. G. Heymann, The Impact of Martin Luther upon Bohemia,
in: CEH 1 (1968), H. 2, S. 107–130; zu den Wirkungen des Bauernkriegs auf Böhmen M.
Hroch, Die Auswirkungen des deutschen Bauernkriegs in Böhmen, in: G. Brendler / A.
Laube (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg 1524/25. Geschichte, Traditionen, Lehren (SZIG
57), Berlin (Ost) 1977, S. 107–111; unter den neueren Arbeiten siehe etwa W. Eberhard,
Bohemia, Moravia and Austria, in: A. Pettegree (Hg.), The Early Reformation in Europe,
Cambridge/New York 1992, S. 23–48, hier S. 23–40; P. Hlaváček, Catholics, Utraquists
and Lutherans in Northwestern Bohemia, or Public Sphere as a Medium for Declaring
Confessional Identity, in: M. Bartlová / M. Šronĕk (Hgg.), Public Communication
in European Reformation. Artistic and other Media in Central Europe 1380–1630, Prague
2007, S. 279–297; Z. V. David, Utraquism’s Curious Welcome to Luther and the Candlemas
Day Articles of 1524, in: SEER 79 (2001), H. 1, S. 51–89. Auch die Rezeption hussitischer
Texte und Motive im Dienste der reformatorischen Polemik der 1520er und 1530er Jahre
ist wiederholt diskutiert worden. Vgl. H. Roloff, Die Funktion von Hus-Texten in der Reformations-Polemik, in: C. Caemmerer / W. Delabar / J. Jungmayr / W. Neubar
(Hgg.), Hans-Gert Roloff. Kleine Schriften zur Literatur des 16. Jahrhunderts, FS zum 70.
Geburtstag (Chloe 35), Amsterdam/New York 2003, S. 227–264; P. Haberkern, ‚After
Me There Will Come Braver Men‘. Jan Hus and Reformation Polemics in the 1530s, in:
GH 27 (2009), H. 2, S. 177–195; T. Kaufmann, Häresiologie. Jan Hus und die reformatorische Bewegung, in: Ders., Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität
der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung
(SMHR 67), Tübingen 22018, S. 30–67; stellvertretend für die hymnologische Forschung I.
Scheitler, Der Beitrag der böhmischen Länder zur Entwicklung des Gesangbuchs und
des deutschen geistlichen Liedgesangs (1500–1620), in: JLH 38 (1999), S. 157–190; zu den
antithetischen Vorlagen der hussitischen ‚Bildpropaganda‘ für die lutherische Bildpublizistik
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Der Narrheit närrisch spotten
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ner berührten die antimonastischen Kampagnen der Frühreformation in gleicher
Weise die eng vernetzte Ordens- und Frömmigkeitslandschaft auf beiden Seiten
des Erzgebirgskamms.12 Und schließlich setzte sich das reformatorische Anliegen rasch auch unter der bis dahin überwiegend katholischen deutschsprachigen
Bevölkerung Böhmens durch. Herausragendes Beispiel ist sicherlich das 1520 zur
freien Bergstadt erhobene Joachimsthal, wohin insbesondere Andreas Bodenstein
von Karlstadt zwischen 1520 und 1523 äußerst enge Kontakte unterhielt.13 Die
Herren Joachimsthals, die Grafen von Schlik, förderten die Reformation eifrig
und sorgten so für eine Vielzahl reformatorischer Impulse in der Region, die von
katholischer Seite aus argwöhnisch als ‚pikardische‘ bzw. hussitische Umtriebe
wahrgenommen wurden.
Der herausragend hohe Grad von Vernetzung und Transfer im Erzgebirge, das
im 16. Jahrhundert nicht nur für Böhmen, sondern auch für das ernestinische Kursachsen und das albertinische Herzogtum Sachsen eine Schlüsselregion darstellte,
ist damit angedeutet. Im Schnittpunkt einiger der angedeuteten Transferprozesse
und konfessionspolitischen Konfliktlinien lag die Bergstadt Buchholz. Anhand
der dortigen Vorkommnisse des Jahres 1524 lassen sich über die räumliche Verortung hinaus auch die Veränderungen der historiografischen Großwetterlagen
in den letzten zweihundert Jahren grob kartieren.
zur Gegenüberstellung von Christus und Papst (als Antichrist) siehe H. Bredekamp, Kunst
als Medium sozialer Konflikte. Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution,
Frankfurt a. M. 1975, insbesondere S. 309–327.
12 In jüngster Zeit ist hierzu insbesondere das Schicksal der Franziskanerkonvente und -provinzen
in den Blick der Forschung geraten, knapp P. Hlaváček, Das Annaberger Land als Schnittpunkt
reformatorischer Bestrebungen. Zu konfessionellen Beziehungen im böhmisch-sächsischen Erzgebirge im Reformationszeitalter, in: B. Stephan / M. Lange (Hgg.), Wortwechsel (wie Anm. 7),
S. 62–73, dort mit weiterführenden Hinweisen auf seine sonstigen Arbeiten zum Thema; überdies
J. Schlageter, Die sächsischen Franziskaner und ihre theologische Auseinandersetzung mit
der frühen deutschen Reformation (FrFor 52), Münster 2012; vgl. künftig auch die reichhaltigen
Beiträge in H. Heimann (Hg.), Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz, Bd. 2: Von der
Reformation bis zum Kulturkampf, Paderborn 2020 (im Druck); sowie die Forschungen zur vorreformatorischen Ordensgeschichte der sächsischen Franziskaner in V. Honemann (Hg.) / G.
Roth (Red.), Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur
Reformation, Paderborn 2015; für den Wandel von Frömmigkeitspraktiken vgl. exemplarisch die
Beiträge in J. Hrdina / H. Kühne / T. T. Müller (Hgg.), Wallfahrt und Reformation / Pouť
a reformace. Zur Veränderung religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen
der Frühen Neuzeit (Europäische Wallfahrtsstudien 3), Frankfurt a. M. 2007.
13 Hierzu schon R. Wolkan, Die Anfänge der Reformation in Joachimsthal, Prag 1894, Sonderdruck aus dem MVGDB 32 (1894).
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
Deutungs(ge)schichten
Lange stand die Geschichtsschreibung zur Reformation im Allgemeinen und
zu den Buchholzer Ereignissen im Besonderen im Schlagschatten konfessioneller Deutungen.14 Den frühneuzeitlichen Buchholzer Chronisten Adam Daniel
Richter und Friedrich Wilhelm Köhler taugte die Spottprozession im 18. Jahrhundert noch als Beleg für die unerschrockene und bereits gut protestantische
Haltung der Buchholzer Bevölkerung während der Zeit der Frühreformation.15
Ernst Louis Bartsch sah die Sache gut ein Jahrhundert später in seinen bis heute
grundlegenden Arbeiten zur Geschichte von Buchholz im 16. Jahrhundert differenzierter. Mehr als eine populäre Adaption reformatorischer Ideen unter Teilen
der Bevölkerung mochte er in dem spöttischen Treiben nicht erkennen.16 Überhaupt schien der älteren, stark auf theologische Streitfragen fixierten Forschung
eine übermütige Spottprozession eher suspekt. Als „eine Komödie gemeinster
Art“ kennzeichnete Johannes Kirsch die Aktion in seiner 1911 erschienenen
Dissertation zur Heiligenerhebung Bennos.17 Und Gustav Sommerfeldt konstatierte, es habe sich um „ein Spektakelstück recht rüder Art“ gehandelt.18 Dagegen
notierte die Weimarer Ausgabe der Lutherwerke zu dem gedruckten Bericht über
die Spottprozession in eher nüchternem Ton und die Überlieferungsproblematik
präzise erfassend, es handle sich um eine „drastische Erzählung“.19 Alfred Götze
erkannte 1906 in den Buchholzer Ereignissen einen Anschluss an vorreformatorische Formen der innerkirchlichen Verballhornung kirchlicher Rituale und
14 Es versteht sich, dass mit den folgenden skizzenhaften Bemerkungen lediglich einige wenige
Akzente pointiert hervorgehoben werden können; ein ausgewogener Forschungsbericht liegt
außerhalb der Reichweite dieses Aufsatzes.
15 A. D. Richter, Reformationem Religionis Buchholzii Factam Breviter Exponit […], Annaberg: Valentin Frisius 1756, unpag.; F. W. Köhler, Kurzgefaßte Reformations- und Kirchen-Geschichte des chursächsischen Bergstädtgens St. Catharinenberg im Buchholz im
meißnischen Obererzgebürge, Chemnitz: Johann David Stößel (Erben)/Putscher 1781, S. 13 f.
16 E. L. Bartsch, Kirchliche und schulische Verhältnisse, T. 1 (wie Anm. 4), S. 62, 72; ebd., T.
2 (wie Anm. 4), S. 85–87; ebd., S. 207–215 mit Editionen einzelner Flugschriften.
17 J. Kirsch, Beiträge zur Geschichte des hl. Benno Bischofs von Meißen (1066–1106), München 1911, S. 50.
18 G. Sommerfeldt, Mykonius’ Bericht über eine sonderbare Bennofeier zu Buchholz, 1524,
in: Unterhaltungs=Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung 69, H. 4, 22. Januar 1922, S. 3 f.,
hier S. 4.
19 M. Luther, Wider den neuen Abgott und alten Teufel, der zu Meißen soll erhoben werden.
1524, in: WA, Bd. 15, Weimar 1899, S. 170–198, hier S. 173.
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Der Narrheit närrisch spotten
43
deutete die Ereignisse als „Travestie“, eine Interpretation, die jüngst von Marcel
Nieden aufgegriffen worden ist.20
Erst die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzende sozialgeschichtliche Erweiterung der Reformations- und Bauernkriegsforschung setzte dann
andere Akzente, aber auch sie konnte nur begrenzt etwas mit einem Ereignis
wie dem in Buchholz anfangen. Bekanntlich sah die marxistische Historiografie
in der reformatorischen Botschaft so etwas wie den ideologischen Überbau zu
einer frühbürgerlichen Revolution, der freilich kein Erfolg beschieden war. Vor
diesem Hintergrund ordneten Adolf Laube, Max Steinmetz und Günter Vogler Mitte der 1970er Jahre die Persiflage einer Prozession, bei der indirekt auch
der Landesherr Herzog Georg verspottet und „ein imitierter Papst in die Gosse
gestürzt“ worden sei, als Ausdruck der sich radikalisierenden sozialen Bewegung
in den Bergstädten ein.21 Auf dieser Deutung bauten noch in den 1990er Jahren
die Darstellungen lokaler Autoren auf.22
In den 1970er Jahren bahnte sich eine neue Sichtweise der Reformation
an, als deren Pionier der australische Historiker Robert W. Scribner gelten
kann. In einem zuerst 1978 erschienenen Aufsatz stellte er die Spottprozession
im Erzgebirge in eine Reihe mit vielen anderen, ähnlichen Phänomenen, die
er als karnevaleske Praktiken ritueller Entweihung verstand, welche überdies
die Verbreitung antiklerikaler Stimmung anzeigten.23 Insgesamt ist die neu20 Von der rechten Erhebung Bennonis ein Sendbrief (1524), ed. A. Götze, Halle/Saale 1906,
S. 32 (erneut in: Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation, ed. O. Clemen, 4
Bde., Leipzig 1907–1911, Bd. 1, Leipzig 1907, S. 185–212); M. Nieden, Die Wittenberger
Reformation als Medienereignis, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2012-04-23, http://www.ieg-ego.eu/
niedenm-2012-de (letzter Zugriff am 1.3.2020), hier Abschnitt 14 f. und Anm. 30 unter Verweis auf die Edition von Alfred Götze.
21 Vgl. A. Laube / M. Steinmetz / G. Vogler, Illustrierte Geschichte der deutschen frühbürgerlichen Revolution, Berlin (Ost) 1974, S. 168 f.; A. Laube, Zum Problem des Bündnisses
von Bergarbeitern und Bauern im deutschen Bauernkrieg, in: G. Heitz / A. Laube (Hgg.),
Der Bauer im Klassenkampf. Studien zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges und der
bauerlichen Klassenkampfe im Spatfeudalismus, Berlin (Ost) 1975, S. 83–110, Zitat S. 100.
22 L. Klapper / L. Uhlig, Kirchliche Verhältnisse, Reformation und Bauernkrieg, T. 1 (Beiträge zur Geschichte des Landkreises Annaberg 4), Annaberg-Buchholz 1996, S. 83 f.
23 R. W. Scribner, Reformation, Carnival and the World Turned Upside-Down, in: SH 3 (1978),
H. 3, S. 303–329, hier S. 306; übersetzt als Ders., Reformation, Karneval und die „verkehrte
Welt“, in: R. Van Dülmen / N. Schindler (Hgg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung
des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1987, S. 117–152, hier S. 119 f.;
eine spannende Perspektive auf die Verkehrung einer als bereits als verkehrt empfundenen
Welt im Spottritual bietet auch H.-D. Heimann, „Verkehrung“ in Volks- und Buchkultur als
Argumentationspraxis in der reformatorischen Öffentlichkeit, in: ARG 79 (1988), S. 170–188;
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ere Debatte überwiegend der Deutung Scribners gefolgt – stellvertretend
für diese Einschätzung steht die für die Ereignisse um die Heiligenerhebung
Bennos von Meißen gültige Studie von Christoph Volkmar, auf die noch
zurückzukommen sein wird.24
Rückblickend kann Scribners Aufsatz als Pionierwerk jener ‚Historischen
Anthropologie‘ eingeordnet werden, die in den achtziger Jahren ihre Hochkonjunktur haben sollte.25 Das war durchaus auch schon ein Stück ‚Kommunikationsgeschichte‘, obwohl es noch nicht so genannt wurde. Nur wenig später
sollte sich das ändern: Bernd Moeller behandelte in einem Vortrag von 1992
die „frühe Reformation als Kommunikationsprozeß“ und damit als einen Vorgang, „dessen Verlauf und dessen Dynamik durch Kommunikation, durch den
Austausch von Mitteilungen und die Verständigung über diese, hervorgerufen
und gesteuert wurde“. Mit diesem Ansatz fügte er sich „in eine zur Zeit aktuelle
Forschungsrichtung ein, die bereits beachtliche Resultate gezeitigt hat“.26 Ein
Vierteljahrhundert später ist diese Forschungsrichtung nach wie vor aktuell, hat
sich aber inzwischen weiter entfaltet und die reformationshistorischen Debatten nachhaltig geprägt.
auf das Ineinandergehen von Antiklerikalismus und reformatorischer Gesinnung hatte überdies 1970 bereits Karlheinz Blaschke knapp am Buchholzer Beispiel hingewiesen. Vgl. K.
Blaschke, Sachsen im Zeitalter der Reformation (SVRG 185), Gütersloh 1970, S. 116; und
erneut in Ders., Erscheinungen des Antiklerikalismus in Sachsen vor und während der Reformation, in: P. A. Dykema / H. A. Oberman (Hgg.), Anticlericalism in Late Medieval
and Early Modern Europe (SMRT 51), Leiden/New York/Köln 1993, S. 229–236, hier S. 232;
für die Verwurzelung der Reformation im spätmittelalterlichen Antiklerikalismus vgl. dann
grundlegend H.-J. Goertz, Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517–1529, München 1987, insbesondere S. 52–68.
24 C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 172–180.
25 Vgl. seine Aufsätze und die Einordnungen von L. Roper (Hg.), Robert W. Scribner. Religion
und Kultur in Deutschland 1400–1800 (VMPIG 175), Göttingen 2002; U. Rublack, Reformation als Modifikation. Zum Tod des Historikers Robert William Scribner, in: Historische
Anthropologie 6 (1998), S. 492–495.
26 B. Moeller, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: J. Schilling (Hg.),
Bernd Moeller. Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte,
Göttingen 2001, S. 73–90, hier S. 74.
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Der Narrheit närrisch spotten
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Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit.
Die Reformation als druckmediales Ereignis
‚Reformation als Kommunikationsprozess‘ – dieses Stichwort steht zunächst und
vor allem für die Rolle, die die neuen Massenmedien, insbesondere Flugschriften
und illustrierte Flugblätter, für die reformatorische(n) Bewegung(en) und ihre
Gegner gespielt haben. Verfügbarmachung und Verbreitung von Ideen, Mobilisierung von Bewegungen und Meinungsbildung bzw. Meinungsstreit scheinen
als herausragende Leistungen dieser neuen Massenmedien unbestritten.27 Der
noch heute trotz Überlieferungsverlusten geradezu überwältigende Variantenreichtum des Gedruckten sowie die mediale Eruption vielfältigster und einander
entgegengesetzter Meinungen hat Peter Matheson dazu veranlasst, die frühe
Reformation bis zum Einschnitt des Bauernkriegs als Zeit eines erstaunlich freien,
fantasievollen und spielerischen Austauschs von Ideen und Ordnungskonzepten
zu beschreiben.28 Ob man Matheson hierin folgt oder nicht, zumindest wird
man mit Berndt Hamm von einer „noch nicht domestizierten Öffentlichkeitswirkung der frühreformatorischen Medien“ ausgehen dürfen.29
Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten die Reformation als ein Geschehen
gezeichnet, das sich wenige Jahrzehnte nach dem Eintritt in die Gutenberg-Ära
abspielte, das erst durch die Erfindung des Buchdrucks ermöglicht wurde und das
seinerseits einen nach einer ersten Hochphase im ausgehenden 15. Jahrhundert
eher behäbigen Markt der Druckerzeugnisse entscheidend (wieder-)belebte.30
Im europäischen Vergleich hat sich hierbei allerdings auch gezeigt, dass die für
die Argumentation der Forschung zentralen Flugschriften als Medien der Massenkommunikation ein weitgehend auf die Territorien des Alten Reiches (und
27 H.-J. Goertz, Deutschland 1500–1648. Eine zertrennte Welt, Paderborn/München/Wien/
Zürich 2004, S. 98–110; vgl. hierzu nur die seit 1972 im ARG / Literaturberichte jeweils unter
der Rubrik Buchdruck besprochenen Studien.
28 P. Matheson, The Rhetoric of the Reformation, Edinburgh 1998, S. 1–26; siehe auch Ders.,
The Imaginative World of the Reformation, Edinburgh 2000; zur Frage des utopischen Charakters einzelner Schriften siehe auch E. Wolgast, Die Neuordnung von Kirche und Welt
in deutschen Utopien der Frühreformation (1521–1526/7), in: Ders., Aufsätze zur Reformations- und Reichsgeschichte ( JusEccl 113), Tübingen 2016, S. 465–486 (zuerst in: K.-H.
Kästner / K. W. Nörr / K. Schlaich (Hgg.), FS für Martin Heckel zum siebzigsten
Geburtstag, Tübingen 1999, S. 659–679).
29 B. Hamm, Die Reformation als Medienereignis, in: JBTh 11 (1996), S. 137–166, hier S. 153.
30 Vgl. hierzu die differenzierte Diskussion bei T. Kaufmann, „Ohne Buchdruck keine Reformation“?, in: S. Oehmig (Hg.), Buchdruck und Buchkultur im Wittenberg der Reformationszeit (SLSA 21), Leipzig 2015, S. 13–34; zu den Bildungsvoraussetzungen der Reformation
auch Ders., Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M./Leipzig 2009, S. 98–125.
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mit Abstrichen einige ostmitteleuropäische Territorien) begrenztes Phänomen
waren.31 Dennoch, in den Wirkmöglichkeiten und Dynamiken des Buchdrucks
hat die Forschung schon frühzeitig einen entscheidenden Unterschied zur sog.
‚Ersten Reformation‘ des Jan Hus gesehen.32 Ein eindeutiger Schwerpunkt der
jüngeren Forschung lag im Gefolge von Robert Scribners „For the Sake of the
Simple Folk“ daher auch auf den druckmedialen Propagandainszenierungen vornehmlich der reformatorischen Bewegungen; erst in jüngerer Zeit sind auch die
katholischen Druckerzeugnisse systematischer untersucht worden.33
Die enge Verwobenheit von reformatorischer Dynamik und massenmedialer
Entfaltung hat Johannes Burkhardt 2002 derart prägnant formuliert, dass sein
Werk zu einer zentralen Referenz für diesen Zusammenhang geworden ist. In den
31 Vgl. schon die Beiträge in A. Pettegree, Early Reformation (wie Anm. 11); ein umfängliches Hilfsmittel, mit dem das Druckgeschehen im frühneuzeitlichen Europa mittlerweile für
die Forschung offen nachvollziehbar ist, ist die seit über 20 Jahren gründlich recherchierte
Datenbank des USTC unter der Leitung von Andrew Pettegree, erreichbar unter https://
www.ustc.ac.uk/ (letzter Zugriff am 1.3.2020).
32 So schon die Zusammenfassung der älteren Forschungsdiskussion bei L. W. Holborn,
Printing and the Growth of a Protestant Movement in Germany from 1517 to 1524, in: CH
11 (1942), H. 2, S. 123–137, hier S. 123; zur Reformation des Jan Hus, deren Einordnung und
zum Forschungsstand siehe die neueren Beiträge von František Šmahel, Jiří Kořalka (†)
und Wolf-Friedrich Schäufele in A. Strübind / T. Weger (Hgg.), Jan Hus. 600 Jahre
Erste Reformation (SBKGE 60), Berlin/München 2015.
33 R. W. Scribner, For the Sake of Simple Folk: popular propaganda for the German Reformation (CSOLC 2), Cambridge 1981; M. U. Edwards, Luther’s Last Battles. Politics and
Polemics 1531–46, Ithaca 1983; Ders., Printing, Propaganda and Martin Luther, Berkeley/
Los Angeles/London 1994; M. U. Chrisman, Conflicting Visions of Reform. German Lay
Propaganda Pamphlets, 1519–1530 (StGH), Boston 1996; unter den frühen deutschsprachigen Arbeiten wäre etwa zu nennen W. Wettges, Reformation und Propaganda. Studien
zur Kommunikation des Aufruhrs in süddeutschen Reichsstädten (GG BHS 17), Stuttgart
1978; vgl. für die katholische Presse die grundlegenden Untersuchungen von C. Volkmar,
Reform (wie Anm. 5), vor allem S. 554–593, der insbesondere die zentrale Stellung des sächsischen Herzogs bei der Finanzierung und infrastrukturellen Unterstützung von Autoren wie
Cochläus herausarbeitet. Dort auch die weiterführende Literatur, insbesondere zu einzelnen
Akteuren wie Emser, Cochläus und Alveldt; darüber hinaus auch schon R. A. Crofts, Printing, Reform, and the Catholic Reformation in Germany (1521–1545), in: SCJ 16, H. 3 (1985),
S. 369–381; M. U. Edwards, Catholic Controversial Literature, 1518–1555. Some Statistics,
in: ARG 79 (1988), S. 189–205; für den polnischen Fall siehe die instruktiven Ausführungen
bei N. Nowakowska, High Clergy and Printers. Anti-Reformation Polemic in the Kingdom of Poland, 1520–36, in: HR 87 (2014), S. 43–64; Dies., Lamenting the Church? Bishop
Andrzej Krzycki and Early Reformation Polemic, in: A. Suerbaum / G. Southcombe / B.
Thompson (Hgg.), Polemic. Language as Violence in Medieval and Early Modern discourse,
Farnham/Burlington 2015, S. 223–236.
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lutherischen Druckmedien, angefangen 1517 mit den Ablassthesen, sieht er den
eigentlichen „innovatorischen Impuls der Zeit“: „Was Luther sagte, war wichtig,
aber wie er es sagte und unter die Leute brachte, war das eigentlich Moderne an
der Reformation“.34 Die Botschaft des Wittenbergers wurde zum Schwungrad
einer Gutenbergschen ‚Informationstechnologie‘, die auf der Suche war nach
einem Medienereignis. Sie habe es dann mit der Reformation und mit der Person Martin Luther gefunden, einem Mann, der zum überragenden „Medienstar“
des neuen Zeitalters wurde, wie es bei Burkhardt – einen von Thomas Kaufmann geprägten Begriff aufgreifend – heißt.35 Neueste Studien haben hierzu
auch präzise herausgearbeitet, wie Luther im engen Zusammenspiel etwa mit dem
Unternehmer Lucas Cranach und verschiedenen Druckern selbst eine neue und
führende ‚Marke‘ sowie ein ‚Image‘ innerhalb des neuen Medienuniversums kre
ierte; hierdurch sind wir mittlerweile auch detailliert über den genauen Weg einiger
reformatorischer Texte aus Luthers Feder hin zum fertigen Druck unterrichtet.36
Umfangreiche Arbeiten und Texteditionen liegen zu einzelnen Protagonisten der frühreformatorischen Debatten vor. Deren Fülle ist hier in der gebotenen Kürze bibliografisch nicht darstellbar, sollte künftig jedoch noch stärker
systematisch unter einer kommunikationsgeschichtlichen Perspektive fruchtbar
gemacht werden.37 Ähnliches gilt für Studien zu den teils imaginierten Akteuren
34 J. Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002, S. 15.
35 Ebd., S. 86: die sehr heterogene und teils widersprüchliche Verwendung des Begriffs „Medienstar“ ist aufgearbeitet worden von R. Kahlmann, Martin Luther – ein Medienstar? (TU
Dresden, Masterarbeit im Fach Geschichte, Lehramtsbezogener Studiengang Allgemeinbildende Schulen 2016, 61 S., Typoskript).
36 A. Pettegree, Brand Luther. 1517, Printing, and the Making of the Reformation, New
York 2015; S. Ozment, The Serpent and the Lamb. Cranach, Luther, and the Making of the
Reformation, New Haven/London 2011; zur frühen Textproduktion Luthers siehe auch T.
Kaufmann, Von der Handschrift zum Druck. Einige Beobachtungen zum frühen Luther,
in: Ders. / E. Mittler (Hgg.), Reformation und Buch. Akteure und Strategien frühreformatorischer Druckerzeugnisse / The Reformation and the Book. Protagonists and Strategies
of early Reformation Printing (BuW 49), Wiesbaden 2016, S. 9–36; sowie den Beitrag von
demselben in diesem Band; für die visuelle Erschaffung eines spezifischen Luther-Images nach
wie vor äußerst instruktiv M. Warnke, Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image (Fischer
Bücherei. Kunststück 3904), Frankfurt a. M. 1984.
37 Entsprechende Ansätze hierzu finden sich, um an dieser Stelle lediglich ein Beispiel anzuführen,
etwa in den Studien von Christian Peters und Geoffrey Dipple zum Werk von Johannes
Eberlin von Günzburg. Vgl. G. Dipple, Antifraternalism and Anticlericalism in the German
Reformation. Johann Eberlin von Günzburg and the Campaign Against the Friars (SASRH),
Aldershot/Brookfield 1996; C. Peters, Johann Eberlin von Günzburg ca. 1465–1533. Franziskanischer Reformer, Humanist und konservativer Reformator (QFRG 60), Gütersloh 1994.
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und Adressaten wie den Bauern oder dem ‚gemeinen Mann‘38 sowie schließlich für
thematische Knotenpunkte der frühreformatorischen Debatten beginnend mit
dem Ablassstreit bis hin zu den für unseren Zusammenhang relevanten Debatten
über das Heilige und die Heiligenverehrung.39 Für eine sozialhistorische Grundierung einer Geschichte der Reformation als Kommunikationsprozess sind
überdies jene Arbeiten zu einzelnen Akteursgruppen (Studenten, Buchhändler,
Kaufleute, Drucker, Täufer) und deren Netzwerken bedeutsam, die konkrete
38 N. Jørgensen, Bauer, Narr und Pfaffe. Prototypische Figuren und ihre Funktion in der Reformationsliteratur. Aus dem Dänischen übersetzt von Monika Wesemann (ATD 23), Leiden/
New York/Københaven/Köln 1988; W. Lenk, Das Bild des Bauern in Literatur und Publizistik
im Zeichen der frühbürgerlichen Revolution, in: G. Heitz / A. Laube (Hgg.), Der Bauer
im Klassenkampf. Studien zur Geschichte des deutschen Bauernkrieges und der bäuerlichen
Klassenkämpfe im Spätfeudalismus, Berlin (Ost) 1975, S. 279–302; R. H. Lutz, Wer war der
gemeine Mann? Der dritte Stand in der Krise des Spätmittelalters, München/Wien 1979; H.
Köhler, ‚Der Bauer wird witzig.‘ Der Bauer in den Flugschriften der Reformationszeit, in:
P. Blickle (Hg.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation (Bauer und Reformation 1), Zürich
1987, S. 187–218; V. Schmidt Blumer, Ikonographie und Sprachbild. Zur reformatorischen
Flugschrift ‚Der gestryfft Schwitzer Baur‘ (FN 84), Tübingen 2004; in kunsthistorischer Perspektive auch instruktiv K. Moxey, Peasants, Warriors, and Wives. Popular Imagery in the
Reformation, Chicago/London 1989. Es ist hier nicht auf die Diskussion über das zeitgenössische Verständnis des Begriffs vom gemeinen Mann einzugehen, doch verdiente dieser unter
dem Gesichtspunkt einer Diskussion über relevante Öffentlichkeiten sicherlich noch einmal
eine eingehende Diskussion. An dieser Stelle sei lediglich verwiesen auf den in geschlechterhistorischer Perspektive zentralen Beitrag von L. Roper, ‚The Common Man‘, ‚The Common
Good‘, ‚Common Women‘. Gender and Meaning in the German Reformation Commune, in:
SH 12 (1987), H. 1, S. 1–21; vgl. aus der übrigen Literatur mit einer für den hier diskutierten
Zusammenhang wichtigen Perspektive W. O. Packull, The Image of the „Common Man“ in
the Early Pamphlets of the Reformation (1520–1525), in: HRRH 12 (1985), H. 2, S. 253–277;
ferner auch R. H. Lutz, Gemeiner Mann (wie oben in dieser Anm.), mit einer systematischen
Analyse insbesondere der rechtlichen Kontexte des spätmittelalterlichen Begriffs, der von der
später dominanten Verwendungsweise als imaginierter Repräsentant einer großen Menge respektive Öffentlichkeit zu unterscheiden ist. Zum Problem der tendenziell unschärfer werdenden
Begrifflichkeit mit Blick auf die Untersuchung der Produktions- und Rezeptionsbedingungen
der ‚neuen Medien‘ kurz D. Bagchi, Poets, Peasants, and Pamphlets. Who Wrote and Who
Read Reformation Flugschriften?, in: K. Cooper / J. Gregory (Hgg.), Elite and Popular
Religion (SCH 42), Woodbridge/Rochester 2006, S. 189–196.
39 B. Hamm, Medienereignis (wie Anm. 29), S. 140, weist zu Recht darauf hin, dass Luthers im
März 1518 publizierter „Sermon von Ablass und Gnade“ die erste reformatorische Flugschrift
überhaupt war. Zur Problematik der Heiligenverehrung hat 2017 unter dem Titel „Sakralität
und Sakrileg. Die Herabsetzung des Heiligen im interkonfessionellen Streit des 16. Jahrhunderts“ ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Marina Münkler im Rahmen des SFB
1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ seine Arbeit aufgenommen. Mit ersten Publikationen ist in Kürze zu rechnen.
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Kommunikationsstrukturen und Praktiken der Vernetzung und des Transfers
untersuchen.40
Hinsichtlich der verschiedenen Gattungen der reformatorischen Medien
haben – angefangen vom Tübinger SFB 8 „Spätmittelalter und Reformation“ –
disziplinär nicht zuletzt auch viele germanistische Arbeiten zur Forschung beigetragen.41 Eine zentrale Referenz stellen hier nach wie vor Hans-Joachim Köhlers Pionierstudien zum Meinungsprofil der reformatorischen Publizistik dar.42
Innerhalb der Gattungen nehmen insbesondere die Reformationsdialoge (s. u.)
einen prominenten Platz ein; gleiches gilt für die illustrierten Einblattdrucke
mit ihren komplexen Bild-Text-Relationen.43 Erst in jüngerer Vergangenheit hat
40 J. D. Fudge, Commerce and Print in the Early Reformation (The Northern World 28),
Leiden/Boston 2007; H. Kim / S. Pfaff, Structure and Dynamics of Religious Insurgency.
Students and the Spread of the Reformation, in: ASR 77 (2012), H. 2, S. 188–215; zur Rolle
der Drucker bereits R. G. Cole, Reformation Printers. Unsung Heroes, in: SCJ 15 (1984),
H. 3, S. 327–339; zu den unterschiedlichen europäischen ‚Kulturen des Druckens‘ A. Pettegree / M. Hall, The Reformation and the Book. A Reconsideration, in: HJ 47 (2004),
H. 4, S. 785–808; zur Publizistik der Täufer siehe K. Hill, Anabaptism and the World of
Printing in Sixteenth-Century Germany, in: P&P 226 (2015), H. 1, S. 79–114.
41 Zu denken wäre an Autorinnen und Autoren wie Rudolf Bentzinger, Gisela Brandt,
Mirra M. Guchman, Gerhard Kettmann, Wolfgang Pfeifer, Joachim Schildt, Britt
Marie Schuster, Christina Stockmann-Hovekamp, Hannelore Winkler und viele
andere mehr.
42 H.-J. Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: V.
Press / D. Stievermann (Hgg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit (SMFNZ 16), Stuttgart 1986, S. 244–281; noch immer wegweisend in vielerlei Hinsicht die Beiträge in Ders.
(Hg.), Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposium 1980 (SMFNZ 13), Stuttgart 1981.
43 Die aktuelle Diskussion ist abgebildet in A. Messerli / M. Schilling (Hgg.), Die Intermedialität des Flugblatts in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2015; vgl. auch schon F. Beyer,
Eigenart und Wirkung des reformatorisch-polemischen Flugblatts im Zusammenhang der
Publizistik der Reformationszeit (Mikrokosmos 39), Frankfurt a. M. 1994; neuerdings C.
Gruber, Radikal-reformatorische Themen im Bild. Druckgrafiken der Reformationszeit
(1520–1560) (FKDG 115), Göttingen 2018; klassisch H. Oelke, Die Konfessionsbildung
des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter (AKG 57), Berlin/New York 1992;
grundlegend zudem C.-P. Warnke, Bildpropaganda in der Reformationszeit, in: B. Stollberg-Rilinger / T. Weissbrich (Hgg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte (SKGWS
28), Münster 2010, S. 185–198. Illustrierte Flugblätter, insbesondere Bildsatiren und bildliche
Invektiven waren wiederholt auch Thema von Ausstellungen (bspw. 1980/81 im Long Room
des Trinity College, 1983 auf der Veste Coburg, 2016 in Gotha). Vgl. hierzu etwa die neueren
Kataloge A. Ogdowski / S. Theilig (Hgg.) / A. Bödecker / B.-J. Kruse (Verf.), Esel,
Teufel, Schwein. Böse Seiten der Reformation. Sonderausstellung im Brandenburg-Preußen
Museum mit Einblattdrucken aus der Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
sich die Forschung verstärkt auch den Inhalten und Ansprüchen von pseudonym
oder anonym publizierten Flugschriften gewidmet, wie sie die Berichte über die
Buchholzer Spottprozession darstellen.44
Die Buchholzer Spottprozession als Medienprodukt
Die anonymen Berichte über die Buchholzer Spottprozession kursierten in drei
verschiedenen Flugschriften und einem Nachrichtenlied. Diese waren ein typisches Medienprodukt der Frühreformation. Überhaupt ist die Prozession zunächst
ausschließlich als ein reines Medienereignis greifbar, eine keineswegs triviale
Feststellung, insofern sie bisher fast ausschließlich als faktisches Geschehen, als
Interaktions- und Agitationszusammenhang wahrgenommen wurde. Das ist nicht
falsch und wird im Folgenden nähere Betrachtung erforderlich machen. Zunächst
aber gilt es die bislang weitgehend übersehenen Tatsachen zu würdigen, dass die
Prozession zum einen weder in offiziellen Berichten lokaler Amtsträger noch in
der dichten Korrespondenz zwischen Herzog Georg und seinen ernestinischen
Vettern erwähnt wird. Zum anderen gab die druckmediale Inszenierung den
Buchholzer Vorgängen den entscheidenden ‚Spin‘.
Bekanntlich bildete die Berichterstattung über Buchholz den Schlussakt einer
umfassenderen Kontroverse im Anschluss an die Kanonisierung Bennos von
Kulturbesitz vom 25. März bis 24. September 2017, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2017; J. Lenssen (Hg.), Lutherbock & Papstesel. Bildsatiren der Reformationszeit. Katalog zur Ausstellung
„Lutherbock & Papstesel“. Bildsatiren der Reformationszeit im Museum Johanniskapelle Gerolzhofen vom 22. April bis 5. Juni 2017, Würzburg 2017.
44 Umfassend aufgearbeitet von T. Kaufmann, Anonyme Flugschriften der frühen Reformation, in: B. Moeller (Hg.) / S. E. Buckwalter (Mitarb.), Die frühe Reformation in
Deutschland als Umbruch (SVRG 199), Gütersloh 1998, S. 191–267; vgl. zur häufig pseudonymen ‚Laienpublizistik‘ M. Arnold, Handwerker als theologische Schriftsteller. Studien
zu Flugschriften der frühen Reformation (1523–1525) (GTA 42), Göttingen 1990; P. A.
Russell, Lay Theology in the Reformation. Popular Pamphleteers in Southwest Germany
1521–1525, Cambridge/New York 1986; M. U. Chrisman, Conflicting Visions (wie Anm.
33); hinsichtlich der Dialogliteratur auch A. Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen
1518 und 1526 im deutschen Sprachbereich veröffentlichten Dialogflugschriften, in: ARG 88
(1997), S. 77–117; unter anderem die Studien von Paul Albert Russell und Miriam Usher
Chrisman kritisch reflektierend und ergänzend jetzt T. Kaufmann, Das Priestertum der
Glaubenden. Vorläufige Beobachtungen zur Rolle der Laien in der frühreformatorischen Publizistik anhand einiger Wittenberger und Baseler Beispiele, in: H. Kühne / H.-J. Goertz /
T. T. Müller / G. Vogler (Hgg.), Thomas Müntzer – Zeitgenossen – Nachwelt. Siegfried
Bräuer zum 80. Geburtstag (VTMG 14), Mühlhausen 2010, S. 73–120.
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Der Narrheit närrisch spotten
51
Meißen im Mai 1523.45 An deren Beginn hatte eine breite Werbekampagne für
den neuen Heiligenkult durch den Meißener Bischof und vor allem durch den
sächsischen Herzog Georg gestanden. Mit Drucken der Kanonisationsbulle und
offenen Briefen an verschiedene Herrschaftsträger im Reich war die päpstliche
Approbation für den Bennokult bekannt gemacht sowie eine besondere Erhebungsfeier für den 16. Juni 1524, den Tag des Heiligen, in Meißen angekündigt
worden. Offenkundig in Sorge um die Reaktion der Reformationsanhänger in
Kursachsen verband der Herzog die Aufforderung zur Bekanntmachung von
Kanonisation und Fest an den sächsischen Kurfürsten mit der Bitte, das solchem
anslag nicht schmehe oder lesterung zugefugt werde, wie ytzt layder gewonlich
geschiet, auf das gott der allemechtig ins mysbietung seiner hayligen nit zu ungnad
gerayzt werde.46
Martin Luther erfuhr durch Georg Spalatin vom geplanten Festakt und kündigte in einem Brief vom 4. April 1524 sogleich eine Reaktion an. Auch wenn
der Aushang Tag und Nacht mit bewaffneter Hand bewacht werden würde, so
fügte er spöttisch an, würde er nicht vor Schmähungen bewahrt werden können.47 Im unmittelbaren Vorfeld der Bennofeier platzierte der Reformator dann
seine Schmähschrift „Wider den neuen Abgott und alten Teufel der in Meissen
soll erhoben werden“, die vielfach nachgedruckt wurde.48 Ihr Inhalt kann hier
ebenso wenig berücksichtigt werden wie die polemischen Gegenschriften aus
dem altgläubigen Lager. Die Schilderung der Buchholzer Ereignisse beschloss
diesen Reigen von Flugschriften; auch die Spottprozession im Erzgebirge wurde
so zu einem überregionalen Medienereignis. Das bezeugen schon die Druckorte.
45 R. C. Finucane, Contested Canonizations. The Last Medieval Saints, 1482–1523, Washington 2011, S. 207–240; C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3); zur publizistischen
Begleitung siehe auch Ders., Druckkunst im Dienste der Kultpropaganda. Der Buchdruck
als Instrument landesherrlicher Kirchenpolitik am Beispiel der Kanonisation Bennos von
Meißen, in: E. Bünz (Hg.), Bücher, Drucker, Bibliotheken in Mitteldeutschland. Neue Forschungen zur Kommunikations- und Mediengeschichte um 1500 (SSGV 15), Leipzig 2006,
S. 439–460; siehe jetzt auch P. Dänhardt, Der wundersame Bischof. Die Verehrung des
heiligen Benno in Meißen, in: C. Kunde / A. Thieme (Hgg.), Ein Schatz nicht von Gold.
Benno von Meißen – Sachsens erster Heiliger, Albrechtsburg Meißen, 12. Mai bis 5. November 2017, Katalog zur Sonderausstellung, Petersberg 2017, S. 44–51.
46 ABKG, Bd. 1 (wie Anm. 6), S. 620 f., Nr. 621. Herzog Georg wusste, wovon er sprach, als er die
‚gewöhnliche‘ Schmähung von Heiligen usw. ansprach, denn erst im September 1522 hatte er
sich bei Kurfürst Friedrich über die Schändung eines Marienbildes eben in Meißen beschwert,
das dort in ein Gerinne geworfen worden war. Ebd., S. 361 ff., Nr. 386.
47 WA BR, Bd. 3 (1523–1525), Weimar 1933, S. 265 f., Nr. 727; vgl. auch C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 165.
48 M. Luther, Wider den neuen Abgott (wie Anm. 19), S. 183–198.
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
Die Erstausgabe der Flugschrift über die Buchholzer Ereignisse kam im Zeitraum von Ende Juli bis Anfang Oktober 1524 bei Hans Lufft in Wittenberg heraus.
Bereits kurz darauf erschien in Worms bei Peter Schöffer (die ältere Forschung
nennt die Offizin von Jakob Schmidt in Speyer) eine zweite, gleichfalls auf 1524
datierte Ausgabe. Diese diente wiederum als Vorlage für einen weiteren – vermutlich ebenfalls noch im gleichen Jahr erschienenen – Druck, der in Straßburg von
Matthias Schürers Erben herausgebracht wurde. Einer der beiden Nachdrucke
gab vermutlich auch die Vorlage für das in der Fürst-Georg-Bibliothek in Dessau
erhaltene und eingangs zitierte Nachrichtenlied.49
Den Kern der Berichte in den Flugschriften zur Buchholzer Spottprozession
bildete die lebhafte Schilderung eines Augenzeugen, nämlich des oben bereits
erwähnten Friedrich Myconius, der zu jener Zeit als Prediger in Buchholz weilte.
Sein Bericht ist in einer handschriftlichen Fassung überliefert, was einen Vergleich zwischen dieser trotz aller Unklarheiten in der Überlieferungsgeschichte
anzunehmenden Ursprungsfassung und den Druckversionen möglich macht.50
Myconius überschrieb seinen ursprünglichen Bericht, folgt man der Abschrift,
als Abentewer.51 Entweder fehlte dem Original ein konkreter Adressat oder, was
wahrscheinlicher ist, Myconius wählte diese Bezeichnung sowie eine anonyme
Anrede, weil es sich hier im Sinne Peter Mathesons um einen ‚glorified letter‘
handelte, der wenn nicht für den Druck so doch zumindest für eine gewisse Verbreitung bestimmt war.52
Der Vergleich der unterschiedlichen Fassungen offenbart, wie sehr der Text
im Druck verändert wurde. Nicht nur, dass an einigen Stellen neutrale Formulierungen ins Positive gewendet wurden (aus machten eyn[en] process wird machten
eyne herrliche lo[e]bliche process); oder dass eine deutlich kritische Wendung wie
diejenige, man habe Bischof Benno mit selczame[n] lecherlichen poss[e]n erhoben,
49 Vgl. zur Druckgeschichte die begleitenden Hinweise von H. Claus zur Edition in Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524), edd. A. Laube / A. Schneider / S.
Looss (Mitarb.), 2 Bde., Berlin (Ost) 1983, Bd. 2, S. 1346; und seine revidierten Auffassungen
in Ders., Astrologische Flugschriften von Johannes Virdung und Balthasar Eißlinger d. Ä. als
„Leitfossilien“ des Speyerer Buchdrucks der Jahre 1514 bis 1540, in: AGB 54 (2001), S. 111–156,
hier S. 121, Anm. 58 und S. 151; die Drucke umfassen die Siglen VD16 V 2623, VD16 V 2624
und VD16 V 2625, wobei letztere den Urdruck bei Hans Lufft bezeichnet.
50 Verglichen werden hier die Manuskriptfassung nach SLUB Dresden, Ms. d 51, fol. 82; und die
Edition nach Flugschriften, Bd. 2, edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.)
(wie Anm. 49); für den Textvergleich wurde eine neue Transkription der Vorlage erstellt, die
leicht von der älteren Edition Seidemanns abweicht. Alle Zitate nach Flugschriften, Bd. 2,
edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.) (wie Anm. 49).
51 SLUB Dresden, Ms. d 51, fol. 82r.
52 Vgl. P. Matheson, Rhetoric (wie Anm. 28), S. 60 f.
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Der Narrheit närrisch spotten
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ersetzt wurde durch eine Erhebung mit grossem ernst und andacht, das man sich
mocht starr gelacht haben. Vor allem wurde der distanzierende Gestus von Myconius am Anfang seines Briefes eliminiert, er wolle von dem Ereignis, das er zudem
als ein naturlich bosz [Posse, Anm. A. K. / G. S.] bezeichnet, berichten: Wy wol
es myr nicht gefelt. Eine weitere für die Positionierung des Berichts gravierende
Veränderung zwischen der handschriftlichen Überlieferung und den Drucken
bezog sich auf das Ende der Prozession. Nach der Druckversion waren es einige
erschrockene Bürger, die noch schwach ym glauben waren, die den Bergvogt als
den Leiter der lokalen Bergwerksverwaltung zum Einschreiten gegen die Darbietung veranlassten. In Wirklichkeit aber war es der Augenzeuge Myconius selbst,
den die Sorge umtrieb, man könne ihn als örtlichen Prediger für das Spektakel
verantwortlich machen und der deshalb den Bergvogt ansprach.
Während Myconius somit eine zumindest ambivalente Haltung zur Spottprozession einnahm, was seine auch später zutage tretende, grundsätzlich reservierte
Einstellung gegenüber radikalen Aktionsformen von Laien unterstreicht, wurde
seine Darstellung durch Weglassungen, Umdeutungen und dramatisierende Einschübe in den gedruckten Berichten zur Stellungnahme eines Sympathisanten. Die
Prozession erschien nunmehr in einem eindeutig positiven Licht, während für die
ursprüngliche Fassung nicht auszuschließen ist, dass der Leit- und Merkspruch
Noli ludere cum sanctis / Ne p[er]merdant te beati (der in den Drucken gänzlich
fehlt) von Myconius selbst und nicht vom Chronisten seines Berichts stammte.53
Diese Tendenz verstärkte sich in der dritten Druckfassung sogar noch weiter. Während in der Wittenberger Ausgabe (der Vorlage im Kern folgend) noch
davon die Rede ist, es sei eyn seer grosser hauffe hewer und junges pobels zusammengekommen, wurde der negativ konnotierte Pöbel spätestens in der Straßburger
Ausgabe durch junges volks ersetzt. Diese positive Stilisierung hatte offenkundig
Erfolg, denn sie prägte die zeitgenössische Öffentlichkeit ebenso wie die nachfolgende Historiografie. Die Flugblätter schufen eine ganz eigene Wirklichkeit, der
nota bene auch die geschichtswissenschaftliche Analyse Rechnung tragen muss.
Zu dieser Wirklichkeitskonstruktion gehören nicht nur sinnändernde Eingriffe in den Augenzeugenbericht, sondern ebenso seine spezifische Rahmung
durch vorangestellte und nachfolgende Zusätze. Vorgeschaltet ist der Brief eines
mit den Initialen J. N. versehenen Mannes an seinen Freund N., einen Bürger zu
Konstanz. Der Schreiber – es könnte sich um den aus Zwickau stammenden Wittenberger Theologiestudenten Johann Neander handeln, für den Verbindungen
zur Offizin Hans Luffts nachweisbar sind – wisse, dass der Empfänger – die Forschung vermutet in ihm den Konstanzer Ratsschreiber Jörg Vögeli, wenngleich
53 SLUB Dresden, Ms. d 51, fol. 82r, unten in abweichender Federführung.
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dieser die Buchholzer Episode nicht erwähnte – an einer Chronik der gegenwärtigen seltsamen Zeitläufte arbeite.54 Unter den Exzerpten des adressierten
Chronisten, so schreibt der Autor, habe er auch solche zur Heiligenerhebung
Bennos gesehen. Vermutlich hätte er doch deshalb Interesse, mit dem beiliegenden gleubwirdiglich bericht über die Ereignisse in Buchholz seine Darstellung zu
‚spicken‘. Zweifellos soll diese Rahmung den Eindruck großer Unmittelbarkeit
und Authentizität vermitteln und damit die Glaubwürdigkeit erhöhen. Vor
allem aber eröffnet sie die Möglichkeit, jenseits der Prozessionsschilderung noch
weitere darstellerische Elemente in die Flugschrift aufzunehmen, insbesondere
weitere Ausfälle gegen Papstkirche, Bennokult und sogar einzelne Fürsten, die
jeweils verdeutlichen, dass diese Flugschrift selbst bereits eine spezifische Form
der Anschlusskommunikation darstellt und Bezug auf verschiedene Ereignisse
und Zusammenhänge nimmt.
Die Reformation als Interaktionszusammenhang
So markant die druck- bzw. massenmediale Dimension der Reformation auch
war – der Ansatz, die Reformation als einen komplexen ‚Kommunikationsprozess‘
zu untersuchen, weist über diese Ebene weit hinaus. In der Forschung wurden
etwa gegen die Bedeutung des gedruckten Wortes wiederholt zwei Argumente
ins Feld geführt: erstens, die enorme Bedeutung tradierter mündlicher Formen
öffentlicher Meinungsbekundung und zweitens die insgesamt niedrige Alphabetisierungsrate. Daher müssen notwendigerweise auch andere Kommunikationsmedien und -wege beleuchtet werden.55 In einer im Kern auf die Verbreitung
einer inhaltlich konturierten reformatorischen Botschaft gerichteten Perspektive
54 Die Autorschaft ist bis heute umstritten. Frühere Mutmaßungen, es könnte sich bei J. N. um
den St. Gallener Reformator Joachim von Watt (Vadianus) handeln, der mehrfach unter dem
Pseudonym Judas Nazarei publiziert hatte, sind aber wohl nicht haltbar. Siehe hierzu die Hinweise bei C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 173, Anm. 673.
55 Vgl. hierzu den Überblick über die Diskussion bei D. Bagchi, Printing, propaganda and public
opinion in the age of Luther, in: The Oxford Research Encyclopedia of Religion (August 2016),
doi: 10.1093/acrefore/9780199340378.013.269 (letzter Zugriff am 3.3.2020); M. Bauer, Die
„gemain sag“ im späteren Mittelalter. Studien zu einem Faktor mittelalterlicher Öffentlichkeit und seinem historischen Auskunftswert, phil. Diss. FAU Erlangen-Nürnberg 1981, hier
durchaus auch mit einem Schwerpunkt der Analysen auf Umbrüchen der Reformationszeit;
E. Schubert, „bauerngeschrey“. Zum Problem der öffentlichen Meinung im spätmittelalterlichen Franken, in: JfL 34/35 (1975) (zugleich FS für Gerhard Pfeifer), S. 883–907; R. W.
Scribner, Oral Culture and the Diffusion of Reformation Ideas, in: Ders., Popular Culture
and Popular Movements in Reformation Germany, London/Ronceverte 1987, S. 49–69.
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Der Narrheit närrisch spotten
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hat Berndt Hamm jene neue „Fülle an Vermittlungsformen“ (Flugschrift, Flugblatt, Grafik, Predigt, Bibelübersetzung, Kirchenlied, Fastnachtsspiele) und neuartige Multiplizierung einzelner Medien sowie die Potenzierung von Meinungen
zusammengefasst und beschrieben, wie sie in der frühen Reformation erstmals
gesamtgesellschaftlich wirksam wurden. Hierbei wies Hamm insbesondere dem
gesprochenen Wort vor Ort eine zentrale Rolle zu.56
An Hamms Position, von der aus auch Ansätze zur Analyse des Ineinandergreifens und -wirkens verschiedener Medien sichtbar wurden, schloss prominent
etwa Birgit Emich an und formulierte ein Programm zur systematischen Analyse
der Intermedialität frühneuzeitlicher Öffentlichkeiten über die engere Reformationsgeschichte hinaus.57 Ihre Forderung, Medienkombinationen, Medienwechsel
und intermediale Bezüge systematisch zueinander in Beziehung zu setzen, findet sich, auch wenn entsprechende Arbeiten erst am Beginn stehen, bereits in
einigen Studien zur reformatorischen Predigt und zu Predigtstörungen sowie in
hymnologischen Untersuchungen umgesetzt.58 Bei all dem darf allerdings nicht
vergessen werden, dass das intermediale Szenario nicht allein mit Blick auf die
Vermittlung ‚einer‘ Botschaft missverstanden werden sollte. Vielmehr erhob sich
insbesondere in den frühreformatorischen Medien ein vielstimmiger Chor, für
den Robert W. Scribner den Begriff der Partitur geprägt hat – klangliche Reibungen und Dissonanzen eingeschlossen.
56 B. Hamm, Medienereignis (wie Anm. 29), Zitat S. 155.
57 B. Emich, Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre
Spurensuche, in: ZHF 35 (2008), H. 1, S. 31–56.
58 Zu Predigstörungen T. Kaufmann, Geschichte (wie Anm. 30), S. 327–330; zur Bedeutung
der Predigten (hier anhand von Flugschriften, die als gedruckte Predigtsummarien klassifiziert
werden) unabdingbar B. Moeller / K. Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der
Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529 (AAWG 3.
Folge, Nr. 220), Göttingen 1996; siehe auch K. Stackmann, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Flugschriften evangelischer Prediger an eine frühere Gemeinde, in: H.
Boockmann (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und
16. Jahrhunderts (AAWG 3. Folge, Nr. 206), Göttingen 1994, S. 186–206; unter den neueren
Arbeiten G. Seebass, Wie Worte eine Stadt verändern. Andreas Osiander in Nürnberg und
die Wirkung der reformatorischen Predigt, in: ZBKG 72 (2003), S. 41–48; vgl. zur Debatte
über die Predigtpraxis den instruktiven Artikel von S. Karant-Nunn, What was preached
in the German cities in the early years of the Reformation? Wildwuchs vs. Lutheran unity, in:
P. N. Bebb / S. Marshall (Hgg.), The Process of Change in Early Modern Europe. Essays
in honor of Miriam Usher Christman, Athens 1988, S. 81–96, mit einer weiteren Auflistung
der relevanten Literatur; aus der musikhistorischen Literatur siehe mit umfassenden Verweisen jetzt C. Bertoglio, Reforming Music. Music and the Religious Reformations of the
Sixteenth Century, Berlin 2017.
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
Gegenwärtige Forschungsansätze ergänzen daher diese Perspektiven mithilfe
eines breiteren Verständnisses von Kommunikation, die sie kurz gefasst definieren als „die Hervorbringung von sozialem (d. h. für die Beteiligten relevantem)
Sinn unter Bedingungen der doppelten Kontingenz“.59 Es reicht nicht, dass eine
Information bloß vorliegt, sie muss darüber hinaus auch mitgeteilt und als Mitteilung verstanden werden – wobei die Interpretation der Information keineswegs
der ursprünglichen Mitteilungsintention entsprechen muss. Denn Kommunikation bedeutet ja nicht nur – wie es ältere Ansätze in Analogie zur Funktion
eines Telegraphen nahelegen – das Übermitteln einer für alle Beteiligten klar
umrissenen Information von einem Sender an einen Empfänger über mehr oder
weniger große Distanzen. Vielmehr konstituiert Kommunikation eine wechselseitige Relation von Personen, einen zirkulären Prozess von Mitteilungen und
Interpretationen, bei dem beiderseits ständig Erwartungen abgeglichen und
Sinnhorizonte generiert werden.60
Ein solches Verständnis kann für alle Kommunikationssituationen geltend
gemacht werden, ob es sich um ein Gespräch zwischen zwei Menschen handelt
oder um gedruckte Massenmedien. Zentral geworden ist es aber insbesondere im
Kontext der großen Forschungskonjunktur der letzten Jahrzehnte zur symbolischen Kommunikation.61 In deren Mittelpunkt standen typische Formen gemeinschaftlicher Kommunikation, Rituale nämlich, die sich unter Anwesenden, von
Angesicht zu Angesicht (‚face-to-face‘), vollziehen. Im Kontext der Reformationsforschung ist diese Analyseperspektive durchaus präsent, aber sie scheint doch
noch keineswegs ausgereizt. Es mag genügen, hier auf die Arbeiten von Anselm
Schubert und Natalie Krentz zu Wittenberg zu verweisen, in denen unter
anderem die Verbrennung der Bannandrohungsbulle des Papstes durch Luther
und seine studentischen Anhänger am 10. Dezember 1520 thematisiert wird. Am
59 R. Schlögl, Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der
Frühen Neuzeit, Konstanz 2014, S. 29; vgl. auch E.-M. Schnurr, Religionskonflikt und
Öffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Kölner Kriegs (1582–1590) (RhA 154), Köln/
Weimar/Wien 2009, S. 40 ff., hier S. 41 zum systemtheoretischen Verständnis von Kommunikation als ‚gemeinsame Aktualisierung von Sinn‘.
60 Vgl. auch B. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: ZHF 31 (2004), H. 4, S. 489–527, hier S. 493 f.
Dieses Argument weist auch über ältere reformationshistorische Arbeiten hinaus, die bereits
in reflektierter Weise eine kommunikationshistorische Perspektive eingenommen hatten, wie
bspw. J. Schmidt, Lestern, lesen und lesen hören. Kommunikationsstudien zur deutschen
Prosasatire der Reformationszeit (EHS.DLG 179), Bern/ Frankfurt a. M./Las Vegas 1977.
61 Pars pro toto B. Stollberg-Rilinger / C. Brauner / T. Neu (Hgg.), Alles nur symbolisch? Erträge und Grenzen der Erforschung symbolischer Kommunikation (Symbolische
Kommunikation in der Vormoderne 1), Köln/Weimar/Wien 2013.
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Der Narrheit närrisch spotten
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Nachmittag dieses Tages veranstalteten dann die Wittenberger Studenten einen
aufwändigen parodistischen Umzug durch die Stadt, der in einer nochmaligen
Bücherverbrennung gipfelte.62 In mancherlei Hinsicht können diese Ereignisse
als direkter Vorläufer der erzgebirgischen Spottprozession gelten, die sich gut
drei Jahre später zutrug.
Betrachten wir den mutmaßlichen Ablauf der Buchholzer Vorgänge, wie ihn die
Flugschriften berichten, etwas eingehender. Deren stilisierte Fassung, so ist unmittelbar zu erkennen, arbeitet viele Elemente deutlicher heraus als der ursprüngliche
Bericht. Auch wenn es sich hierbei um eine bereits interpretierende Kommunikation über einen Interaktionszusammenhang handelt, so halten wir uns zunächst
an diese Fassung (hier nach dem Druck bei Hans Lufft in Wittenberg), um den
Beschreibungen der Vorgänge etwas Kontur zu verleihen. Die Schilderung beginnt
mit der Kleidung und der Ausstattung der jugendlichen Akteure der Prozession.
Sie hatten sich Badehüte und Hanfsiebe als Barette aufgesetzt, das man sehe/ wie
es geystliche gelerten weren. Der das liturgische Geschehen bestimmende Bischof
wurde – mangels Perlen und Edelsteinen, wie es ironisch heißt – in einen Strohmantel gehüllt, hielt einen Krummstab in der Hand und trug als Mitra auf dem
Kopf eine Fischreuse. Dem Prozessionszug voran gingen mit Fiedel- und Lautenspielern Musiker mit sehr profanen Instrumenten. Als Fahnen wurden alte faule
Fußtücher umhergetragen, das Weihwasser wurde in einem Fischkessel aufbewahrt
und Mistgabeln fungierten als Kerzenersatz. Ein Brettspiel ersetzte das Gesangbuch.63 Die Heiltümer selbst wurden in alten Getreidebehältern transportiert;
über ihnen wölbte sich ein schöner Himmel von eynem beschissen grastuch.
So ausgestattet, zog der Prozessionszug durch die Stadt zu einem alten Bergwerksschacht, wo die Beteiligten die Gebeine Bischof Bennos erhoben, und zwar
mit grossem ernst und andacht, das man sich mocht starr gelacht haben. Grund der
Heiterkeit mochte nicht zuletzt die Zusammensetzung der Gebeine gewesen
sein, sie trugen nämlich eynen rosskopff, eynen kynbacken von eyner kue, zwey ross
beyn. Diese trugen sie auf einer Trage, mit Mist und alten peltzflecken zugedeckt,
62 N. Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt
Wittenberg (1500–1533) (SMHR 74), Tübingen 2014, S. 125–139; vor allem aber A. Schubert, Das Lachen der Ketzer. Zur Selbstinszenierung der frühen Reformation, in: ZThK 108
(2011), H. 4, S. 405–430.
63 C. Brauner, Ironische Stiche, sarkastische Schnitte. Überlegungen zu einem Konzept
der Bildironie am Beispiel der reformationszeitlichen Bildsatire, in: FMSt 44 (2016), H. 1,
S. 437–460, hier S. 454, weist an genau diesem Beispiel darauf hin, dass derartige Elemente
der Verkehrung Entsprechungen in ironischen Bildelementen der Zeit hatten, womit sich das
Buchholzer Beispiel in gewisser Weise als im zeitgenössischen Kontext grundsätzlich vorstellbar und ironischen Bildkonventionen folgend erweist.
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weyl die gulden und seyden stuck nicht da waren, zum Marktplatz. Hier trat der
Bischof vor, hielt eine schöne Predigt und verkündete das Heiligtum: O lieben
andechtigen, sehet, das ist der heylig arsbacken des lieben korschu[e]lers zu Meyssen
S. Benno. Danach verkündete er den Ablass und mahnte die Anwesenden, dem
Heiligen zu opfern. Mitsamt einem Stuhl wurde er auf die Misttrage gehoben
und unter Gesang zu einem Trog für die Verteilung des Röhrwassers getragen
und dort mit allen Utensilien hineingeworfen; schließlich erlitten seine Träger
das gleiche Schicksal.
Die bislang sorgsamste Interpretation des Buchholzer Ereignisses stammt
aus der Feder von Christoph Volkmar. In engem Anschluss an Bob Scribner sieht er in der Spottprozession ein „volkstümliches Ritual des mittelalterlichen Karnevals“.64 Ob es eine feste Formensprache des Karnevalesken gab, die
umstandslos aus der Fastnachtszeit in den Hochsommer zu transferieren war, sei
hier dahingestellt. Fragwürdig ist aber jedenfalls das Interpretament einer ‚Volkskultur‘, der das rituelle Handeln der Buchholzer angeblich entsprang. Volkmar
treibt es auf die Spitze, indem er der rituellen Verspottung den gelehrten Diskurs
entgegensetzt, in dessen Kontext es Luther um die argumentative Widerlegung
des Bennokultes gegangen sei.65 Eine solche Entgegensetzung von Schmähung
und Herabsetzung auf der einen, Gelehrsamkeit und Argument auf der anderen
erscheint anachronistisch und artifiziell, wie zu zeigen sein wird. Vorerst mag der
Hinweis auf Schuberts Interpretation des Wittenberger Studentenumzugs vom
Dezember 1520 reichen, der das Lachen der Teilnehmer mittels einer detaillierten Entschlüsselung der komplexen Symbolsprache als „das satirische Gelächter
hochgelehrter Akademiker“ entschlüsselt.66
Aber auch im Lichte dieser Kritik bleibt der zentrale Befund Scribners
und Volkmars gültig, dass es sich bei der Buchholzer Spottprozession um
ein Ritual handelte, bei dem zentrale Glaubens- und Praxiselemente der Papstkirche – Heiligenerhebung, Reliquienkult und Ablass – angegriffen wurden.
Mit dem Mittel der Parodie,67 der nachahmenden Transformation eines festen
Kanons von Verhaltensweisen, wurde der Heiligenkult der Lächerlichkeit preisgegeben: Kostbare Gewänder und Stoffe wurden durch alte verdreckte Lumpen
und Tierhäute und die Reliquien des Heiligen wurden durch ein Sammelsurium
64 C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 176; vgl. R. W. Scribner, Reformation,
Carnival (wie Anm. 23), S. 306.
65 C. Volkmar, Heiligenerhebung (wie Anm. 3), S. 178, 180.
66 A. Schubert, Lachen (wie Anm. 62), S. 414.
67 P. Stocker, Art. Parodie, in: G. Ueding (Hg.) / A. Hettiger u. a. (Red.), Historisches
Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6: Must–Pop, Tübingen 2003, Sp. 637–649.
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von Tierknochen ersetzt. Mit der übermütigen Wassertaufe aller Beteiligten wird
der Profanierung die Krone aufgesetzt. Aus einer Erhebung Bennos wurde eine
Erniedrigung alles vorgeblich Heiligen. Ja, mehr noch: Im Ritual der Erniedrigung deutete sich die Geringschätzung der Bedeutung des Rituals selbst an, ein
Zug von Antiritualismus, der öffentlichen Aktionsformen der frühen Reformation durchaus eigen war.68
‚Reformatorische Öffentlichkeit‘
Wie lassen sich die bisher erörterten Dimensionen, die Ebene der Druckmedien
und die Ebene der Anwesenheitskommunikation, zusammendenken? Einen
wichtigen Ansatzpunkt bildet u. E. der Aufsatz von Rainer Wohlfeil von
1984 mit der schlichten Überschrift „Reformatorische Öffentlichkeit“. Er leistet eine skizzenhafte und thesenstarke Beschreibung dieser Öffentlichkeit als
eine „überregionale und zugleich Sozialgruppen und Standesdenken überwindende Kommunikationssituation“, die „zu den wichtigsten Bedingungen der
Reformationsphasen von 1517 bis 1525“ zählte.69 Wohlfeils Beitrag birgt bis
heute Potenziale für die Forschung, wobei allerdings einige zeitbedingte Verkürzungen kritisch zu diskutieren sind. Das betrifft vor allem die Referenz auf das
Konzept der ‚bürgerlichen Öffentlichkeit‘, das der Frankfurter Philosoph Jürgen
Habermas in seinem Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ aus dem Jahr
1961 entwickelt hatte. Dessen Anregungskraft ist bis heute unbestritten, doch
hypostasiert Wohlfeil (wie andere vor und nach ihm) die ‚bürgerliche Öffentlichkeit‘ zu einem unhinterfragten normativen Bezugspunkt, dem gegenüber
die reformatorische Öffentlichkeit eher als eine Art vormoderne Kümmerform
68 B. Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt a. M./New York 2013, S. 237 f.
69 R. Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982,
S. 123–133; erneut als Ders., Reformatorische Öffentlichkeit, in: L. Grenzmann / K. Stack
mann (Hgg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit
(Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), Stuttgart 1984, S. 41–52, hier S. 47 f.; dort auch
alle in diesem Absatz folgenden wörtlichen Zitate. Zweifelsohne wichtig für die Gesamtdiskussion auch P. Ukena, Tagesschrifttum und Öffentlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert in
Deutschland, in: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung
(Studien zur Publizistik. Bremer Reihe 23), München 1977, S. 35–53. Auch bei Peter Ukena
finden sich eine gebündelte Kritik an Jürgen Habermas und systematische Überlegungen
zu den strukturellen Neuerungen und den Formen von Öffentlichkeit in der Reformation.
Der Stand der klassischen Diskussion ist zudem aufgearbeitet in H. Talkenberger, Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Ein Forschungsreferat 1980–1991,
in: IASL Forschungsreferate, Sonderheft 6 (1994), S. 1–26.
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
erscheinen muss: Zwar hätten sich in der Reformationszeit – zumindest kurzfristig – die vormals lokal wie sozial begrenzten sektoralen Öffentlichkeiten
durch die Druckmedien überregional ausgedehnt und vom Anspruch her auch
den ‚gemeinen Mann‘, also die Gesamtheit der Herrschaftsunterworfenen und
Lateinunkundigen, adressiert. Aber wichtige Kriterien der bürgerlichen Öffentlichkeit hätten doch gefehlt, „vor allem jene Kennzeichen, die dem bürgerlich-
demokratisch-politischen Bezugssystem entstammen, Alphabetisierung voraussetzen und von einem gewissen Grad ‚bürgerlicher‘ Bildung ausgehen.“ Es sei
nicht um „Wissensvermittlung, sondern meinungsbildende Belehrung, nicht
[um, Anm. A. K. / G. S.] Verständnis für und Verständigung mit dem Gegner,
sondern dessen Bekehrung“ gegangen.
Eine solche Überdramatisierung der Differenzen erscheint heute zunehmend
problematisch: Zwar ist es richtig, und auch durch die neuere begriffsgeschichtliche Forschung bestätigt, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem
Substantiv ‚Öffentlichkeit‘ die neue, vom Staat unterschiedene Richterinstanz
der Gesellschaft die historische Bühne betritt (eben die ‚öffentliche Meinung‘);70
bestimmte Stilisierungen der Habermas-Konstruktion wären aber kritisch zu
hinterfragen: Fraglos blieb z. B. auch im 18. Jahrhundert die soziale Reichweite
der Öffentlichkeit eher begrenzt: Auch ging es in dieser Sphäre keineswegs um
herrschaftsfreie Deliberation, sondern sehr weitgehend auch um meinungsbildende Überzeugung, wie es schon zur Zeit der Reformation der Fall war. Mit
der neueren Forschung ist aber vor allem festzuhalten, dass eine weniger an den
zeitgenössischen Begriffsgebrauch gebundene, Verwendung der analytischen Kategorie ‚Öffentlichkeit‘ Möglichkeiten des unbefangeneren Gebrauchs eröffnet. In
einem weiteren Sinne könnte man so Öffentlichkeit als eine für möglichst viele
Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten zugängliche Sphäre definieren,
in der intensiv über gemeinsame Angelegenheiten (egal, ob sie die Literatur, die
Politik oder eben die Religion betreffen) kommuniziert wird.71 Als ein wichtiges
Kennzeichen dieser Öffentlichkeit wäre z. B. ihre mediale Vielgestaltigkeit zu verstehen, „das komplexe Zusammenwirken“ verschiedener Medien, „von Sprechen,
Hören, Schauen, Lesen, Diskussion und Aktion“, das bereits Rainer Wohlfeil
konstatiert hatte; dabei bezog er sich seinerseits auf die Metapher der ‚Partitur‘, mit
70 L. Hölscher, Die Öffentlichkeit begegnet sich selbst. Zur Struktur öffentlichen Redens im
18. Jahrhundert zwischen Diskurs- und Sozialgeschichte, in: H.-W. Jäger (Hg.), „Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert (DAJ Supplementa 4), Göttingen 1997, S. 11–32.
71 In Anlehnung an Otto Groth definierte P. Ukena, Tagesschrifttum (wie Anm. 69), S. 36,
wie folgt: „öffentlich ist, was jedermann zugänglich ist, was von jedermann benutzt bzw. zur
Kenntnis genommen werden kann.“ (kursiv i. O.).
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Der Narrheit närrisch spotten
61
der Bob Scribner die Vielstimmigkeit und die (damals noch nicht so genannte)
Intermedialität der Reformation in ein Bild gefasst hatte.72
Wohlfeils Konzept ist in der Folge vielfach aufgegriffen worden, allerdings
mit deutlichen Akzentunterschieden. So hat Johannes Burkhardt in seiner
Rezeption des Ansatzes vor allem betont, dass es sich vornehmlich um eine „druckgestützte“ Öffentlichkeit gehandelt habe. Als das „Geheimnis der reformatorischen
Öffentlichkeit“ gilt ihm einerseits die Entdeckung der meinungsbildenden Kraft
vor allem der Flugschriften, andererseits – und eng damit zusammenhängend – die
in der Heiligen Schrift geborgene Offenbarung Gottes.73 Zugespitzt formuliert,
könnte man von einem doppelten sola scriptura-Prinzip sprechen, bei dem der
Inhalt der theologischen Botschaft kongenial zur medialen Vermittlung gewesen sei.
Ganz ähnlich sieht Rudolf Schlögl die „spezifische Ereignishaftigkeit der
Reformation […] von zwei Faktoren getragen: von ihrer Theologie und von deren
medialen Erscheinungsformen“. Die Veränderung des epistemischen Status der
Theologie sieht er – ganz ähnlich wie Burkhardt – darin, dass sie nun „zur
Vergegenwärtigung des […] in der Schrift verfügbaren Gotteswortes“ wird: „Aus
Denkoperationen wurden […] performative Akte, aus Theologen Prediger und Propheten, die zu Zeugen des Wortes wurden und daraus ihren Wahrheitsanspruch
schöpften.“ Bei Schlögl ist es ganz zentral die „Stadt als Vergesellschaftung unter
Anwesenden“, in der das Ereignis ‚Reformation‘ stattfand, allerdings unter den
Bedingungen der „expandierende[n] Gutenberggalaxis“.74 Anders als in den älteren Entwürfen von Dickens oder Moeller vorgezeichnet, geht Schlögl aber
nicht mehr von einer Art wesenhafter Konvergenz zwischen bürgerlicher Stadtverfassung und theologischer Botschaft aus, bei der das städtische Bürgertum zu
einer angemessenen Form von Religion gefunden habe; vielmehr rekonstruiert
er die spezifische mediale Ausprägung der Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Dabei konstituierte sich das Medienereignis Reformation, so seine zentrale
These, unter engem Bezug auf die städtische Anwesenheitsgesellschaft, blieben die
neuen Druckerzeugnisse „stets an die theatralische Performativität spektakulärer
72 R. Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit (wie Anm. 69), S. 48; vgl. zur Diskussion um
die Öffentlichkeit die Beiträge in G. Schwerhoff (Hg.), Stadt und Öffentlichkeit in der
Frühen Neuzeit (Städteforschung. A 83), Köln/Weimar/Wien 2011.
73 J. Burkhardt, Reformationsjahrhundert (wie Anm. 34), S. 55 ff.; vgl. komprimiert M. Nieden, Medienereignis (wie Anm. 20).
74 R. Schlögl, Anwesende und Abwesende (wie Anm. 59), S. 209–245, hier S. 214 f. Bei diesem Kapitel „Macht der Anwesenden: Reformation in der Stadt“ handelt es sich um die deutsche Version eines englischen Handbuchartikels: Ders., The Town and the Reformation as
an Event, in: H. Louthan / / G. Murdock (Hgg.), A Companion to the Reformation in
Central Europe (BCCT 61), Leiden/Boston 2015, S. 281–315.
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
Aktionen zurückgebunden“.75 Zwischen diesen beiden Polen – Druckmedien und
Aktionen – ließe sich mit Martin Bauer das murmeln under dem volck positionieren, die mündliche Alltagskommunikation, in der Grundsatzpositionen und
Werthaltungen ausgehandelt wurden und sich Stimmungslagen als Nährboden
für Aktionen abzeichneten.76
Eine derartige Aktionen begünstigende theatralische Performativität war den
damaligen Städten gleichsam in ihre soziale und politische DNA eingeschrieben,
die – wie die einschlägigen Forschungen der letzten Jahrzehnte gezeigt haben –
vom Pulsschlag ritueller Inszenierungen in Gestalt von Ratswahlen, Prozessionen
und Herrschereinzügen, aber auch von vielfältigen Protestaktionen beherrscht
waren. So wurde die Stadt, oder besser gesagt, wurden die vielen Städte „mit ihren
interaktionszentrierten Formen der Vergesellschaftung und einer auf der Logik
der Performanz basierenden Reproduktion sozialer Ordnung zu einem perfekten
Resonanzraum für die Erschütterung des Bestehenden im Modus des Konflikts
und der Transgression“.77 Was Schlögl hier auf den abstrakten Begriff bringt,
ist das große Spektrum von Aktions- und Interaktionsformen, die dem frühreformatorischen Geschehen vielerorts seine Dynamik verliehen, etwa Zehntverweigerungen, Predigtstörungen, Fastenbrechen, Klosteraustritte, Desakralisierungen
von Reliquien und Bilderstürme, schließlich aber auch karnevaleske Inszenierungen wie in Buchholz.78 Bei all dem war von entscheidender Bedeutung, dass die
Vielzahl reformatorischer Epizentren durch ein dichtes Netzwerk personaler wie
institutioneller Kommunikationsinfrastrukturen miteinander verbunden waren,
politische Netzwerke in Form brieflichen Austauschs der Räte ebenso wie die
Netzwerke von Humanisten, Studenten oder Buchhändlern – die eingangs angedeuteten Verstrebungen des Buchholzer Exempels stehen hier gewissermaßen pars
pro toto und in gleicher Weise verdeutlicht dieses Beispiel den Umstand, dass
wir in der Analyse jeweils nur konkrete Teilöffentlichkeiten untersuchen und im
besten Fall ein wenig profilieren können.79
75
76
77
78
79
Ders., Anwesende und Abwesende (wie Anm. 59), S. 219.
M. Bauer, „gemain sag“ (wie Anm. 55), S. 53–110.
R. Schlögl, Anwesende und Abwesende (wie Anm. 59), S. 245.
Umfassender Überblick bei T. Kaufmann, Geschichte (wie Anm. 30), S. 300–364.
Zur Kritik an immer neuen Teilöffentlichkeiten z. B. D. Bellingradt, Flugpublizistik und
Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten
Reiches (BKG 26), Stuttgart 2011, S. 22 ff.; zur Abgrenzung von Teilöffentlichkeiten nach bestimmten Dimensionen z. B. E. Schnurr, Religionskonflikt und Öffentlichkeit (wie Anm.
59), S. 45 f.; vgl. N. Fraser, Rethinking the Public Sphere. A Contribution to the Critique
of Actually Existing Democracy, in: Soc Text 25/26 (1990), S. 56–80, doi:10.2307/466240
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Der Narrheit närrisch spotten
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Auf der Basis von Schlögls Überlegungen ließen sich u. E. die Kommunika
tionsprozesse in der Reformation besser analytisch erfassen und – über eine additive
Aneinanderreihung hinaus – aufeinander beziehen. Das gilt insbesondere für die
hier betonte Verknüpfung von druckmedialen und interaktiven Kommunikationsvorgängen, wobei natürlich auch weitere mediale Formen öffentlicher Kommunikation miteinbezogen werden müssten, vom Kirchengesang über Bilder bis hin zu
Erzeugnissen der materiellen Kultur.80 Festzuhalten bleibt vorerst mit dem Buchholzer Exempel, dass sich gerade vorgebliche Paradebeispiele mündlich-präsentischer
Kommunikation als äußerst stark von den Massenmedien beeinflusst erweisen.
Andere Beispiele ließen sich leicht ergänzen: Vor allem mit den sog. Reforma
tionsdialogen wurde ein Genre aus der Taufe gehoben, bei dem der gedruckte Text
als Gespräch zwischen Anhängern und Gegnern der Reformation inszeniert wurde,
der also von der performativen Anmutung einer spezifischen Form von Anwesenheitskommunikation lebte – eine Inszenierung fiktiver Mündlichkeit, wie sie seit
der Antike bekannt war.81 Diese wenigen Bemerkungen zu den medialen Ausprägungen der Öffentlichkeit in der Reformationszeit weisen darauf hin, dass deren
Analyse nicht umhin kommen kann, dem jeweiligen Modus der Kommunikation
sowie den durch sie erzeugten Dynamiken ein besonderes Augenmerk zu widmen.
Modi und Dynamiken der Kommunikation. ‚Invektivität‘ in der
Reformation
Eine angemessene Analyse der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit in der Reformationszeit muss über die bisher genannten Aspekte hinausgreifen und neben
den verschiedenen Akteuren und Ausprägungen von Kommunikationsprozessen
auch deren sprachlich-symbolischen Modi in den Blick nehmen: Wie also wurde
(letzter Zugriff am 7.3.2020), zum Mehrwert der Kategorie „multiple publics“ aus demokratietheoretischer Perspektive.
80 Auf eine solche, den „Kontext der Kommunikationssituation“ einbeziehende Perspektive zielte
u. E. auch schon P. Ukena, Tagesschrifttum (wie Anm. 69), hier insbesondere S. 42.
81 Vgl. zu den Reformationsdialogen T. Kaufmann, Geschichte (wie Anm. 30), S. 313–377,
331 ff.; P. Matheson, Rhetoric (wie Anm. 28), S. 81–110; A. Zorzin, Beobachtungen (wie
Anm. 44); für England: A. Bevan Zlatar, Reformation Fictions. Polemical Protestant Dialogues in Elizabethan England, Oxford/New York 2011; zu den insbesondere für die Dialoge
konstitutiven stilistischen Gestaltungsmittel sprechsprachlicher Erscheinungen systematisch
bereits J. Schildt, Sprechsprachliche Gestaltungsmittel, in: Ders. / G. Kettmann (Hgg.),
Zur Literatursprache im Zeitalter der frühbürgerlichen Revolution. Untersuchungen zu ihrer
Verwendung in der Agitationsliteratur (BSN 58), Berlin (Ost) 1978, S. 21–85.
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
kommuniziert – eine Frage, zu der die geschichtswissenschaftliche, vor allem aber
die germanistische Forschung seit langem eine Menge Gesichtspunkte zusammengetragen hat, wie bereits angedeutet wurde. Dass es angesichts der in diesen
Jahren verhandelten grundsätzlichen Glaubensfragen kaum um bloße Informationsvermittlung, sondern immer auch um Meinungsbildung und -beeinflussung
ging, bildete implizit oder explizit eine Prämisse aller einschlägigen Debatten –
nehmen wir nur die klassische Bestimmung der Flugpublizistik durch Köhler,
der darin eben ein Meinungsbildungs- und kein Nachrichtenmedium sah.82
Diese Meinungsbildung vollzog sich in der Regel im Modus der Herabsetzung
bis hin zur polemischen Schmähung. Das lässt sich sehr präzise selbst in jenen
Schriften erkennen, deren Autoren als vergleichsweise gemäßigt und zurückhaltend gelten, wie etwa in der Dialogschrift „Der Laie“ (1525), die vom Frankfurter
Dominikanerprior Johannes Dietenberger verfasst und von Johannes Cochläus in
den Druck gegeben wurde. In dieser Schrift wird die invektive Ausgangssituation
der für Autor und Rezipienten gegebenen Alltagskommunikation über Fragen
des wahren christlichen Bekenntnisses in der Person eines keck herausfordernd
auftretenden Laien dargestellt und (gleichsam metainvektiv) reflektiert: Dem
Laien ist allein durch beharrliches und zunächst vor allem am Schriftprinzip [!]
orientiertes Belehren und Erklären zu begegnen.83 Auch reformatorische Autoren wie Karlstadt sahen sich zumindest ab und an rhetorisch genötigt, den invektiven Grundton ihrer Schriften zu reflektieren. So heißt es etwa in seiner 1524
erschienen Dialogschrift über den Missbrauch des Sakraments, er schreibe nicht
aus fürwitz vnd geylheit, treibe hiermit auch keinen schympf vnd kurtzweyl, habe
auch nicht spott oder lust mit seiner offenkundigen Polemik gesucht.84 Vielmehr
sei es ihm allein um die göttliche Wahrheit und das Seelenheil seiner Leser usw.
gegangen. Und, so könnte man hier kurz zusammenfassen, gerade weil es ihm um
dieses Ein und Alles ging, bedurfte es einer drastischen Sprache, um die eigene
Position zu verdeutlichen und um zu überzeugen.
Systematisch wurde der Tatbestand, dass der kommunikative Modus der reformatorischen Öffentlichkeit ein grundsätzlich invektiver war, in dem die eigene
82 H.-J. Köhler, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Flugschriften (wie Anm. 42), S. IX–XII, hier S. X
und passim durch weitere Autoren im angegeben Band. So letztlich auch schon der Befund bei
P. Ukena, Tagesschrifttum (wie Anm. 69), S. 46, hinsichtlich des Wandels der aktualitätsbezogenen Publizistik im 17. Jahrhundert, als insbesondere in den Periodika „die zur Nachricht
versachlichte Neuigkeit“ als historisch neues Phänomen sichtbar wird.
83 Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), ed. A. Laube, Berlin 1997, S. 545–563.
84 A. Bodenstein von Karlstadt, Dialogus oder ein gesprechbüchlin Von dem grewlichen
unnd abgöttischen mißbrauch des hochwirdigsten sacraments Jesu Christi, Basel: Johann Bebel 1524 (VD16 B 6141).
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Der Narrheit närrisch spotten
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Position stets in der herabsetzenden Abgrenzung der gegnerischen dargestellt
wurde, in der Forschung lange als randständig betrachtet – vermutlich, weil der
weithin benutzte Begriff der ‚Polemik‘ nur einen Teil der hierunter fallenden Phänomene und Texte erfasst. Insgesamt aber ist der Befund dennoch einigermaßen
verwunderlich; immerhin führten bereits einige Zeitgenossen auch das Auseinanderbrechen der reformatorischen Bewegung auf den unmäßigen Sprachgebrauch
ihrer Protagonisten in persönlichen Auseinandersetzungen zurück.85
Überhaupt lässt sich der gesamte Sachverhalt sehr gut am Beispiel des begnadetsten Schmähredners der Reformation zeigen, des Reformators oder, wie es
Martin Brecht ausdrückte, des „Schimpfers Martin Luther“.86 Luthers deftige
Sprache wurde früher entweder peinlich übergangen oder als persönlicher Fehler einer ansonsten großartigen Persönlichkeit vermerkt, allenfalls als Zeichen
seiner ‚Volkstümlichkeit‘ genommen.87 Das änderte sich zunächst, wiederum
im Anschluss an Scribner, unter den Vorzeichen einer neuen Aufmerksamkeit für die ‚Propaganda‘ in der Geschichte.88 Insofern hier aber die Bedeutung
einer instrumentell-rationalen Strategie des Einsatzes bestimmter Mittel zum
Zwecke intendierter Manipulation zumindest mitschwingt, erscheint er als zu
eng und steht außerdem für das 16. Jahrhundert unter Anachronismusverdacht.
Nur für bestimmte kommunikative Textgattungen zutreffend ist wie angedeutet
andererseits das vielbenutzte Etikett der ‚Polemik‘. Dieses wird zwar oft in einem
85 So schon V. Ickelsamer, Clag etlicher brüder: an alle christen von der grossen vngerechtigkeyt vnd Tirannei, so Endressen Bodensteyn von Carolstat yetzo vom Luther zu Wittembergk
geschicht, Mainz: Johann Schöffer 1525 (VD16 I 30). Es kann dieser Umstand hier nicht näher
beleuchtet werden. Mark U. Edwards hat allerdings schon 1975 die Spezifika von Luthers
Polemiken gegen innerevangelische Opponenten in seiner Studie „Luther and the False Brethren“ herausgearbeitet. Zu den ad personam geführten Invektiven in unterschiedlichen Gattungen systematisch einschlägige Befunde bereits bei F. Pensel, Zur Personenabwertung, in:
G. Kettmann / J. Schildt (Hgg.) Literatursprache (wie Anm. 81), S. 219–340.
86 M. Brecht, Der „Schimpfer“ Martin Luther, in: Luther 52 (1981), S. 97–113. Unter den einschlägigen Biografien Luthers lässt, das sei hier lediglich angemerkt, insbesondere auch das
dreibändige Werk Martin Brechts die Streitlust und Streitpraxis des Reformators bereits
in Struktur und Benennung der Kapitel erkennen. Vgl. in systematischer Perspektive auch O.
Roynesdal, Luther’s Polemics, in: LQ 6 (1992), H. 3, S. 235–255, zu einzelnen polemischen
Kontroversen Luthers.
87 Vgl. G. Schwerhoff, Radicalism and Invectivity. ‚Hate speech‘ in the German Reformation,
in: B. Heal / A. Cremers (Hgg.), Radicalism and Dissent in the World of Protestant Reform, Göttingen/Bristol, CT 2017, S. 36–52; vgl. aber schon H. A. Oberman, Teufelsdreck.
Eschatology and Scatology in the ‚Old‘ Luther, in: SCJ 19 (1988), H. 3, S. 435–450.
88 Der Propagandabegriff bildet selbst in der sich von Robert W. Scribner abgrenzenden Arbeit von A. Pettegree, Brand Luther (wie Anm. 36), noch immer den Hintergrund für die
Interpretation.
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unspezifischen Sinn benutzt, impliziert aber doch eher einen scharfen, wenn
auch zugleich kontrollierten Meinungsstreit.89 Neuere Arbeiten, die für die hier
verhandelten Tatbestände höchst einschlägig sind, benutzten deshalb eine eher
technisch-funktionale Terminologie, stellen ‚Streitschriften‘ in den Mittelpunkt
oder sprechen von ‚sprachlicher Ausgrenzung‘ oder verweisen allgemein auf die
Differenz zwischen konfessionellen ‚Selbst- und Fremdbezeichnungen‘.90
Hier knüpft thematisch und analytisch ein geschichtswissenschaftliches Forschungsprojekt mit dem Titel „Pamphlete, Pasquille und Parolen. Invektive Dynamiken frühneuzeitlicher Öffentlichkeit“ an, das seit Mitte 2017 seine Arbeit aufgenommen hat. Es ist eingebettet in einen größeren Forschungsverbund an der TU
Dresden, der mittels des Konzeptes der ‚Invektivität‘ epochen- und kulturübergreifend Phänomene der Schmähung und Herabwürdigung, der Beschämung und
Bloßstellung untersucht und auf ihre Erscheinungsformen, Funktionen und Effekte
hin befragt.91 Mit dem (bewusst artifiziell gehaltenen) Terminus der ‚Invektivität‘
soll ein sehr breites und heterogenes Spektrum von Phänomenen in einen gemeinsamen analytischen Horizont gerückt werden, das von der herabsetzenden Unhöflichkeit über Schmähungen, Lästerungen und Beleidigungen bis hin zur Hassrede
89 Vgl. H. Stauffer, Art. Polemik, in: G. Ueding (Hg.) / A. Hettiger u. a. (Red.), Historisches Wörterbuch, Bd. 6 (wie Anm. 67), Sp. 1403–1415; jetzt mit einer umfassenden Vermessung des Begriffsfeldes S. Steckel, Verging on the polemical. Towards an interdisciplinary
approach to medieval religious polemic, in: Medieval Worlds 7 (2018), S. 2–60, doi: 10.1553/
medievalworlds_no7_2018s2 (letzter Zugriff am 7.3.2020).
90 K. Bremer, Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen
und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert (FN 104), Tübingen 2005; B. Jörgensen,
Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen. Zur Terminologie der Religionsparteien
im 16. Jahrhundert (CA 32), Berlin/Boston 2014; A. Lobenstein-Reichmann, Sprachliche Ausgrenzung im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit (SLG 117), Berlin/Boston
2013; K. Lundström, Polemik in den Schriften Melchior Hoffmans. Inszenierungen rhetorischer Streitkultur in der Reformationszeit (SGDS 1), Stockholm 2015. Die Arbeit von
Kerstin Lundström verweist auf den Umstand, dass ein umfassenderer Literaturbericht das
Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung als Ganzes berücksichtigen müsste. Das
kann hier nur exemplarisch geschehen. Vgl. etwa das aktuell noch laufende, von Irene Dingel
geleitete Forschungs- und Editionsprojekt „Controversia et Confessio“. Informationen unter
http://www.controversia-et-confessio.de (letzter Zugriff am 7.3.2020); eingängig hierunter
die Rubrik „Schimpfwort des Monats“ unter http://www.controversia-et-confessio.de/pro
jekt/schimpfwort-des-monats.html (letzter Zugriff am 7.3.2020).
91 Zum Ansatz des von der DFG geförderten SFB 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“, der hier lediglich kurz angesprochen werden kann, vgl. ausführlicher: Konzeptgruppe Invektivität [D. Ellerbrock u. a.], Invektivität – Perspektiven eines
neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: KWZ 2 (2017), H.
1, S. 2–24.
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und zur verbalen bzw. symbolischen Gewalt reicht. Als gemeinsame Eigenschaft,
eben als ‚invektive‘ Qualität erscheint es, dass in all diesen Fällen mittels verbaler
oder nonverbaler Kommunikationsakte Bewertungen von Personen, Gruppen und
Positionen vorgenommen werden, die geeignet sind, deren soziale Position negativ
zu verändern, sie zu diskriminieren und gegebenenfalls auszuschließen. Invektiven,
das zeigt sich hier, sind klassische ‚Sprechakte‘ im Sinne von Austin, mit ihnen
wird nicht nur etwas ausgesagt, sondern zugleich und vor allem etwas ‚getan‘ – im
Extrem wird ein Akt verbaler Gewalt ausgeübt, der höchst folgenreich sein kann.
Zugleich können Invektiven die Menschen sowohl auf einer kognitiv-inhaltlichen
als auch auf einer affektiven Ebene bewegen: Religiöse oder auch wissenschaftliche
‚Wahrheiten‘ erlangen oft erst in der invektiven Zuspitzung gegen Kontrahenten ihre
höchste Präzision und den Status etablierter Allgemeingültigkeit; andererseits bilden Schmähungen und Herabsetzungen nicht selten den Kitt, der religiöse ebenso
wie politische Gemeinschaften zusammenhält. Invektivität besitzt so eine höchst
bedeutsame Funktion für soziale Inklusions- und Exklusionsprozesse.
Überdies soll mit dem Begriff der ‚Invektivität‘ ein Kommunikationszusammenhang adressiert werden, der über den bloßen isolierten Akt einer Schmähung und
Herabwürdigung hinausgeht. Immer soll der Zusammenhang von Invektierenden,
Invektierten und einem Publikum im Blick gehalten werden, der idealtypisch als
‚invektive Triade‘ figuriert. Es geht mithin um die Formen der Anschlusskommunikation, die oft genug erst über den Charakter und die Heftigkeit einer Herabwürdigung entscheidet. Meistens wird im Zuge dieser Anschlusskommunikation
auf einer reflexiven Ebene der Charakter einer Invektive thematisiert, die betreffende Äußerung heruntergespielt oder skandalisiert, gerechtfertigt oder ironisiert.
Vor diesem – hier nur sehr kursorisch skizzierten – konzeptuellen Hintergrund
geht es dem frühneuzeitlichen Forschungsprojekt um die mögliche Prägekraft
des Invektiven für eine Kommunikationsgeschichte der Reformation bzw. für die
Entfaltung der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit. Dabei gehen wir von der These
aus, dass der Invektivkommunikation insgesamt ein Vernetzungs- und Dynamisierungspotenzial innewohnt, das es erlaubt, intermediale Bezüge ebenso präzise
nachzuzeichnen wie die Verflechtungen raum-zeitlich getrennter Arenen, Praktiken und Akteure – ganz so, wie es das Buchholzer Fallbeispiel von 1524 bereits
nahegelegt hat. Das Geheimnis der reformatorischen Öffentlichkeit, um die bereits
zitierte Formulierung Johannes Burkhardts abzuwandeln, offenbarte sich aus
dieser Perspektive, zugespitzt formuliert, überhaupt erst im Modus der Invektivität. Diese invektive Kommunikation konnte vielfältige Funktionen erfüllen: Sie
mochte das Reflexivwerden einer Konfliktkonstellation begünstigen, intellektuelle und theologische Positionen schärfen, Schwachstellen des Gegners offenlegen
und umgekehrt die eigenen Anhänger mit großer emotionaler Durchschlagskraft
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mobilisieren. Insofern es bei der Verkündung von Gottes Wort um nichts weniger
als die Wahrheit ging, war Invektivität eines der effektivsten Mittel, diese Wahrheit
in der intellektuellen Auseinandersetzung nicht nur aufzufinden, sondern über
soziale und raumzeitliche Barrieren hinweg auch mit Wort und Tat zu verteidigen.
Inhalt und Form, so einer der Ausgangspunkte unserer Argumentation, müssen
daher eng zusammengedacht werden – zumal dann, wenn es, wie beispielsweise
von Mark Edwards meisterhaft vorgeführt wurde, um die Frage geht, welche
Ideen und Formulierungen eigentlich massenwirksam ‚gezündet‘ haben.92
Das angedeutete Forschungsprogramm hat viele Facetten, die hier auch nicht
ansatzweise entfaltet werden können. Zentral ist, um nur einen Aspekt herauszugreifen, das Zusammenspiel von Gelehrten und Laien, von lateinischen
und volkssprachlichen Kommunikationsakten. Es wäre – wie bereits die dänische Kirchenhistorikerin Ninna Jørgensen gezeigt hat – ein Zerrbild davon
auszugehen, dass die Derbheit invektiver Gebrauchsformen ein Signum der
volkskulturellen Niederungen gewesen sei, während sich die lateinkundigen
Bildungseliten dieser Formen lediglich bedient hätten, um ihre Botschaften
ans Volk zu vermitteln.93 Ganz im Gegenteil ging je nach Perspektive entweder das moralische Überlegenheitsgefühl oder die sorgsame Rücksicht vieler
Autoren soweit, dem ‚gemeinen Mann‘ nicht dieselben groben Invektiven in
volkssprachlicher Form zumuten zu wollen, die im Lateinischen elementarer
Bestandteil gelehrter Auseinandersetzungen und Sprachwettkämpfe war. Selbst
während der aufgeheizten Stimmung der Leipziger Disputation gehörten diese
zum akademisch sportlichen Zeitvertreib des dortigen Rahmenprogramms.94
Das Leipziger Beispiel verweist zugleich darauf, dass in unterschiedlichen Arenen auch mit differenten Sprechpraktiken und Bedeutungszuschreibungen (von
agonal sportlich und spielerisch bis hin zum tödlichen Ernst) sowie mit varianten Sprechlizenzen (bis hin zur klaren Tendenz zur Vermeidung von Invektiven
auf den Reichstagen)95 zu rechnen ist.
Wie verbissen und heftig die humanistische Gelehrtenwelt, dabei nicht selten
auf einer rein persönlichen Ebene, die Auseinandersetzung suchte und in die
92 M. U. Edwards, Luther’s Last Battles (wie Anm. 33); Ders., Printing, Propaganda (wie
Anm. 33).
93 N. Jørgensen, Bauer (wie Anm. 38), bes. S. 62 f.
94 L. Roper, Der Mensch Martin Luther. Die Biografie. Übersetzt von H. Fock / S. Müller,
Frankfurt a. M. 2016, S. 581, Anm. 24.
95 Siehe hierzu B. Jörgensen, Selbst- und Fremdbezeichnungen (wie Anm. 90), Kap. 5–8. Im
Rahmen des oben angesprochenen SFBs 1285 widmen sich unter anderem auch diesem Zusammenhang mehrere Teilprojekte (D: Uwe Israel, E: Marina Münkler, F: Jürgen Müller und G: Gerd Schwerhoff und Alexander Kästner).
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Der Narrheit närrisch spotten
69
Öffentlichkeit trug, zeigt sich etwa daran, dass die Konfliktkonstellationen der
Reformation wiederholt zum freudigen Anlass genommen wurden, um andere
Kontroversen zu aktualisieren. 1520 holte Johannes Eck etwa seine frühere Auseinandersetzung mit Erasmus ein, als er zur Zielscheibe mehrerer humanistischer
Spott- und Satireschriften wurde, die den Nachklang der Leipziger Disputation
deutlich veränderten und Ecks Ruf nachhaltig beschädigten.96 Hierbei ist auch
in Rechnung zu stellen, dass diese und vergleichbare Schriften wohl vor allem
wegen ihrer scharfen, ad personam gerichteten und ehrabschneidenden Polemik
anonym bzw. pseudonym verfasst wurden.
Die invektiven Sprachformen der Reformationszeit, so zeigt sich an den Auseinandersetzungen innerhalb der humanistischen Parteiungen zugleich, waren
keine Erfindung der reformatorischen Bewegungen oder ihrer Gegner. Allein die
Heftigkeit und mediale Präsenz der Reuchlin-Kontroverse spricht hier für sich.97
Aber insbesondere die vernakularen Invektiven sowohl der reformatorischen
Autoren als auch ihrer Gegner waren gerade deswegen so wirksam, weil sie allgemein geteilten sprachlichen Konventionen entsprachen, die jederzeit aktualisiert
werden konnten. Invektivität erscheint auf diese Weise als funktional bedeutsam
und voraussetzend für eine Vielzahl von Handlungszusammenhängen, in denen
schwelende Konflikte sprachlich aktualisiert und Wahrheitsansprüche offensiv
verteidigt werden sollten.
Das gilt letztlich auch für katholische Autoren, die, das sollte nicht vergessen
werden, in durchaus beachtlicher Zahl und Breite volkssprachlich publizierten.
Hiervon zeugt etwa die dreibändige Edition entsprechender antireformatorischer
Flugschriften, welche Adolf Laube und Ulman Weiss besorgt haben.98 Und das
gilt selbstredend für alle Situationen, in denen frühreformatorische Ideen oder
spätere protestantische Reformbemühungen begründet und/oder verwirklicht
wurden. Letzteren Zusammenhang hat der vielzitierte Robert W. Scribner am
96 Darunter 1520: J. F. Cottalembergius, Eckius dedolatus […], Straßburg: Matthes Maler
1520 (VD16 C 5587, VD16 C 5588); Dialogi Decoctio. Eckius monachus […], Straßburg: Johann Prüß d. J. 1520 (VD16 D 373, VD16 E 486); vgl. hierzu und zu weiteren entsprechenden
Schriften kurz H. Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock,
T. 2: Das Zeitalter der Reformation: 1520–1570 (Geschichte der deutschen Literatur von den
Anfängen bis zur Gegenwart 4/2), München 1973, S. 102–109.
97 J. Schwitalla, Brutalität und Schamverletzung in öffentlichen Polemiken des 16. Jahrhunderts, in: S. Krämer / E. Koch (Hgg.), Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden
Sprechens, Paderborn/München 2010, S. 97–123, hier S. 100 ff.
98 Flugschriften, ed. A. Laube (wie Anm. 83); Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530),
ed. Ders. / U. Weiss (Mitarb.), 2 Bde., Berlin 2000.
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70
Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
Beispiel des Ineinanderwirkens von antiklerikalem Denken und Handeln bereits
eindrücklich ausgeführt.99
Die Relation von produktiven und mobilisierenden Effekten einerseits zu ausgrenzenden und destruktiven Seiten von Invektivität andererseits müsste für eine
neu auszurichtende Geschichte der Reformation als Kommunikationsprozess
nun überhaupt erst einmal systematisch bestimmt werden. Dabei wäre natürlich
auf zahlreiche existierende Forschungsansätze und -debatten zurückzugreifen.
Anknüpfen ließe sich z. B. an die Überlegungen Berndt Hamms zu Kohärenz
und Vielgestaltigkeit der frühreformatorischen Bewegung. Hamm hat unterschiedliche Positionsbestimmungen des Verhältnisses von geisterfüllter Seele
und geistlosem Schriftgelehrtentum analysiert.100 Vor dem Hintergrund seiner
Ausführungen erscheint Polemik keineswegs als ein bloß von Schreibkontexten
abhängiges, funktional notwendiges Kontrastmittel, mit dessen Hilfe unterschiedliche Autoren wie Andreas Osiander, Hans Denck, Lazarus Spengler, Diepold
Peringer, Hans Sachs oder Hans Greiffenberger nicht nur öffentliche Abgrenzungsbewegungen vollzogen haben, sondern zugleich immer auch als Medium
der Mobilisierung nach innen.
Buchholz als Paradigma eines invektiven Modus der Kommunikation
Die Bedeutung des Invektiven für eine Kommunikationsgeschichte der Reformation bzw. das Vernetzungspotenzial von Invektivität für die Konstituierung
einer reformatorischen Öffentlichkeit soll im Folgenden wiederum unter Rückgriff auf das Buchholzer Beispiel verdeutlicht werden, ohne die komplexen lokalen, regionalen und überregionalen Konfliktfelder und Akteurskonstellationen
an dieser Stelle weiter entfalten zu können. Im Erzgebirge lagen, wie eingangs
angedeutet, Schmähungen schon lange vor 1524 in der Luft. Seit Jahren hatten
religiös grundierte Friktionen die Stimmung an dieser territorialen Bruchzone
der beiden wettinischen Linien aufgeheizt. Die antilutherischen Maßnahmen
Herzog Georgs trafen in Annaberg auf eine Situation, die von einer schwelenden
Kritik des Rats an Missständen im Franziskanerkloster einerseits und von einer
99 Vgl. R. W. Scribner, Anticlericalism and the Cities, in: P. A. Dykema / H. A. Oberman
(Hgg.), Anticlericalism (wie Anm. 23), S. 147–166, wenngleich Scribner trotz enger Bezüge
in antiklerikalem Denken keinen automatischen Mechanismus zur Initiierung antiklerikalen
Handelns im Kontext reformatorischer Aktionen sah.
100 B. Hamm, Geistbegabte gegen Geistlose: Typen des pneumatologischen Antiklerikalismus.
Zur Vielfalt der Luther-Rezeption in der frühen Reformationsbewegung, in: ebd., S. 379–440.
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Der Narrheit närrisch spotten
71
im Ausmaß unklaren Ausbreitung reformatorischer Ideen in der Bürgerschaft
andererseits geprägt war. Die enorme Entwicklungsdynamik der beiden jungen
Städte Annaberg und Buchholz, die das Stadtrecht 1497 bzw. 1501 verliehen
bekommen hatten, mag zur Unübersichtlichkeit zusätzlich beigetragen haben.
1523 hatten mutmaßlich einige Annaberger Bürger101 mit derben Schmähschriften auf die antilutherischen Maßnahmen im Herzogtum Sachsen reagiert.
In diesen Pasquillen und Drohbriefen schmähten sie nicht nur Franziskaner
und Dominikaner mit Hilfe eines breiten Repertoires antiklerikaler und antijüdischer Stereotype als Gotteslästerer, dabei gleichsam die lokalen Konflikte
der Stadtgemeinde mit den Mönchen vor Ort aufgreifend. Zugleich drohten
sie der weltlichen Obrigkeit – ganz im Sinne der von Martin Bauer identifizierten programmatischen Kampfansagen102 – auch unverhohlen mit umstürzlerischen Aktionen. Dabei verwiesen die anonymen Invektierer unter anderem
auf das Potenzial der Schrift für zukünftige Aktionen: was forder mer geschehen
wirdt steckt noch in d[er] fed[er] ir obristen pedencktz eben.103 In der Folge griff
der sächsische Herzog hart durch und ließ einige mutmaßliche Religionsabweichler gefangen nehmen.
Auch in benachbarten Orten beförderte die unmittelbare Nachbarschaft Konflikte. Im nahen Schneeberger Kondominat brach im Frühjahr 1524 ein Streit über
die obrigkeitskritische Predigtpraxis des dortigen evangelischen Pfarrers Amandus
aus, der nicht ohne die parallelen Ereignisse in Buchholz und Annaberg betrachtet
werden sollte: Eine Ermahnung zum Amtsantritt von Amandus verrät einiges über
die sowohl konfessionellen als auch politischen Spannungen im Grenzgebiet; dort
hieß es 1524, er solle das evangelium ohne lesterung und plasphemirung geistlicher und
weltlicher oberkeyt predigen, womit die konfessionelle und politische Problemlage
in den Bergstädten des Erzgebirges in nuce als ein Problem der Invektivität beschrieben ist.104 Und kurz darauf im Sommer 1524 beschwerte sich Herzog Georg bei
Kurfürst Johann über entlaufene Mönche, die in Buchholz evangelisch predigten,
wohin auch zahlreiche Annaberger Bürger zur Predigt ausliefen. In Buchholz selbst
101 Der soziale Hintergrund der Autoren kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden,
doch legen die Quellen nahe, dass es sich durchaus auch um Personen aus der Umgebung bzw.
um Einwohner aus Buchholz gehandelt haben könnte. Eine ausführliche Diskussion auch einiger bislang unbekannter Quellen in A. Kästner, Hin und wieder zurück (wie Anm. 4).
102 M. Bauer, „gemain sag“ (wie Anm. 55), S. 109.
103 HStA Dresden, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9827/22, fol. 156r.
104 Zitiert nach F. Neumann, Reformation als religiöse Devianz? Das Schneeberger Kondominat und der Fall Georg Amandus (1524/25), in: A. Kästner / G. Schwerhoff (Hgg.),
Göttlicher Zorn und menschliches Maß. Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften (KuK 28), Konstanz/München 2013, S. 93–122, hier S. 99.
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
verlangten die Einwohner, Friedrich Myconius als Prediger einzustellen, zugleich
jedoch gab es offenkundig Gruppierungen, denen das bedachte Handeln des Predigers nicht weit genug ging und die trotz mahnender Worte zur Tat schritten.
Damit sind wir wieder bei der Flugschrift zur Buchholzer Spottprozession: Am
Beispiel der dort enthaltenen, bereits erwähnten Kommentierung der beschriebenen Vorgänge lässt sich aufzeigen, wie durch einen invektiven Schriftgebrauch im
Vor- und Nachwort zum eigentlichen Bericht (und eigentlich auch nur so) ein weiterer, überregionaler Deutungsrahmen für die Schmähaktion vor Ort aufgespannt
werden konnte. Dies war insofern wichtig, als auf diesem Wege der unbekannte
Verfasser, der ja selbst nicht Zeuge des Vorfalls gewesen war, ein überregionales
Publikum adressierte, dessen Teil er zugleich war. Zunächst einmal gehört es zur
Strategie des Verfassers, sich als Untertan des albertinischen Herzogs Georg zu
inszenieren, freilich nur indirekt, indem er darauf hinweist, dass das Wormser Edikt
von ‚seinem‘ Landesfürsten angeschlagen worden sei. Der ernestinische Kurfürst
dagegen hatte bekanntlich dessen Gültigkeit klar bestritten und war nach dem zweiten Nürnberger Reichstag von 1523 sogar von dessen Aufhebung ausgegangen.105
Auf die entsprechenden reichspolitischen Hintergründe und Kontroversen
spielte der informierte Verfasser auch deshalb an, weil ihm dies die Gelegenheit
gab, den päpstlichen Nuntius Aleander als ränkeschmiedenden Urheber des
antilutherischen kaiserlichen Mandats zu benennen. Dieses, so der anonyme Verfasser, habe eyn welscher bube getichtet […] zu lateyn und ist darnach verdeutscht
boeslich gnug. Der Grund hierfür wird gleich mitgeliefert, denn Aleander habe
sich zu Worms hören lassen, wie man sagt, Er wollts zu richten, das sich die deut
schen sew selbst unternander sollten erwuergen.106 Kritik an der Papstkirche wird
hier also im Gewand von Anprangerung eines blutduerstig wellsch suepplin geübt,
wobei hier ganz beiläufig eine satirische Wendung aus der bekannten Flugschrift
„Die Lutherisch Strebkatz“ zitiert wird.107 Da der Verfasser seine Leser durch die
Verwendung des Kollektivplurals ‚wir‘ als eben jene von Aleander mit einer dehumanisierenden Tiermetapher geschmähten Deutschen anspricht, geht damit zugleich
die Handlungsaufforderung einher, auf diese Invektive angemessen zu reagieren.
Diese Invektive funktioniert einfach und effektiv über ein binäres Schema von
105 C. Volkmar, Reform (wie Anm. 5), S. 503; differenzierter A. Kohnle, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri
bis zum Nürnberger Religionsfrieden (QFRG 72), Gütersloh 2001, S. 128 ff.
106 Flugschriften, Bd. 2, edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.) (wie Anm. 49),
S. 1343.
107 Ebd., S. 1344. Vgl. [ Johann Bader], Die Lutherisch Strebkatz, Worms: Peter Schöffer d. J. 1524
(VD16 L 7644), fol. Di v. Zu dieser Flugschrift F. Büttner, Johann Bader. Eine biographische
Studie zum reformatorischen Netzwerk am Oberrhein (FKDG 121), Göttingen 2020, S. 77–107.
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Der Narrheit närrisch spotten
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Gruppenzugehörigkeiten – die ‚Deutschen‘, als die der Verfasser damit und durch
die nachfolgende Verwendung des Kollektivplurals sich und alle avisierten Leser
als ‚imaginierte nationale Öffentlichkeit‘ meint, auf der einen und die ‚Welschen‘
auf der anderen Seite, für die er das personaldeiktische Pronomen in der dritten
Person Plural verwendet – sprachlich also eine größtmögliche Distanz aufbaut.
Diese abwertende Unterscheidung wird durch einen weiteren sprachlichen Trick
verstärkt, der aus dem ‚Wir‘ eine emotionale Gemeinschaft konstituiert. Der
gesamte Abschnitt erfährt nämlich seine Akzentuierung durch den Konnektor
‚aber‘, der die Phrase einleitet, man spuert, dass Aleander der Urheber dieser – so
das implizite Argument – dem Wesen dieses ‚Wir‘ fremden Textes sei. Der Autor
spielte damit auf ein Gespür, mithin eine Stimmungslage an, die er als gegeben
voraussetzt und damit zugleich der Diskussion entzieht.
Doch damit nicht genug dehnt der Verfasser seine Kritik noch auf jene deutschen Fürsten und Bischöfe aus, die häufig lust haben yhre unterthane zu plagen.
Die Herrscherkritik an jenen, die eigentlich Frieden und Sicherheit im Land
bewahren sollten, dagegen aber allererst selbst auffrur gepieten und anrichten und
urlaub geben allen frid und sicherheyt zu verprechen, ist an sich eindeutig; sie wird
jedoch begleitet von der interessanten Bitte um göttliche Gnade und Einsicht für
vnserm Fürsten. Diesem könnte es bei mangelnder Einsicht villeicht bald auffs
armbrust geregnet haben. Da mit diesem Fürsten, wie eben dargelegt, mit hoher
Wahrscheinlichkeit Herzog Georg von Sachsen gemeint war, enthält die Einleitung auch eine mehr oder weniger unverhohlene Drohung für die Zukunft aus
unmittelbarer Nachbarschaft. Denn was diese Zukunft womöglich bereithalte, so
ist aus der Abfolge und Struktur des Textes zu schlussfolgern, zeigten die Geschehnisse im kurfürstlich-ernestinischen Buchholz.
Zum Arsenal invektiver Kommunikationsmittel, die am Beispiel der Buchholzer
Flugschrift zu besichtigen sind, gehören schließlich nicht nur subtile Anspielungen,
grobe Schmähungen und gewaltträchtige Drohungen, sondern auch die reflexive
Thematisierung vorausgegangener Invektiven, von der oben bereits die Rede war.
Diese Thematisierung ist hier keineswegs ein Hinweis auf Besinnung, Reue oder
gar Mäßigung. Vielmehr wird sie, wie meist, als strategische Ressource im Konfliktaustrag dienstbar gemacht. Zunächst scheinen es bereits die Bergknappen selbst
gewesen zu sein, die sich – so der Augenzeugenbericht des Myconius – gegen die
Intervention des Bergvogtes zur Wehr setzten, indem sie ihre Aktion – mithilfe
von Spr 3,34 („Er wird der Spötter spotten“) – metainvektiv rechtfertigten: Ey
wollen denn die papisten nicht auffhoeren so groeblich und unverschampt zu nar
ren, warumb sollt man nicht yhrer narrheyt nerrisch spotten?108 Der Verfasser der
108 Flugschriften, Bd. 2, edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.) (wie Anm. 49),
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Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff
Flugschrift lässt es dabei nicht bewenden, sondern spiegelt diese Operation noch
einmal, gleichsam eine Ebene höher, im Urteil auswärtiger Beobachter:
Ich habe auch ynn eyner geselschafft davon hoeren reden, das eyner fragt: Nu ratet alle, wilche
haben des Benno am ergsten gespottet, die zu Meyssen mit yhrem heben, odder die ym Buchholtz?
Da wart geantwortet: Das die zu Meyssen hetten den ergisten spott getrieben […,] das ym Buch
holtz ist eyn schympff und schertz, der niemant geschadt hat. Aber die zu Meyssen haben mit ernst
gespottet und viel leut umbs gelt da zu bracht.109
Der Verfasser unterschied also deutlich zwischen einer ernsten Invektive, die einen
wirklichen Schaden verursache, und einem scherzhaften Spott, der niemandem
schade. Auf diese grundsätzliche Unterscheidung hätten sich die Konfliktparteien
vermutlich sofort einigen können. Das Beispiel verweist aber an dieser Stelle zugleich
auch auf die an sich banale, für ein tieferes Verständnis des Kommunikationsverhaltens der historischen Akteure jedoch wichtige Einsicht, dass es keine eindeutige
Wahrnehmung und Deutung von Invektiven gibt. Und daraus folgt, dass wir invektive Sprechakte, Gesten und Bilder stets nur in einem für die jeweilige historische
Situation möglichst breit zu rekonstruierenden Kontext der Medien, Modi und
Dynamiken der ‚reformatorischen Öffentlichkeit‘ untersuchen können.
Der hier grob umrissene Forschungsstand erhellt, dass Invektivität zweifelsohne
eine notwendige Voraussetzung für intellektuelle und strukturelle Neuerungen,
ja grundsätzlich unabdingbar für die Ausformung von Gegenüberstellungen im
Zeitalter der Reformation war. Invektivität sollte daher künftig als ein eigenständiger Faktor für die Frage, wie und mit welcher Dynamik reformatorische und
antireformatorische Botschaften ausgeformt, transportiert und rezipiert wurden,
stärker systematisch beachtet werden. Denn schließlich trat die reformatorische
Bewegung von Beginn an mit dem Gestus der Herausforderung und Herabsetzung des status quo in Erscheinung. Wenn man diesen Befund ernst nimmt, dann
ließe sich die Geschichte der Reformation vermutlich auch als Geschichte eines
dynamischen Invektivgeschehens neu erzählen. Damit wäre dann aber zugleich die
Herausforderung verbunden, die paradox anmutende Beobachtung angemessen
zu deuten, dass das Großprojekt einer gesamteuropäischen christlichen Purifizierung zugleich eine Epoche allgegenwärtiger Schmähungen und Herabsetzungen
in der öffentlichen Kommunikation war.
S. 1344 f.; vgl. J. K. Seidemann, Schriftstücke zur Reformationsgeschichte, in: ZHT 44 (1874),
H. 1, S. 115–139, hier S. 138.
109 Flugschriften, Bd. 2, edd. A. Laube / A. Schneider / S. Looss (Mitarb.) (wie Anm. 49),
S. 1345.
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Thomas Kaufmann
Buchdruck und Reformation
Buchkulturgeschichtliche Beobachtungen, insbesondere zu
Innovationen in der Wittenberger Produktion der Jahre 1517 und 1520
Die folgenden Ausführungen gliedern sich grob in drei Teile.1 Zunächst wähle ich
zwei mikrologische Zugänge: Einmal werde ich anhand einer neuen Rekonstruktion der Vorgänge des 31. Oktobers 1517 zu zeigen versuchen, dass die Druckpresse
in einem sehr prononcierten Sinne am Anfang der reformatorischen Aktivitäten
Martin Luthers (1483–1546) stand. Zum anderen werde ich die Beschleunigung
des Druckens, die in Wittenberg seit dem Frühjahr 1520 eingeübt wurde, vorführen. In einem dritten Schritt werde ich gleichsam synthetisierend die allgemeine
Bedeutung des Buchdrucks für den Prozess der Reformation und seine weiteren
historischen Wirkungen skizzieren.
1.
Zunächst soll auf den traditionellen Anfang der Reformation, die Vorgänge am
und um den 31. Oktober 1517, in publizistischer Perspektive geblickt werden.2
Den Ausgangspunkt der folgenden Rekonstruktion bildet ein knapper handschriftlicher Eintrag auf einem Exemplar des anonym erschienenen Plakatdrucks
der „95 Thesen“, der dem Leipziger Drucker Jakob Thanner (ca. 1448–1528)
zuzuschreiben ist. (Abb. 1) Ein Exemplar dieses Druckes befindet sich im Berliner Staatsarchiv; während und nach dem Zweiten Weltkrieg war es längere Zeit
in Merseburg aufbewahrt worden. Der Forschung ist es seit längerem bekannt,
vor allem durch einen 1983 aus Anlass des letzten großen Lutherjubiläums in
1
2
Die folgenden Ausführungen berühren sich mit meinem unlängst erschienenen Buch T. Kaufmann, Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen
Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen
(BHTh 187), Tübingen 2019. Für manche der hier nur thetisch knapp behandelten Überlegungen finden sich dort ausführlichere Begründungen.
Nähere Nachweise vgl. ebd., Kap. 3; zur Diskussion um den Thesenanschlag vgl. zuletzt (ohne
substantiellen Erkenntnisgewinn) B. Hasselhorn / M. Gutjahr, Tatsache! Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag, Leipzig 2018; anregend R. Bergmeier, Martin Luthers
Thesenanschlag und Erwin Iserlohs Fehldiagnose, Berlin 2018.
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Thomas Kaufmann
Weimar erschienenen Katalogs, der ein farbiges Faksimile des Blattes veröffentlichte.3 Der Wortlaut des handschriftlichen Eintrages am rechten oberen Rand
lautet: Anno 1517 ultimo Octobris, vigilie Omnium sanctorum, indulgentie pri
mum impugnatae („Im Jahre 1517, am Vorabend von Allerheiligen, wurden die
Ablässe zuerst bekämpft.“).
Dank der Identifizierung der Handschrift durch den ingeniösen Paläografen
Ulrich Bubenheimer,4 den besten lebenden Kenner reformationszeitlicher Autografen, ergeben sich m. E. weitreichende Konsequenzen: War bisher gelegentlich
Luther selbst für den kurzen handschriftlichen Zusatz in Anspruch genommen
worden, weshalb Bubenheimer und ich uns im Rahmen eines gemeinsamen
Seminars über „Luthers Handschrift“ mit dem Dokument befassten, so hat nach
Bubenheimer Luthers Erfurter Ordensbruder Johannes Lang (ca. 1487–1548)
als Verfasser dieser kleinen, an sich völlig unspektakulären Eintragung zu gelten.
Warum ist diese Zuschreibung von Interesse?
In einem Brief vom 11. November 1517, in dem Luther seinen erstmals am 31.
Oktober 1517 nachweisbaren Namenswechsel von Luder – seinem Geburtsnamen – zu Luther bzw. Eleutherius (nach dem griechischen Wort eleutheria, d. h.
der Befreite) gegenüber dem alten Weggefährten Johannes Lang in Erfurt verwendete, sandte er diesem seine „anderen Paradoxa“, d. h. die „95 Thesen“ mit.5
Aufgrund des Eintrages des Berliner Exemplars von Langs Hand besitzt es die
größte Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem ihm von Luther aus Wittenberg
zugesandten Stück um den Leipziger Plakatdruck gehandelt haben wird. Dies
aber bedeutet, dass dieser Druck bereits am 11. November 1517, weniger als zwei
Wochen nach dem 31. Oktober 1517, fertig gestellt war.
Luther hatte seinem berühmten, auf den 31. Oktober 1517 datierten Schreiben
an Albrecht von Brandenburg (1490–1545), den Erzbischof von Mainz (1514–
1545) und Magdeburg (1513–1545), der für den die Ablasskritik auslösenden
Petersablass verantwortlich war, die „95 Thesen“ beigefügt.6 Die Mehrheit der
Forscher geht davon aus, dass diesem Brief, der erstmals mit dem ‚neuen‘ Namen
Luther unterzeichnet war, die „95 Thesen“ in Gestalt eines in Wittenberg hergestellten Urdrucks beigefügt waren. Dieser Urdruck, der verschollen, d. h. in
3
4
5
6
Vgl. Martin Luther 1483–1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens, edd. R. Gross /
M. Kobuch / E. Müller, Weimar 1983, S. 71 f., Nr. 38.
Vgl. T. Kaufmann, Druckerpresse statt Hammer, in: FAZ, Nr. 254 (31.10.2016), S. 6; vgl.
auch die online-Version unter https://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/reformationstag-druckerpresse-statt-hammer-14504788.html (letzter Zugriff am 9.3.2020).
Vgl. WA BR, Bd. 1 (1501–1520), Weimar 1913, S. 121–123, Nr. 52, hier S. 121,4.
Vgl. ebd., S. 108–115, Nr. 48.
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Buchdruck und Reformation
77
Abb. 1: Leipziger Plakatdruck der
„95 Thesen“, Leipzig: Jakob Thanner 1517 (40,5 × 30 cm); Lutherbibliographie, edd. J. Benzing
/ H. Claus, Bd. 1 (wie Anm.
10), S. 16, Nr. 88; handschriftlicher Eintrag Johannes Langs
(Zuschreibung: Ulrich Bubenheimer) oben rechts: Anno 1517
ultimo Octobris, vigilia Omnium
sanctorum, indulgentię primum
impugnatę. Der Eintrag dürfte von
Lang zu einem späteren, bereits
historische Distanz voraussetzenden Zeitpunkt getätigt worden
sein. Möglicherweise war dieses
Exemplar mit jenem identisch, das
Luther am 11. November 1517
an Lang sandte: WA BR, Bd. 1
(wie Anm. 5), S. 121,4 f., Nr. 52
[Geheimes Staatsarchiv Preußischer
Kulturbesitz, I.HA Rep. 13, Nr.
4–5a, Fasz. 1].
keinem einzigen Exemplar erhalten ist – ein Schicksal, das außer der lediglich in
einem Wolfenbütteler Exemplar überlieferten „Disputatio contra scholasticam
theologiam“ (1517) und der in zwei Exemplaren erhaltenen „Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones“ (1518) alle frühen
Wittenberger und sehr viele Disputationen anderer Universitäten teilen –, wird
wohl nur in einer recht kleinen Auflage gedruckt worden sein. Außer den möglicherweise an den Kirchentüren angeschlagenen und einigen weiteren Briefen
an andere Bischöfe beigefügten Exemplaren – auch diese Briefe sind verloren –
werden nur wenige Stücke kursiert sein. Eines dieser Exemplare wurde von dem
Wittenberger Stiftsherrn Ulrich von Dienstedt (ca. 1460–1525) an Christoph
Scheurl (1481–1542), den Ratskonsulenten Nürnbergs, gesandt; dieser gab die
„95 Thesen“ in seiner Vaterstadt in den Druck. Von diesem Nürnberger war dann
ein Basler Druck abhängig, der erstmals nicht als Einblattdruck, sondern als kleines Heftchen im Quartformat erschienen ist.
Der Leipziger Druck, von dem wir jetzt wahrscheinlich machen können, dass
Luther ihn versandt hat, weist gegenüber der sonstigen Drucküberlieferung einige
kleinere Besonderheiten auf. Sie sind kaum als Eingriffe eines Druckers zu verstehen und machen es wahrscheinlich, dass Luther selbst an einem Exemplar des
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78
Thomas Kaufmann
ursprünglichen Wittenberger Drucks Korrekturen vorgenommen und dieses
korrigierte Exemplar dann nach Leipzig transferiert hatte. Für einen solchen Vorgang, die Versendung korrigierter Exemplare eines Erstdrucks zum Zweck eines
optimierten Nachdrucks an anderem Ort, gibt es bei Luther Parallelen. In dem
Leipziger Druck wurde etwa sein Name von Lutther in Luther geändert, ein Zusatz
zu seiner Ordenszugehörigkeit (Eremitano Augustiniano, d. h. Augustinereremit)
eingefügt sowie einige falsche oder ungenaue Verbformen verbessert – durchweg
Änderungen, die seitens eines Druckers kaum nachvollziehbar wären. Sodann,
wohl wichtiger als die genannten Emendationen, wurde die Thesenreihe mit einer
durchlaufenden Zählung versehen. Die Nürnberger und die von ihr abhängige
Basler Ausgabe hingegen boten die bei längeren Thesenreihen der Zeit übliche
Aufteilung nach 25er- bzw. 20er-Gruppen. Diese Gruppierung in einer kleineren
Menge von Thesen stand in einem unmittelbaren Bezug zur Disputationspraxis;
die einzelnen Respondenten hatten bei einer Disputation eine überschaubarere
Thesenmenge zu verteidigen. Freilich unterliefen dem Drucker Thanner bzw. seinem Setzer bei dem Druck der Zählung mehrere Missgeschicke: Nach der Zahl 23
vertauschte man die Zahlenfolge und druckte 42. Nach der Nummer 26 druckte
man fälschlich die 17; von dort an zählte man dann richtig weiter – bis zur Zahl
87. Luthers „95 Thesen“ sind also das Ergebnis einer numerischen Bereinigung;
in seiner eigenen Kommentierung der „95 Thesen“, den „Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute“ aus dem Sommer 1518 folgte Luther der
durchlaufenden Zählung. Zuerst verbreitet wurden seine Thesen „Von der Kraft
der Ablässe“ („De virtute indulgentiarum“) aber als ‚dreimal 25 plus 20‘ – so im
Nürnberger und im Basler – bzw. als „87 Thesen“ im Leipziger Druck.
Wohnt dem Zahlenspiel eine tiefere Bedeutung inne? Ich denke schon! Die
fortlaufende Zählung, deren Thesenmenge das im Rahmen einer Disputation
zu leistende ‚Maß‘ deutlich überschritt, deutet darauf hin, dass Luther zu jenem
Zeitpunkt zwischen dem 31. Oktober und dem 11. November 1517, als er den
Wittenberger ‚Urdruck‘ für den Leipziger ‚Nachdruck‘ redigierte bzw. korrigierte,
die Idee einer tatsächlich durchzuführenden Wittenberger Disputation, wenn er
sie denn je ernsthaft verfolgt hätte, bereits deutlich zurückgestellt oder gar aufgegeben hatte. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Luther im Spätjahr 1517 die
avisierte Disputation über die Ablassthesen tatsächlich durchzuführen beabsichtigte. Alles spricht hingegen dafür, dass er die von vornherein vorgesehene ‚literarische‘ Auseinandersetzung mit jenen, die „nicht anwesend sein könnten, um sich
mit ihm auseinanderzusetzen“ – wie es in der intitulatio der Thesen heißt –, als
eigentliche Diskursform vor Augen hatte. Im Rahmen einer primär publizistischen
Debatte machte die fortlaufende Zählung durchaus Sinn, denn sie akzentuierte
den Zusammenhang der Thesen und vereinfachte die Bezugnahme bzw. Zitation.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0
Buchdruck und Reformation
79
Geht man aufgrund der Indizien also davon aus, dass Luther die „95 Thesen“
eigenhändig zwei Mal in den Druck gegeben hat – bei dem lokalen Wittenberger
‚Universitätsdrucker‘ Johann Rhau-Grunenberg († wohl 1529) und in der Leipziger
Offizin Jakob Thanners, die vermittels der Infrastruktur der sächsischen Marktund Messemetropole eine zügige und weite Verbreitung der Druckerzeugnisse
ermöglichte und gewährleistete –, ergibt sich ein komplexes, gleichwohl kohärentes Gesamtbild von Luthers Handeln im Umkreis des 31. Oktobers 1517.
Das Datum seines Schrittes ‚in die Öffentlichkeit‘ hatte er gewählt, weil die
üppigen Ablassgnaden, die an der Wittenberger Schlosskirche zu Allerheiligen
geboten wurden, besondere Aufmerksamkeit auf die Ablassthematik und eine vermehrte Präsenz von Besuchern erwarten ließen. Wenn Luther, statutenkonform,
eine Anbringung der Thesen an den Türen der Wittenberger Kirchen betrieben
hätte – was wahrscheinlich ist –, wären die Thesen in Wittenberg bekannt geworden. Ulrich von Dienstedts Versand eines Exemplars an Scheurl könnte darauf
hindeuten, dass es einen gewissen öffentlichen ‚Vertrieb‘ der Thesen in Gestalt
des Wittenberger ‚Urdrucks‘ gegeben hat.
Nach allem, was wir wissen, hatte Luther wegen der Veröffentlichung seiner
„95 Thesen“ niemanden ins Vertrauen gezogen, sondern handelte weitgehend ‚auf
eigene Faust‘. Dies ist insbesondere im Verhältnis zu Georg Spalatin (1484–1545),
den Berater und Vertrauten des Kurfürsten und Luthers wichtigsten und engsten
Korrespondenzpartner überhaupt, aufschlussreich. Luther setzte wohl voraus, dass
der kursächsische Hof gar nicht anders hätte reagieren können, als ihn von einer
Kritik am Ablass abzuhalten. Denn man selbst profitierte vom Ablassgeschäft in
erheblichem Umfange; Friedrichs Reliquiensammlung war eine der größten der
Zeit. Sie bot gewaltige Zeiträume der Befreiung von Fegefeuerpein an. Also hielt
Luther Spalatin und den Hof aus seinen Plänen in Sachen Ablasskritik heraus.
In seinem Brief an den obersten Kommissar des Petersablasses, den Erzbischof
Albrecht von Magdeburg und Mainz, behandelte Luther den Ablass als eine zutiefst
kritikwürdige Angelegenheit. Sollte der Ablassverkauf fortgehen, werde sich der
Prälat vor Gott für die Seelenverderbnis unzähliger Christenmenschen verantworten müssen. In diesem Schreiben ließ er keinen Zweifel daran, dass der Ablass
umgehend abzuschaffen sei. Dadurch freilich, dass er die Thesen einer geplanten
akademischen Disputation, mutmaßlich in gedruckter Form, beifügte, behandelte er den Ablass zugleich als eine offene theologische Frage, die erst geklärt
werden müsse. Dies war in der Tat auch der Fall. Erst im Herbst 1518 schuf die
römische Kurie in Gestalt einer von Kardinal Thomas de Vio, genannt Cajetan
(1469–1534), verfassten päpstlichen Ablassdekretale jene eindeutige Rechtsgrundlage, mit deren Hilfe dann eineinhalb Jahre später auch die Verurteilung
Luthers über die Bühne gebracht werden konnte.
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Thomas Kaufmann
Eine Reihe an Indizien deuten darauf hin, dass es, zumal aus Luthers Sicht, im
Herbst 1517 keineswegs unrealistisch war, auch unter Theologen und führenden Kirchenmännern eine breitere Zustimmung für seine Ablasskritik zu finden.
Indem Luther seine Thesen drucken ließ, und dies wohl gleich zwei Mal, tat er
alles ihm Mögliche, um die Angelegenheit von vornherein in die außerakademische Öffentlichkeit zu ziehen und auf publizistischem Feld abzuhandeln. Die
Disputationsthesen waren also nicht mehr, aber auch nicht weniger, als eine traditionelle Form, derer er sich bediente, um mit ‚gefährlichen Ideen‘ eine breitere
Öffentlichkeit zu erreichen. Dabei zielten die Aktivitäten des Augustinereremiten
von vornherein deutlich über die Provinzuniversität Wittenberg hinaus.
In Bezug auf die Beurteilung von Luthers Rolle ergibt sich daraus, dass er
hochgradig intentional handelte. Der Eindruck, den er später gelegentlich selber
erzeugte, nämlich dass er in den Ablassstreit und die sich aus ihm ergebenden Konsequenzen gleichsam ‚hineingetappt‘ sei und dass die recht komplizierten akademischen Thesen kein geeignetes Mittel gewesen wären, um die Kritik am Ablass
zu verbreiten, wird der reflektierten Weise, in der er im Umkreis des 31. Oktober
1517 vorging, kaum gerecht. Denn Luthers Handeln zielte von vornherein darauf
ab, dass es eine breite Auseinandersetzung um die in der zeitgenössischen Frömmigkeitskultur ubiquitär präsente Ablassthematik geben sollte. Dass er sich auch
in seiner Kritik am Ablass als loyal sein wollendes Glied der römischen Kirche,
meinetwegen auch als ‚Reformkatholik‘, empfand, ist unstrittig. Ihm lag daran,
dieser Kirche aus einer bedrohlichen Glaubwürdigkeitskrise, in die sie durch das
fiskalisierte Heil geraten war, heraus zu helfen. Eindeutig ist aber auch, dass er sich
seiner Kritik am Ablass sicher war und deshalb entschlossen in die Öffentlichkeit
ging, d. h. sich konsequent publizistischer Mittel bediente.
Die Pointe von Erwin Iserlohs (1915–1996) These7 bestand darin, dass die
Protestanten Jahrhunderte lang eines Vorgangs triumphierend gedacht hätten, der
gar nicht stattgefunden habe; in Wirklichkeit, so Iserloh, habe Luther zunächst
auf eine Verständigung mit seinen Kirchenoberen gesetzt und die Öffentlichkeit
geradezu gescheut. Der springende Punkt meiner auf den zweimaligen Druck der
„95 Thesen“ hinauslaufenden Rekonstruktion der Vorgänge um den 31. Oktober
1517 besteht darin, Luther von seinen frühesten Anfängen an als das zu begreifen,
was er tatsächlich war und was seinen ‚Erfolg‘ begründen sollte: Ein genialer Publizist, ein ‚printing native‘, ein Propagandist und Agitator, der die Möglichkeiten
der relativ jungen Technologie des Buchdrucks auf revolutionäre Weise im Sinne
seiner Interessen und Anliegen zu nutzen wusste. Die erstaunliche Sicherheit im
7
Vgl. den Neudruck in E. Iserloh, Der Thesenanschlag fand nicht statt, in: U. Wolff (Hg.),
Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt (SOF 61), Basel 2013, S. 169–238.
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Buchdruck und Reformation
81
Umgang mit dem Druckwesen, die bei Luther auch aufgrund seines Briefwechsels
spätestens seit 1518 annähernd lückenlos dokumentiert ist, stand ihm bereits zu
Beginn seiner reformatorischen Publizistik zur Verfügung.
2.
Der zweite mikrologische Blick ist auf die Beschleunigung der Druckproduktion
bezogen; er ist allerdings nur im Zusammenhang allgemeinerer Bemerkungen zur
Lage des Wittenberger Buchdrucks sinnvoll. Die einzige Wittenberger Druckerei,
die Johannes Rhau-Grunenbergs, steigerte ihre Produktion im Jahre 1518 gegenüber den durchschnittlichen Leistungen der Vorjahre um mehr als das Doppelte –
auf 29 Titel, die auf ca. 120 Quartbogen gedruckt wurden.8 Gleichwohl reichten
ihre Kapazitäten bereits seit Spätsommer 1518 nicht mehr aus,9 als auch Karlstadts
(1486–1541) Kontroverse mit Eck (1486–1543) in eine entscheidende Phase
eintrat, um die publizistischen Ansprüche und Herausforderungen der Wittenberger Gelehrten in den frühreformatorischen Auseinandersetzungen zu befriedigen. Knapp 75 Prozent des Produktionsvolumens Grunenbergs, also etwa 80
Quartbogen, waren allein für die Texte Luthers benötigt worden. Insbesondere die
längeren Schriften, die nicht, wie der Großteil der nur ein bis zwei Bogen umfassenden Flugschriften, binnen Wochenfrist hergestellt werden konnten, stellten für
die Grunenberg’sche Offizin ein erhebliches Problem dar; denn sie blockierten
die Pressen und drohten die immer nötiger werdenden schnellen Reaktionen des
Wittenbergers einzuschränken. Die Unterstützung, die Luther deshalb seit 1518
regelmäßig bei Leipziger Druckern suchte, dürfte – vor allem im Falle der Leipziger Erstdrucke seiner Schriften – mit einer persönlichen Kontaktaufnahme zu
den Druckern verbunden gewesen sein. Als Grunenbergs Pressen etwa im Sommer
1518 noch immer mit dem Druck der „Resolutiones“ beschäftigt waren, Luther
aber dringend auf den „Dialogus“ des Prierias (1456–1523), die erste gegen ihn
gerichtete Schrift aus dem Umkreis des Papstes, replizieren wollte, wurde er bei
8
9
Zahlen nach VD – ZV; aufgelistet bei C. Reske, Die Anfänge des Buchdrucks im vorreformatorischen Wittenberg, in: S. Oehmig (Hg.), Buchdruck und Buchkultur im Wittenberg
der Reformationszeit (SLSA 21), Leipzig 2015, S. 35–70, hier S. 63.
Vgl. Kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Andreas Bodensteins von Karlstadt,
ed. T. Kaufmann, Bd. 1, Teilbd. 1–2: Schriften 1507–1518 (QFRG 90/1-2), Gütersloh 2017,
Teilbd. 2: 1518, bes. S. 903 f., Nr. 90; vgl. auch Karlstadts 30 Blätter umfassende, bei Grunenberg gedruckte „Defensio“ gegen Eck, die im September/Oktober 1518 fertiggestellt wurde:
A. Karlstadt, Defensio Andree Carolstadii adversus eximii. D. Ioannis Eckii theologę […],
Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg 1518 (VD16 B 6138).
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Thomas Kaufmann
Melchior Lotter d. Ä. (1470–1549) vorstellig, der sich allerdings entschied, beider Kontrahenten Texte herauszubringen.10 Die ungemein zügige publizistische
10 Ich vermute, dass Luther bei seiner Reise nach Dresden (ca. 25.7.1518) die Manuskripte für die
Thesenreihe „Pro inquirenda et timoratis conscientiis consolandis“ – vgl. Lutherbibliographie.
Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod, edd. J. Benzing / H.
Claus, 2 Bde. (BBA 10), Baden-Baden 21989/94, Bd. 1, S. 29, Nr. 209 –, die inhaltlich mit den
„95 Thesen“ und den dann im Juli/August 1518 bei Grunenberg hergestellten „Resolutiones“ –
vgl. M. Luther, Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute […], Wittenberg:
Johann Rhau-Grunenberg 1518 (VD16 L 5787) – eng zusammenhängen und den ‚Dialog‘ mit
Prierias nebst seiner „Responsio“ darauf – vgl. Ders., Ad Dialogum Silvestri Prieratis […] de
potestate papae responsio […], Leipzig: Melchior Lotter d. Ä 1518 (VD16 L 3670); vgl. dazu
auch: Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (a. a. O.), S. 31, Nr. 224 ff. –
nach Leipzig expedierte und dort bei Valentin Schumann († 1542) und Melchior Lotter d. Ä.
drucken ließ. Für die Thesenreihe ist ein Datierungshinweis nicht bekannt, vgl. M. Luther,
Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones 1518, in: WA, Bd.
1, Weimar 1883, S. 629–633, hier S. 629 f.; in Bezug auf die „Responsio“ auf Prierias ist gesichert, dass Luther nach Ausweis eines Briefes an Spalatin (28.8.1518) voraussetzte, dass sie
una cum ipso Dialogo in Leipzig herauskomme und er sie ihm demnächst schicken könne; WA
BR, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 189 ff., Nr. 87, hier S. 190,33 f.; bei dem Lotter’schen Druck – vgl.
M. Luther, R. P. Fratris Silvestri Prieratis ordinis predicatorum et sacre Theologie professoris celeberrimi […] in presumptuosas Martini Luther conclusiones de potestate pape dialogus, Leipzig: Melchior Lotter d. Ä. 1518 (VD16 L 4458); vgl. auch Dokumente zur Causa
Lutheri (1517–1521), edd. P. Fabisch / E. Iserloh, Münster 1988, T. 1: Das Gutachten des
Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen (1517–1518) (CCath 41), S. 45, 48;
zum historischen Kontext usw. vgl. ebd., S. 19 ff. – fällt auf, dass er sich in seiner Aufmachung
(Titelbordüren etc.) von dem der Luther’schen „Responsio“ (VD16 L 3670) nicht unterscheidet. Möglicherweise deutet die Wendung una cum (vgl. oben in dieser Anm.) darauf hin,
dass Luther seine Absprachen mit Lotter so verstanden hatte, dass an eine Sammelausgabe
mit beiden Schriften gedacht war; entsprechend ist der „Dialogus“ ja dann auch kurze Zeit
später in die Froben’sche Sammelausgabe – vgl. dazu T. Kaufmann, Capito als heimlicher
Propagandist der frühen Wittenberger Theologie. Zur Verfasserfrage einer anonymen Vorrede
zu Thesen Karlstadts in der ersten Sammelausgabe von Schriften Luthers [Oktober 1518], in:
ZKG 103 (1992), S. 81–86 – aufgenommen worden, vgl. auch Dokumente zur Causa Lutheri,
edd. P. Fabisch / E. Iserloh, T. 1 (a. a. O.), S. 51. Ob die Entscheidung zum Nachdruck
des „Dialogus“ zu Recht Luther zugeschrieben wird („Daß der Reformator seines Gegners
Schrift ohne jegliche Bemerkung seinerseits wiederdrucken ließ, war ein scharfes Urteil über
sie“; M. Luther, Ad dialogum Silvestri Prieratis de potestate papae responsio 1518, in: WA,
Bd. 1 [a. a. O.], S. 644–686, hier S. 645) ist m. E. alles andere als eindeutig. Am 16. September
1518 teilte Luther Lang auf dessen Frage nach einem Exemplar des „Dialogus“ mit: Dialogos
Sylvestrinos non habeo, nisi hunc unum; alios excudit Melchior Lotther, venditis omnibus prio
ris excusionis exemplaribus. Ita enim Dominicales Fratres omnia emunt et supprimere conantur;
WA BR, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 202–204, Nr. 93, hier S. 203,5–8. Der Hinweis darauf, dass die
Ordensbrüder des Prierias die erste Auflage aufkauften, um die Schrift des Prierias zu unterdrücken, dürfte entweder ein Witz sein oder Luthers Erklärung dafür, warum diese salvo errore
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Buchdruck und Reformation
83
Reaktion auf Prierias wurde charakteristisch für Luthers Agieren in den kommenden Monaten und Jahren. Immer dann, wenn die typografische Infrastruktur in
Wittenberg beschleunigte Kommunikationsakte nicht zu bewältigen vermochte,
wurde die Unterstützung durch Leipziger Pressen gesucht.
Im Februar 1519 traten Luther und vier seiner Kollegen – der Mediziner Petrus
Burckhart (ca. 1461–1526) und die Theologen Bartholomäus Bernhardi (1487–
1551), damals amtierender Rektor, Karlstadt und Nikolaus von Amsdorf (1483–
1565) – gegenüber dem Kurfürsten dafür ein, einen weiteren Drucker nach Wittenberg zu holen.11 Interessanterweise begründeten sie dieses Bedürfnis nicht mit
den Kapazitätsengpässen, in die das Wittenberger Buchgewerbe vor allem durch
Luther geraten war, sondern mit dem Wohlergehen der Universität. Auch der
Bericht, den Luther Spalatin gegenüber von einem Besuch lieferte, den der Leipziger Drucker Lotter d. Ä. im Mai 1519 in Wittenberg abgestattet hatte, zielte ganz
darauf ab, dem Kurfürsten plausibel zu machen, welche Vorteile die Universität
durch ihn gewönne. Lotter habe ihm die von Froben (ca. 1460–1527) erhaltenen
Matrizen, aus denen die Typen gegossen würden, gezeigt und sei bereit, in Wittenberg eine officina excusoria einzurichten, wenn der Kurfürst seine Zustimmung
dazu gebe. Die Entwicklung der Universität werde dies ungemein fördern, da für
die Hörer nun verlässliche Texte, auch und vor allem in griechischer Sprache, wie
sie vor allem Melanchthon (1497–1560) benötige, hergestellt werden könnten.12
Spalatin solle sich deshalb in dieser Sache gegenüber dem Kurfürsten engagieren.
Zu Beginn des Jahres 1520 nahm die von Melchior Lotter d. J. (ca. 1490–1542)
geleitete Lotter’sche Filiale dann ihre Tätigkeit in Wittenberg auf. Vergleicht man
die Menge der von den nunmehr zwei Wittenberger Offizinen, der Lotters und
der Rhau-Grunenberges, im Jahre 1520 gesetzten und gedruckten Bogen, wird
abgründig schwache Schrift eine so große Nachfrage erreichte. Vermutlich hat das Interesse an
Luthers „Responsio“ auch das am „Dialogus“ befördert. Die Information bzgl. des Nachdrucks
bezeugt jedenfalls auch, dass Luther in engem Kontakt mit Lotter d. Ä. stand. Die insgesamt
drei Ausgaben, die Lotter von Luthers „Responsio“ druckte (vgl. Lutherbibliographie, edd.
J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (a. a. O.), S. 31, Nr. 224 ff.) deuten jedenfalls darauf hin, dass
sich der erfahrene Leipziger Drucker hinsichtlich der Auflagenhöhe verschätzt haben muss;
mit der „Responsio“ verdiente Lotter erstmals an Luther.
11 Auch ist’s bei vielen fur gut angesehen, so wir mochten einen redlichen Drucker hie zu Wittenberg
haben, dann das sollt nit wenig der Universität Furderung und E. K. Gn. Ehr einlegen; WA BR,
Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 349 f., Nr. 155, hier S. 350,32–34 (23.3.1519).
12 Venit Melchior Lotterus, instructus optimis formularum matricibus e Frobenio acceptis, paratus
apud nos officinam excusoriam instruere, si adhoc illustriss[imus] princeps noster annuere dig
nabitur […]. Nobis id decorum, imprimis Universitati nostrę, tum comodum auditoribus arbitra
mur, praesertim praesente Philippo, Gręcas literas & fideliter & copiose propagare cupiente. Ebd.,
S. 381–384, Nr. 171, hier S. 381,4–11 (8.5.1519).
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Thomas Kaufmann
klar, dass die Produktionsleistung der Wittenberger Lotterfiliale die Grunenbergs
um etwa das Dreifache, sowohl bezogen auf Lutherschriften (60 Bogen zu 193
Bogen) als auch in Hinblick auf die Gesamtproduktion (109½ Bogen zu 298½
Bogen),13 überstieg. Unter den Wittenbergern war Karlstadt in diesem Jahr der
Autor mit den zweitmeisten Drucken; wie im Falle Luthers verteilten sich seine
Schriften einigermaßen gleichmäßig auf Grunenberg14 und Lotter d. J.15 Die
Produktionsmenge an bedruckten Bogen anderer Autoren, die Lotter vorlegte,
lag mit 105½ Bogen etwa doppelt so hoch wie die Grunenbergs (49½ Bogen).
Auch griechische Drucke spielten bei ihm bereits eine erhebliche Rolle.16 Die
Erwartungen, die von Seiten der Universität an Lotters Tätigkeit gestellt worden waren, scheint seine Druckerei also sehr zügig und in erheblichem Umfange
erfüllt zu haben; der typografische Notstand der Wittenberger, der im Sommer
1518 erstmals aufgetreten und 1519 akut geworden war, war mit Beginn des Jahres 1520 überwunden.
Zu den handschriftlichen Vorlagen der Drucke lässt sich Folgendes feststellen:
Von keinem anderen Autor der Reformationszeit sind so viele Druckmanuskripte
erhalten wie von Luther. Für seine früheste Schaffenszeit, das Jahrfünft zwischen
seiner ersten Veröffentlichung, der Ausgabe der „Theologia deutsch“17 aus dem
Dezember 1516 und der bis Anfang März 1522 währenden Wartburgzeit, liegen
allerdings vergleichsweise wenige Handschriften vor; es hat sich die überschaubare Menge von vier überwiegend vollständigen Druckmanuskripten von Luthers
Hand erhalten. Es handelt sich um die Schriften „Von den guten Werken“, „Grund
13 Die Zahlenwerte basieren auf den im VD16 unter 1520 den genannten Offizinen zugewiesenen Drucken; im Falle Rhau-Grunenberg sind dies 34 Drucke (davon 20 Luther), im Falle
Lotter/Wittenberg handelt es sich um 60 Drucke (davon 31 Luther).
14 Vgl. VD16 B 6121, VD16 B 6122, VD16 B 6173, VD16 B 6250, VD16 B 6255; Karlstadts längste
Schrift („De canonicis scripturis“) druckte Grunenberg, vgl. A. Karlstadt, De canonicis
scripturis libellus […], Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg 1520 (VD16 B 6121).
15 Vgl. VD16 B 6109, VD16 B 6259, VD16 B 6133, VD16 B 6253, VD16 B 6210, VD16 B 6214.
16 Ende April 1520 erwähnt Melanchthon Graeciae nostrae primitias, also den ersten, nicht identifizierten griechischen Druck Lotters; PM Bw, ed. R. Wetzel, Bd. 1: Texte 1–254 (1514–1522),
Stuttgart/Bad Cannstatt 1991, S. 203,21, Nr. 88; vgl. auch ebd., S. 203–205, Nr. 89 (Vorwort
zu Aristophanes); vgl. auch Melanchthon-Bibliographie 1510–1560, ed. H. Claus, Teilbd.
1: 1510–1540 (QFRG 87/1), Gütersloh 2014, S. 46–48, Nr. 1520.10–13; VD16 B 5020; VD16
H 4712 (Homer, Odyssee); Melanchthon-Bibliographie, ed. H. Claus, Teilbd. 1 (a. a. O.),
S. 49 f., Nr. 1520.16; VD16 P 3310.
17 Vgl. Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 14, Nr. 69;
VD16 T 890; M. Luther, Vorrede zu der unvollständigen Ausgabe der „deutschen Theologie“. Dezember 1516, in: WA, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 153 f., hier S. 153; der Wittenberger
Urdruck Johann Rhau-Grunenbergs trägt das Tagesdatum 4.12.1516.
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Buchdruck und Reformation
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und Ursach aller Artikel“, „Ein Urteil der Theologen zu Paris“ und – lediglich
fragmentarisch überliefert – „Wider den falsch genannten Stand des Papstes und
der Bischöfe“.18 Die beiden letztgenannten Schriften entstanden auf der Wartburg
und unterlagen den spezifischen Produktionsbedingungen dieses Lebensabschnittes, in dem Luther die sonst im Falle der Wittenberger Drucke seiner Schriften
mögliche und in Anspruch genommene direkte Einwirkung auf den Druckprozess, insbesondere durch Korrekturen,19 verwehrt war. Diese vier Handschriften
spiegeln eine sehr elaborierte Arbeitsweise; sie ist das Ergebnis eines mehrjährigen
Lernprozesses, den er in der Erstellung von Druckvorlagen absolvierte. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die erste umfänglichere Schrift, die bei Lotter
d. J. erschien, nämlich den Traktat „Von den guten Werken“.
Luthers Handschrift dieses Textes hat sich gemeinsam mit seinem Manuskript
zu dem Urteil der Pariser Theologen in einem Sammelband der einstigen Stadtbib
liothek Danzig/Gdańsk erhalten.20 Es handelt sich um 70 Blätter; die einzelnen
der überwiegend sechs Blätter umfassenden Bogenlagen – A1r bis N1v – sind
durchgängig von Luthers eigener Hand beschriftet und in der Regel fortlaufend –
z. B. Bg. C1r bis C6r – durchgezählt worden. Das Manuskript ist im Wesentlichen
ausgesprochen gut lesbar. (Abb. 2) Luther hat es offenbar sogleich als Satzvorlage abgefasst; da die Handschrift durchgängig Korrekturen von seiner eigenen
Hand aufweist, ist davon auszugehen, dass es sich um das ursprüngliche und
einzige Manuskript der Schrift handelt; eine Vorfassung, die in eine Reinschrift
überführt worden wäre, existierte also mutmaßlich nicht. Die Handschrift weist
ein im Ganzen homogenes Erscheinungsbild auf; die längere Bearbeitungszeit,
18 Zu den Handschriften Luthers, sofern es sich um (potenzielle) Druckmanuskripte handelt,
vgl. meine Auflistung in T. Kaufmann, Mitte der Reformation (wie Anm. 1), S. 99 f., Anm.
279.
19 Zur Frage, ob Luther selbst Korrektur gelesen hat, vgl. Ders., Von der Handschrift zum
Druck – einige Beobachtungen zum frühen Luther, in: Ders. / E. Mittler (Hgg.), Reformation und Buch. Akteure und Strategien frühreformatorischer Druckerzeugnisse / The
Reformation and the Book. Protagonists and Strategies of early Reformation Printing (BuW
49), Wiesbaden 2016, S. 9–36.
20 Vgl. BGPAN, Nr. inw. 1397 = Ms. 1985; frühere Sign. XX C.q 410 (im Folgenden als Ms. 1985
zitiert); fehlerhaft in: M. Luther, Luthers Handschrift des Sermons von den guten Werken.
1520, in: WA, Bd. 9, Weimar 1893, S. 226–301, hier S. 226. Es handelt sich um einen mit Leder
überzogenen Pappband aus dem 16. Jahrhundert. Einem in den Band eingeklebten Katalogzettel ist zu entnehmen, dass die Handschrift wohl erst im 18. Jahrhundert nach Danzig kam,
als sie der Danziger Bürgermeister Gottfried Schwartz (1716–1777) für einen hohen Preis in
Augsburg [hatte, Anm. T. K.] ankaufen lassen. Der Band enthält 121 mit neuerer Bleistiftbezeichnung durchgezählte Blätter; Verweise auf diesen Handschriftenband werden mit Ms. 1985
angegeben; die jeweilige Blattangabe bezieht auch auf die durchgehende Bleistiftzählung.
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Thomas Kaufmann
von der wir aufgrund der Korrespondenz wissen, hat im Manuskript nur geringe
Spuren hinterlassen.21
21 Eine solche sehe ich nach dem Abschluss der Auslegung der ersten beiden Gebote, vgl. M.
Luther, Von den guten Werken, 1520, in: WA, Bd. 6, Weimar 1888, S. 196–276, hier S. 229,14;
Ders., Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 255,6; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 74r. Luther
setzte bei der Auslegung des dritten Gebotes zunächst mit der (falschen) Zahl 31 – vgl. M.
Luther, Von den guten Werken (a. a. O.), S. 228,3; Ders., Luthers Handschrift (wie Anm.
20), S. 253,34 – ein, die er schon als letzte Ziffer bei der Auslegung des zweiten Gebotes verwendet hatte. Dann strich er diese Zahl wieder durch und begann mit einer neuen Zählung
für das dritte Gebot, obschon er beim ersten und zweiten fortlaufend gezählt hatte. Eine weitere, gravierendere Unterbrechung sehe ich innerhalb der Auslegung des dritten Gebotes, nach
Ders., Von den guten Werken (a. a. O.), S. 243,4; Ders., Luthers Handschrift (wie Anm.
20), S. 268,29 mit Anm. 4; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 87v. Luther hatte diesen Abschnitt
bereits mit der Bemerkung beendet: Unnd das sey gnug gesagt von der ersten taffell und dreyen
gepoten gottis folgett die andere Taffell. Dieser Satz war dann mit demselben roten Stift gestrichen worden, den der Setzer auch sonst benutzte; ebd. Die Handschrift weist in den beiden
Schlusszeilen der Bogenlage F überdies nicht die Flüssigkeit auf, die Luthers Linienführung
sonst eignet; auch einzelne Buchstaben sind erkennbar anders geschrieben als bei Luther
sonst üblich. Schon Nikolaus Müller (1857–1912) hat erkannt, dass diese beiden letzten
Zeilen nicht von Luthers Hand geschrieben sind, vgl. M. Luther, Luthers Handschrift (wie
Anm. 20), S. 268, Anm. 4. Bogenlage G setzt sodann in der ersten Zeile mit einem linken
Überhang in Zeile eins ein, wie er sonst in Luthers Manuskript nicht begegnet; diese Zeile,
die eine Fortsetzung des von anderer Hand geschriebenen Satzes: [fremde Hand, Anm. T.
K.] Zum Sibenczehenden hat diß gebot nach geistlichen verstant noch vil ein hoher werck welchs
[Ms. (wie Anm. 20) 1985, fol. G1r/88r, Luthers Hand, Anm. T. K.] antr begreyfft die gantz
natur des menschenn. Wahrscheinlich wollte Luther zunächst antrifft formulieren, diktierte
dem unbekannten Schreiber dann aber begreyfft. Der innere Zusammenhang zwischen dem
Satz: Czum Sibentzehenden hat disz gebot nach geistlichem vorstand noch vil ein hohers werck,
wilchs begrifft die gantz natur des menschen; M. Luther, Von den guten Werken (a. a. O.),
S. 243,5 f., und dem Anschlusssatz: Hie musz man wissen, das ‚sabbat‘ auff Hebreisch feyr odder
ruge; ebd., S. 243,6 f., ist inhaltlich sehr problematisch. Die angekündigte anthropologische
Unterweisung jedenfalls unterbleibt; stattdessen folgt eine allegorische Deutung des Sabbats.
Die Auslegung des dritten Gebotes wurde also unten auf Bogenlage F6v mit dem 17. Abschnitt
fortgeführt; bald darauf hat Luther dann die Zahl 17 ein zweites Mal verwendet – vgl. G1v;
Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 88v – also nicht mehr gewusst, dass er bereits bis 17 gezählt hatte,
vgl. M. Luther, Von den guten Werken (a. a. O.), S. 243,5; Ders., Luthers Handschrift
(wie Anm. 20), S. 268,29; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 87v. In den Urdruck ist die doppelte
Zählung der 17 dann eingegangen, vgl. M. Luther, Von den guten werckenn, Wittenberg:
Melchior Lotter d. J. 1520 (VD16 L 7141), fol. H4v, J1v. Diese Doppelung scheint mir am einfachsten dadurch erklärbar, dass Luther die neuerliche Fortsetzung der Auslegung des letzten
Gebotes der ersten Tafel auf den beiden Zeilen am Schluss der Bogenlage F6v diktierte und
von anderer Hand notieren ließ und dann die erste Zeile auf Bogenlage G1r weiterschrieb, die
Arbeit dann aber vorerst unterbrach. Die bisher beschriebenen Manuskriptbogen gingen dann
vermutlich in die Druckerei; deshalb war ihm der Manuskriptbogen, auf dem er die Zählung
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Abb. 2: Beispielseite aus Luthers
Druckmanuskript „Von den guten
Werken“, hier fol. 56r [Biblioteka
Gdańska Polskiej Akademii Nauk,
Nr. inw. 1397 = Ms. 1985].
Luther war erkennbar um eine klare Linienführung bemüht; die Textseiten sind
regelmäßig mit je ca. 25 bis 29 Zeilen beschrieben. Für einen erfahrenen Drucker dürfte aufgrund dieses ordentlichen Manuskriptes eine Umfangs- und damit
Kostenkalkulation mühelos möglich gewesen sein. Die Textmenge einer Druckentsprach in etwa dem Umfang einer normal beschriebenen Manuskriptseite.
Luther hat die von ihm vorgesehenen Absätze durch Einrücken der Zeile gekennzeichnet; auch die Zwischenüberschriften sind im Manuskript hervorgehoben.
(Abb. 3) Eine einheitliche Durchsicht des Gesamtmanuskriptes durch Luther
mit 17 fortgeführt hatte, nicht mehr zur Hand. Sodann zählte er aus dem Gedächtnis und
vertat sich um eine Nummer. Da die Auslegung zum dritten Gebot nun weitergeführt wurde,
strich der Setzer, sicher auf Weisung Luthers, den oben zitierten Übergangssatz zur Auslegung
der zweiten Tafel. Das bisher fertiggestellte Manuskript ging in den Satz. Vielleicht ist es die
einfachste Erklärung, dass Luther entweder einem Setzer oder einem das Manuskript in die
Lotter’sche Offizin tragenden amanuensis den Beginn von 17 diktierte und er seinerseits den
neuen Bogen begann, an dem er nun, ohne das vorangehende Manuskript, weiterarbeitete. Ich
halte es für das Wahrscheinlichste, dass ein Mitarbeiter der Lotter’schen Druckerei zu Luther
kam und um neuen Text bat, da man ‚Leerlauf ‘ befürchtete und Luther das gerade bis an das
Ende einer Bogenlage gelangte Manuskript zu „Von den guten Werken“ herausgab.
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88
Thomas Kaufmann
Abb. 3: Beispielseite aus Luthers
Druckmanuskript „Von den guten
Werken“, hier fol. 117v [Biblioteka
Gdańska Polskiej Akademii Nauk,
Nr. inw. 1397 = Ms. 1985].
selbst ist freilich unterblieben; andernfalls wäre nicht zu erklären, warum etwa
Unterschiede in der Form der Überschriften zu den einzelnen Geboten – einige
nennen nur seine Zahl, andere zitieren den Wortlaut22 – oder auch Inkonzinnitäten in der Zählweise einzelner Abschnitte stehen geblieben sind. Durch die
Verwendung des Rubrums, bei der Einfügung von Leerzeilen und im Gebrauch
des den gesamten Druck durchziehenden Kolumnentitels Jhesus (Abb. 4) – eine
Gewohnheit, an der dann in der zeitgenössischen altgläubigen Polemik Anstoß
genommen wurde23 –, setzte die Lotter’sche Offizin eigene satztechnische Akzente.
22 Vgl. Ders., Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 250,20 f.: Das erst Gebot der ander taf
fell Mosi. Du solt dein Vatter und Mutter ehrenn; vgl. auch ebd., S. 265,27: Von dem Funfften
Gebot; vgl. auch ebd., S. 268,8 f.: Von dem Sechsten Gebot. Du solt nit Ehebrechen. Da nun die
Abschnitte zu den einzelnen Geboten jeweils kürzer geworden sind, behält Luther die einheitliche Form (Gebotszählung und Wiedergabe des Gebotes) bis zum Schluss bei, vgl. ebd.,
S. 270,20 f., 273,14 f. Der Setzer bildet in Bezug auf die Überschriften Luthers Vorgaben exakt
ab.
23 Luther wurde von seinen altgläubigen Gegnern vorgeworfen, dass er wie ein Apotheker gutt
titell auf ihre Büchsen schrieben, aber Gift darin aufbewahrten, so er auch den namen ‚Jhesus‘
auff meine gifftige buchle schreybe, wie woll nit ich, sonder die drücker das thun durchs buch, das
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Abb. 4: Beispielseite aus: Martin
Luther, Von den guten Werken,
Wittenberg, Melchior Lotter d.
J., 1520 [VD16 L 7141, hier fol.
C2r].
Aufgrund von Beobachtungen am Manuskript, die darauf hindeuten, dass
Luther die ersten sechs Bogenlagen bereits aus der Hand gegeben hatte, bevor
das Gesamtmanuskript abgeschlossen war (Abb. 5),24 ist davon auszugehen, dass
die Satzarbeiten am Druck von „Von den guten Werken“ in der Lotter’schen
Offizin etwa Anfang Mai begonnen hatten. Am Ende der Bogenlage F ist von
ich nur am ersten blatt thue; Ders., Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich
Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort. Darin auch Murnarrs seines Gesellen gedacht wird.
1521, in: WA, Bd. 7, Weimar 1897, S. 614–688, hier S. 678,3–7. In den Schriften Emsers, gegen die sich Luther hier wendet, konnte ich den entsprechenden Vorwurf nicht finden, vgl.
aber einen Beleg bei Cochläus in: T. Kaufmann, s. u. in dieser Anm. Es wird angespielt auf
den von Lotter sowohl in „Von den guten Werken“, als auch in „An den christlichen Adel“,
vgl. hierzu T. Kaufmann, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen
Standes Besserung (KSLuth 3), Tübingen 2014, S. 51, durchgängig verwendeten Kolumnentitel Jhesus. Luther verwendete diese apokopierte Benediktions- oder Salvationsformel (für
‚im Namen Jesus ‘) in seiner Handschrift von „Von den guten Werken“ in der Tat nur als Abkürzung Jhüs; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 50r; vgl. auch M. Luther, Luthers Handschrift
(wie Anm. 20), S. 229,1.
24 Vgl. oben Anm. 21.
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Thomas Kaufmann
Abb. 5: Druckmanuskript von
Luthers „Von den guten Werken“,
hier fol. 87v; am Schluss des Bogens
F (fol. 6v) wechselt die Handschrift.
Die letzten drei Zeilen des von
Luther geschriebenen Textes sind
von der Hand des Setzers gestrichen.
Mit Zum Sibenczenden schließt
eine fremde Hand an; bei Abschluss
dieses Bogens ging das Manuskript
in den Satz, während Luther noch
weiterschrieb [Biblioteka Gdańska
Polskiej Akademii Nauk, Nr. inw.
1397 = Ms. 1985].
fremder Hand – wohl einem amanuensis – der Übergang zum nächsten Bogen, der
vorerst bei Luther verblieb, hergestellt worden und der vorangegangene Schluss
gekürzt worden. Ich gehe davon aus, dass der erste Teil des Manuskriptes nun in
die Druckerei wanderte, während Luther an dem übrigen Traktat weiterschrieb.
Dass er die Zahl 17 zwei Mal verwendete, war auch eine Folge dessen, dass ihm
der erste Teil des Manuskriptes nicht mehr zuhanden war. Vielleicht darf ich an
dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass ich ähnliche Vorgänge für die literarischen Uneinheitlichkeiten der gleichfalls bei Lotter gedruckten ‚Adelsschrift‘
verantwortlich mache. Die Auflagenhöhen der jeweiligen Erstdrucke von „Von
dem Papsttum zu Rom“ und „Von den guten Werken“ waren deutlich hinter den
Absatzmöglichkeiten zurückgeblieben; dies zeigte sich daran, dass Lotter von der
erstgenannten Schrift eine25 Neuausgabe herstellte, von „Von den guten Werken“
sogar drei, wobei zwei Neuausgaben auf vollständigem Neusatz basierten.26 Dass
25 Vgl. Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 79, Nr. 656
(VD16 L 7132); die beiden Drucke, vgl. ebd., S. 79, Nr. 655 f., unterscheiden sich signifikant;
insofern ist von einem vollständigen Neusatz auszugehen.
26 Vgl. ebd., S. 76, Nr. 634–636 (VD16 L 7141, 7142, 7143); die Nr. 633 und 634 unterscheiden
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Buchdruck und Reformation
91
Melchior Lotter ein knappes Vierteljahr später bei der Erstausgabe der ‚Adelsschrift‘ gleich mit einer Auflage von 4.000 Exemplaren startete,27 war das Ergebnis
eines Lernprozesses, den er vor allem an den beiden unmittelbar vorangehenden
umfänglicheren deutschen Schriften Luthers durchlaufen hatte.
Was lässt sich hinsichtlich der Umsetzung von Luthers Manuskript von „Von
den guten Werken“ im Lotter’schen Druck feststellen? Grundsätzlich ist klar,
dass der Setzer Luthers Orthografie nicht folgt. Dabei sind einige allgemeinere
Tendenzen festzustellen:28 Die Menge der Doppelkonsonanten wird im Druck
tendenziell eher verringert (z. B. und für unnd/t; werden für werdenn; halt für
hallt; gebot für gepott), die Varietäten einer Schreibweise, gegen Luther, reduziert (z. B. glaube für glawbe; werk für werg oder werck), von dem Wittenberger
Reformator getrennt geschriebene Infinitive (zu thun; zu wissen) häufiger zusammengeschrieben (zuthun; zuwissen) und dialektale Lautbildungen standardisiert
(arbeyten statt erbeyten). Die Schreibweisen sind noch deutlich von den Standardisierungstendenzen, die sich seit der Mitte der 1520er Jahre in den Wittenberger
Drucken nachweisen lassen, entfernt. Möglicherweise sind Abweichungen in der
Orthographie auch dadurch zu erklären, dass dem Setzer ein Lektor zuarbeitete,
der Satz also primär nach dem Gehör erfolgte.
Gelegentlich wurde im Druck ein kleinerer Fehler des Manuskripts bereinigt;29
bisweilen führte ein wegen nachträglicher Korrekturen Luthers schwer lesbarer
Passus zu einem Lesefehler und daher zu einem sinnentstellten Text.30 In einigen
27
28
29
30
sich durch eine Variante in der Titulatur des sächsischen Kurfürsten Friedrich – reychs Ertz
marschalh Curfurst / reychs Curfurst; ebd., Bd. 2 (wie Anm. 10), S. 65, Nr. 633 und 634; M.
Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 202 –, sonst in nichts; während: Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 76, Nr. 635 und 636,
zwar in Titel, Umfang und Signatur etc. übereinstimmen, „im Innern“, M. Luther, Von den
guten Werken (wie Anm. 21), S. 197, aber sehr voneinander abweichen. Mag man die Variante
in: Lutherbibliographie, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 76, zwischen
Nr. 633 und 634, also als Korrektur des bestehenden Satzes deuten; die Unterschiede ebd., zwischen Nr. 635 und 636, weisen aber auf einen vollständigen Neusatz hin. „Von den guten Werken“ ist in der Lotter’schen Offizin im Jahre 1520 also drei Mal vollständig neu gesetzt worden.
Vgl. WA BR, Bd. 2 (1520–1522), Weimar 1931, S. 167,9–11, Nr. 327 (Luther an Lang; 18.8.1520);
vgl. zum Kontext T. Kaufmann, An den christlichen Adel (wie Anm. 23), S. 6–9.
Vgl. dazu auch Ders., Von der Handschrift (wie Anm. 19).
Z. B. falsches thüt in thun geändert; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 51v; M. Luther, Luthers
Handschrift (wie Anm. 20), S. 231,9; Ders., Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 206,4;
VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. A4r.
Vgl. Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 52r,7 f.; Luther schreibt, vgl. M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 231,18 f.: Von dem glawen [und keinem andern werck, am Rande,
Anm. T. K.] haben wyr den namen. Der Druck bietet: on dem glauben und keinem andern
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Thomas Kaufmann
kleineren Zusätzen des Druckes gegenüber dem Manuskript dürfte sich Luthers
Hand als Korrektor zeigen.31 Allerdings ist damit zu rechnen, dass Korrekturen –
nicht zuletzt wegen des typografischen Kreislaufs32 – bogenweise ausgeführt wurden; wenn eine falsche Zählung – etwa das doppelte Czum Sibentzehenden33 – kurz
hintereinander, aber auf zwei unterschiedlichen Bogen auftrat, konnte sie leicht
übersehen werden. Insofern verraten die falschen Zählungen, die auch sonst bei
werck haben namen; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. A4r f.; vgl. auch M. Luther, Von den
guten Werken (wie Anm. 21), S. 206,14 f.; emendiert nach den späteren Drucken. Luther fügt
in: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 52v,6 von unten, nachträglich den Gliederungspunkt ‚Zum
Sechsten‘ am Rande ein und markiert die entsprechende Stelle mit einem Doppelstrich und
einer Linie. Der Setzer hat dies fälschlicherweise als Fragezeichen gelesen und bringt: Czum
sechsten / Das mugen wir bey einem groben fleischlichenn exempel sehen?; VD16 L 7141 (wie
Anm. 21), fol. B1r; vgl. auch M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 207,15 f.
31 Vgl. folgende Beispiele in: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 106v/K1v: Wenn es dürch eyn unweys
zheytt bey ettlichen vorsehen würd. Aber das ßo frey ungestrafft unvorschampt unnd unürhindertt
getrieben wirtt; vgl. auch M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 287,13–15; im
Druck: […] we[n] es durch ein unweißheit bey etlichen vorsehe[n] wurd / w e r e e s l e i d l i c h e r
/ aber das szo frey / ungestrafft / unvorschampt / und unvorhindert getrieben wirt […]; VD16 L
7141 (wie Anm. 21), fol. M2v; vgl. auch M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21),
S. 262,4–6 (gesperrte Worte: Textzusatz im Druck); vgl. weiter Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol.
108r/K3r: Auch dann damit machen sie der lere Christi unnd unßerem glawben. eyn gutten
namen; vgl. auch M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 288,19 f.; im Druck:
Auch d a r u m b / dann damit machen sie der lere Christi und unserm glaubenn / ein guttenn
namenn […]; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. M3v; vgl. auch M. Luther, Von den guten
Werken (wie Anm. 21), S. 263,9 f. (gesperrtes Wort: Textzusatz im Druck); vgl. weiter Ms. 1985
(wie Anm. 20), fol. 108v/K3v: Denn es mag nit alle ding alle zeyt. schnür gleych zcugahn davon
sagt S. Paül Colos. 4.; vgl. auch M. Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 289,4 f.;
im Druck: […] dan es mag nit alle ding alle zeit / schnurgleich zugan in keinem standt / die
weyl wir auf erdenn in unvolkommenheit leben. Davon sagt sanct Paul Colossen. iii.; VD16 L
7141 (wie Anm. 21), fol. M4r; vgl. auch M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21),
S. 263,32–34 (gesperrte Worte: Textzusatz im Druck).
32 Vgl. M. Boghardt, Der Buchdruck und das Prinzip des typographischen Kreislaufs. Modell
einer Erfindung, in: P. Raabe (Red.), Gutenberg. 550 Jahre Buchdruck in Europa (Ausstellungskat. HAB 62), Weinheim 1990, S. 24–44; sowie den postum herausgegebenen Band: P.
Needham (Hg.) / J. Boghardt (Mitarb.), Martin Boghardt. Archäologie des gedruckten
Buches (WSGB 42), Wiesbaden 2008.
33 Sie begegnet am Schluss von Bogen H, vgl. VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. H4v; und zu
Beginn von Bogen I, ebd., fol. I1v. Der Erstdruck folgt hier dem Manuskript genauestens:
Zum Sibenzehendt. Die geystliche feyr; Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 88v/G1v; vgl. auch M.
Luther, Luthers Handschrift (wie Anm. 20), S. 269,27; VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol.
I1v; textkritisch ungenau in: M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm. 21), S. 244,27
(mit Apparat).
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Buchdruck und Reformation
93
Luther gelegentlich begegnen34, möglicherweise mehr über die Textgenese als
gemeinhin angenommen wurde.
Der Setzer hat in Luthers Manuskript die jeweiligen Seitenumbrüche exakt mit
Rötelstift und unter Angabe der von eins bis acht durchgezählten Einzelseiten des
Quartbogens (z. B. B1–8) markiert. Diese Umbruchmarkierungen stimmen zum
allergrößten Teil mit den Seitenumbrüchen des Erstdrucks überein. Gelegentlich
freilich divergieren sie, zumeist exakt um eine Zeile,35 was darauf zurückführen
ist, dass auf einigen Seiten bei der endgültigen Erstellung des Drucksatzes eine
Leerzeile eingefügt und der Text mit dem Winkelhaken um eine Zeile auf die
nächste Seite verschoben wurde. Seine Umbruchmarkierungen mit Rötelkreide
fügte der Setzer also Luthers Manuskript zu jenem Zeitpunkt bei, als die Textaufnahme im Umfang einer Seite abgeschlossen, der definitive Drucksatz aber noch
nicht fertiggestellt war. Diese Markierungen waren eine Hilfe, um Doppelungen
oder Lücken bei der Texterfassung zu vermeiden. Aufgrund des großzügigeren
Satzes ab dem vorletzten Bogen kann als sicher gelten, dass Luthers vollständiges
Manuskript spätestens zu diesem Zeitpunkt in der Druckerei vorlag.36
34 Vgl. Ders., An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. 1520, in: WA, Bd. 6 (wie Anm. 21), S. 380–469, hier S. 437,1, mit: ebd., S. 440,15; vgl.
dazu T. Kaufmann, An den christlichen Adel (wie Anm. 23), S. 279; vgl. auch: M. Luther,
Werke in Auswahl, edd. O. Clemen / A. Leitzmann (Mitarb.), Bd. 1: Schriften von 1517
bis 1520, Berlin 51959, S. 317,31, mit: M. Luther, Ein Sermon von dem neuen Testament,
das ist von der heiligen Messe. 1520, in: WA, Bd. 6 (wie Anm. 21), S. 349–378, hier S. 373,9
und textkritischem Apparat.
35 Weitere Beispiele dieser Abweichung um je eine Zeile sind: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 55r
zu VD16 L 7141 (wie Anm. 21), fol. B3r/v; weiter: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 58r zu VD16
L 7141 (wie Anm. 21), fol. C1v/2r; weiter: Ms. 1985 (wie Anm. 20), fol. 60v zu VD16 L 7141
(wie Anm. 21), fol. C4r/v; vgl. auch Ms. 1985, fol. 63r, der Beginn der Auslegung des zweiten
Gebotes, war von Luther mit einer deutlich exponierten Überschrift (Rubrum; Druckbuchstaben, Unterstreichung) versehen; offenbar wollte der Setzer ursprünglich den ersten Satz
des fortlaufend gezählten Paragraph 18 – vgl. M. Luther, Von den guten Werken (wie Anm.
21), S. 217,2 f. – noch auf den vorangehenden Bogen C bringen, vgl. Setzermarkierung in: Ms.
1985 (wie Anm. 20), fol. 63r, am Rande: D1; im Druck ist aber dann mit einer neuen Seite
(und einer größeren Type für die Überschrift) begonnen worden: ebd., fol. 63r/B6r; VD16 L
7141 (wie Anm. 21), fol. C4v/D1r. Die Umbruchkennzeichnung fügte der Setzer demnach
umgehend nach der Aufnahme des Textes auf den Winkelhaken ein; die exakte Seitengestaltung erfolgt erst in einem nächsten Schritt bei der Montage des Schriftsatzes im Druckbrett.
36 Im Fortgang des Satzes verzichtet der Setzer zusehends auf Leerzeilen zwischen den einzelnen
Paragraphen, sodass die Koinzidenz zwischen den Umbruchmarkierungen und dem tatsächlichen Umbruch im Laufe des Satzprozesses tendenziell zunimmt; offenbar lag dem Setzer
daran, möglichst platz- und papiersparend vorzugehen. Gegen Ende hin, d. h. auf dem vorletzten Bogen (O), werden wieder vermehrt Leerzeilen gesetzt, weil der Setzer gemerkt hat, dass
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94
Thomas Kaufmann
Die unterschiedlichen Beobachtungen, die sich zum Erstdruck und zum Manuskript von „Von den guten Werken“ machen lassen, koinzidieren darin, dass der Autor
Luther und sein Drucker Lotter Hand in Hand arbeiteten, um eine beschleunigte,
möglichst effektive Arbeitsweise umzusetzen. Die Professionalisierung der Druckproduktion hatte folgende Momente: Luther schrieb von vornherein so, dass von
der Erstfassung des Textes gesetzt werden konnte. Der Drucker begann mit dem
Satz, sobald er Kapazitäten frei hatte, auch wenn das Manuskript noch nicht abgeschlossen war. Korrekturen erfolgten in Intervallen und nicht erst bei Abschluss des
Gesamtwerks; inwiefern der Autor für einzelne Bogenkorrekturen immer zur Verfügung stand, ist ungewiss. Die Beschleunigungsdynamik der Produktion, die sich
daraus ergab, dass fertig gesetzte und korrigierte Bogen in der Regel in der Höhe
der Auflage auszudrucken waren, da das Typenmaterial für den Satz neuer Bogen
benötigt wurde, war eine Folge dessen, dass eine ökonomischen Handlungslogiken
folgende Offizin wie die Lotter’sche an einem kontinuierlichen Arbeitsfluss und
einer entsprechenden Auslastung aller am Produktionsprozess beteiligten Spezialisten interessiert und dass Luther auf ein zügiges Erscheinen seiner Texte aus war.
Die im ersten Wittenberger Jahr der Lotter’schen Filiale gesammelten Erfahrungen bildeten eine entscheidende Grundlage für die Reformation als publizistisches Phänomen, für die Evolution Wittenbergs zu einer Druckmetropole von
europäischem Rang und dafür, ambitioniertere Großprojekte zu planen. 1520,
im Entscheidungsjahr der Reformation, war jene typografische Infrastruktur etabliert, an der sich alles Weitere entschied.
3.
Dass die sog. Akzidenz- oder Brotdrucke des 15. Jahrhunderts, die vielfach in
engstem Zusammenhang mit der ‚Türkengefahr‘ und den aus diesem Anlass
angebotenen Ablässen standen, den Ausbau der einschlägigen typografischen
Infrastruktur in weiten Teilen Europas befördert und vielfach Gewinne ermöglicht haben, ohne die die Herstellung aufwändiger Großprojekte wie der Gutenberg-Bibel ökonomisch unvorstellbar gewesen wäre, kann als unstrittiges Ergebnis
dieser ohnehin für den verbleibenden Text nicht reicht. Spätestens also bei der Herstellung
des vorletzten Bogens lag Luthers abgeschlossenes Manuskript in der Druckerei vor. Auf den
Schlussbogen (P) ist eine Kreuzigungsdarstellung Cranachs gedruckt: fol. P2r, die Rückseite
ist leer geblieben; man hatte also reichlich Platz übrigbehalten. Das Bildelement ist im Falle
dieses Druckes also nichts anderes als eine ‚Verlegenheitslösung‘ angesichts irreversiblen Papiergebrauchs.
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Buchdruck und Reformation
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der einschlägigen buch- bzw. mediengeschichtlichen Forschung gelten.37 Evident
ist sodann, dass Luthers ‚Attraktivität‘ aus der Perspektive vieler Drucker der frühen Reformationsepoche darin bestand, dass er relativ kurze, prägnante Texte
zu bieten hatte, die schnell nachzudrucken waren und mit denen sich entsprechend zügige Renditen erzielen ließen.38 In gewisser Weise trat Luther als publizistisches Phänomen in eine quasi funktionsanaloge Position zu der des Türken
bzw. der Ablässe; sein literarisches Wirken trug entscheidend dazu bei, dass eine
gewisse Baisse im Druckgewerbe des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts
überwunden werden konnte. Was berechtigt angesichts dieser analogisierenden
Beobachtungen dazu, Luther und der Reformation eine buchdruck- und mediengeschichtlich innovative Bedeutung zuzuerkennen?
Im vorliegenden Rahmen kann die Antwort nur thetisch knapp und pointiert
ausfallen. Die innovative und – in der Langzeitperspektive geurteilt – bahnbrechende buchdruck- und publikationsgeschichtliche Bedeutung der Reformation
für die lateineuropäische Zivilisation ist, auch unter Einschluss der rückwirkenden
Konsequenzen auf die römisch-katholische Konfession, in folgenden Aspekten
zu sehen:39
1. Die Reformation war die erste ‚Ketzerei‘ in der Geschichte der westlichen Christenheit, die sich der Erfindung Johannes Gutenbergs (ca. 1400–1468) frühzeitig
und in offensiver Weise annahm; in den sich ihr öffnenden Städten und Ländern
bediente sie sich des Buchdrucks ohne substantielle Einschränkungen. Dadurch
erreichte die Reformation eine weitreichende Verbreitung von Auffassungen, die
durch die römische Kirche rechtmäßig verurteilt worden waren. Dass sich die traditionellen Mittel der Ketzerbekämpfung – neben der physischen Vernichtung des
Verurteilten insbesondere die Verbrennung seiner geistigen Erzeugnisse in Gestalt
37 Vgl. nur M. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über
die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M.
1991; K. D. Döring, Türkenkrieg und Medienwandel im 15. Jahrhundert. Mit einem Katalog
der europäischen Türkendrucke bis 1500 (HistStud 503), Husum 2013; zu den gedruckten
Ablassmedien vgl. F. Eisermann, Der Ablass als Medienereignis. Kommunikationswandel
durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert, in: B. Hamm / V. Leppin / G. Schneider-Ludorff (Hgg.), Media salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität
des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (SMHR 58), Tübingen 2011, S. 121–143.
38 Vgl. zuletzt A. Pettegree, Brand Luther. 1517, Printing, and the Making of the Reformation,
New York 2015.
39 Die folgenden Thesen finden sich z. T. in wörtlicher Übereinstimmung auch in T. Kaufmann,
Der Buchdruck der Reformation und seine Weltwirkungen, in: ARG 108 (2017), S. 115–125.
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Thomas Kaufmann
der materiellen, schriftlichen Überlieferungsträger40 – im Falle der Reformation
als definitiv wirkungslos erwiesen, hing entscheidend auch damit zusammen, dass
die typografisch reproduzierten ‚Ketzertexte‘ wegen ihrer schieren Menge nicht
kontrolliert, geschweige denn eliminiert werden konnten. Da die reformatorische ‚Häresie‘ nicht zu unterdrücken war, hatte die lateineuropäische Zivilisation
auf Dauer zu lernen, mit ihr ebenso wie auch mit anderen dissonanten geistigen
Traditionen, die durch den Buchdruck bekannt geworden waren, umzugehen.
2. Die reformationszeitliche Buchproduktion war unter anderem durch eine
immense Beschleunigung gekennzeichnet; diese zielte darauf ab, in möglichst großer Geschwindigkeit viele Texte, vor allem aber höhere Auflagen zu produzieren.41
Während des Jahres 1520 wurden maßgeblich durch Luthers enge Zusammenarbeit mit dem eine neu eröffnete Wittenberger Filiale leitenden Leipziger Drucker Melchior Lotter d. J. Beschleunigungsmomente erprobt und perfektioniert,42
die – wie dargestellt – für den frühreformatorischen Kommunikationsprozess im
Ganzen entscheidend waren. Durch die zügige Druckproduktion wurde erreicht,
dass Luther und seine Anliegen innerhalb kürzester Zeit bekannt waren, er bereits
zum Zeitpunkt des Wormser Verhörs im Frühjahr 1521 ‚berühmt‘ geworden war
und sich eines entsprechenden Rückhaltes breiter Bevölkerungskreise sicher sein
konnte. Diese Resonanz beim ‚gemeinen Mann‘ wirkte auf die Haltung der politischen Obrigkeiten zurück und trug entscheidend dazu bei, dass der Wittenberger
und seine Anhänger durch diese geduldet oder gar unterstützt wurden.
3. In der frühreformatorischen Publizistik traten aktualitätsbezogene Druckerzeugnisse, die auch in der älteren Geschichte des Buchdrucks immer wieder eine
auch ökonomisch wichtige Rolle gespielt hatten, mit einer neuartigen Intensität und Einseitigkeit in den Vordergrund. Dies trug zum einen dem Umstand
Rechnung, dass ‚um 1500‘ eine gewisse Stagnation des Buchmarktes eingetreten
war, da der Bedarf an voluminösen, ‚klassischen‘ und teuren Büchern vorerst
gedeckt schien. Dies ging zum anderen damit einher, dass in der Frühzeit der
40 Vgl. T. Werner, Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennungen im Mittelalter (VMPIG 225),
Göttingen 2007.
41 Vgl. E. Weyrauch, Reformation durch Bücher: Druckstadt Wittenberg, in: P. Raabe (Red.),
Gutenberg (wie Anm. 32), S. 53–59; J. Luther, Aus der Druckerpraxis der Reformationszeit,
in: ZfB 27 (1910), S. 237–264; Ders., Die Schnellarbeit der Wittenberger Buchdruckerpressen
in der Reformationszeit (Aus der Druckerpraxis der Reformationszeit II.), in: ebd. 31 (1914),
S. 244–264; T. Kaufmann, „Ohne Buchdruck keine Reformation“?, in: S. Oehmig (Hg.),
Buchdruck (wie Anm. 8), S. 13–34.
42 Vgl. T. Kaufmann, Von der Handschrift (wie Anm. 19).
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Buchdruck und Reformation
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Reformation Personengruppen in größerer Zahl zu Autoren wurden bzw. als
reformatorische Schriftsteller auftraten, die in der vorangegangenen Geschichte
des gedruckten Buches keine entsprechende Rolle gespielt hatten: Frauen aus
Adel und Bürgertum, Handwerker, vermeintliche oder gar tatsächliche Bauern,
entlaufene Mönche und Nonnen usw. ergriffen das Wort und publizierten sog.
Flugschriften gegenwartsbezogenen Inhalts. Auch wenn dieser partizipatorische Impuls des Sich-Einmischens und Mitteilens theologisch aus dem von
Luther erstmals 1520 konzipierten ‚Allgemeinen Priestertum der Glaubenden
und Getauften‘ gespeist war,43 wurde er infolge des Bauernkriegs doch deutlich
zurückgedrängt. Allerdings blieb die Vorstellung, dass Laien, die mit der Heiligen
Schrift argumentierten, grundsätzlich dazu berechtigt seien, über die ‚Lehre‘ zu
urteilen und sich ‚einzumischen‘, auch in der Geschichte des frühneuzeitlichen
Protestantismus präsent.
4. Bereits vor der Reformation waren volkssprachliche Bibeln, insbesondere in
Deutschland, verbreitet gewesen. Doch erst infolge der auch in dieser Hinsicht
an den Humanismus – insbesondere Erasmus (1466/69–1536)44 – anknüpfenden
Reformation erreichte die Forderung, die Laien sollten die Bibel lesen können,
eine entsprechende Dynamik, die dauerhafte gesellschaftsgeschichtliche Wirkungen zeitigte. Im Ganzen trugen die in der Reformationszeit unternommenen
Anstrengungen zugunsten einer Verbreitung der Laienbibel – nicht zuletzt in
Gestalt von Luthers Übersetzung – entscheidend dazu bei, dass die maßgebliche
religiöse Ressource der Christenheit bekannter wurde denn je. Die reformatorische Legitimierung der laikalen Bibellektüre implizierte, dass prinzipiell jeder
Christ zu einer eigenständigen religiösen Urteilsbildung befähigt und berechtigt
war. Obschon auch katholische volkssprachliche Bibeln insbesondere im deutschsprachigen Raum nach der Reformation einen erheblichen Verbreitungsradius
erreichten,45 blieb der grundsätzliche religiöse Status derselben im Katholizismus
aber umstritten bzw. wurde durch die sog. Indices der verbotenen Bücher faktisch
negiert. Gleichwohl bildete die Bibel in der Volkssprache seit dem 16. Jahrhundert ein integrales Moment der lateineuropäischen Kultur und ein Stimulans für
43 Vgl. dazu meinen Kommentar zu Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“
in: T. Kaufmann, An den christlichen Adel (wie Anm. 23), bes. S. 80 ff.
44 Vgl. Ders., Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), Tübingen
22018, S. 68–101.
45 Vgl. U. Köster, Studien zu den katholischen deutschen Bibelübersetzungen im 16., 17. und
18. Jahrhundert (RGST 134), Münster 1995.
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98
Thomas Kaufmann
Bildungs- und Alphabetisierungsprozesse – in allen Konfessionen; sie sind zu
einem Charakteristikum der westlichen Zivilisation geworden.
5. Im Zuge reformatorischer Prozesse kam es in verschiedenen Ländern Europas
dazu, dass die Bibel, aber auch andere religiöse Basistexte wie die Katechismen
Luthers, jeweils zügig in die entsprechenden Nationalsprachen übersetzt wurden.
In einer Reihe von Ländern bzw. Regionen – etwa Estland, Slowenien, Kroatien,
Finnland oder Preußen – hatte die religiöse Aufwertung der Volkssprache im Zuge
der Reformation zur Folge, dass Texte in diesen Sprachen erstmals schriftlich fixiert
und typografisch reproduziert wurden. Die reformatorischen Übersetzungs- und
Aneignungsprozesse gingen in der Regel damit einher, dass die Liturgien in der
Volkssprache abgefasst, die Gottesdienste in einer allen Teilnehmern verständlichen Sprache gefeiert und Medien der religiösen Partizipation wie Katechismen
oder Gemeindelieder durch den Buchdruck verbreitet wurden. Insofern eröffnete
die Reformation überall dort, wo sie erfolgreich war, Möglichkeiten der Partizipation und des Ausbaus von Bildungsangeboten.
6. Schon während der Inkunabelzeit hatten sich einzelne politische und kirchliche Obrigkeiten der Möglichkeiten des Buchdrucks zu bedienen begonnen; sie
nutzten die neue Reproduktionstechnologie, um liturgische Formulare zu vereinheitlichen, Mandate zu veröffentlichen, zu Kreuzzügen etc. zu mobilisieren
oder Heilsangebote wie den Ablass weithin bekannt zu machen. Bei den üblichen
Maßnahmen der Einführung der Reformation bzw. der konfessionskulturellen
Umformung von Kirche und Gesellschaft46 spielte auch der Buchdruck eine wichtige Rolle. Die jeweils geltenden Kirchenordnungen wurden in gedruckter Form
verbreitet; auch die liturgischen Texte, verbindlichen Gesangbücher, Bibeln mit
entsprechenden Vorreden der führenden Theologen und Beigaben der landesherrlichen ‚Notbischöfe‘, katechetischen Blätter und anderes mehr wurde typografisch
reproduziert und verbindlich publiziert. Die infolge der Reformation einsetzenden Prozesse herrschaftlicher ‚Verdichtung‘ konnten mit Hilfe des Buchdrucks
konsequenter und effizienter umgesetzt werden.
7. Bereits im späten Mittelalter hatte sich der religiöse Buchmarkt explosionsartig
vergrößert. Die Vorstellung, dass ein Mensch auch durch die Lektüre entsprechender Bücher einen substantiellen Beitrag zu seinem Heil leisten könne, war in
46 Vgl. zuletzt T. Kaufmann, What is Lutheran Confessional Culture?, in: P. Ingesman (Hg.),
Religion as an Agent of Change. Crusades – Reformation – Pietism (BSCH 72), Leiden/Boston 2016, S. 127–148.
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Buchdruck und Reformation
99
Mystik und Devotio moderna präsent. Die individuelle Heilsaneignung mittels
entsprechender Lektüre bildete ein frömmigkeitsgeschichtliches Motiv, das die
Reformation mit ihrer spätmittelalterlichen Vorgeschichte verband. Allerdings
erhielt sie durch die reformatorische Zuspitzung, dass allein die als ‚Glauben‘ verstandene Relation des einzelnen Menschen zu Gott vermittels des Wortes von
Christus das Heil verbürge, eine Radikalität und Einseitigkeit, die die Bedeutung
der kirchlichen Heilsanstalt prinzipiell in Frage stellte. Die emsige Produktion
durch den Buchdruck massenhaft verbreiteten reformatorischen Schrifttums trug
wesentlich zu jener individualisierenden Religionskultur bei.
8. Indem die Reformation dem gedruckten Buch im religiösen Vollzug des einzelnen Christen und des ‚ganzen‘ christlichen ‚Hauses‘ eine wichtige und dauerhafte
Bedeutung beimaß,47 förderte sie mittelbar die Alphabetisierung weiterer Bevölkerungskreise. Das gedruckte Buch spielte nicht nur in der Inaugurations- und
Etablierungsphase der Reformation eine wichtige Rolle; es begleitete die sich
bildenden Konfessionskulturen fortan stetig und unablässig.
Die politischen und kulturellen Entwicklungsdynamiken, die die Reformation in
Bezug auf die lateineuropäische Zivilisation vor allem mittels der konsequenten
Nutzung des Buchdrucks auslöste oder verstärkte, sind unübersehbar.
47 Vgl. die materialreiche Studie von W. Behrendt, Lehr-, Wehr- und Nährstand. Haustafelliteratur und Dreiständelehre im 16. Jahrhundert, Diss. FU Berlin 2009, digitale Publikation:
https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/10734/Behrendt_Walter_Diss.pdf ?sequence=1&isAllowed=y (letzter Zugriff am 11.3.2020); zu den politischen Dimensionen
der Drei-Stände-Lehre vgl. L. Schorn-Schütte, Gottes Wort und Menschenherrschaft.
Politisch-Theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit, München 2015, bes. S. 48 ff.
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Pavel Soukup
Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck*
Die Wortverbindung ‚böhmische‘ oder gar ‚hussitische Reformation‘ ist nicht
unproblematisch. Manchmal deutet sie möglicherweise mehr an, als Autoren
beabsichtigen, und in der Forschung findet sie keineswegs eine allgemeine Akzeptanz. Deshalb gilt es, konzeptionelle Inhalte, die mit der ‚böhmischen Reformation‘ verbunden werden, stets aufs Neue zu hinterfragen. Dieser Beitrag bietet
eine knappe kritische Zusammenschau der Auffassungen zum Begriff ‚hussitische
Reformation‘. Er hebt das Thema der öffentlichen Kommunikation in der Hussitenzeit hervor, vermittelt einen Überblick zur mediengeschichtlichen Problematik und zeigt neueste Ergebnisse sowie offene Forschungsperspektiven auf.1
Die Anwendung des Terminus ‚böhmische Reformation‘ ist besonders in der
tschechischen evangelischen Geschichtsschreibung längst geläufig.2 Seine internationale Popularisierung in den letzten 25 Jahren wird durch regelmäßige Tagungen
und die daraus resultierende Sammelbandreihe „The Bohemian Reformation and
Religious Practice“ getragen.3 Chronologisch reicht das Phänomen ‚böhmische
Reformation‘ von den 1360er Jahren und den Anfängen der Reformpredigt über
Jan Hus (ca. 1370–1415) und Hussitismus samt der nach der Mitte des 15. Jahrhunderts etablierten Brüderunität weiter über den von der europäischen Reformation
*
1
2
3
Diese Studie entstand im Rahmen des Projektes der GAČR, Nr. 19-28415X, am Philosophischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.
Mit der für die böhmische (hussitische) Reformbewegung benutzten Begrifflichkeit habe ich
mich in einer früheren Studie auseinandergesetzt, vgl. P. Soukup, Kauza reformace. Husitství
v konkurenci reformních projektů [Die Causa der Reformation. Das Hussitentum in der Konkurrenz der Reformprojekte], in: P. Rychterová / Ders. (Hgg.), Heresis seminaria. Pojmy
a koncepty v bádání o husitství [… Begriffe und Konzepte in der Hussitenforschung], Praha
2013, S. 171–217; im vorliegenden Artikel wird vornehmlich auf die seitdem erschienenen
Arbeiten eingegangen.
Einen umfassenden begriffsgeschichtlichen Überblick legte neulich vor M. Wernisch, Co
je ona reformace, jejíž výročí si připomínáme? [Was ist jene Reformation, deren Jubiläum wir
gedenken?], in: Ders., Evropská reformace, čeští evangelíci a jejich jubilea [Europäische Reformation, tschechische Protestanten und ihre Jubiläen], Praha 2018, S. 13–48.
Vgl. Z. V. David / D. R. Holeton (Hgg.), BRRP, 11 Bde., Prague 1996–2018, die letzten
zwei Bände mitherausgegeben von M. Dekarli / P. Haberkern. Die Tagungen führen
Historiker und Theologen vornehmlich aus englischsprachigen Ländern und aus Tschechien
zusammen und sorgen für regelmäßigen fachlichen Austausch.
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102
Pavel Soukup
beeinflussten böhmisch-mährischen ‚Nicht-Katholizismus‘ des 16. Jahrhunderts
bis zum Ende der reformatorischen Konfessionen in der habsburgischen Rekatholisierung der 1620er Jahre (sofern es nicht auch die Fortsetzung der böhmischen Reformation im europäischen und amerikanischen Kontext einschließt).
Dieser zeitliche Rahmen der böhmischen Reformation scheint in der mit Böhmen befassten Forschung weit anerkannt zu sein. Es fällt besonders auf, dass die
Zeitspanne den Anfang der Wittenberger Reformation einschließt. Obwohl die
Reformationsforschung längst auf den konstruierten Charakter der Epochengrenze
1517 hinweist, bedeuten doch die religiösen, gesellschaftlichen und politischen
Wandlungen, die mit der Ausbreitung des Luthertums und weiterer nicht-katholischer Konfessionen zusammenhängen, für die Verhältnisse in Böhmen eine
bedeutende Zäsur. Die einheimische (hussitische) Reformtradition wurde durch
protestantische und reformierte Impulse bereichert, überdeckt und sogar ersetzt.4
Man muss von daher fragen, inwieweit die ‚böhmische Reformation‘ eine von
nationalen, konfessionellen und kulturellen Motiven getragene Konstruktion ist.
Es scheint nämlich, dass das Konzept einer böhmischen Reformation von Milíč
bis Johann Amos Comenius (1592–1670) nicht viel mehr als eben Böhmen (bzw.
Mähren) als Schauplatz religiöser Ereignisse umfasst.
Als Alternative zum undifferenzierten Begriff der langen böhmischen Reformation erfreut sich die Unterscheidung zwischen ‚erster‘ und ‚zweiter Reformation‘
einer neuerlichen Popularität. Das vom tschechischen evangelischen Kirchenhistoriker Amedeo Molnár (1923–1990) seit Ende der 1950er Jahren ausgearbeitete
Konzept der ‚ersten Reformation‘ umfasst die Waldenser, Lollarden und Hussiten
und hebt sich von der klassischen, ‚zweiten‘ Reformation nicht nur chronologisch,
sondern auch theologisch ab. Nach Molnár ist die ‚erste Reformation‘ durch
das Prinzip des Gesetzes und durch revolutionäre Ausrichtung gekennzeichnet,
während die ‚zweite Reformation‘ theologisch auf dem Gnadengedanken aufbaute
und in der Gesellschaftslehre eher versöhnlich erscheint.5 Wenn der Terminus
‚erste Reformation‘ in heutiger Forschung benutzt wird, dann meistens nur für
die Hussiten, während die Waldenser und Wycliffisten nunmehr fehlen. Das ist
etwa bei Thomas Fudge der Fall, der damit betonen will, dass die Hussiten keine
4
5
F. Šmahel, Was there a Bohemian Reformation?, in: K. Horníčková / M. Šroněk (Hgg.),
From Hus to Luther. Visual Culture in the Bohemian Reformation (1380–1620) (MCS 33),
Turnhout 2016, S. 7–16, hier S. 12, spricht wohl deshalb von der Hussitenzeit als einer ‚Phase
der böhmischen Reformation‘. Diese lässt er, vgl. ebd., S. 8, mit dem symbolischen Datum
1378 anfangen, sodass die beiden, oft als ‚Vorläufer‘ angesehenen Konrad Waldhauser (ca.
1325–1369) und Milíč von Kremsier/Kroměříž (ca. 1325–1374) unberücksichtigt bleiben.
Vgl. A. Molnár, Husovo místo v evropské reformaci [Hussens Stellung in der europäischen
Reformation], in: ČsČH 14 (1965), S. 1–14, hier S. 6 f.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
103
Proto-Protestanten waren und Hus kein Vorläufer von Luther war. Warum der
Autor den Hussitismus doch eine Reformation nennt, wenn er so unterschiedlich vom Luthertum ist, wird nicht explizit artikuliert.6 Einer der zum Hus-Jahrestag 2015 erschienenen Sammelbände bemühte sich, mit der Bezeichnung
‚erste Reformation‘ den in der deutschen Gedächtniskultur vergessenen Jan Hus
wieder in den Fokus zu rücken. Der Inhalt des Begriffes wird jedoch auch dort
nicht thematisiert.7
Diesen terminologischen Wirrwarr könnte man sich allerdings ersparen, wenn
eine Sichtweise Oberhand gewinnen würde, die die Zeitspanne vom Hochmittelalter bis weit in die Frühe Neuzeit als ein Zeitalter der Reformen versteht.8
Ein solcher Zugang, der in den 1970er Jahren von Pierre Chaunu (1923–2009)
oder Steven Ozment (1939–2019) eingeführt wurde, hat jedenfalls den Vorteil,
die fatale Epochengrenze um 1500 auszublenden.9 Die oft kritisierte Teleologie,
die vor allem den Konzepten wie ‚Vorreformation‘ sowie ‚Vorläufern‘ aller Art zu
eigen ist,10 wird aber auch bei der Verwendung von ‚temps des réformes‘ nicht
automatisch beseitigt. Zusammenhänge zwischen den damit verbundenen Phänomenen sowie eventuelle Kontinuitäten bleiben zu erörtern. Weiterhin muss
man also einzelne Strömungen und Bewegungen untersuchen, sie vergleichen
und nicht zuletzt kategorisieren. Im Französischen unterscheidet sich Reform
und Reformation höchsten um die Majuskel; die deutsche wie auch tschechische
Sprache verfügen über zwei verschiedene Ausdrücke und können sich dem Definitionsbedarf schlechter entziehen.
Das Paradigma Molnárs wurde neulich von Wolf-Friedrich Schäufele unter
anderem mit dem Hinweis abgelehnt, damit drohe ein ‚Verlust eines einheitlichen
6 Vgl. T. A. Fudge, Magnificent Ride. The First Reformation in Hussite Bohemia (SASRH),
Aldershot 1998, S. 1 und 283.
7 Vgl. A. Strübind / T. Weger, Jan Hus. 600 Jahre Erste Reformation. Eine Einführung, in:
Diess. (Hgg.), Jan Hus. 600 Jahre Erste Reformation (SBKGE 60), Berlin/München 2015,
S. 9–14, hier S. 10.
8 Vgl. H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012,
S. 614; Ders., Reformation. Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: B.
Moeller (Hg.) / S. E. Buckwalter (Mitarb.), Die frühe Reformation in Deutschland als
Umbruch (SVRG 199), Gütersloh 1998, S. 13–34.
9 Vgl. P. Chaunu, Le temps des Réformes. Histoire religieuse et système de civilisation. La
Crise de la chrétienté. L’Éclatement (1250–1550) (Le monde sans frontière), Paris 1975; S. E.
Ozment, The Age of Reform 1250–1550. An Intellectual and Religious History of Late Medieval and Reformation Europe, New Haven 1980.
10 Vgl. dazu übersichtlich und kritisch W.-F. Schäufele, ‚Vorreformation‘ und ‚erste Reformation‘ als historiographische Konzepte, in: A. Strübind / T. Weger (Hgg.), Jan Hus (wie
Anm. 7), S. 209–231.
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104
Pavel Soukup
Reformationsbegriffs‘.11 Während international die ‚Pluralisten‘ zu überwiegen
scheinen, die sich bemühen, dem oft fragmentarischen, unplanmäßigen Charakter
der Reformationsversuche im Europa durch den Plural ‚Reformationen‘ gerecht
zu werden,12 betont die deutsche Reformationsforschung stärker die Integrität des
Begriffs. In der Debatte der 1990er Jahre über die Einheit und Vielfalt der Reformation einigten sich Dorothea Wendebourg und Berndt Hamm im Grunde
darauf, dass kennzeichnend für die Reformation sei, dass sie die Grundprinzipien
der mittelalterlichen Kirche und Kirchlichkeit angreift und dadurch im System
der Kirche nicht tolerierbar ist. Diese systemsprengende Qualität erlaube es, trotz
der frühen Ausdifferenzierung einzelner Strömungen und trotz der Vielfalt der
reformatorischen Lösungen in Theologie und Kirchenorganisation doch von
einer Reformation zu sprechen.13
Die Frage des Singulars oder Plurals besitzt m. E. eine sehr begrenzte Relevanz.
Wenn man innerhalb der Reformation geographisch-dogmatische Einheiten wie
eine deutsche, englische, schweizerische oder radikale Reformation unterscheidet,
dann erscheint es durchaus zulässig, von ‚Reformationen‘ zu reden. Die Frage ist
vielmehr, was diese Reformationen gemeinsam hatten. Denn es darf kein Zufall sein,
dass wir gewisse Phänomene eben Reformation nennen und nicht etwa Reformbewegung oder Ketzerei. Das ‚Reformatorische‘ wird nach wie vor überwiegend
von der lutherischen Reformation abgeleitet; das bedeutet aber nicht zwangsläufig,
dass es keine ältere Reformation geben darf, wenn diese den gewählten Kriterien
entspricht. Auch die mittelalterlichen religiösen Bewegungen wie die der Lollarden, Waldenser und andere sollten dieser Überprüfung unterzogen werden. Für
uns stellt sich die Frage, inwieweit der angeführte – und meiner Meinung nach
plausible – Definitionskern der Reformation auf den Hussitismus übertragbar ist.
***
In der letzten Zeit kann man auch außerhalb der engeren bohemikalen Forschung die Tendenz beobachten, das Hussitentum als Reformation zu etikettieren.
Dies dürfte mit dem Bestreben zusammenhängen, Martin Luthers (1483–1546)
11 Vgl. ebd., S. 227.
12 Z. B. C. Haigh, English Reformations. Religion, Politics, and Society under the Tudors, Oxford 1993, S. 12–21, spricht dezidiert und programmatisch über ‚englische Reformationen‘.
13 Vgl. D. Wendebourg, Die Einheit der Reformation als historisches Problem, in: B. Hamm /
B. Moeller / Dies., Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und
Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 31–51, hier S. 38 und 50 f.; B. Hamm, Einheit
und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: ebd.,
S. 57–127, hier S. 64–66 und 126 f.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
105
Auftreten jenseits streng gezogener Epochengrenze zu betrachten.14 Zum Mainstream in Geschichtsschreibung und Theologie ist eine solche Perspektive indessen nicht geworden. Die Einwände gegen die reformatorische Qualität des Hussitismus lassen sich in drei Hauptkategorien aufteilen. Erstens weisen einige auf
dem Feld des Hussitentums führende tschechische Historiker darauf hin, dass
die Utraquisten die katholische Kirche nie ganz verlassen haben, indem sie auf
der apostolischen Sukzession der Priesterweihe beharrten.15 Nach Autoren wie
František Šmahel und Petr Čornej sei die erste wirkliche Reformationskirche
der Weltgeschichte erst die 1467 abgespaltete Brüderunität gewesen.16 Besonders
Čornej ist der Meinung, die Entwicklung in Böhmen sei ‚auf dem halben Wege
stehen geblieben‘, indem die Kompaktaten zwar das Monopol der römischen
Kirche brachen, zugleich aber die Entstehung einer neuen Kirchenorganisation
verhinderten.17 Den Terminus ‚böhmische Reformation‘ benutzen die beiden
Autoren wohl als Synekdoche – eine Bezeichnung für die ganze Bewegung, die
die Brüderunität hervorgebracht hat. Deshalb bezeichnete auch Šmahel den
Hussitismus als die „erste Etappe, und damit als integralen Bestandteil des europäischen Reformationszyklusses“.18
Der zweite Vorbehalt stützt sich auf die Ansicht, der Hussitismus sei theologisch nicht genug ausgereift gewesen, um als Reformation zu gelten. Es werden
besonders die Beibehaltung des Priesterstandes und das Festhalten an den Sakramenten als Gnadenmittel erwähnt. Unlängst hat Wolf-Friedrich Schäufele
aufgrund der fehlenden Rechtfertigungslehre und unzulänglicher Unterscheidung
zwischen Gesetz und Evangelium sowohl die Bezeichnungen ‚Vorreformation‘ als
14 Vgl. B. Hamm, Abschied vom Epochendenken in der Reformationsforschung. Ein Plädoyer,
in: ZHF 39 (2012), S. 373–411, hier S. 399, wo der Verfasser von hussitischer Reformation
spricht.
15 Dazu jetzt übersichtlich B. Zilynská, The Utraquist Church after the Compactata, in: M.
Van Dussen / P. Soukup (Hgg.), A Companion to the Hussites (BCCT 90), Leiden/Boston 2020, S. 219–257, hier S. 240–244.
16 Vgl. F. Šmahel, Die Hussitische Revolution, aus dem Tschechischen übersetzt von Thomas
Krzenck, 3 Bde. (MGH Schriften 43), Hannover 2002, Bd. 3, S. 1909, der von der „erste[n]
selbständige[n] Kirche der europäischen Reformation“ spricht; Petr Čornej von einer „selbstständigen Kirche reformatorischer Art“; P. Čornej / M. Bartlová, Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone], Bd. 6: 1437–1526, Praha/
Litomyšl 2007, S. 195.
17 Vgl. P. Čornej, Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone], Bd. 5: 1402–1437, Praha/Litomyšl 2000, S. 665; ebd., S. 70, sagt jedoch derselbe
Verfasser, „der erste Akt der Reformation“ sei mit der böhmischen Verbesserungsbestrebung
verknüpft.
18 F. Šmahel, Hussitische Revolution (wie Anm. 16), Bd. 3, S. 2014.
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106
Pavel Soukup
auch die ‚erste Reformation‘ für das Hussitentum abgelehnt.19 In der vollendeten
doktrinären Erneuerung erblickt auch Martin Wernisch in einem der neuesten
Beiträge zu diesem Thema das Wesen der Reformation.20 Nur in der mit Luther
einsetzenden Reformation des 16. Jahrhunderts erkennt er den „Anspruch, die
göttliche Erneuerung des Evangeliums zu repräsentieren“ und damit als Reformation zu gelten.21 Die kirchengeschichtlichen Phänomene des 15. Jahrhunderts
in Böhmen möchte er als ‚hussitische‘ bzw. ‚Brüderreform‘ auffassen und sie als
‚Vorspiel‘ oder ‚Anlauf ‘ zur Reformation verstehen. Allerdings lässt er – auch hier
synekdochal – den traditionellen Terminus ‚böhmische Reformation‘ zu, insofern
sich der klassische Protestantismus in den böhmischen Ländern auf einem Boden
ausbreitete, der von einheimischer Reformbewegung vorbereitet war, und den
Utraquismus sowie Brüderunität letzten Endes gerettet habe.22 Meiner Meinung
nach ist es aber fraglich, inwieweit die Luther’sche Rechtfertigungslehre allein als
ein Kriterium für den Reformationscharakter dienen kann.23 Nicht nur die Vielfalt der protestantischen und reformierten Konfessionsgruppen, die sich schon
früh im 16. Jahrhundert auf dem Kontinent etablierten, spricht gegen die Hervorhebung einiger Lehrsätze als Maßstab. Besonders die englische Reformation,
bei welcher wohl niemand die Bezeichnung Reformation in Frage stellt, zeigt
die Breite der möglichen reformatorischen Lösungen im Bereich der Theologie.
Drittens wird auch darauf kritisch hingewiesen, dass das Hussitentum auf
Böhmen und Mähren beschränkt blieb. Euan Cameron hat den Hussitismus
19 Vgl. W.-F. Schäufele, ‚Vorreformation‘ (wie Anm. 10), S. 226; hinter den Gründen für diese
Ablehnung steht auch die Tatsache, dass die Begriffe ‚erste und zweite Reformation‘ bereits für
zwei Phasen der Reformation des 16. Jahrhunderts, d. h. für die lutherische und reformierte
Konfessionalisierung, reserviert wurden, vgl. dazu auch M. Wernisch, Co je ona reformace
(wie Anm. 2), S. 43.
20 Vgl. ebd., S. 22 f.
21 Aus dieser Sicht erscheint die Reformation als eine „theologische Kategorie des gegenwärtigen
Selbstverständnisses“. Historisch gesehen ist sie dadurch charakterisiert, dass sie umfassende
gesellschaftliche Auswirkungen sowie hinlängliche geographische und sachliche Tragweite
hat. Ebd., S. 23 und 44.
22 Vgl. ebd., S. 46–48. Es ist in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten Zdeněk V. Davids hinzuwiesen, der im Gegenteil die Lebendigkeit und ekklesiologische Brisanz der utraquistischen
Tradition bis zur Rekatholisierung verteidigt. Vgl. Z. V. David, Finding the Middle Way. The
Utraquists’ Liberal Challenge to Rome and Luther, Washington/Baltimore/London 2003.
23 Vgl. die Beobachtungen von T. Kaufmann, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen
Bewegung (SMHR 67), Tübingen 2012, S. 5–24, wo auf die untrennbare Verwobenheit der
Rechtfertigungslehre und Kirchenkritik sowie auf die weit über die Rechtfertigungslehre hinausgehende Vielfalt der frühreformatorischen Religionskultur hingewiesen wird.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
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als jene Bewegung beschrieben, die „am meisten die protestantische Reformation
vorwegnahm“.24 Ihre geografische Begrenzung beraubte sie aber des reformatorischen Charakters. Zugegeben blieb das Hussitentum im großen Ganzen sprachlich-national begrenzt – trotz einzelner erfolgreicher Versuche, in die deutsch- und
slawischsprachigen Gebiete vorzudringen. Im Anspruch jedoch erlegten sich die
Hussiten keine Grenzen auf, sie wollten das gesamte Christentum reformieren.
Auf der ideologischen Ebene könnte dies wohl für mehrere Ketzerbewegungen
des Mittelalters gegolten haben. Praktisch sind aber jene als häretisch verworfene
und verfolgte Gruppen in der Regel in den Untergrund gezwungen worden, sodass
die Reichweite ihrer klandestinen Agitation sehr begrenzt blieb. Die Utraquisten
konnten sich dagegen als eine öffentlich wirkende religiöse Institution durchsetzen. Das geographische Kriterium erscheint dabei folglich wenig brauchbar.
Wie soll man entscheiden, ob das Königreich Böhmen groß genug war, um eine
Reformation hervorzubringen? Für eine systematische Unterscheidung zwischen
Ketzerbewegungen und Reformation zeigt sich eben die öffentliche Ausübung
von Religion besser geeignet. Dann muss man feststellen, dass die Hussiten in zwei
Ländern Mitteleuropas (Böhmen und Mähren) einen von Rom nicht genehmigten Kult über zwei Jahrhunderte ausgeübt haben.
M. E. lässt sich das Begriffsproblem am besten über die Betrachtung der historischen Auswirkungen der hussitischen Revolte lösen. Auf dieser Grundlage
argumentierte Winfried Eberhard für die reformatorische Qualität des nachrevolutionären Hussitismus. Dazu untersuchte er eingehend die Wege der Konfessionsbildung im utraquistischen Böhmen.25 Die ostmitteleuropäische Variante der
Konfessionalisierung spielte sich demnach nicht unter der Leitung des frühmodernen Fürstenstaates ab, sondern wurde weitgehend von den Ständen getragen.
Die Kompaktaten von 1436 und der Kuttenberger/Kutná Hora Religionsfrieden
von 1485 garantierten jedem Erwachsenen die freie Wahl zwischen den beiden
legalen Konfessionen. Damit beförderten sie keine religiöse Disziplinierung – mit
Ausnahme von Prag, wo dieser Drang eine Tatsache war. Eine Konfessionsbildung
24 E. Cameron, The European Reformation, Oxford/New York 22012, S. 73 f.; vgl. auch P.
Chaunu, Temps des Réformes (wie Anm. 9), S. 384; und M. Wernisch, Co je ona reformace (wie Anm. 2), S. 45, der die böhmische Reformation des 15. Jahrhunderts als „halbfertig“ sieht, und zwar sowohl theologisch als auch durch ihre geographische Tragweite sowie
schließlich wegen ihrer Verbindung zu Rom.
25 Vgl. W. Eberhard, Zur reformatorischen Qualität und Konfessionalisierung des nachrevolutionären Hussitismus, in: F. Šmahel (Hg.) / E. Müller-Luckner (Mitarb.), Häresie und
vorzeitige Reformation im Spätmittelalter (SHK Kolloquien 39), München 1998, S. 213–238;
Ders., Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530 (VCC 38), München/Wien
1981.
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Pavel Soukup
kann man aber sehr wohl beobachten; diese brachte eine vertikale Spaltung der
sonst hierarchisch organisierten, ständisch geprägten Gesellschaft mit sich.26
In Böhmen setzte die Konfessionsbildung jedenfalls mit dem Hussitismus, also
im 15. Jahrhundert an, nicht erst mit dem Vordringen der lutherischen Reformation. Die arme, ihrer Machtbasis beraubte utraquistische Kirche stützte sich
auf dem Beistand der Obrigkeiten – des nichtkatholischen Adels und städtischer
Magistrate. Obwohl sie durch die apostolische Sukzession mit Rom verbunden
blieb und sich als ein Glied der Universalkirche verstand, wurde sie von der katholischen Kirche abgelehnt. Der 27 Jahre dauernde Kompromiss mit der damals
noch vom Konziliarismus geprägten Kirche ändert daran nichts. Praktisch lebte
die böhmische utraquistische Gemeinschaft als eine unabhängige Kirche. Päpstliche Erlässe hatten im utraquistischen Böhmen keine Geltung, das Kirchenrecht
wurde dem göttlichen Gesetz gegenübergestellt. In den Polemiken mit herausragenden katholischen Persönlichkeiten wie Johannes Capistranus (1386–1456)
oder Papst Pius II. (1458–1464) wurde die hussitische Ekklesiologie immer wieder belebt, die die Identität der utraquistischen Gemeinde festigte. Die autonome
Normenbildung der Hussiten wurzelte bereits in der Kirchenlehre von Jan Hus,
die die Souveränität des Gesetzes Christi gegenüber dem menschlichen Recht
betonte. Bedient man sich der von Berndt Hamm formulierten Definition der
Reformation, hat Jan Hus durch seine Ekklesiologie und Gehorsamslehre die
mittelalterliche Kirche erschüttert – obwohl er selbst die systemsprengenden
Konsequenzen nicht gewollt hatte. Die Hussiten sind in vieler Hinsicht den mittelalterlichen Denkmustern verpflichtet geblieben, zugleich aber schafften sie in
ihrem Einflussbereich die mittelalterlichen Schlüsselinstitutionen ab.27
Die praktische jurisdiktionelle Unabhängigkeit der utraquistischen Kirche
von Rom, ihre eigentümliche Identität und ihre Lebensfähigkeit als ein öffentlich wirkendes religiöses Gebilde erlauben es m. E., von einer hussitischen Reformation zu sprechen. Als ihren Begründer verstehe ich Jan Hus (also nicht schon
die Reform- und Bußprediger des 14. Jahrhunderts), als ihren Träger dann vor
26 Vgl. dazu auch die knappen, aber anregenden Bemerkungen von M. Nodl / F. Šmahel,
Čechy a české země ve 14. a 15. století [Böhmen und böhmische Länder im 14. und 15. Jahrhundert], in: J. Klápště / I. Šedivý (Hgg.), Dějiny Česka [Die Geschichte Tschechiens]
(Dějiny států [Die Geschichte der Staaten]), Praha 2019, S. 70–99, hier S. 91–99; sowie die
Studie von M. Nodl, Konfessionalisierung und religiöse (In)Toleranz in Prag in der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Bohemia 58 (2018), S. 286–309.
27 Wie Heinz Schilling bemerkte, hat auch Luther die Einführung der meisten mit der Neuzeit verbundenen Phänomene nicht beabsichtigt; und trotzdem wurden sie durch sein Wirken
und seine Ideen hervorgerufen oder in Gang gesetzt. Vgl. H. Schilling, Martin Luther (wie
Anm. 8), S. 618–621.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
109
allem die böhmische utraquistische Mehrheitskirche (also nicht ausschließlich
die Brüderunität). Selbstverständlich ist die Begrifflichkeit von der jeweiligen
Definition abhängig. Das Entscheidende ist, ob die Begriffsklärung und Reflexion der benutzten Terminologie über ein analytisches Potenzial verfügen und
damit erkenntnisbringend sind.28 Die Klassifizierung der religiösen Strömungen
im Mittelalter und der Frühen Neuzeit nach ihrer Verbreitung und ihrem Einfluss
richtet die Aufmerksamkeit auf die Kommunikation, Medien und Öffentlichkeit.
Die Bewertung der Tragweite des Hussitismus als reformatorisch ist zugleich eine
Einschätzung im Hinblick auf seine Leistung im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Denn nur eine gelungene Kommunikation konnte der Bewegung genug
Anhänger verschaffen, die dafür sorgten, dass der Ansatz nicht marginalisiert
wurde, sondern in die Bildung einer reformierten Nationalkirche mündete. Das
Thema der öffentlichen Kommunikation in der Hussitenzeit wäre sicher einer
umfassenderen Untersuchung wert als es hier möglich ist – und zwar einer, die
verschiedene Medienarten in einem chronologisch weiten Blick fasst. Im Folgenden werden nur einige Forschungsperspektiven und -desiderata der hussitischen
Mediengeschichte skizziert.
***
Die Kommunikationskanäle, durch welche eine hussitische Anhängerschaft kreiert und somit der Utraquismus als Konfession in Böhmen und Mähren etabliert
wurde, lassen sich m. E. in vier Hauptbereiche einteilen: oral vorzutragende Literatur- und Musikformen (Lieder, Gedichte), Predigt, schriftliche Textverbreitung und visuelle Medien (Bilder). Zu allen diesen thematischen Bereichen liegen Vorarbeiten vor – es sei hier auf die bahnbrechenden Studien von František
Šmahel sowie auf Ansätze einer Synthese von Thomas Fudge hinzuweisen.29
28 Im Gegenteil zu M. Wernisch, Co je ona reformace (wie Anm. 2), S. 27 und 46, halte ich
die Suche nach einer qualitativen Definition der Reformation weiterhin für sinnvoll. Sie kann
wohl ein ‚Phantom‘ sein, und zwar in dem Sinne, dass sie von den jeweils bevorzugten Kriterien
abhängt und insofern subjektiv ist. Die Legitimierung des Wortgebrauchs, auch wenn dabei
die Zäsur des 16. Jahrhunderts überschritten würde, ist in meiner Auffassung ein Ergebnis jener terminologischen Selbstreflexion, die in eine Kennzeichnung des ‚gemeinsamen Nenners‘
der Reformation münden kann und nach der auch Wernisch ruft, vgl. ebd., S. 35–37.
29 Vgl. F. Šmahel, Reformatio und Receptio. Publikum, Massenmedien und Kommunikationshindernisse zu Beginn der hussitischen Reformbewegung, in: J. Miethke (Hg.) / A. Bühler
(Mitarb.), Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert (SHK Kolloquien 21), München 1992, S. 255–268; Ders., Literacy and Heresy in Hussite Bohemia, in: P. Biller / A.
Hudson (Hgg.), Heresy and Literacy, 1000–1530 (CSML 23), Cambridge 1994, S. 237–254;
T. Fudge, Magnificent Ride (wie Anm. 6), S. 178–266.
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Pavel Soukup
Eine umfassende Untersuchung, die alle sprachlichen und medialen Formen
der öffentlichen politischen und religiösen Kommunikation der Hussitenzeit in
Betracht ziehen und auswerten würde, bleibt ein Desiderat.
1. Die orale Verbreitung von meinungsbildenden Inhalten spielte im Mittelalter
eine nicht zu unterschätzende Rolle, die mit der schriftlichen Vervielfältigung
mindestens vergleichbar war. In der Hussitenforschung finden besonders die
vernakularen Verskompositionen, also Lieder und Gedichte, das Interesse der
Historiker. Auf ihre Funktionsmerkmale und Vorteile in der persuasiven Kommunikation wurde mehrmals hingewiesen.30 Sie waren leicht zu merken, die Form
erhöhte ihre Suggestivität und ihre Verbreitung wurde dadurch gefördert, dass sie
auf keine materiellen Träger angewiesen waren. Bereits von 1410 bis 1412 tauchten erste satirische und agitative Lieder auf, und zwar im Kontext des Kampfes
der Anhänger von Hus gegen die päpstlichen Bullen zum Predigtverbot und
Kreuzablass. Wenig später, während des Konstanzer Konzils und danach, waren
es Protestlieder gegen Hus’ Verbrennung und gegen das Dekret, mit dem der
Laienkelch verurteilt wurde. Am Anfang der hussitischen Revolution reagierten
vernakulare Kompositionen auf neue Probleme wie Chiliasmus und Kriegsausbruch. In den 1420er Jahren entstanden dann umfangreiche gereimte Dispute.
Auch in der Nachkriegszeit wurde diese Art von Produktion nicht abgestellt, ist
jedoch deutlich weniger bekannt.
Die ältere Forschung, besonders die marxistische Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erkannte sehr gut das Potenzial dieser Quellengruppe. Auf eine fokussierte Analyse musste man jedoch bis unlängst warten. Nach
den Arbeiten von Thomas Fugde und Petr Čornej31 legte Marcela Perett eine
Monografie zu diesem Thema vor. Sie widmet sich kürzeren Liedern und längeren
Gedichten sowie einigen vernakularen Traktaten. Die alttschechische Überlieferung betrachtet sie als ein Genre, das Unterweisung mit Polemik verband, was
die Radikalisierung der Religion unterstützte und den Parteigeist innerhalb des
Hussitismus steigerte. Die vernakularen Traktate und Gedichte reagierten auf
die Bedürfnisse der Laien, die durchaus fähig waren, eigene Fragen über Religion
zu stellen. Die Textproduktion blieb jedoch laut der Verfasserin von lateinisch
30 Vgl. z. B. T. Fudge, The Memory and Motivation of Jan Hus, Medieval Priest and Martyr (ES
11), Turnhout 2013, S. 148 f.
31 Vgl. Ders., Magnificent Ride (wie Anm. 6), S. 186–216; Ders., Memory (wie Anm. 30),
S. 135–183; P. Čornej, Husitské skladby Budyšínského rukopisu: funkce – adresát – kulturní
rámec [Hussitische Poesie der sog. Bautzener Handschrift. Funktionen – Adressat – kultureller
Rahmen], in: ČL 56 (2008), S. 301–344.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
111
gebildeten Klerikern beherrscht; die nötige Vereinfachung des theologischen
Inhalts führte zu Einseitigkeit der Argumente und Verleumdung der Gegenpartei.32
Das zugespitzte Bild der vernakularen Dichtung und Polemik stützt sich auf
eine Analyse der rhetorischen Strategien. Die Berücksichtigung des breiteren Rahmens könnte es künftig ergänzen bzw. modifizieren. Man ist sich bisher weder über
die Autoren33 noch über das Publikum dieser Werke im Klaren. Die Rezeption
und Rezipienten kann man nur aufgrund der handschriftlichen Überlieferung
und von weiteren indirekten, kaum aber intratextuellen Anhaltspunkten studieren. Auch die an der Verbreitung der Werke beteiligten Individuen und Gruppen
möchte man besser kennen. In den Vordergrund sollten dabei m. E. die damals
neuen Universitätsabsolventen treten.34 Jedenfalls müsste man bei der Untersuchung der volkssprachlichen Propaganda mehrere Genres berücksichtigen – ein
weiteres Spektrum von prosaischen Traktaten, Geschichtsschreibung (sog. Alte
tschechische Annalen/Staré letopisy české), aber auch Kleinformen wie Sprüche
und Schimpfwörter.35 Chronologisch wird der Fokus jedenfalls bis in die zweite
Hälfte des 15. Jahrhunderts erweitert werden müssen. Des Weiteren wird es nötig
sein, sich beim Studium der literarischen und oralen Propaganda nicht auf eine
Quellensprache zu begrenzen: Erstens war das vernakulare Schrifttum mit dem
Lateinischen inhaltlich und argumentativ verwandt. Zweitens sind in der lateinischen Literatur dieselben Formen und Gattungen wie in der vernakularen zu
finden, deren Funktion noch erforscht werden muss – etwa mit Blick auf zeitgenössische satirische und polemische Lieder und Gedichte.36 Diese sind auf beiden
Seiten zu suchen – etwa bei antihussitischen deutschen volkssprachigen sowie bei
lateinsprachigen Autoren.37 Drittens konnten sich eben bei oraler Darbietung die
32 Vgl. M. K. Perett, Preachers, Partisans, and Rebellious Religion. Vernacular Writing and the
Hussite Movement (The Middle Ages Series), Philadelphia 2018, S. 168 f., 222 ff. und passim.
33 T. Fudge, Memory (wie Anm. 30), S. 181 f., verteidigt die Vorstellung von Laien als Autoren
der hussitischen Gesänge und Gedichte.
34 Vgl. die vorläufigen Erwägungen in P. Soukup, Jan Hus. The Life and Death of a Preacher
(Central European Studies), West Lafayette 2020, S. 79 und 89 f.; zur Rolle der Studenten in
der lutherischen Reformation vgl. T. Kaufmann, Anfang (wie Anm. 23), S. 185–265.
35 Vgl. T. Fudge, Magnificent Ride (wie Anm. 6), S. 216–226; P. Soukup, ‚Pars Machometica‘
in Early Hussite Polemics. The Use and Background of an Invective, in: M. Van Dussen /
Ders., (Hgg.), Religious Controversy in Europe, 1378–1536. Textual Transmission and Networks of Readership (MCS 27), Turnhout 2013, S. 251–287.
36 Vgl. L. Doležalová, Usquoque tu, Domine, obdormis gravi sopore? A Newly Found Topical Song from Late Medieval Bohemia (Fragment Prague, Library of the National Museum,
1 K 618), in: MJb 53 (2018), S. 443–460.
37 Vgl. P. Spunar, Antihussitische Verse aus Schlesien, in: BZGA 74 (1974), S. 189–200; F. Fuchs,
Der Malleus Hussonis des Johannes Lange von Wetzlar, in: G. Annas / J. Nowak (Hgg.),
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112
Pavel Soukup
lateinisch fixierten Texte in vernakulare Ansprachen verwandeln. In den lateinisch
überlieferten Predigten, die auf Deutsch oder Tschechisch vorgetragen wurden,
sollte man dieselben Strategien suchen wie in volkssprachlichen Liedern. Nur
durch den Vergleich sprachlich unterschiedlicher Schöpfungen können charakteristische Züge der Vernakularisierung zu Tage treten.38
2. Die Predigt nahm im Hussitismus, um den Ausdruck Amedeo Molnárs zu
benutzen, eine ‚Vormachtstellung‘ ein.39 Die Anzahl der erhaltenen Predigtsammlungen böhmischer Provenienz aus dem Spätmittelalter (ca. 1350–1500) kann
man auf etwa 150 schätzen. Diese dürften rund 10.000 Predigten erhalten – eine
Zahl, die mit Überlieferungen aus Ländern mit viel längerer Predigttradition wie
Frankreich oder Italien vergleichbar ist.40 Die Erforschung der bohemikalen Predigten ist weitgehend eine Aufgabe für die Zukunft. Relativ gut bekannt ist die
Predigertätigkeit von Jan Hus. Vieles davon ist ediert worden; auch den Predigten
seines Nachfolgers Jakoubek von Mies/Stříbro (ca. 1375–1429) wurden neulich
zwei Monografien gewidmet.41 Die späteren Postillen und Predigthandschriften
sind nur in Umrissen oder gar nicht bekannt, obwohl die Bedeutung der Predigt
im Hussitismus allgemein anerkannt wird.
38
39
40
41
Et l’homme dans tout cela? Von Menschen, Mächten und Motiven. FS Heribert Müller zum
70. Geburtstag (FHAb 48), Stuttgart 2017, S. 111–119.
Vgl. P. Rychterová (Hg.) / J. Ecker (Mitarb.), Pursuing a New Order, Bd. 1: Religious
Education in Late Medieval Central and Eastern Central Europe (TMT 17/1), Turnhout 2018;
Diess. (Hgg.), Pursuing a New Order, Bd. 2: Late Medieval Vernacularization and the Bohemian Reformation (TMT 17/2), Turnhout 2019; zur Transformation der Predigt vgl. bes.
P. Soukup, The ‚Puncta‘ of Jan Hus: The Latin Transmission of Vernacular Preaching, ebd.,
Bd. 2, S. 91–126.
Vgl. A. Molnár, K otázce reformační iniciativy lidu. Svědectví husitského kázání [Zur Frage
der reformatorischen Initiative des Volkes. Zeugnisse der hussitischen Predigt], in: Ders.
(Hg.), Příspěvky k dějinám utrakvismu [Beiträge zur Geschichte des Utraquismus] (ARBI 1),
Praha 1978, S. 5–44, hier S. 17.
Dazu P. Soukup, Jan Hus as a Preacher, in: F. Šmahel / O. Pavlíček (Hgg.), A Companion
to Jan Hus (BCCT 54), Leiden/Boston 2015, S. 96–129, hier S. 97.
Den neuesten Stand der Hus-Forschung reflektiert F. Machilek, Jan Hus (um 1372–1415).
Prediger, Theologe, Reformator (KLK 78/79), Münster 2019, mit einem Verzeichnis der
Postillen ebd., S. 76 f. und umfangreicher Bibliografie; zu Jakoubek vgl. J. Marek, Jakoubek
ze Stříbra a počátky utrakvistického kazatelství v českých zemích. Studie o Jakoubkově postile
z let 1413–1414 [ Jacobellus von Mies und die Anfänge des utraquistischen Predigtwesens in
den böhmischen Ländern. Studien zu Jacobellus’ Postille aus den Jahren 1413/14], Praha 2011;
und P. Soukup, Reformní kazatelství a Jakoubek ze Stříbra [Das reformerische Predigtwesen
und Jacobellus von Mies], Praha 2011.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
113
Wir können wohl sicher sein, dass sehr häufig gepredigt wurde, wissen aber nur
wenig über Umstände, Publikum und Wirkung dieser Reden. Eine Erforschung der
Predigten als Massenkommunikation, wie sie David d’Avray vorgeschlagen hat,42
steht noch aus. Es stellt sich die Frage, ob dies für hussitische Predigten überhaupt
möglich sein wird, da sie doch anders als die klassischen Modellsammlungen des
13. Jahrhunderts überliefert sind. Statt massenhaft verbreiteten Modellsermones,
bei denen wir auch eine breite Umsetzung in mündliche Predigten und somit
eine weitreichende und langfristige Wirkung voraussetzen können, gibt es für
die Hussitenzeit nur einzelne überlieferte Sammlungen in einzelnen Abschriften.
Ihr Ursprung in einem geographisch und chronologisch relativ begrenzten Raum
und ihre Einbettung in die abwechslungsreiche und oft dramatische Geschichte
des Hussitentums ermöglicht jedoch eine engere Verknüpfung mit der Ereignisund Geistesgeschichte, als es üblicherweise mit Modellsammlungen der Fall sein
kann. Für eine künftige Untersuchung des Inhalts hussitischer Predigten und
der etwaigen Entwicklung der thematischen Schwerpunkte muss eine passende
Methodologie gefunden werden.
Vorläufig scheint es sinnvoll, stichprobenartig und quer durch die erhaltenen
Sammlungen vorzugehen. Eine der Voraussetzungen dafür ist die massive Erfassung des erhaltenen Materials, wie sie für böhmische Predigten im Verzeichnis
von Quellen zum heiligen Wenzel (ca. 907–935) durch Zdeněk Uhlíř exemplifiziert wurde.43 Für die Hussitenzeit konnten auf diese Weise die Predigten für die
Feste der böhmischen Patrone genauer ausgewertet werden.44 Ähnlich wurden in
letzter Zeit einige kirchenpolitisch brisante Perikopen in verschiedenen Postillen
aus dem 15. Jahrhundert untersucht.45 Hier zeigt sich einerseits die relativ große
42 Vgl. D. L. d’Avray, Method in the Study of Medieval Sermons, in: N. Bériou / Ders.
(Hgg.), Modern Questions about Medieval Sermons. Essays on Marriage, Death, History and
Sanctity (Bibliotheca di Medioevo Latino 11), Spoleto 1994, S. 3–30, hier S. 8–17.
43 Vgl. Z. Uhlíř, Literární prameny svatováclavského kultu a úcty ve vrcholném a pozdním
středověku [Literarische Quellen des St.-Wenzel-Kultes und seiner Verehrung im Hoch- und
Spätmittelalter] (Edice oddělení rukopisů a starých tisků. Miscellanea monographica [Editionen der Abt. der Handschriften und der alten Drucke. Miscellanea monographica] 5), Praha
1996.
44 Vgl. J. Marek, Medieval Utraquist Sermons on Czech Patron Saints, in: GLB 24 (2019),
S. 105–127; P. Soukup, Úsvit křesťanství v Čechách očima husitských kazatelů [Die Dämmerung des Christentums in Böhmen in den Augen der hussitischen Prediger], in: M. Nodl
/ F. Šmahel (Hgg.), Pohané a křesťané. Christianizace českých zemí ve středověku [Heiden
und Christen. Die Christianisierung der böhmischen Länder im Mittelalter], Praha 2019,
S. 151–170.
45 Vgl. P. Soukup, Výklad biblických norem v postilách husitské doby [Die Auslegung der biblischen Normen in den Postillen des hussitischen Zeitalters], in: P. Cermanová / Ders.
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114
Pavel Soukup
Trägheit des Genres, die das Eindringen gewisser (auch für das Hussitentum sehr
wichtiger) Themen in die erhaltenen Predigttexte erschwert. Andererseits hat sich
gezeigt, dass einige zentrale und für die Hussiten kennzeichnende Denkfiguren
auf Dauer, also von Jan Hus bis zu den Utraquisten der Jagiellonenzeit, immer
wieder in Predigten auftauchen.
3. Über die schriftliche Textverbreitung ist man dank der erhaltenen Handschriften
relativ gut informiert, ob es sich um theologische Polemik oder auf ein breiteres
Publikum zielende hussitische Propaganda handelt. Die Erschließung der bohemikalen Quellen des 15. Jahrhunderts läuft seit mehr als einhundert Jahren. Die
ältere Phase ist vor allem mit dem Namen František Michálek Bartoš’ (1889–
1972) verbunden, in der neueren Zeit machte sich Pavel Spunar mit seinen
unschätzbaren Repertorien um die Quellenerschließung verdient.46 Die Arbeit
auf diesem Feld ist jedoch bei weitem nicht abgeschlossen, weshalb auch eine
zusammenfassende Auswertung fehlt. Neuerdings läuft auch die Erforschung der
antihussitischen Werke an, welche seit 2009 in der Online-Datenbank „Repertorium operum antihussiticorum“ zur Verfügung stehen.47 In jüngster Zeit ergab das
Studium antihussitischer Polemik monografische Bearbeitungen einiger wichtiger Teilbereiche, so etwa zur Tätigkeit von Theologen in Österreich (Christina
Traxler) und Frankreich (Olivier Marin).48
Gerade die schriftlichen Reaktionen der Gegner belegen die Wirkung der hussitischen Propaganda. Ein hervorragendes Beispiel bietet das Taboritenmanifest von
1430. Das offene Schreiben wurde nachweislich in deutscher Sprache an mehrere
Adressaten gerichtet, wozu vor allem Reichsstädte zählten. Die Empfänger haben
in manchen Fällen eine Übersetzung ins Lateinische besorgt, die als Grundlage
(Hgg.), Husitské re-formace. Proměna kulturního kódu v 15. století [Die hussitischen Re-formationen. Der Wandel des kulturellen Codes im 15. Jahrhundert] (Edice Středověk [Edition
Mittelalter] 4), Praha 2019, S. 69–100.
46 Vgl. P. Spunar (Hg.), Repertorium auctorum Bohemorum provectum idearum post universitatem Pragensem conditam illustrans, 2 Bde., Bd. 1 (SC 25), Wratislaviae/Varsaviae/
Cracoviae/Gedani/Lodziae 1985; Bd. 2 (SC 35), Warszawa/Praga 1995; Ders., Literární
činnost utrakvistů doby poděbradské a jagellonské [Literarische Tätigkeit der Utraquisten im
Poděbrad’schen und Jagiellonischen Zeitalter], in: A. Molnár (Hg.), Příspěvky k dějinám
utrakvismu (wie Anm. 39), S. 165–269.
47 Vgl. P. Soukup (Hg.), Repertorium operum antihussiticorum, Online-Datenbank, www.
antihus.eu (letzter Zugriff am 10.2.2020).
48 Vgl. C. Traxler, Firmiter velitis resistere. Die Auseinandersetzung der Wiener Universität
mit dem Hussitismus vom Konstanzer Konzil (1414–1418) bis zum Beginn des Basler Konzils (1431–1449) (SAUW 27), Göttingen/Wien 2019; O. Marin, La patience ou le zèle. Les
Français devant la révolution hussite (années 1400–années 1510) (EAMA 56), Turnhout 2020.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
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für gelehrte Widerlegungen diente. Es sind zehn verschiedene Antworten auf
das Manifest bekannt, die in Form von umfangreichen theologischen Abhandlungen von Universitäts-, Ordens- und Privatgelehrten im Reich und in England, Frankreich oder Spanien verfasst wurden.49 Allgemein sind antihussitische
Schriften besser als die hussitischen überliefert. So ist etwa das Hauptwerk von
Jan Hus „De ecclesia“ in 20 Handschriften erhalten, der antihussitische Traktat
„Eloquenti viro“ des Andreas von Brod († 1427) in mehr als 100 Exemplaren, das
antiutraquistische Werk Jean Gersons (1363–1429) in knapp 70 Abschriften.50
In der Datenbank der antihussitischen Polemik sind zurzeit über 250 entsprechende Traktate verzeichnet, die in mehr als 1.700 Handschriften überliefert sind.
Auch wenn man die größere Überlieferungschance der katholischen Werke während der Gegenreformation mit einbezieht, muss man von einer zahlenmäßigen
Überlegenheit der antihussitischen Literatur ausgehen. Dies ist durchaus als ein
Indikator für die Bekanntheit der hussitischen Schriften und Lehren weit über
die böhmische Grenze hinaus zu deuten und damit als Beleg für eine effektive
Kommunikation der Hussiten.
Inwieweit dieses Schrifttum auf die illiterati wirken könnte, steht noch weitgehend offen. Hinweise auf einen pastoralen Gebrauch lateinischer Traktate gegen
die Hussiten gibt es hier und da, sie müssten jedoch im Einzelnen überprüft und
zusammenfassend ausgewertet werden. Die Ausrichtung der hussitischen Propaganda auf die Laien (und zudem eine starke antiklerikale Note sowohl aus reformerischer Überzeugung wie aus taktischen Gründen) ist offensichtlich. Näher
zu erörtern wäre ebenso die Frage der Teilnahme von Laien an theologischen
Disputationen, die von den Hussiten nicht nur im internen Forum praktiziert,
49 Eine dieser Reaktionen hat Jiří Petrášek in einer Monografie bearbeitet, wo auch die erste
Information zu anderen Antworten zu finden ist, vgl. J. Petrášek, „Meide die Häretiker.“
Die antihussitische Reaktion des Heidelberger Professors Nikolaus von Jauer (1355–1435) auf
das taboritische Manifest aus dem Jahr 1430 (BGPhThMA NF 82), Münster 2018; ein weiteres
Hussitenmanifest, das Aufsehen auf dem Basler Konzil erweckte, behandelt J. Helmrath,
Kommunikation auf den spätmittelalterlichen Konzilien, in: H. Pohl (Hg.), Die Bedeutung
der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft (VSWG Beiheft 87), Stuttgart 1989,
S. 116–172, hier S. 138–140.
50 Vgl. I. Hlaváček, Husův traktát De ecclesia a jeho dochování v 15. a 16. století. Z osudů
rukopisů Husových děl [Hussens Traktat De ecclesia und seine Überlieferung im 15. und
16. Jahrhundert. Aus den Schicksalen von Hussens handschriftlichen Werken], in: J. Smrčka /
Z. Vybíral (Hgg.), Jan Hus 1415 a 600 let poté [ Jan Hus 1415 und 600 Jahre danach] (HT –
Supplementum 4), Tábor 2015, S. 213–232; C. Traxler, Früher Antihussitismus. Der Traktat
Eloquenti viro und sein Verfasser Andreas von Brod, in: AV 12 (2015), S. 130–177; P. Soukup
(Hg.), Repertorium (wie Anm. 47).
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Pavel Soukup
sondern auch für eventuelle Glaubensgespräche mit der römischen Kirche gefordert wurden.51
Klar ist dagegen, dass man den hussitischen und antihussitischen Werken nur
ausnahmsweise in den frühen Drucken begegnet. Die böhmischen Wiegendrucke sind überwiegend katholischer Provenienz. Die Utraquisten haben sich des
neuen Mediums selten bedient und blieben ‚mit den Massenmedien des Spätmittelalters verbunden‘.52 Für die literarische Kommunikation, wie sie die hussitischen Intellektuellen bis ins 16. Jahrhundert hinein praktiziert haben, reichte
wohl die handschriftliche Vervielfältigung aus. Die utraquistische Universität
und Kirchenverwaltung nutzten den Buchdruck nur in sehr begrenztem Maße.
Erst in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden einige wenige Werke der
Protagonisten der ersten zwei Generationen hussitischer Autoren gedruckt.53 Die
Brüderunität veröffentlichte Anfang des 16. Jahrhunderts einige Schriften von Jan
Hus im Druck, die Auflage seiner tschechischen Postille von 1563/64 mussten
die Utraquisten jedoch in Nürnberg veranlassen. Den Druck von Hus’ Traktat
„De ecclesia“ und seinen Briefen hat Martin Luther besorgt und die Herausgabe
der epochalen Hus’schen „Monumenta“ von 1558 verdankt man dem Lutheraner Matthias Flacius Illyricus (1520–1574).54 Mehrere Faktoren dürften sich hier
überschnitten haben: Neben dem Konservativismus des böhmischen Milieus
gegenüber Buchdruck und Humanismus war es wohl auch die für die Verleger
unattraktive hussitische Kontroverse, auf welche die Tatsache hindeutet, dass auch
die antihussitischen Schriften von namhaften Autoren nur ausnahmsweise im
51 Mittlerweile vgl. O. Marin, Pourquoi débattre avec les hussites: le tournant stratégique bâlois
à la lumière du Tractatus de iustificatione vocationis Bohemorum (1432), in: C. Maurer /
C. Vincent (Hgg.), La coexistence confessionnelle en France et en Europe germanique et
orientale. Du Moyen Âge à nos jours (Chrétiens et sociétés 27), Lyon 2015, S. 107–129; B.
Zilynská, From Learned Disputation to the Happening. The Propagation of Faith through
Word and Image, in: M. Bartlová / M. Šroněk (Hgg.), Public Communication in European Reformation. Artistic and other Media in Central Europe 1380–1620, Prague 2007,
S. 55–67.
52 Vgl. J. Hrdina / K. Boldan, Úvodem [Zur Einführung], in: Diess. (Hgg.), Knihtisk, zbožnost, konfese v zemích Koruny české doby poděbradské a jagellonské [Buchdruck, Frömmigkeit,
Konfession in den Ländern der Böhmischen Krone des Poděbrad’schen und Jagiellonischen
Zeitalters] (CMP 19), Praha 2018, S. 7–9, hier S. 7.
53 Vgl. P. Voit, Utrakvisté a knihtisk [Die Utraquisten und der Buchdruck], in: ebd., S. 11–27;
sowie den Aufsatz von Dems. im vorliegenden Band; vgl. auch B. Zilynská, Tištěná média
a synodální praxe utrakvistů do poloviny 16. století [Druckmedien und Synodalpraxis der
Utraquisten bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts], in: J. Hrdina / K. Boldan (Hgg.), Knihtisk (wie Anm. 52), S. 29–40.
54 Übersichtlich in: P. Soukup, Jan Hus (wie Anm. 34), S. 9.
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Druck erschienen. Auch hier muss man aber künftige Untersuchungen abwarten,
denn – wie unlängst in einem von Kamil Boldan und Jan Hrdina herausgegebenen Band betont – ‚Arbeiten, die die Rolle der frühen Drucke im strukturellen
Wandel der Kommunikationsprozesse in den böhmischen Ländern auswerten
würden, fehlen deutlich‘.55
4. Der visuellen Kommunikation, wie auch den bildenden Künsten der Hussitenzeit
allgemein, wurde jüngst relativ große Aufmerksamkeit gewidmet. Der Katalog
der Ausstellung von 2010 zur „Kunst der böhmischen Reformation 1380–1620“,
herausgegeben von Kateřina Horníčková und Michal Šroněk, bedeutete einen
Quantensprung in der Erschließung der bildlichen Quellen aus der Umgebung
des Utraquismus.56 Im Jahr 2015 legte Milena Bartlová die erste umfassende
und konzeptuelle Bearbeitung der hussitischen Kunst vor.57 Die grundlegende
Errungenschaft dieser neueren Forschung ist der Nachweis der simplen Tatsache,
dass es eine hussitische Kunst überhaupt gab. Die Quellenlage ist nicht besonders
gut und die ältere Forschungstradition neigte zur These einer wenig ausgeprägten Kunstfreundlichkeit des Hussitismus. Die Arbeiten der letzten Zeit wiesen
nicht nur auf die unaufhörliche künstlerische Produktion hin, sondern auch auf
ihre identitätsstiftende Rolle. Ikonografische Besonderheiten der utraquistischen
Kunst – die Abbildung des heiligen Jan Hus sowie des Abendmahls unter beiderlei Gestalt – dienten zugleich als Hauptmerkmale, um die sich die hussitische
Gemeinde zusammenschloss. Die vereinzelten erhaltenen Belege aus dem Bereich
der monumentalen Kunst deuten in diese Richtung.
Die heute bekannten, als hussitisch identifizierbaren Werke der Tafel- bzw.
Wandmalerei stammen in der Regel frühestens aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, und somit aus der Zeit der politischen und religiösen Stabilisierung
sowie Etablierung der kalixtinischen Kirche. Sie richteten sich auf das Innere des
utraquistischen Konfessionslagers und sollten eher seine Identität stärken als die
konfessionellen Opponenten überzeugen. Eine agitative Wirkung erwartete man
von bildlichen Darstellungen wohl eher in der Frühphase der Bewegung. Aus den
55 Vgl. K. Boldan / J. Hrdina, Úvodem (wie Anm. 52), S. 8.
56 Vgl. K. Horníčková / M. Šroněk (Hgg.), Umění české reformace (1380–1620) [Die
Kunst der böhmischen Reformation (1380–1620)], Praha 2010; die englische Übersetzung
der darin erhaltenen Essays (ohne Katalogeinträge) erschien als Diess. (Hgg.), From Hus to
Luther (wie Anm. 4).
57 Vgl. M. Bartlová, Pravda zvítězila. Výtvarné umění a husitství 1380–1490 [Die Wahrheit
hat gesiegt. Die bildende Kunst und das Hussitentum 1380–1490], Praha 2015. Speziell dem
Thema Kommunikation wurde bereits 2006 eine Tagung gewidmet. Vgl. Dies. / M. Šroněk
(Hgg.), Public Communication (wie Anm. 51).
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118
Pavel Soukup
1410er Jahren liegen Nachrichten von satirischen Bildern vor, die in öffentlichen
Veranstaltungen eingesetzt wurden.
Einen prominenten Platz in der Erforschung der hussitischen Propaganda
erlangt ein Quellenkomplex in Form zweier Bilderhandschriften und zweier
Sprachversionen (lateinisch und alttschechisch) der Schrift „Tabulae veteris et novi
coloris“ des Nikolaus von Dresden († 1417). Nikolaus’ Traktat von 1412 verweist
auf biblische und andere Autoritäten im Hinblick auf einige Antithesen, in denen
der zeitgenössischen verdorbenen Kirche die apostolische Kirche gegenübergestellt wird. Die beiden Handschriften, der sog. Göttinger Kodex aus den 1470er
Jahren und der sog. Jenaer Kodex vom Ende desselben Jahrhunderts (1495–1500),
enthalten neben den Illustrationen zur tschechischen Übersetzung der „Tabulae“ auch weitere antithetische Illuminationen, die umfangreich auf Tschechisch
beschriftet sind. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Text und
Bild; in Betracht kommt darüber hinaus auch das gesprochene Wort, da die Antithese mit dem reitenden Papst und Christus in einigen homiletischen Werken von
Jan Hus benutzt wird.58 Aufgrund eines Zeugnisses über antithetische Bilder, die
man eben in der Zeit der Abfassung der lateinischen „Tabulae“ auf den Straßen
Prags getragen haben könnte, vermuten die Historiker seit längerem, der Traktat
und die erhaltenen Buchmalereien könnten Belege sein für die auf Demonstrationen getragenen Transparente oder sogar für agitatorische Wandgemälde, etwa
in der Bethlehemskapelle oder in der Prager Universitätsburse „Zur Schwarzen
Rose“. In der Forschung wurden diesbezüglich mehrere Hypothesen formuliert,
in letzter Zeit besonders in den anregenden Beiträgen von František Šmahel,
Petra Mutlová und Milena Bartlová.59 Neulich gipfelten die Bemühungen
auf diesem Feld in einer kollektiven, breit interdisziplinär angelegten Edition und
Untersuchung der alttschechischen Übersetzung der „Tabulae“.60 (Abb. 1 und 2)
58 Dazu jetzt L. Mazalová, „Non sedit super equum fervidum, sed super asinam“: Concerning
One of Jan Hus’s Antitheses in His Czech Postilla, in: BRRP 11 (2018), S. 37–49.
59 Vgl. F. Šmahel, Die Tabule veteris et novi coloris als audiovisuelles Medium hussitischer Agitation, in: Studie o rukopisech [Studien über Handschriften] 29 (1992), S. 95–105; P. Mutlová,
Communicating Texts through Images: Nicholas of Dresden’s Tabule, in: M. Bartlová /
M. Šroněk (Hgg.), Public Communication (wie Anm. 51), S. 29–37; M. Bartlová, Prout
lucide apparet in tabulis et picturis ipsorum. Komunikační úloha obrazů a textů v počátcích
husitismu [… Die kommunikative Rolle der Bilder und Texte in den Anfängen des Hussitismus], in: SMB 3 (2011), S. 249–274.
60 P. Čornej / M. Dragoun / M. Homolková / P. Mutlová / M. Pytlíková / M. Studničková / K. Voleková, Tabule staré a nové barvy Mikuláše z Drážďan ve staročeském
překladu [Die Tafeln der alten und neuen Farbe des Nikolaus von Dresden in der alttschechischen Übersetzung], Praha 2016.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
119
Abb. 1 und 2: Antithesis Christi et Antichristi, in: sog. Jenaer Kodex, fol. 12v f. Die „Tabulae veteris et novi coloris“ von Nikolaus von Dresden enthalten u. a. eine antithetische
Gegenüberstellung des Kreuz tragenden Christi und des reitenden Papstes. Die alttschechische Übersetzung im sog. Jenaer Kodex von ca. 1495 bis 1500 wurde reich illuminiert
[KNM Praha, Sign. IV B 24].
Nicht alle Fragen wurden gelöst, besonders bleiben die Abweichungen in der
Reihenfolge der Kapitel zwischen einzelnen Abschriften sowohl der lateinischen
als auch der tschechischen „Tabulae“ enigmatisch. Was die öffentliche Kommunikation betrifft, verfügt man trotzdem über eine Reihe neuer Erkenntnisse: So
wurde bereits der lateinische Text von Anfang an mit Bildern versehen; die erhaltenen Illustrationen der „Tabulae“ sind für Straßentransparente wenig geeignet
und ihre Thematik stimmt mit dem schriftlichen Zeugnis über Demonstrationen
nicht ganz überein; nichtsdestoweniger konnte der Traktat Inspiration für tragbare Agitationsbilder geliefert haben.61 Die Hypothese von Milena Bartlová,
dass solche Transparente in der Bethlehemskapelle aufbewahrt wurden, bleibt
61 Vgl. P. Mutlová, Mikuláš z Drážďan a jeho Tabule veteris et novi coloris [Nikolaus von
Dresden und seine Tabule veteris et novi coloris], in: P. Čornej / M. Dragoun /
M. Homolková / Dies. / M. Pytlíková / M. Studničková / K. Voleková, Tabule
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120
Pavel Soukup
weiterhin zulässig; die Annahme über propagandistische Wandmalereien daselbst
oder in der „Schwarzen Rose“ (František Šmahel) erscheint hingegen weniger
plausibel. (Abb. 3 und 4)
Den schriftlichen Quellen zufolge erlebten satirische Bilder und Karikaturen nach der Mitte des 15. Jahrhunderts eine erneute Konjunktur, besonders im
Kampf der Utraquisten gegen die Mission des Johannes Capistranus. Zusammen
mit den typisch hussitischen ikonografischen Motiven stellen sie die Innovation
im Bereich der visuellen Kommunikation dar. Auf der theoretischen Ebene veränderte sich im Hussitismus die Rolle des religiösen Bildes: Es sollte nicht mehr
der Verehrung und Kommunikation mit Gott dienen, sondern vornehmlich
der Kommunikation in dieser Welt.62 Wegen der Absenz des Buchdrucks in der
hussitischen Kommunikationspraxis – weitgehend auch noch nach seiner Erfindung – blieben aber Bilder ein wichtiges Medium. Da die Hussiten auf Bilder nicht
verzichten und diese durch den typografisch fixierten Bibeltext nicht ersetzen
konnten, entwickelten sie nach Milena Bartlová keine der lutherischen Lehre
ähnlichen Prinzipien, sondern blieben in ihrer Gnadentheologie auf die (gereinigte) Kirchengemeinschaft fixiert. Ihr Ansatz müsse so als eine „mittelalterliche
Reformation“ gelten, d. h. eine „Reformation vor dem Buchdruck“.63
***
Das bringt uns zur Einordnung des Hussitentums in den konzeptuellen Rahmen
und die Begrifflichkeit des Reform- und Reformationszeitalters zurück. In der
Auffassung von Milena Bartlová fehlen der hussitischen Reformation neuzeitliche Elemente: im Bereich der Theologie die Betonung des individuellen Gewissens und im Bereich der Kommunikation der Buchdruck. M. E. scheint dagegen
das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit in Glaubenssachen fest in den
Fundamenten der hussitischen Ekklesiologie eingebettet zu sein und war somit
eines der wichtigsten Merkmale der hussitischen Reformation.64 Wenn hier von
der Reformation ohne Buchdruck die Rede ist, stellt dies ein Urteil über die Leistung der Hussiten in der Öffentlichkeitsarbeit dar: Auch ohne gedruckte Bücher
und Flugschriften vermochten sie ihre Botschaft so weit zu verbreiten und so tief
(wie Anm. 60), S. 33–46; M. Studničková, Obrazová složka staročeského zpracování Ta
bulí [Die bildliche Komponente der alttschechischen Bearbeitung der Tafeln], ebd., S. 59–84.
62 Ich gebe in diesem Absatz weitgehend die Schlussfolgerungen von Milena Bartlová wieder.
Vgl. M. Bartlová, Pravda zvítězila (wie Anm. 57), S. 276 f.
63 Dies., Komunikační úloha (wie Anm. 59), S. 273 f.
64 Vgl. dazu auch P. Soukup, Jan Hus (wie Anm. 34), S. 164.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
121
Abb. 3 und 4: O. Brunfels, Processus consistorialis martyrii Johannis Huss […], Straßburg:
Johann Schott 1525 (VD16 P 4945), fol. D3r f. Legende: Die schriftlichen Zeugnisse über
die Unruhen in Prag um 1412 sprechen von einer bildlichen Antithese, die dem reitenden
Papst den bescheidenen Christus auf einem Esel gegenüberstellte. Dieses Thema, obwohl in
mehreren Predigten von Jan Hus benutzt, findet sich nicht in den „Tabulae“; es wurde aber
in Holzschnitten eines Druckes von 1525 dargestellt [KNM Praha, Sign. 60 C 10].
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122
Pavel Soukup
zu pflanzen, dass sie ihre Existenz als religiöse Gruppe langfristig sicherten.65 Die
von den Hussiten angewandten Kommunikationsmittel erwiesen sich in ihrer
Gesamtheit und Kombination als hoch effizient. Zu allen einzelnen Bereichen der
hussitischen Kommunikation ließen sich sicher in der mittelalterlichen Geschichte
Parallelen finden – und darin besteht auch eine der wichtigsten Aufgaben künftiger Forschung. Der konzentrierte Einsatz dieser Kommunikationsmittel durch
eine von außen ständig bedrohte religiöse Gruppe hatte jedoch Folgen, die über
die Grenzen der mittelalterlichen Kirchlichkeit hinauswiesen.
Die Aufzählung der wichtigsten Bestandteile des frühneuzeitlichen ‚reformatorischen Medienbundes‘ (Flugschrift/Flugblatt, Bild, Predigt, Lied, Gespräch)
zeigt,66 dass den Hussiten eben nur das Druckmedium fehlte. Nach Johannes
Burkhardt profitierte die Reformation des 16. Jahrhunderts vom Druck auf
mehrfacher Weise. Eine druckgestützte Berichterstattung, die sogar zur ‚Pressepolitik‘ werden konnte, blieb den Hussiten unzugänglich. Die faktische sowie
symbolische Rolle der Schriftlichkeit in religiösen Kontroversen ist dagegen
schon im Spätmittelalter vorstellbar und nachweisbar, obwohl damals als ‚Handlungsträger‘ natürlich handgeschriebene Bücher auftraten.67 Ob im Hussitismus
Schriften selbst als Reformationsereignisse angesehen werden können, ist eine
Frage; der Anschlag der Appellation an Christus durch Jan Hus 1412 deutet auf
eine positive Antwort hin. Das Schriftprinzip, das die Textvervielfältigung am
Laufen gehalten haben sollte, finden wir letztlich mit gewissen Modifizierungen
auch bei den Hussiten; seine mediengeschichtliche Auswirkung bedarf aber mehr
Aufmerksamkeit, als ihr bisher gewidmet wurde.68
Das unmittelbare Verhältnis zu Gott, dessen sich jeder über einen Text vergewissern kann, ist nach Johannes Burkhardt nur im typografischen Zeitalter möglich.69 Im Hussitismus blieb die vermittelnde Rolle des Priesterstandes
erhalten, und in diesem Sinne ist den Ausführungen Milena Bartlovás von
65 Zur Frage, inwieweit die hussitische Reformation erfolgreich war, vgl. neuerdings die Beiträge
von P. N. Haberkern, Was the Bohemian Reformation a Failure?, in: BRRP 11 (2018), S. 217–
237; und M. Nodl, Husitská reformace mezi zrozením nové zbožnosti, (ne)reformovatelností
staré víry a „dechristianizací“ [Die hussitische Reformation zwischen der Geburt der neuen
Frömmigkeit, der (Un)reformierbarkeit des alten Glaubens und der „Dechristianisierung“],
in: Ders. / F. Šmahel (Hgg.), Pohané a křesťané (wie Anm. 44), S. 191–216.
66 Vgl. J. Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002, S. 56–60.
67 Für das Spätmittelalter vgl. M. Van Dussen / P. Soukup (Hgg.), Religious Controversy
(wie Anm. 35).
68 Vgl. J. Burkhardt, Reformationsjahrhundert (wie Anm. 66), S. 35–48.
69 Vgl. ebd., S. 47 ff.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
123
‚der mittelalterlichen Reformation‘ der Hussiten zuzustimmen. Die Aufgabe des
Priesters war es, den Gläubigen heilbringendes Gotteswort und Sakramente zu
vermitteln. Das Schriftprinzip der Hussiten wirkte sich jedoch anders aus: Der
utraquistische Gläubige behalf sich zwar nicht ohne Priester (der sogar vom katholischen Bischof geweiht sein sollte!), doch wurde ihm die korrekte Bibelauslegung
durch keine kirchliche Institution (ja nicht einmal einen einzelnen Geistlichen)
garantiert. Theoretisch sollte ein besseres Bibelverständnis, ungeachtet wer es
vermittelt, Oberhand gewinnen. Wie in der lutherischen Reformation steht der
Text über der Amtsautorität. Die praktischen Probleme der Textverbreitung löste
das Hussitentum vorrangig durch eine zweistufige Kommunikation, die noch im
16. Jahrhundert unverzichtbar war: Die Kerninhalte wurden zunächst im engeren
Kreis der Meinungsführer verbreitet, die sie dann mündlich an die illiterati weitergaben. Wenn man von einer ‚reformatorischen Öffentlichkeit‘ sprechen kann,
die sich von der modernen, mit politischen Debatten der Aufklärung ansetzenden Öffentlichkeit unterscheidet, dann kann man wohl auch eine ‚hussitische
Öffentlichkeit‘ voraussetzen.70
M. E. lässt sich festhalten, dass das durch die Absenz des Druckmediums verursachte Defizit des Hussitentums quantitativ, nicht aber qualitativ war. Es wurde
durch die autonome Schriftauslegung und den intensiven Einsatz aller anderen
Kommunikationsarten ausgeglichen. Aus dieser multimedialen Kampagne in
den Anfängen der Bewegung resultierte der beträchtliche Einfluss der Hussiten
in Böhmen. Die Agitation in dieser Zeit wandte sich nach außen, außerhalb des
Reformzirkels, zugleich blieb sie aber auf Böhmen und Mähren begrenzt. Die ins
Ausland gerichtete Propaganda seit den 1420er Jahren kann als ein Übergang von
der ersten zur zweiten Phase der hussitischen Agitation verstanden werden: Sie
wurde persuasiv gedacht und formuliert, konnte aber kaum jemanden außerhalb
Böhmens überzeugen und führte eher zur Erstarrung beider Parteien in ihren
theologischen Kämpfen. Nach den Kompaktaten wandten sich die Utraquisten
polemisch gegen den Katholizismus sowohl in als auch außerhalb von Böhmen.
Obwohl die für die Frühphase typischen Medien eine Renaissance erlebten (Manifeste, Bilder, Satiren), kann man mit Recht vermuten, dass diese Kommunikation
eigentlich nicht auf Konversion der Gegner und Anwerbung neuer Anhänger
zielte, sondern eher pro foro interno gemeint war und zur Identitätsbekräftigung
und Konsolidierung der eigenen Konfession diente.
70 Vgl. ebd., S. 56–59; für den Hussitismus vgl. ansatzweise P. Rychterová, Die Verbrennung
von Johannes Hus als europäisches Ereignis. Öffentlichkeit und Öffentlichkeiten am Vorabend
der hussitischen Revolution, in: M. Kintzinger / B. Schneidmüller (Hgg.), Politische
Öffentlichkeit im Spätmittelalter (VuF 75), Ostfildern 2011, S. 361–383.
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124
Pavel Soukup
Außerhalb des Landes vermochten sich die Hussiten dauerhaft nicht durchzusetzen. Lag dies an der Sprachbarriere und an einer misslungenen Kommunikation nach außen? M. E. nicht. Die Sprache konnte höchstens bei direkter
Wirkung auf die illiterati ein Problem darstellen; die vereinzelten Berichte über
hussitische Emissäre im heutigen Deutschland und Österreich deuten aber an,
dass nicht einmal dies der Fall war. Bei schriftlicher Kommunikation war die
Sprache kein Problem, da diese überwiegend auf Lateinisch verlief, wobei die
Inhalte gegebenenfalls den Laien in der jeweiligen Volkssprache vermittelt wurden. Auf diese Weise verbreiteten sich Kenntnisse über die Hussiten bereits vor
der Erfindung des Buchdrucks. Obwohl sie im Ausland fast niemanden überzeugen konnten, war man dort über ihre Lehren hinreichend informiert. Als
der Buchdruck eingeführt wurde, ignorierten ihn die Hussiten weitgehend: Zu
Hause war keine Agitation mehr nötig, im Ausland konnten sie kaum etwas
erreichen. Die Ablehnung ihres Reformprojektes außerhalb der tschechischsprachigen Länder war also keine Folge der Sprach- oder Kommunikationsbarriere.
Vielmehr war sie durch Vorurteile verursacht, die teilweise den Charakter einer
nationalen Abgrenzung hatten, noch mehr aber beruhten sie auf allgemeinen
antihäretischen Klischees. Auf internationaler Ebene begann sich der Hussitismus um Verbreitung zu bemühen, als er schon durch das Konstanzer Konzil
verurteilt worden war. Dazu bekannten sich die Hussiten von Anfang an zu
einem anderen verurteilten Ketzer, nämlich John Wyclif (ca. 1320–1384), so
dass sie lange als Wycliffisten etikettiert wurden.71
Zusammenfassend kann man feststellen, dass es die gut beherrschte politische
Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit war, die den hussitischen Geistlichen
und Intellektuellen dazu verhalfen, die utraquistische Landeskirche in Böhmen
aufzubauen – eine Leistung, die den Hussiten auch das Etikett ‚Reformation‘
sichern könnte. Ob man dieser Begrifflichkeit zustimmt oder nicht, ist letzten
Endes nebensächlich. Das Wichtige ist, ob die terminologische Diskussion neue
Erkenntnisse über das Hussitentum bringen bzw. weiterführende Forschung stimulieren kann. In diesem Sinne bedarf es weiterer Arbeiten zu Fragen wie etwa
nach dem Verhältnis der Konfessionen in Böhmen zueinander, der Einstellung
einzelner ekklesialer Gruppen zu den Obrigkeiten, der Kirchenlehre des späteren Utraquismus oder den Diskrepanzen zwischen den Idealen der hussitischen
Reformation und den praktischen Lösungen. Nicht zuletzt wäre ein umfassender
Blick auf die Gesamtwirkung von verschiedenen in der Hussitenzeit eingesetzten
71 Vgl. P. Soukup, The Waning of the ‚Wycliffites‘: Giving Names to Hussite Heresy, in: J. P.
Hornbeck II / M. Van Dussen (Hgg.), Europe after Wyclif (FSMS), New York 2017,
S. 196–226.
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Der Hussitismus – eine Reformation ohne Buchdruck
125
Medien und Kommunikationsformen wünschenswert, der die Grenzen einzelner Disziplinen überschreiten und unterschiedlich (sprachlich, medial usw.)
codierte Quellen integrieren würde. Nur ein so entstandenes Bild der öffentlichen Kommunikation im Hussitismus kann als Vergleich mit der Wittenberger
Reformation und anderen Reformationen dienen. Und nur so wiederum ließe
sich der Hussitismus als ein frühes Kapitel in die Kommunikationsgeschichte der
Reformationszeit einbinden.
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Petr Voit
Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)*1
Eingangs ist es notwendig, das komplizierte Sprachproblem in der Druckproduktion der böhmischen und mährischen Offizinen zu umreißen, vor allem was
die Stellung des Deutschen anbelangt. Das Tschechische hatte in solchen Publikationen bis in die 1540er Jahre eine Monopolstellung inne, zumal aufgrund des
hussitischen Erbes vom 15. Jahrhundert die Sorge um die religiöse Erziehung des
sprachlich nicht kundigen Lesers überwog, womit dann auch der rezeptive, d. h.
‚translatorische‘ Charakter der einheimischen Literatur zusammenhing. Wohl
noch intensiver wurde diese Sprachsituation durch den Buchimport der biblischen, homiletischen sowie ‚rechtswissenschaftlichen‘ ( Jura, Jurisprudenz usw.)
Literatur aus den deutschsprachigen Ländern und weniger aus Italien beeinflusst.
Dieser Import der lateinischen Drucke, dessen Anfänge man in die 1480er Jahre
datieren kann, überflutete die Bibliotheken der gebildeteren Bürger, Aristokraten und Intellektuellen permanent. Die böhmischen Buchdrucker waren nicht
konkurrenzfähig und deshalb mussten sie sich gegenüber diesem Import derart
profilieren, dass sie nur tschechischsprachige Texte herstellten. Ein weiterer nicht
minder wichtiger Grund für eine solche sprachliche Differenzierung der in den
böhmischen Ländern produzierten gedruckten Literatur lag in der reservierten
und bisweilen auch distanzierten ‚gesamtnationalen‘ Haltung allem Ausländischen
gegenüber – im Fall des Deutschen noch verstärkt durch die Aversion gegen den
politisch, wirtschaftlich sowie kulturell stärkeren Nachbarn.
*
Dieser Text, der im Rahmen des an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität duchgeführten Dachprojektes SVV – Specifický vysokoškolský výzkum [Spezifische universitäre
Forschung] 2018-260483 – publiziert wird, stellt eine deutsche Fassung des Aufsatzes dar: P.
Voit, Utrakvisté a knihtisk [Utraquisten und Buchdruck], in: J. Hrdina / K. Boldan (Hgg.),
Knihtisk, zbožnost, konfese v zemích Koruny české doby poděbradské a jagellonské [Buchdruck, Frömmigkeit, Konfession in den Ländern der Böhmischen Krone des Poděbrad’schen
und Jagiellonischen Zeitalters] (CMP 19), Praha 2018, S. 11–27. Der Text ist im Unterschied
zu seiner älteren Fassung vom Jahr 2018 nur im Fußnotenapparat modifiziert. Einige Passagen
sind übernommen aus P. Voit, Český knihtisk mezi pozdní gotikou a renesancí II. Tiskaři
pro víru i tiskaři pro obrození národa 1498–1547 [Der böhmische Buchdruck zwischen der
Spätgotik und der Renaissance II. Die Drucker für den Glauben sowie die Drucker für die
Wiedergeburt des Volkes 1498–1547], Praha 2017, S. 143–211; vgl. dazu auch K. Boldan /
B. Neškudla / Ders., The Reception of Antiquity in Bohemian Book Culture from the
Beginning of Printing until 1547 (EH 12; BOH 1), Turnhout 2014.
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128
Petr Voit
Während man also unter den in der ‚Inkunabelzeit‘ in Böhmen hergestellten
Wiegendrucken keinen deutschsprachigen Text kennt, erschien zumindest 1495
ein einziger in Mähren in Brünn/Brno.1 Es gab lediglich zwei Buchdruckereien
in den böhmischen Ländern, welche ausschließlich auf Deutsch publizierten.
Über erstere im westböhmischen Eger/Cheb weiß man jedoch nichts und die
andere, die nur von 1526 bis 1527 für den Täuferführer Balthasar Hubmaier (ca.
1485–1528) im südmährischen Nikolsburg/Mikulov arbeitete, diente allein den
Bedürfnissen innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft. Den Bedarf an deutschsprachigen Texten – z. B. in den Herrschaften der Grafen von Schlik ( Joachimsthal/
Jáchymov) – befriedigten die deutschen Offizinen. Im Allgemeinen tauchte das
Deutsche in den böhmischen Buchdruckereien zuerst allein als eine der drei Sprachen der praktischen Wörterbücher bzw. der Konversationshandbücher für die
Kaufleute auf, wie es von 1509 bis 1510 die Lage im katholischen Pilsen/Plzeň in
Westböhmen am prägnantesten belegt. Den ältesten deutschen Druck, der 1538
im mährischen Olmütz/Olomouc herausgegeben wurde, stellt ein biblisches
Apokryph mit der Jahreszahl ‚1538‘ dar. In Prag wurden ‚gesamtdeutsche‘ Publikationen erst seit 1541 gedruckt, allerdings vorerst nur selten. Es ging meistens
um amtliche Drucke und ‚Zeitungen‘. Der Umfang der deutschsprachigen Publikation nahm erst unter Rudolf II. (1576–1611/12), der 1583 mit seinem Hof
nach Prag übersiedelte, quantitativ zu. Ein solch sprunghafter Anstieg betraf auch
lateinische Drucke, allein mit dem Unterschied, dass dieser bereits in den 1550er
Jahren mit der humanistischen Poesie und ‚wissenschaftlichen‘ Prosa begonnen
hatte.2 (Vgl. Grafik 1 und 2)
In heutiger Zeit, sofern wir über ausreichende Forschungskapazitäten zur
Buchkultur verfügen, können wir in Anknüpfung an ältere Forschungsergebnisse
wenigstens den Buchdruck tiefergehend analysieren. Dies bedeutet jedoch nicht,
dass die im 20. Jahrhundert angewandte Methodologie auch weiterhin relevant
sein muss und dass jedes beliebige Thema aus der Geschichte des Buchdrucks nur
1
2
Vgl. ISTC ic00740200; sowie GW 10115.
Es stehen bisher keine statistischen Daten zur Verfügung, welche das gesamte Territorium der
böhmischen Länder im Laufe des 16. Jahrhunderts betreffen. Doch wie neuerdings die Studie
von V. Šícha, Jazyková skladba pražské tiskařské produkce 16. století – přehledová studie
[Die sprachliche Zusammensetzung der Prager Druckproduktion des 16. Jahrhunderts. Eine
Übersichtsstudie], in: Knihy a dějiny [Bücher und Geschichte] 25 (2018), S. 47–67, belegt,
wurden in Prag zwischen 1501 und 1600 2.764 bibliografische Einheiten herausgegeben, von
welchen sich 51 Prozent auf das Lateinische, 45 Prozent auf das Tschechische, acht Prozent auf
das Deutsche, zwei Prozent auf das Griechische und 0,3 Prozent auf das Hebräische belaufen
(andere Sprachen wie das Polnische, Italienische oder Ungarische tauchen erst am Ende des
16. Jahrhunderts auf und beschränken sich nur auf vernachlässigbare Einzelheiten).
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
129
Jährliche Anzahl der bibliografischen Einheiten und ihr prozentualer Anteil an
der Gesamtproduktion zwischen 1501 und 1550
20
18
16
14
12
10
8
6
4
2
0
Grafik 1: Chronologische Entwicklung der heute überlieferten böhmischen und mährischen Druckproduktion (1501–1550) – 628 bibliografische Einheiten insgesamt – davon
234 zwischen 1501 und 1526.
Jährliche Anzahl der bibliografischen Einheiten und ihr prozentualer Anteil an
der Gesamtproduktion zwischen 1501 und 1550
60
50
40
30
20
10
0
Grafik 2: Chronologische Entwicklung der heute überlieferten böhmischen und mährischen Druckproduktion (1501–1550) – 628 bibliografische Einheiten insgesamt – davon
394 zwischen 1527 und 1550.
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130
Petr Voit
synchron ohne Kontextualisierung erfasst werden sollte. Wenn ich mich wiederholt
für eine Revision der älteren Interpretationen einsetze, ist es schlüssig, sich zuerst
den Anfängen des Buchdrucks zuzuwenden. Die folgende Skizze wird zeigen –
ohne die Darlegung in bibliografischer oder historiografischer Hinsicht unnötig
auszudehnen –, wie die utraquistische Mehrheitsgesellschaft an der Wende vom
15. zum 16. Jahrhundert in der literarische Szene wirksam wurde, wie sie ihre
Beziehung zu diesem neuen Publikationsmedium entwickelte und unter welchen
Umständen die frühneuzeitliche Lesergemeinde in Böhmen geformt wurde, die
dem neuen Handwerk wahrlich große existenzielle Hindernisse in den Weg legte.3
Utraquistischer Buchdruck vornehmlich in Prag
Nach Bořek Neškudla gibt es allein in der Nationalbibliothek sowie in der
Bibliothek des Nationalmuseums in Prag etwa 600 zwischen 1450 und 1550 entstandene handschriftliche Codices.4 Die meisten von ihnen sind Sammelwerke,
sodass es sich zusammengenommen um etwa 2.500 bibliografische Einheiten
handelt, von denen der größte Teil auf Latein verfasst ist. Am häufigsten sind dies
mittelalterliche Werke, die sich hauptsächlich mit subtilen theologischen Fragen,
dem Predigtwesen oder der religiösen und sittlichen Bildung auseinandersetzen.
Zahlenmäßig bedeutend ist auch eine Handschriftengruppe zur Rechtspraxis und
zur Gesundheitsaufklärung. Belletristische Schriften oder Texte der Unterhaltungsliteratur, die darauf hinweisen würden, was marxistische Literaturhistoriker
als ‚volkstümlich‘ bezeichnet hatten, sind dagegen kaum vorhanden. Ebenso sind
Abschriften der antiken Literatur oder von Werken ausländischer Humanisten nur
in verblüffend geringer Zahl zu finden. Von böhmischen Autoren stammen lediglich einige eucharistische Traktate, sog. ‚medizinische Kerne‘ (tschech. „lékařská
jádra“), sowie natürlich Einzelstudien, die laut der älteren Literaturhistoriker
eine wichtige Stelle im ‚Demokratisierungsprozess‘ eingenommen haben sollen.
3
4
Vgl. P. Voit, Nesnadná cesta knihovědy k dějinám knižní kultury [Der schwierige Weg der
Buchwissenschaft zur Geschichte der Buchkultur], in: ČL 60 (2012), S. 586–602; Ders.,
Úvahy nad pohybem a periodizací českého předbělohorského knihtisku [Überlegungen zur
Entwicklung und Periodisierung des böhmischen Buchdrucks vor der Schlacht am Weißen
Berg], in: Knihy a dějiny [Bücher und Geschichte] 18/19 (2013), S. 55–67.
Vgl. B. Neškudla, Knihovny a čtenářská recepce v období raného humanismu v Čechách
[Die Bibliotheken und die Leserrezeption während des frühen Humanismus in Böhmen],
phil. Diss. am Institut für Tschechische Geschichte der Philosophischen Fakultät der Karls
universität Prag 2014, https://is.cuni.cz/webapps/zzp/download/140035991 (letzter Zugriff
am 8.2.2020).
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
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Auch wenn nur ein Ausschnitt der einstigen literarischen Aktivitäten sowie
der Lektüre in Prediger-, Gelehrten- und Beamtenkreisen überliefert sein dürfte,
war die skriptografische Produktion der heimischen Kleriker und Beamtenschaft
trotz des Buchimports und der inländischen Herstellung überraschend hoch.
Erst ab dem beginnenden 16. Jahrhundert ist dann ein deutlicher Rückgang zu
verzeichnen. Die Probesondierungen in den Untersuchungen Bořek Neškudlas bestärken die Vermutung, dass der Übergang vom handgeschriebenen zum
gedruckten Buch entgegen der bislang vorherrschenden Meinung in Böhmen
nicht sehr schnell und keineswegs automatisch und geradlinig verlief. Der handgeschriebene Text blieb aus Zeit- und Kostengründen sowie angesichts der Tradition
und privater Bedürfnisse noch relativ lange ein ernstzunehmender Konkurrent
für den Buchdruck. Zum Beweis muss nur auf die reiche literarische Tätigkeit
jener etwa 40 Utraquisten an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert verwiesen werden, die meistens im Priesterdienst oder an der Prager Universität wirkten.5 Die lateinischen eucharistischen Traktate oder die Kommentare etwa eines
Aristoteles (384–322) oder eines Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) konnten
sich außerhalb eines engen Gebildetenkreises bei der laikalen Leserschaft kaum
durchsetzen. Wohl auch deshalb gelangte – nach heutigem Kenntnisstand – im
Jahr 1493 lediglich ein einziges tschechischsprachiges, eher kleineres Werk Václav
(Wenzel) Korandas d. J. (ca. 1425–1519) in die Druckerpresse.6
Exemplarisch für diese zeitgenössische Herangehensweise stehen etwa die
handschriftlichen Sammelbände der Übersetzungen von Řehoř (Gregor) Hrubý
von Jelení (ca. 1460–1514), dem Vater des Baseler Gelehrten Zikmund Hrubý
von Jelení (Sigismund Gelenius; 1497–1554), die sich eher nicht an ein breites
Lesepublikum richteten. So wie einige Jahrzehnte vor ihm Tomáš Štítný ze Štítného (Thomas von Štítné; ca. 1331–1401/09) speziell für den Landadel und die
Geistlichkeit geschrieben hatte, damit diese seine theologischen und philosophischen Anschauungen den niederen gesellschaftlichen Schichten übermittelten,
widmete Hrubý seine Übersetzungen von 1509 bis 1513 explizit einzelnen Mitgliedern aus der Staatsverwaltung, damit diese nach dem Vorbild der heidnischen
und humanistischen Autoritäten aufklärerisch in die Gesellschaft hinein wirken
5
6
Vgl. P. Spunar, Literární činnost utrakvistů doby poděbradské a jagellonské [Die literarische
Tätigkeit der Utraquisten im Poděbrad’schen und Jagiellonischen Zeitalter], in: A. Molnár
(Hg.), Příspěvky k dějinám utrakvismu [Beiträge zur Geschichte des Utraquismus] (ARBI 1),
Praha 1978, S. 165–269.
Dazu neuerdings J. Marek, Václav Koranda mladší. Utrakvistický administrátor a literát
[Václav Koranda der Jüngere. Der utraquistische Administrator und Literat] (Edice Středověk
[Edition Mittelalter] 3), Praha 2017, S. 142 f., 220, Nr. 41.
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132
Petr Voit
würden. Diese Intention spiegelt noch die mittelalterlichen Vorstellungen wider
und bezeugt zugleich das Misstrauen gegenüber dem Bildungsniveau des bürgerlichen Lesers sowie der technischen Möglichkeiten des Buchdrucks, dessen noch
begrenzter Schriftsatzfundus außerstande war, den Unterschied zwischen dem
Haupttext und den Marginalien auch optisch hervorzuheben.
Auch wenn Funde aus der jüngsten Zeit nahelegen, dass der quantitative wie
qualitative Ausstoß der Drucker weitaus umfassender war als die heute überlieferten Exemplare prima vista glauben machen,7 muss man dennoch gegenüber einer
massiven Transmission der Privathandschriften in den öffentlichen Raum vermittels des Buchdrucks eine zurückhaltende Haltung einnehmen. Als Beispiel dafür
kann die allgemein bekannte Erkenntnis von Emil Pražák herangezogen werden,
dass die „Boloňské hádání“ (‚Bolognesische Disputation‘) von Václav (Wenzel)
Písecký (1482–1511) vor 1513 in der tschechischen Übersetzung Řehoř Hrubýs
im Druck erschien.8 Pražák bezog sich auf eine Stelle in der handschriflichen
Vorrede Hrubýs, welche lautet: toto Hádánie sepsáno jest od toho našeho mistra
7
8
Vgl. P. Voit, Nálezová zpráva o fragmentech tří pozdně antických próz tištěných česky počátkem 16. století (Gesta Romanorum, Asenech, Kronika o Apolloniovi) [Fundbericht über drei
prosaische Fragmente aus der Spätantike (Gesta Romanorum, Asenech, Buch über Apollonios)],
in: ČL 60 (2012), S. 55–75; Ders., Otazníky nad dosud neznámým prvotiskem českého překladu Petrarkovy encyklopedie 1494 [Fragezeichen zu einem bisher unbekannten Wiegendruck
der tschechischen Übersetzung von Petrarcas Enzyklopädie 1494], in: E. G. Šidlovský /
V. Valeš / J. Polesný (Hgg.), Melior est aquisitio scientiae negatione argenti. Pocta Prof.
Ignácovi Antonínovi Hrdinovi, O. Praem., k šedesátým narozeninám [FS für Prof. Ignác Antonín Hrdina, O. Praem., zum 60. Geburtstag], Praha 2013, S. 347–352.
Vgl. E. Pražák, Řehoř Hrubý z Jelení. Studie s ukázkami z díla [Řehoř Hrubý von Jelení.
Eine Studie mit Proben aus seinem Werk] (Odkazy pokrokových osobností naší minulosti
[Das Vermächtnis der fortschrittlichen Persönlichkeiten unserer Vergangenheit]), Praha
1964, S. 59, dies übernimmt J. Kolár, Dva světy humanistického dialogu [Zwei Welten des
humanistischen Dialogs], in: Slavia 65 (1996), S. 347–351, besonders S. 350. Ebenso lässt
sich die Behauptung über den Druck des „Lobes der Torheit“ des Erasmus von Rotterdam
(ca. 1466–1536) in der Übersetzung Hrubýs (gedruckt angeblich bei Mikuláš Konáč im Jahr
1512) nicht nachweisen, die J. V. Šimák publizierte: Kronika pražská Bartoše Písaře [Die Prager Chronik des Schreibers Bartoš], ed. J. V. Šimák (FRB 6), Praha 1907, S. IX, woher dies E.
Pražák, Řehoř Hrubý (wie oben in dieser Anm.), S. 45, übernommen hat und nach ihm noch
Z. Tichá, Cesta starší české literatury [Der Weg der älteren tschechischen Literatur] (Edice
Pyramida – encyklopedie [Edition Pyramide – Enzyklopädie]), Praha 1983, S. 173, während
M. Kopecký, Literární dílo Mikuláše Konáče z Hodiškova. Příspěvky k poznání české literatury v období renesance [Das literarische Werk Mikuláš Konáčs von Hodiškov. Beiträge
zur Erforschung der tschechischen Literatur im Zeitalter der Renaissance] (Spisy Univerzity
J. E. Purkyně v Brně. Filosofická fakulta [Schriften der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität
Brünn. Philosophische Fakultät] 74), Praha 1962, sowie M. Bohatcová, Zpráva o českých
překladech z Erasma vytištěných v 16. a 17. století [Bericht über die im 16. und 17. Jahrhundert
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
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nejviece pro učené Římany, kteříž – když je bohdá budú čísti tištěné – budúť mieti
nač mysliti [‚diese Disputation wurde von jenem unserer Magister vor allem für
die gelehrten Römer (d. h. die Anhänger der römischen Kirche in Böhmen – Anm.
P. V.) verfasst, welche – wenn sie es, will’s Gott, gedruckt lesen – darüber werden
nachdenken können‘].9
Dieser Einschub mit dem Adverb bohdá (‚will’s Gott‘) ist zweideutig und deshalb weiß man nicht, ob diese „Hádání“ (‚Disputation‘) später gedruckt worden
sein könnte oder ob es vielleicht als Druckwerk gelesen wurde. M. E. ist dies eher
skeptisch zu betrachten, denn die Herausgabe dieses Werkes wird weder von
Antonín Koniáš (1691–1760) noch von Václav Hanka (1791–1861) oder Josef
Jungmann (1773–1847) registriert. Unsere Zweifel bekräftigt übrigens auch die
Bilanz der anderen Drucke Řehoř Hrubýs: Von mehr als 20 in zwei handschriftlichen Sammelbänden überlieferten Übersetzungen weiß man heute nur von zwei
Stücken, die bei Jan ( Johann) Moravus († nach 1541) sowie Jan Šmerhovský (um
1519) im Druck publiziert wurden.10
Die handschriftlichen Texte entwickelten sich also in Böhmen wahrscheinlich bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts im Vergleich zum Buchdruck nicht
nur anders als es weiter westlich davon üblich war, sondern sie überwogen sogar
den Buchdruck, der außerdem mit kleinen Auflagen auskommen musste. Die
üblichen Gebrauchshandschriften sowie die aufwändig illuminierten Codices
verdanken ihre Entstehung allein der privaten Initiative und sie beeinflussten –
wenn überhaupt – die breitere Gesellschaft nur mittelbar. Die Bildung sowie das
religiöse Leben des aufkommenden Bürgertums hing deshalb nicht wenig von
gedruckten tschechischen Übersetzungen des Erasmus’], in: SCetH 18, Nr. 35 (1988), S. 8–15,
zu dieser äußerst dubiösen Information gar keine Stellung beziehen.
9 NK Praha, Sign. XVII D 38 (sog. Velký sborník [Großer Sammelband]), fol. 92r.
10 Vgl. KPS K01410 (Gianantonio Campano in der Übersetzung Řehoř Hrubýs, gedruckt vor 1513
bei Jan Šmerhovský) und KPS K03395 (Pseudo-Isokrates in der Übersetzung Václav Píseckýs,
die von Hrubý in den Größeren sowie den Kleineren Sammelband übernommen wurde, gedruckt 1512 bei Jan Moravus). E. Pražák, Řehoř Hrubý (wie Anm. 8), S. 59, hält irrtümlich
den Geschäftsgenossen Konáčs Johann Wolff (um 1507) für den Drucker. Vgl. dazu auch E.
Urbánková, Neznámé dílo neznámého tiskaře [Ein unbekanntes Werk eines unbekannten
Druckers], in: Miscellanea oddělení rukopisů a vzácných tisků Státní knihovny ČSR [Miscellanea der Abt. der Handschriften und der seltenen Drucke der Staatsbibliothek der ČSR] 1,
Nr. 1 (1971), S. 1–46, besonders S. 17 f., 43 ff.; J. Martínek, O tiskaři Píseckého překladu
řeči k Démonikovi [Über den Drucker der Písecký-Übersetzung der Rede an Demonikos], in:
LF 96 (1973), S. 47; und K. Boldan, Život a dílo tiskaře Jana Morava [Das Leben und Werk
des Druckers Johann Moravus], in: ČNM ŘH 174 (2005), S. 137–149, wo überall die Ansicht
der älteren Forschung widerlegt wurde, dass Johann Wolff, Jan Moravus bzw. Jan Šmerhovský
die gleiche Person darstellen würden.
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134
Petr Voit
dem fremdsprachigen (d. h. vor allem lateinischen, griechischen und deutschen)
Buch aus dem Ausland ab, welches in sachlicher, künstlerischer und handwerklicher Hinsicht wesentlich hochwertiger als die heimischen Druckerzeugnisse war.
Ein Bild über die importierte Literatur vermitteln die Bibliotheken der zeitgenössischen Gelehrten, wobei sich jedoch unser Wissen angesichts des Überlieferungszustandes lediglich auf einzelne Exemplare stützen kann. Die Relevanz
des Imports lässt sich vermittels einer neuen Forschungsrichtung abschätzen. Zu
denken ist dabei an die Anzahl der heimischen Buchbinderwerkstätten der jagiellonischen Ära. Man kann zur Zeit allenfalls vermuten, dass etwa 20 von ihnen für
Klöster gearbeitet haben könnten und weitere – vielleicht bis zu 50 – sich an den
Bedürfnissen der Aristokratie, des Klerus und der städtischen Intelligenz orientierten.11 Parallel zu diesen Werkstätten gab es nur etwa zehn heimische funktionierende Druckereien, die zudem zahlreiche Unterbrechungen hinsichtlich ihrer
Produktion aufwiesen, sodass sie den Buchbindern eigentlich keine Existenzsicherheit gewähren konnten. Zieht man in Erwägung, dass der Arbeitsaufwand
der Buchbinder unter Anwendung des Blinddrucks mit jenem der Setzer und
der Drucker gleichwertig war, kommt man zur einzigen logischen Erklärung der
zahlenmäßigen Überlegenheit der Buchbindereien, die also nicht nur der regen
handschriftlichen Produktion dienten, sondern vor allem auch den Importen in
crudo, d. h. im Rohzustand, aus fremden Druckereien.
Unser heutiger Kenntnisstand ermöglicht den vorläufigen Schluss, dass die
Literatur der Antike und des Humanismus Stück für Stück nach Böhmen vermittels der Privateinkäufe in Deutschland, Polen und Italien vordrang, während auf
dem quasi-öffentlichen Buchmarkt mit Bibeln, mittelalterlichen Postillen, juristischen Texten und Wörterbüchern gehandelt wurde, welche die kommerzielle
Übersättigung in Deutschland minderten.12 Es bleibt zu fragen, ob ein dermaßen
11 Das Einbanddatenbank EBDB: https://www.hist-einband.de (letzter Zugriff am 8.2.2020)
ermöglicht es bisher nicht, ohne größere Anstrengung genauere quantitative Angaben zu gewinnen. Zurzeit kann man mit Sicherheit nur feststellen, dass die Werkstätten der jagiellonischen Ära in Böhmen und Mähren über 2.922 Stück Werkzeug (Blindpressstempel, Rollen
und Platten) verfügten. Unsere Einschätzung zur Anzahl der Werkstätten geht von der Prämisse aus, dass jede Werkstatt im Durchschnitt 30 verschiedene Werkzeuge besaß und dass
die Datenbank in der Hälfte aller eruierten Fälle eigentlich nur ein und dieselbe Werkstatt
erfasst, die mit dem ausgewechselten Werkzeug arbeitete.
12 Vgl. I. Hlaváček, Pronikání cizích prvotisků do českých knihoven v 15. století [Das Vordringen fremder Wiegendrucke in die böhmischen Bibliotheken im 15. Jahrhundert], in: L. Vebr
(Hg.), Knihtisk a Univerzita Karlova. Sborník k 500. výročí knihtisku v českých zemích [Der
Buchdruck und die Karlsuniversität. Sammelband anlässlich des 500. Jahrestages des Buchdrucks in den böhmischen Ländern], Praha 1972, S. 67–95; später noch Ders., Poznámky
k italským tiskům v českých knihovnách na konci středověku a počátkem 16. století [Notizen
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
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dirigierter Buchmarkt – unter Voraussetzung, dass etwa bis zur ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts der dominante Lesertyp immer noch der städtische Beamte
oder Geistliche war – unter den meisten Laien wenigstens zum Teil deren stille
Lektüre und schließlich den Wandel von der intensiven zur extensiven Lektüre
befriedigen konnte. Der erste Typ der Leserezeption bestand in der Lektüre der
biblischen und homiletischen Texte, der Traktate über die moralische Erziehung
und der Gebete, durch welche sich der Leser der zuvor erkannten Wahrheit vergewisserte. Der andere, modernere Typ des Lesers widmete sich der Belletristik,
worin er Unterhaltung und Informationen suchte. Die Belletristik verbreitete
sich jedoch in Böhmen vor allem durch fremdsprachliche und aus dem Ausland
importierte Literatur, die eher die Nachfrage der höheren gesellschaftlichen
Schichten befriedigte. Mittlere und niedere Schichten des Bürgertums – von
der Landbevölkerung ganz zu schweigen – waren das Hören des tschechischen
Textes gewohnt, und deshalb blieben sie noch lange Zeit von dieser Veränderung
in der Textrezeption unberührt.13
Wie schon erwähnt, waren die Buchdrucker einer starken Konkurrenz der
heimischen skriptografischen Tradition sowie durch den Buchimport ausgesetzt,
dessen Sprache Latein oder Deutsch war. Das Buchdruckerhandwerk in Böhmen
behauptete sich also sprachlich auch in Bezug auf die Gattung der herausgegebenen Texte und es ignorierte somit die (wenn auch höchst seltenen) Bemühungen
der heimischen lateinischen Humanisten. Dadurch war die Massenwirksamkeit
des Buchdrucks als gesamtgesellschaftliches Medium wie nirgendwo anders im
Ausland unterbunden. Ohne jede Ironie kann m. E. festgestellt werden, dass
eine derart zurückhaltende Ausprägung des böhmischen Buchdrucks mit den
technischen Möglichkeiten, den eher dilettantischen Fähigkeiten der Handwerker, dem unbeweglichen literarischen Betrieb sowie der (vor allem sprachlich
mangelhaften) Bildung des Bürgertums konform ging. Die marxistischen Forscher sahen im sprachlichen Monopol des Tschechischen ausschließlich einen
Beleg für die laizisierenden Bemühungen des Hussitentums,14 doch weiß man
zu italienischen Drucken in böhmischen Bibliotheken am Ende des Mittelalters und zu Beginn
des 16. Jahrhunderts], in: Miscellanea oddělení rukopisů a starých tisků [Miscellanea der Abt.
der Handschriften und der alten Drucke] 13 (1996), S. 39–52, wo eine allzu optimistische
Ansicht über den Anteil des italienischen Buchimports in Böhmen zu finden ist.
13 Vgl. J. Pokorný, Poznámky k dějinám čtení v pobělohorském období [Notizen zur Geschichte
des Lesens nach der Schlacht am Weißen Berg], in: J. Pánek (Hg.), Česká města v 16.–18.
století [Böhmische Städte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert] (PHÚAVČR, Reihe C: Mis
cellanea 5), S. 227–235.
14 Vgl. M. Kopecký, Literárněhistorický význam našich prvotisků [Die literarhistorische Bedeutung unserer Wiegendrucke], in: J. Kubíček (Hg.), Knihtisk v Brně a na Moravě [Der
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136
Petr Voit
sehr gut, dass der Buchdruck der Utraquisten sowie der Brüderunität gegenüber dem Vermächtnis der älteren Generationen geradezu gleichgültig war. Die
utraquistischen Drucker reflektierten die Vergangenheit erstmals im Jahr 1495
mit der Herausgabe der erweiterten illustrierten Version des Passionals, welche
unter anderem die Beschreibung der Passion des Jan Hus (ca. 1370–1415) und des
Hieronymus von Prag (ca. 1379–1416) beinhaltete. Das durch Viktorin Kornel
von Všehrd (Victorinus Cornelius; 1460–1520) und Mikuláš (Nikolaus) Konáč
von Hodiškov (ca. 1480–1546) vertretene linguozentrische Prinzip besaß zwar
ein pronationales Potenzial, doch angesichts der Tatsache, dass der erste wiederholt in dieser Richtung auftretende und literarisch sehr begabte Utraquist
Pavel (Paul) Bydžovský (1496–1559) erst seit 1537 wirksam war, musste man auf
die Wiederbelebung der älteren Reformtexte zurückgreifen. Doch dies geschah
nur beiläufig und mit einer zeitlichen Verzögerung: Das erste Werk von Jan Hus
wurde erst 1510 im Druck publiziert, das erste Werk von Petr Chelčický (Peter
von Cheltschitz; ca. 1390–1460) erschien erst 1520, die Werke von Jan Příbram
(Johann von Příbram; † 1448) 1542 und von Jakobellus von Mies (Jakoubek ze
Stříbra; ca. 1375–1429) erst 1545. An dem Schlüsselthema der europäischen religiösen Polemik, der zusammenfassend genannten causa Bohemica, nahm der
heimische Buchdruck überhaupt nicht teil und die Erschließung der Texte des
Jan Hus seit 1520 wurde eher zu einer Angelegenheit der deutschen anstatt der
böhmischen Druckereien. Die Utraquisten ließen die nationale Vergangenheit
mehr oder weniger ruhen und sie waren nicht imstande, die Öffentlichkeit mit
dem gedruckten Text, geschweige denn mit dem Buchdekor und Buchillustrationen anzusprechen, auf ihrer Suche nach der eigenen Identität gegenüber der
römischen Kirche. Vielversprechend, aber letzten Endes wirkungslos war der
1539 im Druck erschienene Text des mährischen Magnaten Ctibor Tovačovský
(zu Tobistschau) von Cimburg (ca. 1437/38–1483) „Hádání Pravdy a Lži“ (‚Der
Streit zwischen Wahrheit und Lüge‘), dessen Illustrationszyklus in Bezug auf
eine mögliche öffentlich wirksame Präsentation des Utraquismus in zahnloser
Theatralität endete.15
Und es muss noch eine andere Schwäche des heimischen Buchdrucks erwähnt
werden. Es mangelte an (institutionellem) Patronat für das Handwerk, welches
Buchdruck in Brünn und in Mähren], S. 83–91; näher dazu P. Voit, Koncept humanismu
v marxisticky orientované paleobohemistice (1956–1996) [Das Konzept des Humanismus in der
marxistisch ausgerichteten Paläobohemistik (1956–1996)], in: ČL 66 (2018), Nr. 6, S. 777–812.
15 Vgl. P. Voit, Český knihtisk mezi pozdní gotikou a renesancí I. Severinsko-kosořská dynastie
1488–1557 [Der böhmische Buchdruck zwischen der Spätgotik und der Renaissance I. Die
Severin-Kosoř’sche Dynastie 1488–1557], Praha 2013, S. 263, 326 f.
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
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im Ausland die Bildungs- oder Verwaltungsinstitutionen (Universitäten, Bistümer) gewährten. Das in Pilsen residierende (Prager) Metropolitankapitel verzichtete bereits an der Wende der 1470er zu den 1480er Jahren auf sein Bündnis
mit dem Buchdruck, wobei Konrad Baumgarten (ca. 1470–1514) in Olmütz
die Unterstützung des dortigen Bistums nur bis 1502 genoss. Die Gründe dafür
waren unterschiedlich. Die Pilsner liturgischen Drucke wurden in der heimischen
Bastarda-Schrift gedruckt, welche den formalen Anforderungen an diesen literarischen ‚Typ‘ nicht genügte. Deshalb wurden seit 1488 weitere Aufträge an die
ausländischen Offizinen vergeben, die über die Rotunda oder Antiqua verfügten. Der Olmützer humanistische, durch das Bistum und später noch durch die
städtische St.-Moritz-Schule geförderte Buchdruck scheiterte wohl am geringen
Absatz und 1504 wurde seine Tätigkeit für lange Zeit eingestellt.
Die Tatsache, dass die Prager Universität als das faktische Zentrum des Utraquismus im Lande lange Zeit die notwendigen Veränderungen im herkömmlichen
Zugang zur Bildung verhinderte, nötigte die literarisch tätigen Universitätsmagister,
sich lediglich in die Zusammenstellung und Abschrift lateinischer Apologien des
Kelches zu vertiefen. Abgesehen von einzelnen Persönlichkeiten, die den Druckereien die Aderlasskalender lieferten, kannten diese Intellektuellen höchstens
den Weg auf die Kanzel, jedoch keineswegs in die Offizinen. Deswegen verfügt
man über keine bedeutenden oder langfristigen Beweise für die Teilnahme Prager Druckereien der jagiellonischen Ära am pädagogischen Programm der Universität, wie es demgegenüber in Krakau/Kraków, 2, Leipzig, Venedig/Venezia,
Padua/Padova und anderen, insbesondere zentraleuropäischen Metropolen üblich
war. Es ist nicht beabsichtigt, hiesige literarische und editorische Möglichkeiten
mit Gelehrten vom Format eines Thomas Anshelms († 1524), Josse Bades, gen.
Ascensius (1462–1535), Johann Frobens (ca. 1460–1527), Johann Singrieners d.
Ä. († 1545) oder Johann Winterburgers (ca. 1460–1519) zu vergleichen. Dennoch
muss man an dieser Stelle betonen, dass alle Genannten ihr Handwerk vor allem
dank der intellektuellen Unterstützung von Universitätsangehörigen entfalten
konnten. Somit blieben die humanistisch geprägten Editionen der Klassiker der
Antike sowie die zeitgenössischen lateinischen Werke nicht wie in Böhmen von
der Peripherie des literarischen Lebens abgeriegelt, sondern sie folgten wie die
volkssprachliche Literatur gleichrangig den zeitgenössischen editorischen Modellen. In Prag lässt sich eine eindeutige Unterstützung seitens der Universität nicht
belegen. Ihre Magister erstellten zwar die sicher gut vergüteten Berechnungen
der Wandaderlasskalender, deren ältestes überliefertes Exemplar von Vavřinec
von Rokycany (Lorenz von Rokitzan) für das Jahr 1485 stammt. Da damals die
Prager Altstadt/Staré Město pražské noch über keine Offizin verfügte, wurde sie
von dem sich zeitweilig in Winterberg/Vimperk im Böhmerwald aufhaltenden
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Petr Voit
Passauer Wanderdrucker Johann Alacraw gedruckt. Im Laufe der 1490er Jahre
übernahm Matěj z Vilémova (Matthias von Wilimow) die Stelle des Universitäts
astronomen. Damit kam es bis zum Auftreten von Václav Žatecký (Wenzel von
Saaz; ca. 1475–1520) zu einer Zäsur, die nur kurz mit der Amtsübernahme durch
den deutschen Gelehrten Konrad Tockler (ca. 1470–1530) von der Leipziger Universität, durch Georg Tannstetter (1482–1535) von der Wiener Universität sowie
durch Sebald Busch († 1536) und Erhard Etzlaub (ca. 1460–1530/31), beide aus
Nürnberg, unterbrochen wurde. In einem bedeutenderen Ausmaß engagierte sich
erst seit 1524 Magister Mikuláš Šúd ze Semanína (Nikolaus Šúd von Semanín; ca.
1490–1557) in der Produktion der Aderlass- und Buchkalender.
Über die Mehrzahl der an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert im Umkreis
der Prager Universität verfassten lateinischen theologischen Traktate geht eigentlich nur eine tschechische Abhandlung Václav Korandas d. J. über das Abendmahl
von 1493 hinaus, und zwar nicht nur in Bezug auf die Sprache, sondern auch
vermittels ihrer gedruckten Form. Unverzichtbar war jedoch die Beteiligung der
Universitätsmagister an der redaktionellen Bearbeitung der Prager Bibel (Bible
pražská) von 1488 und der Venezianischen Bibel (Bible benátská) von 1506. In
zwei Auflagen (1500 und 1513) wurden die sog. Basler Kompaktaten von 1433
gedruckt. Es war deshalb wohl kein Zufall, dass ihre zweite Auflage eben in jenem
Jahr erschien, als der Prager Drucker Jan Moravus die einzige utraquistische Konfession „O vieře svaté“ (‚Über den heiligen Glauben‘) im Druck verbreitete. Die
zweite Auflage der Kompaktaten eröffnet eine deutschfeindliche Vorrede, als deren
Verfasser der Rektor der Prager Universität und der Administrator des Unteren
(utraquistischen) Konsistoriums Pavel Žatecký (Paul von Saaz; † 1517) – ohne
eindeutige Belege – gilt.16 Sein Name kommt auch in der gedruckten Ausgabe des
„Traktats über die Kommunion der kleinen Kinder“ (‚Traktát o přijímání malých
dítek‘) vor. Die tschechische Version dieser ursprünglich lateinischen Schrift
soll auch 1513 erschienen sein, doch schon Josef Jungmann und Václav Hanka
konnten sich nur auf sekundäre Angaben beziehen.17 Der erste bekannte Beleg
über die Verwendung des Buchdrucks innerhalb der Prager Universität für die
Popularisierung der Lehre Martin Luthers (1483–1546) hängt mit dem dortigen
Astronomen Pavel (Paul) Příbram (ca. 1486–1520) zusammen. Für die Offizin
des Pavel (Paul) Severins von Kapí Hora (Paulus Severinus a Monte cuculli;
16 Vgl. J. Macek, Víra a zbožnost jagellonského věku [Glaube und Frömmigkeit im jagiellonischen Zeitalter] (Každodenní život [Alltagsleben] 9), Praha 2001, S. 111.
17 Vgl. V. Hanka, České prvotisky [Böhmische Wiegendrucke], in: ČČM 26, Nr. 3 (1852),
S. 109–126; sowie ebd., 26, Nr. 4 (1852), S. 62–111, besonders S. 75, Nr. 60; zur lateinischen
Version vgl. P. Spunar, Literární činnost (wie Anm. 5), S. 191.
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
139
† 1553/54) übersetzte er Luthers kleines Werk „Eine kurze Erklärung der zehn
Gebote“ („Kázání na Desatero přikázání Boží“) von 1518. Doch bevor er den
kompletten Text abschließen konnte, starb er am 5. Oktober 1520.18
Alle oben erwähnten Beziehungen zwischen der Prager Universität und der
Druckkunst waren jedoch nur vereinzelte Phänomene. Sie belegen im Unterschied zu den zeitgleichen vom Humanismus beeinflussten Aktivitäten im Ausland, deren Zweck unter anderem die Wiederbelebung des Wissens der Antike
war, dass die utraquistischen Führungspersonen der Prager Universität bis in die
1520er Jahre die gesellschaftliche Rolle dieses neuen Mediums in ihrer Tragweite
nicht erkannten. Wie noch unten dargelegt wird, litt der handwerkliche Aspekt
des Buchdrucks unter der Abgeschlossenheit gegenüber dem Ausland und paradoxerweise auch unter dem eigenen Publikum, wo er auf intellektuelle Vorurteile und Misstrauen gegenüber Neuerungen stieß. Es bleibt zu fragen, ob diese
Missachtung der Universitätsmagister gegenüber dem neuen Medium vielleicht
sogar auf einen Boykott des katholischen Pilsens, der Wiege des Buchdrucks in
Böhmen, hindeuten könnte.
Eine weitsichtigere Haltung zeigten kleinere Laiengruppen aus den Reihen
des Prager Altstadtpatriziats, die sich 1488 um den Krämer Severin († 1519/20)
und 1506 um Václav (Wenzel) Sova von Liboslav (z Liboslavi; † 1542) gebildet
hatten. Ein größeres Verständnis für die erzieherische Wirkung des Buchdrucks
offenbarten auch die utraquistischen Pfarrer Jíra (Georg) und Jan ( Johann) Honsa,
beide in der Kirche der Jungfrau Maria in der Pfützen (Na Louži) in der Prager
Altstadt, oder Mikuláš (Nikolaus) in der Kirche des hl. Peter in Poříčí in der Prager Neustadt.19 Ihre noch nicht durch die Renaissance beeinflussten Präferenzen
wiesen noch eine ganz spätmittelalterliche Prägung auf. Vermittels der Wünsche
18 V. V. Tomek, Dějepis města Prahy [Geschichte der Stadt Prag], Bd. 9, Praha 1893, S. 360 f.
Noch vor der Herausgabe der „Erklärung“ Luthers in der Übersetzung des Příbram (Februar
bis März 1520) ließ der Propst des Collegium Carolinum Václav (Wenzel) Rožďalovský (ca.
1490–1520) auf seine eigenen Kosten wahrscheinlich bei Pavel Severin zwei heute nicht mehr
überlieferte kleine Traktate von Jan ( Johann) Miroš/Miruš († ca. 1531), des lutherischen Pfarrers in der Hl.-Kreuz-Kirche in der Prager Neustadt/Nové Město pražské, veröffentlichen, vgl.
KPS K05614 f. Demgegenüber lässt unser Kenntnisstand über den tschechischen Druck der
20 Artikel aus der Tagung der utraquistischen Stände im Januar 1524 zu wünschen übrig, wo
sich die sog. Neuutraquisten durchsetzten. Diese sog. Lichtmess-Artikel erschienen jedoch
1524 auf Deutsch in Nürnberg bei Hieronymus Höltzel (ca. 1499–1527), vgl. VD16 U 152,
mit irrtümlich ergänztem Drucker Hans Hergot († 1527).
19 Vgl. V. V. Tomek, Dějepis, Bd. 9 (wie Anm. 18), S. 342 (mit der Erwähnung des Priesters
Jíra im Jahr 1495). E. Pražák, Tři všehrdovské příspěvky [Drei Beiträge über Všehrd], in:
Právněhistorické studie [Rechtshistorische Studien] 8 (1962), S. 213–225, versuchte, Jíra mit
Jiří (Georg) Heremita zu identifizieren.
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Petr Voit
und Gebote förderten sie bei ihren literarisch potenten Zeitgenossen das Interesse an kleinen Traktaten der Kirchenväter, deren tschechische Fassungen die
Sehnsucht nach einer gesellschaftlichen sowie religiösen Reform unterstützten.
Diese jüngere Strömung der zweiten böhmischen Reformation trat also nicht
erst mit der Verbreitung der Ideen Martin Luthers in den Jahren 1519/20 hervor,
sondern man begegnet ihr schon wesentlich früher, nämlich seit spätestens 1495
(1501). Sie beruhte eher nicht auf Luthers Anschauungen, sondern auf den Forderungen Viktorin Kornels von Všehrd, die dann im Laufe des 20. Jahrhunderts
tendenziell zum Manifest des sog. nationalen Humanismus erklärt wurden. In
der Praxis verbreitete sich der sich aus dem philosophischen und theologischen
Vermächtnis der Antike speisende Humanismus über andere Wege, und zwar nur
am Rande der uns hier interessierenden Literatur. Dagegen beruhte diese ‚nationale‘ Dimension der überwiegenden Strömung der zeitgenössischen Literatur
auf der reformutraquistischen Betonung der Volkssprache und der Sorge um
den Gemeinen Nutzen.20 An dieser Stelle kann nicht weiter darauf eingegangen
werden, dass die Inspiratoren und Initiatoren dieses Programms seit den 1520er
Jahren aus den Reihen des niederen Adels stammten.
Wirft man einen Blick auf die dünngesäte Karte des böhmischen Buchdrucks,
dann ist unschwer zu erkennen, dass für die Utraquisten nur in Prag produziert
wurde.21 Die moderne Forschung zu den tschechischen Wiegendrucken hat
anhand einer Analyse der Druckschriften und angesichts des Mangels an relevanten schriftlichen Quellen am Ende des 15. Jahrhunderts in der Prager Altstadt
20 Vgl. J. Macek, Hlavní problémy renesance v Čechách a na Moravě [Die Hauptprobleme der
Renaissance in Böhmen und Mähren], in: SCetH 18, Nr. 35 (1988), S. 8–43; dazu polemisch
M. Kopecký, Humanismus, renesance a reformace v českých zemích [Humanismus, Reformation und Renaissance in den böhmischen Ländern], in: ebd., 20, Nr. 41 (1990), S. 29–40.
21 Den Problemen zur Erhaltung des Buchdrucks mussten sich auch die Zentren außerhalb
Prags stellen, wobei feststeht, dass, nachdem 1537 dieses Handwerk vom König Ferdinand I.
(1526–1564) in allen königlichen Städten mit Ausnahme Prags verboten worden war, der
(nichtkatholische) Buchdruck in den sog. untertänigen Städten besser gedieh. In Pilsen konnte
sich der Buchdruck von 1476 bis 1533 mit Unterbrechungen halten, in Winterberg (1484)
und in Kuttenberg/Kutná Hora (1489) arbeitete man nur sporadisch. Brünn bot im Laufe
des gesamten 16. Jahrhunderts (abgesehen von der kurzen Episode der Druckproduktion von
1486 bis 1499 in der Stadt, also noch in der ‚Inkunabelzeit‘) keine geeigneten Bedingungen für
eine Entfaltung des Druckerhandwerks und Olmütz (1499–1504) musste bis 1538 ohne dieses
Handwerk auskommen. Die erste Etappe des Buchdrucks aus dem Umkreis der Brüderunität
war mit Leitomischl/Litomyšl (1506–1531) und Jungbunzlau/Mladá Boleslav (1518–1547,
mit Unterbrechungen) verbunden. Vom letztgenannten Ort hing technisch Weißwasser/Bělá
pod Bezdězem (1519–1521) ab. In Mähren gab es bis 1537 kurzlebige Offizinen in Nikolsburg,
Lultsch/Luleč und Namiest an der Oslawa/Náměšť nad Oslavou.
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
141
in gewisser zeitlicher Folge drei Offizinen identifiziert.22 Die namentlich nicht
bekannten Vertreter dieser selbstständigen Gewerbe erhielten zu ihrer Unterscheidung spezielle Namen: Tiskař Žaltáře (‚Psalterdrucker‘), Tiskař Korandy (‚Drucker des Koranda‘) und Tiskař Pražské bible (‚Drucker der Prager Bibel‘). Doch
kann man aufgrund neuer Indizien und anhand logischer Rückschlüsse auch zu
der Ansicht gelangen, dass es in Prag lediglich eine einzige Werkstatt gab, wie es
bereits Emma Urbánková (1909–1992) vermutet hatte.23
Unsere Inkunabelkunde stößt hier jedoch auf Sprachbarrieren, die sie sich
selbst seit dem 18. Jahrhundert wegen der Betonung des nationalsprachlichen
Charakters der böhmischen Wiegendrucke setzte, wodurch aus ihrer Perspektive
der fremdsprachliche Buchdruck aus Brünn verschwand. Erst nach dem Erscheinen des bibliografischen Standardwerks von Emma Urbánková bemerkte
nämlich Jaroslav Vobr (1939–2013), dass die ‚kleinere‘ Brünner Rotunda auch
in der Prager Werkstatt des sog. Psalterdruckers zur Anwendung kam und dass
nachfolgend in der ‚größeren‘ Brünner Rotunda die Druckerei Martins von
Tischnowitz (z Tišnova) ihre „Kuttenberger Bibel“ (Bible kutnohorská) druckte.24 Diese Feststellung ermöglichte Jaroslav Vobr, den sog. Psalterdrucker mit
Martin von Tischnowitz hypothetisch gleichzusetzen sowie – wie von Kamil
Boldan schlüssig angedeutet – vorauszusetzen, dass der künftige Prager Prototypograf sein Handwerk in Brünn bei Konrad Stahel (ca. 1450–1499) erlernt
haben könnte,25 und – was noch nachzutragen wäre – dass er angesichts des zeit22 Vgl. E. Urbánková, Soupis prvotisků českého původu [Verzeichnis der Wiegendrucke tschechischer Herkunft] (Publikace SSSO [Publikationen des SSSO] 19/1985), Praha 1986.
23 Vgl. ebd., S. 218.
24 Vgl. J. Vobr, Kdo byl prvním pražským tiskařem v roce 1487? [Wer war der erste Prager Buchdrucker im Jahr 1487?], in: Miscellanea oddělení rukopisů a starých tisků Národní knihovny
v Praze [Miscellanea der Abt. der Handschriften und der alten Drucke der Nationalbibliothek Prag] 13 (1996), S. 24–38; Ders., Bible kutnohorská [Die Kuttenberger Bibel], in: J.
Vaněčková / Ders. / J. Kremla (Hgg.), Faksimile Bible kutnohorské Martina z Tišnova.
Doprovodná publikace k faksimile inkunábule Bible kutnohorské [Das Faksimile der Kuttenberger Bibel Martins von Tischnowitz. Ein Begleitband zum Faksimile der Inkunabel der
Kuttenberger Bibel], Praha 2010, S. 20–51, besonders S. 39 f.; vgl. auch den zweibändigen deutschen Nachdruck dieser Bibel: Kuttenberger Bibel/Kutnohorská bible bei Martin von Tišnov,
Hauptband, edd. R. Olesch / H. Rothe (Biblia slavica. Serie 1: Tschechische Bibeln, Bd.
2), Paderborn/München/Wien/Zürich 1989; sowie Kuttenberger Bibel/Kutnohorská bible
bei Martin von Tišnov, Kommentare, edd. V. Kyas / R. Olesch / H. Rothe (Biblia slavica.
Serie 1: Tschechische Bibeln, Bd. 2), Paderborn/München/Wien/Zürich 1989.
25 Vgl. K. Boldan, Písař a tiskař Martin z Tišnova [Der Schreiber und Drucker Martin von
Tischnowitz], in: Studie o rukopisech [Studien über Handschriften] 42 (2012), S. 7–31, besonders S. 24 f.
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142
Petr Voit
lichen Ablaufs (Herbst 1486) auch bei den Anfängen des dortigen Buchdrucks
anwesend gewesen sein mag.
Das hypothetische Szenario der Entstehung des Prager Buchdrucks legt also
nahe, dass sich der mährische Kleriker Martin von Tischnowitz um 1487 in Prag
niederließ und mit dem in der Fachliteratur bezeichneten sog. Psalterdrucker
identisch ist. In Prag blieb er freilich nicht lange. Bislang ist aus seiner Werkstatt
nur der undatierte Psalter (Žaltář) und die zweite, sog. Weihnachtsedition der
„Trojanischen Chronik“ („Kronika Trojánská“) von 1487 bekannt. Irgendwann
vor Februar 1489 siedelte er nach Kuttenberg über, wo er sein Handwerk weiter
betrieb. Auch wenn diese Vermutung mangels Quellen nur hypothetisch bleibt,
ist sicher, dass die in Prag und Kuttenberg benutzten Rotundae aus den Brünner
Patrizen oder Matrizen dupliziert wurden. Einen interessanten Aspekt stellt übrigens die Tatsache dar, dass Martin von Tischnowitz sich das Druckerhandwerk als
wohl bereits Sechzigjähriger selbst aneignete, womit er dem englischen Wiegendrucker William Caxton (ca. 1422–1491) gleicht, dessen editorische Aktivitäten
sowie Druckwerke überraschenderweise jenen in Böhmen sehr ähneln.26 Beide
Protagonisten verdingten sich unter anderem auch als Schreiber. Und schließlich
entfällt mit der Identifizierung des ersten Prager Druckers (vorausgesetzt, es handelt sich um Tischnowitz) die bislang herrschende Meinung, wonach das Druckerhandwerk in der Prager Altstadt von einem Utraquisten eingeführt worden wäre.
Der andere Prager Drucker, der sog. Drucker der Prager Bibel, trat allerdings
nicht mit der Herausgabe der Bibel, wonach er benannt wurde, erstmals ins
Erscheinung, sondern schon zu Beginn des Jahres 1488 oder kurz zuvor mit Äsops
Fabeln.27 Wenn man die Spekulationen über seine mögliche Ausbildung im Aus26 Vgl. P. Voit, Encyklopedie knihy. Starší knihtisk a příbuzné obory mezi polovinou 15. a
počátkem 19. století. Papír, písmo a písmolijectví, knihtisk a jiné grafické techniky, tiskaři,
nakladatelé, knihkupci, ilustrátoři a kartografové, literární typologie, textové a výtvarné prvky
knihy, knižní vazba, knižní obchod [Enzyklopädie des Buches. Der ältere Buchdruck und die
verwandten Zweige von der Mitte des 15. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Papier, Schrift
und Schriftguss, Buchdruck und andere graphische Techniken, Drucker, Verleger, Buchhändler,
Illustratoren und Kartographen, literarische Typologie, textuelle und bildkünstlerische Aspekte
des Buches, Buchbindung, Buchhandlung], 2 Bde., Praha 22008, Bd. 1, S. 151 f.; vgl. nun das
betreffende Stichwort auch in der Online-Version dieser Enzyklopädie: https://www.encyklopedieknihy.cz/index.php/William_Caxton (letzter Zugriff am 8.2.2020); K. Boldan, České
a anglické prvotisky a jejich čtenáři. Srovnání produkce prvních tiskařů [Die böhmischen und
englischen Wiegendrucke und ihre Leser. Ein Vergleich der Produktion der Wiegendrucker],
in: J. Radimská (Hg.), K výzkumu zámeckých, měšťanských a církevních knihoven. Jazyk a
řeč knihy [Zur Erforschung der Schloss-, Bürger- und Kirchenbibliotheken. Die Sprache und
die Rede des Buches] (Opera Romanica 11), České Budějovice 2009, S. 9–20.
27 Vgl. P. Voit, Český knihtisk I (wie Anm. 15), S. 9–16.
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
143
land außer Acht lässt, kann man auch eine Lehre in der Prager Altstadt bei Martin
von Tischnowitz annehmen. Doch als dann der ausgebildete Geselle seine eigene
Offizin eröffnen wollte, mag es zu Konkurrenzstreitigkeiten gekommen sein, die
möglicherweise dazu geführt haben, dass zwei Werkstätten in einer Umgebung,
wo es immer noch an genügend lesefähigen Kunden mangelte, wirtschaftlich nicht
funktionieren würde. Es ist auch möglich, dass dieser Streit noch durch die sich
um den Krämer Severin gruppierenden Patrizier aus der Prager Altstadt befördert
wurde, die die erste tschechische Auflage der sog. Prager Bibel (1488) finanziell
unterstützen wollten. Demnach hätte Martin von Tischnowitz in diesem Konflikt
kapituliert und wäre nach Kuttenberg gegangen, wo die zweite Bibel mit ihrem
Illustrationszyklus erschien (1489), welche m. E. die kurz davor herausgegebene
bildlose Prager Bibel (1488) übertrumpfen sollte. Nach dem Abschluss dieser
mühseligen und von stetem Geldmangel begleiteten Arbeit gab Tischnowitz sein
Handwerk auf. Was aus der Ausstattung seiner Werkstatt wurde, weiß man nicht;
einige Lettern kehrten wohl nach Prag zum sog. Drucker der Prager Bibel zurück.
Richtet man jetzt die Aufmerksamkeit auf den dritten Anonymus, den Emma
Urbánková als „Drucker des Koranda“ bezeichnete, fällt auf, dass seine nachweisliche Tätigkeit in den Jahren 1492/93, 1495/96 und 1502 auffällig mit den
Jahren korrespondiert, als der sog. Drucker der Prager Bibel scheinbar nicht
gearbeitet hatte (1491–1494, 1496, 1502). Deswegen wage ich die Behauptung, dass der Krämer Severin, dessen Familie dieses Handwerk bis 1545 ausübte,
gewissermaßen ein ähnlicher Initiator der Buchkultur war wie beispielweise sein
deutscher, in Krakau angesiedelter Zeitgenosse und Kaufmann Johann Haller
(ca. 1467–1525).28 Abgesehen von der sog. Prager Bibel verfügt man zwar über
keine weiteren Indizien für das kulturelle Engagement des Krämers Severin, doch
wie sich einem im März 1499 durch König Wladislaw II. (1471–1516) erteilten
Privileg über Bergwerksförderung im Riesengebirge entnehmen lässt, arbeitete
er mit einem nicht näher bekannten Drucker namens Jan ( Johann) Kamp mindestens auf einem weiteren geschäftlichen Gebiet zusammen.29 Auch dieser Fakt
stellt unsere Hypothese nicht infrage, dass der Krämer Severin die Werkstatt in
der Prager Altstadt finanzierte (bzw. mitfinanzierte), wobei er, um sie als einzige
in Prag am Leben zu erhalten, aus geschäftlichen Gründen oder wegen des Prestiges den zeitweiligen Einstieg eines Mieters in der Werkstatt erlaubte.
28 Vgl. Ders., Encyklopedie knihy I (wie Anm. 26), S. 339 f.; sowie https://www.encyklopedieknihy.cz/index.php/Johann_Haller (letzter Zugriff am 8.2.2020).
29 Vgl. Registra krále Vladislava II. z let 1498–1502 [Die Register des Königs Wladislaw II. von
1498 bis 1502], ed. J. Teige, in: J. Kalousek (Hg.), AČ, Bd. 18, Praha 1900, S. 1–289, hier
S. 105, Nr. 141.
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Schon vor geraumer Zeit erkannte Emma Urbánková nämlich nicht nur die
morphologischen Übereinstimmungen der Initialen beider Drucker, sondern sie
machte auch auf die Identität zweier Initialdruckstöcke aufmerksam, welche vom
sog. Drucker der Prager Bibel zum sog. Drucker des Koranda wechselten.30 Diese
Hypothese über eine Mietwerkstatt bestätigt auch die „Migration“ der Schrift
zwischen beiden Handwerkern, welche die ältere Forschung noch nicht bemerkt
hatte, denn sie befassten sich meist mit beiden Druckern in personeller Hinsicht
und zeitlich unabhängig voneinander, indem sie entweder vor dem Dezember
1500 oder danach ansetzten, doch nie in einer ununterbrochenen zeitlichen Folge.
Deswegen entging ihnen auch, dass die Schwabacher Schrift des sog. Druckers
des Koranda in den Jahren 1513 und 1515 gelegentlich auch vom sog. Drucker
der Prager Bibel verwendet wurde. Derselbe Handwerker benutzte übrigens zeitgleich, wenn auch selten die Textura zur Ergänzung seiner Werkstatt-Bastarda,
deren Komplett parallel in den Jahren 1512/13 auch der Drucker Jan Moravus
besaß.31 Diese Übereinstimmung und die zeitlichen Unterbrechungen der Arbeit
des sog. Druckers der Prager Bibel (1511/12) (zumindest der überlieferten Inku
nabeln) könnten ein weiteres Indiz für eine Werkstatteinheit sein, was auch durch
das Impressum der utraquistischen Konfession vom 22. Dezember 1512 nicht
infrage gestellt würde, das den Drucker Moravus als selbstständigen Handwerker
erwähnt.32 (Abb. 1 und 2)
Man kann jedoch noch weitergehende Überlegungen anstellen, denn das Holzschnittwappen der Prager Altstadt wurde wenige Tage vor dem Erscheinen der
utraquistischen Konfession auch im Siddur abgedruckt, einem aschkenasischen
Gebetbuch, hinter dessen Druck ein Konsortium hebräischer Herausgeber stand.
Anhand einer jüngst erschienen Studie zum hebräischen Buchdruck Böhmens
und Mährens ergeben sich einige weitere kulturell interessante Überschneidungen.33 Aufgrund der „Migration“ der Druckstöcke und der lange Zeit enormen
30 Vgl. E. Urbánková, Soupis prvotisků (wie Anm. 22), S. 219.
31 Vor der utraquistischen Konfession, die oben schon behandelt wurde (Anm. 16), druckte
Jan Moravus 1512 eine heute nicht mehr überlieferte Schrift des Pseudo-Isokrates, vgl. KPS
K03395, sowie einen Aderlasskalender Konrad Tocklers, vgl. NK Praha, Sign. Yd 50 (ein unvollständiges Unikat), vgl. dazu KPS K19204.
32 Vgl. J. Vobr, Kutnohorská bible – problém 1. a 2. vydání [Die Kuttenberger Bibel – das Problem der ersten und der zweiten Auflage], in: Miscellanea oddělení rukopisů a starých tisků
[Miscellanea der Abt. der Handschriften und der alten Drucke] 10 (1993), S. 209–224, besonders S. 215, der angibt, dass Jan Moravus 1513 in der Offizin in der Prager Altstadt gewirkt
haben könnte, wobei K. Boldan, Život a dílo (wie Anm. 10), S. 147, Anm. 61, gegenüber
dieser Hypothese zurückhaltender ist.
33 Vgl. O. Sixtová, Počátky pražské hebrejské typografie 1512–1569 [Die Anfänge der Prager
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
145
Abb. 1: Anonym, Siddur (= hebräische Gebete für das ganze Jahr), Prag: Konsortium der
Herausgeber, 3.12.1512, hier fol. 112v mit dem Wappen der Prager Altstadt (60 × 51 mm)
auf der letzten Seite separat abgedruckt, Bildschnitzer: Meister der Burleigh’s Bordüre [Uni
versity of Oxford, Bodleian Library, Sign. Opp. 4°. 1188, für die Ausleihe dieses Fotos danke
ich meiner Kollegin Olga Sixtová herzlichst.].
Abb. 2: Anonym, O vieře svaté [Über den heiligen Glauben] (= utraquistische Konfession),
Prag: Jan Moravus, 22.12.1513, hier fol. C3v mit demselben Druckstock des Wappens der
Prager Altstadt [KNM Praha, Sign. 25 F 12/5].
konfessionellen Flexibilität der Prager Illustratoren bei den Aufträgen für die
Prager christlichen Typografen sowie für das Ghetto (Meister der Burleigh’s Bordüre, Meister von Kohens Haggada) lässt sich zugleich ein weiteres Teilchen in
unser Mosaik einfügen. So könnten die ersten Mieter der Werkstatt in der Prager
Altstadt im Dezember 1512 Juden gewesen sein, die dann Jan Moravus mit dem
hebräischen Typografie 1512–1569], in: Dies. (Hg.), Hebrejský knihtisk v Čechách a na Moravě [Der hebräische Buchdruck in Böhmen und Mähren], Praha 2012, S. 75–122; P. Voit,
Výzdoba pražských hebrejských tisků první poloviny 16. století jako součást české knižní grafiky
[Die Verzierung der Prager hebräischen Drucke der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als ein
Bestandteil der böhmischen Buchgrafik], in: ebd., S. 123–151, besonders S. 123 f.
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146
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technisch unproblematischen und zeitlich nicht aufwändigen Druck (zwölf Blätter) der utraquistischen Konfession ablöste. Schließlich geben die in geflügelten
Wörtern bis 1540 herausgegebenen Hebraica die gesamten Prager Städte (sowie
vermittels ihrer nur wenig voneinander abweichenden Druckstöcke die Prager
Altstadt) als Druckort an, ohne jedoch eine nähere Lokalisierung im Impressum.34
Zwischen Sommer 1515, als der sog. Drucker der Prager Bibel wohl wiederum „verstummte“, und Dezember 1515 mag in der Werkstatt in der Prager Altstadt eine neue Auflage des hebräischen Siddurs enstanden sein. Es muss derzeit
dennoch offen bleiben, wie sich diese Vermietung weiter entwickelte. Gerschom
Kohen († 1545) könnte hier von 1514 bis 1518 mit mehreren Unterbrechungen
den hebräischen Pentateuch zum Abschluss gebracht haben. Des Weiteren mögen
in dieser Werkstatt Ende 1516 zwei andere unbekannte und von der Buchwissenschaft bisher nicht identifizierte Handwerker eine vorübergehende Heimstatt
gefunden haben. Die Tätigkeit eines dieser beiden35 sowie des anderen36 belegen
34 Vgl. P. Sládek, Tištěná kniha v židovské kultuře 15. a 16. století [Das gedruckte Buch in der
jüdischen Kultur des 15. und 16. Jahrhunderts], in: O. Sixtová (Hg.), Hebrejský knihtisk
(wie Anm. 33), S. 9–32, besonders S. 11, Abb. 2, mit einer Reproduktion eines Prager Drucks,
der „durch Gerschom Kohen in seinem Haus 1540“ hergestellt wurde, d. h. nicht in der Prager
Altstadt, sondern in der Jüdischen Stadt.
35 Vgl. K. Boldan, Minuce Václava Žateckého na rok 1517 [Der Aderlasskalender des Václav
Žatecký (Wenzel von Saaz) für das Jahr 1517], in: J. Šouša / I. Ebelová (Hgg.), Inter laurum
et olivam. Miscellanea Mariae Bláhová Professorissae dedicata (AUC. Phil. et Hist. 1-2/2002.
Z pomocných věd historických [Aus den Historischen Hilfswissenschaften] 16), Praha 2007,
S. 133–148, besonders S. 139 f., der die Herstellung des ersten Einblattdrucks, vgl. NK Praha,
Sign. Sz 18, Mikuláš Konáč zusprach. Dazu stützt er sich auf die Schwabacher, die tatsächlich
mit jener des Konáč übereinstimmte, doch mit Ausnahme der diakritischen Zeichen, die auf
den Matrizen unterschiedliche Gestalt aufweisen. Dieser Zuschreibung widerspricht jedoch
die Auszeichnungs-Textura, die allein vom sog. Drucker der Prager Bibel und Jan Moravus
benutzt wurde, deswegen benenne ich diesen Drucker als „Drucker I des Aderlasskalenders
Žateckýs für das Jahr 1517“ („Tiskař I Žateckého minuce na rok 1517“).
36 Vgl. K. Boldan, Minuce Václava Žateckého (wie Anm. 35), S. 140 f., der die Herstellung des
anderen Einblattdruckes, vgl. KNM Praha, Sign. 25 A 5, in Anlehnung an die ältere Literatur
dem utraquistischen Drucker Mikuláš (Nikolaus) zuschreibt, welcher sich 1524 als Krämer
betätigt haben soll. Zu dieser Attribuierung trug maßgeblich der spätgotische Fries mit einem
heraldischen Schild bei, in dessen Mitte sich die Initiale M[ikuláš] befindet. Diese Auszeichnungs-Textura benutzten noch Jan Moravus (1512), der sog. Drucker der Prager Bibel (1512
und 1515), der sog. Drucker I des Aderlasskalenders Žateckýs für das Jahr 1517. Der Drucker
Mikuláš hatte jedoch sein Textura-Minuskelalphabet mit einem anderen, ein wenig divergierenden Schriftschnitt verknüpft. Seine Textschrift stellt eine im böhmischen Buchdruck bisher unbekannte sonderbare Vermischung der Bastarda und der Schwabacher dar. Da wir die
Aderlasskalender aus dem Prager Nationalmuseum mit keiner anderen Produktion des Mikuláš
vergleichen können, wo darüber hinaus sein Name angeführt worden wäre (wobei wir auf das
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY4.0
Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
147
lediglich zwei Versionen der Wandaderlasskalender Václav Žateckýs für das Jahr
1517. Die Text- sowie die Auszeichnungsschrift dieser Einblattdrucke sind ein
Gemisch unbekannter Mittel und dessen, was auch bei dem sog. Drucker der
Prager Bibel sowie bei Jan Moravus und Mikuláš Konáč anzutreffen ist.37
Der nächste bekannte tschechische Druck nach der Schrift des sog. Druckers
der Prager Bibel von 1515 fällt erst in den Spätherbst 1517. (Abb. 3 und 4) Die
zeitliche Lücke kann mit weiteren hypothetischen Mosaiksteinen geschlossen
werden. So fällt die Pause genau in die Zeit der Ankunft des weißrussischen
Übersetzers, Arztes und Herausgebers Francisk Heorhij Skoryna (ca. 1486/90–
1541).38 Dessen erster Teil seiner „Russischen Bibel“, der sog. Psalter (Psaltyr),
erschien im August 1517. In der Folge wurden schrittweise 22 Bücher des Alten
Testaments gedruckt, wobei das zeitlich letzte auf Dezember 1519 datiert ist. Die
Arbeit des sog. Druckers der Prager Bibel endete wahrscheinlich 1517 für immer.
Zur zeitlichen Abfolge kann man noch die Aktivitäten von Gerschom Kohen
heranziehen, der sich chronologisch vor Skorynas’ Auftreten im August 1519
einordnet, als er den Druck des Gebetes Tefillot (Tfilot) zum Abschluss brachte.
Die kirchenslawischen Editionen Skorynas’ werden von den die Prager Altstadt
typografische Material dieses Einblattdrucks sonst nirgendwo mehr stießen), bezeichnen wir
diesen Drucker mit dem geeigneteren Namen „Drucker II des Aderlasskalenders Žateckýs für
das Jahr 1517“ („Tiskař II Žateckého minuce na rok 1517“).
37 Vgl. P. Voit, Tiskové písmo Čech a Moravy první poloviny 16. století [Die Druckschrift in
Böhmen und Mähren in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts], in: BS 10 (2011), S. 105–202.
Obwohl Mikuláš Konáč die Werkstatt des Krämers Severin in der Prager Altstadt nicht nutzen musste – seit dem Beginn seines Gewerbes im Jahr 1507 arbeitete er gemeinsam mit Johann Wolff in seinem durch Heirat erworbenen Haus „Zur Fortune/U Štěstěny“ am heutigen
Marienplatz/Mariánské náměstí in der Prager Altstadt –, sind die Verbindungen zwischen
seinem typografischen Fundus und den beiden anonymen Druckern (der Aderlasskalender
Žateckýs) in den lokal begrenzten Bedingungen der Prager Altstadt nicht überraschend. Die
älteste Erwähnung Konáčs stammt nämlich aus der Zeit (1505–1516), als er als Schreiber des
städtischen Amtes der Weinberge wirkte. Kurz davor (1502–1504, 1506) war ein geschworener Beisitzer dieses Amtes der Krämer Severin. Dieser Zusammenhang muss natürlich nicht
der einzige Beleg der wechselseitigen Kontakte sein. Vgl. dazu V. V. Tomek, Dějepis, Bd. 9
(wie Anm. 18), S. 324 (Konáč) und 273, 275, 323 (Krämer Severin); sowie J. Teige, Základy
místopisu Pražského (1437–1620). Oddíl I. Staré Město pražské, Díl I. [Die Grundlagen der
alten Prager Topografie (1437–1620). Abt. 1. Prager Altstadt, T. 1], Praha 1910, S. 758.
38 Vgl. P. Voit, Encyklopedie knihy II (wie Anm. 26), S. 816–818; sowie https://www.encyklopedieknihy.cz/index.php/Francisk_Heorhij_Skoryna (letzter Zugriff am 8.2.2020); Ders.,
Výtvarná složka Skorynovy Bible ruské jako součást české knižní grafiky [Das bildkünstlerische
Element der sog. Russischen Bibel Skorynas als ein Bestandteil der böhmischen Buchgrafik],
in: Umění [Kunst] 62, Nr. 4 (2014), S. 334–353.
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148
Petr Voit
verherrlichenden Kolophonen (Nachschriften) begleitet, welchen man auch in
der hebräischen Produktion begegnet.
Eine bloße zeitliche Koinzidenz reicht jedoch noch nicht für die Erhärtung der
These, dass die Herstellung der sog. Russischen Bibel in denselben Räumlichkeiten wie die utraquistischen und hebräischen Aktivitäten erfolgte. Sie wird allerdings von einigen belegten „Migrationen“ der Druckstöcke gestützt, die mit der
Tatsache des gleichen Arbeitsortes erklärt werden können, der bei jeder neuen
Vermietung nur zum Teil bzw. eher nachlässig ausgeräumt wurde. Das andere
unterstützende Argument kann man im Wirken des sog. Meisters des Skoryna
Dekors (Mistr Skorynova dekoru) sehen, der bereits 1514 für die bildliche Verzierung des hebräischen Pentateuchs verantwortlich war und der dann nach ein
oder zwei Jahren begann, den Verzierungsapparat der sog. Russischen Bibel vorzubereiten. Als Skoryna 1520 Prag wieder verließ, schloss sich der sog. Meister
des Skoryna Dekors den Druckern der Brüderunität Pavel (Paul) Olivetský von
Olivet (z Olivetu; † 1534) und Jiřík Štyrsa (zu Deutsch Georg Wylmschwerer;
† nach 1531) an. Das dritte stützende Argument für unsere Hypothese über Skorynas Tätigkeit in der Werkstatt des Krämers Severin in der Prager Altstadt stellt
schließlich Severins Sohn Pavel (Paul) dar, welcher nach dem Tod seines Vaters
um 1519/20 Anspruch auf sein rechtmäßiges Erbe erhob und das Mietverhältnis
der Werkstatt mit Skoryna beendete. Skoryna ging daraufhin nach Wilna/Vilnius.
Der Umzug beruhte also nicht, wie bisher angenommen, auf der damals in Prag
grassierenden Pestepidemie, sondern auf den eben aufgezeigten Umständen.39
Unter Pavel Severin als Eigentümer begann dann im November 1520 eine neue
Epoche dieser Druckerei.
Die hier vorgestellte Hypothese einer solchen ‚multikulturellen‘ Wirkung der
einzigen Druckerei in der Prager Altstadt wird sich wohl kaum durch einen Fund
im relevanten urkundlichen Material bestätigen lassen. Das ist jedoch kein Hindernis dafür, die bisher formulierten Überlegungen mit unserer zuletzt ausgeführten
Vermutung zur Lokalisierung der Werkstatt in der Prager Altstadt zu unterstützen.
Falls man nämlich annimmt, dass Skoryna wegen der Übernahme des väterlichen
Erbes durch Pavel Severin abgelöst wurde, dann könnte es sich um das Haus Nr.
24 auf dem Altstädter Ring, zwischen dem Rathaus und der St.-Nikolaus-Kirche
gelegen, handeln. Dieses Haus hatte der Krämer Severin bereits 1484 gekauft,
das dann sofort nach dem Tod seines Sohnes Pavel 1554 veräußert wurde. Diese
Lokalisierung ist bislang keineswegs gesichert, da der Krämer Severin später noch
zwei weitere Häuser besaß. Auch diese vermutlichen Adressen hängen mit den
39 Vgl. I. P. Šamjakin (Hg.), Francisk Skorina i jego vremja. Enciklopedičeskij spravočnik [Francisk Skoryna und seine Zeit. Enzyklopädisches Wörterbuch], Minsk 1990.
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
Abb. 3: Nový zákon [Neues Testament],
Prag: sog. Drucker der Prager Bibel,
5.8.1513, hier fol. A4r mit der sog. Wurzel
Jesse (124 × 112 mm), Bildschnitzer: sog.
Meister des Neuen Testaments [KNM
Praha, Sign. 205 D 9].
149
Abb 4: Übersetzer: Francisk Heorhij Skorina, Biblia ruska [Russische Bibel], 1. Teil:
Psaltyr [Psalter], Prag: sog. Drucker der
Russischen Bibel, 8.8.1517, hier fol. 1r mit
einem teilweise veränderten Druckstock
der sog. Wurzel Jesse [in: L. C. Barazny
(Hg.), Gravjury Franciska Skaryny (Die
Gravüren Francisk Skorynas), Minsk 1972,
Anhang Nr. 2].
Wohnorten seiner Geschäftspartner in der Prager Altstadt zusammen, mit denen er
1488 die Bibel gemeinsam verlegte, wie die des Arztes Jan Bílý ( Johannes Albus a
Ciconiis; † vor 1515), Jan Pytlíks († 1518) und des Kaufmanns Matějs od Bílého
Lva (Matthias „Zu dem Weißen Löwen“).40
Bei der plausiblen Zusammenstellung solcher Mosaiksteine ist man nicht allein
auf die zeitliche Abfolge einzelner Druckeraktivitäten oder auf das erst kürzlich erkannte konfessionell flexible Engagement der Prager Holzschnitzerwerkstatt angewiesen; auch die Analyse der Druckschrift der tschechischsprachigen
40 Vgl. P. Voit, Český knihtisk I (wie Anm. 15), S. 9 f., 23.
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150
Petr Voit
Abb. 5: Petr Chelčický, Kniha výkladuov
spasitedlných [Buch der heilsamen Auslegungen] (= Postille), Prag: Pavel Severin
von Kapí Hora, 30.5.1522, hier fol. A1r
mit der Bordüre der Titelseite des ersten
Teils (239 × 152 mm) mit zwei Wappen
der Mäzene dieser Edition (die Familien
Myška ze Žlunic/Myschka von Zlunitz und
die Perknovský z Perknova), Bildschnitzer:
sog. Meister des Skorynas Dekors [KNM
Praha, Sign. 25 C 5a].
Abb. 6: Anonym, Machzor [Machsor] (=
hebräisches Gebetbuch), Prag: Meir ben
David / Chaim ben Schachor, 3.8.1525,
hier fol. 1v mit demselben Druckstock der
Bordüre der Titelseite [in: O. Sixtová (Hg.),
Hebrejský knihtisk v Čechách a na Moravě
(Der hebräische Buchdruck in Böhmen und
Mähren), Praha 2012, S. 136].
Editionen ermöglicht ebenso anregende Rückschlüsse, wie vor allem die bis 1530
belegbare „Migration“ einiger Druckstöcke. (Abb. 5 und 6) Dem Einwand, dass
die Übertragung und die Vermengung der Druckwerkzeuge für dieses Handwerk
typisch waren, weshalb daraus keine grundsätzlichen Hypothesen aufgestellt werden können, lässt sich entgegenhalten, dass man diesem Phänomen bei den zeitgenössischen böhmischen Offizinen auch unter anderen Umständen begegnet. Die
„Migration“ betrifft nämlich immer den größeren oder zumindest wesentlichen
Teil der Ausstattung der Werkstatt, und der nachfolgende Besitzwechsel erfolgte
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
Abb. 7: Bible česká [Tschechische Bibel],
Prag: Pavel Severin von Kapí Hora,
5.5.1529, hier fol. A1r mit der Titelseite
und dem Holzschnitt mit dem Wappen
der Prager Altstadt (275 × 172 mm),
Bildschnitzer: sog. Severin’sche Werkstatt
(Severinský ateliér) [NK Praha, Sign. 54
A 13].
151
Abb. 8: Chamischa chumsche tora (= hebräischer Pentateuch), Prag: Gerschom
Kohen, 5.12.1530, hier fol. 275r mit
denselben Druckstöcken der Titelseite
und dem Holzschnitt mit dem Wappen
der Prager Altstadt [in: O. Sixtová (Hg.),
Hebrejský knihtisk v Čechách a na Moravě
(Der hebräische Buchdruck in Böhmen und
Mähren), Praha 2012, S. 121].
zwischen zwei räumlich entfernten Subjekten.41 In der Prager Altstadt migrieren
jedoch im Zeichen einer erstaunlichen konfessionellen Pluralität allein einzelne
Druckstöcke: der hebräische Siddur 1512, die utraquistische Konfession „O vieře
svaté“ (‚Über den heiligen Glauben‘) 1513, das Neue Testament 1513, Skorynas
Psalter („Psaltyr“) 1517, Chelčických „Postilla“ 1522, der hebräische Machsor
41 1513/14 Pilsen: Mikuláš (Nikolaus) Bakalář bzw. Štětina († zwischen 1514 und 1520) > Prag:
Mikuláš Konáč; 1519 Jungbunzlau: Mikuláš Klaudyán (Nicolaus Claudianus; † 1521/22) >
Weißwasser Oldřich Velenský z Mnichova (Ulrich Velenus Minhoniensis; † nach 1531); 1531/40
Pilsen Jan (Hans) Pekk bzw. Ulbeck aus Schwabach († 1531) > Prag: Bartoloměj Netolický
z Netolic (Bartholomäus Netholitzer von Netolitz; † nach 1562) usw.
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Petr Voit
(„Machzor“) 1525, die Bibel Severins 1529 sowie der hebräische Pentateuch
1530. Ihr Erzählpotenzial geht häufig über den Text hinaus, worin sie sekundär
eingefügt wurden. Es ist also weniger Ausdruck einer originellen bildkünstlerischen Absicht, sondern vielmehr eine pragmatische Nutzung der lokalen Gegebenheiten. (Abb. 7 und 8)
Letzten Endes muss hervorgehoben werden, dass die vermutete Werkstatt
in der Prager Altstadt, die einigen Handwerkern eine kommerziell motivierte
Grundlage gewährte, den Entstehungskontext des Prager Buchdrucks prägnant
wiedergibt. Dieser war aber nicht nur einer starken Konkurrenz durch den Import
von Büchern aus Deutschland und Italien ausgesetzt, sondern ihm fehlte zudem
die Unterstützung durch die Prager Universität. Darüber hinaus fand er auch
unter dem lesefähigen Bürgertum noch keine hinreichend große Lesergemeinde,
die ein Überleben gesichert hätte. Diese instabile Lage wirkte sich auch auf die
Ausbildung eines Druckernachwuchses aus. Die Typografie des Jan Moravus steht
in keinem Widerspruch zur Hypothese, dass er sein Handwerk bei dem Pilsner
Katholiken Mikuláš Bakalář erlernt hat, wohin er dank seiner Tätigkeit als Erzieher der Söhne der hochadligen Familie Švihovský von Riesenberg in Schwihau/
Švihov gezogen war.42 Darin war er keine Ausnahme, denn einige Jahre vor Moravus hatte höchstwahrscheinlich auch Pavel Olivetský, der spätere Exponent des
Buchdrucks der Brüderunität in Leitomischl, das Druckerhandwerk bei Mikulář
Bakalář erlernt, ebenso wie vielleicht der bereits mehrmals erwähnte Utraquist
Mikuláš Konáč.43 Angesichts solcher Unsicherheiten im Gewerbebetrieb mag
möglichen Druckern in spe eine mit den notwendigsten Werkzeugen (Druckerpresse, Setzkasten), einem Lagerort für Papier sowie eine für die Trocknung der
Druckbögen usw. ausgestattete Mietwerkstatt besonders interessant gewesen sein.
Einige Wegbereiter dieses neuen Handwerks stießen jedoch aus oben genannten
Gründen alsbald auf Absatzprobleme und der wirtschaftliche Erfolg blieb aus,
weshalb sie das Druckereigewerbe zugunsten eines sicheren Lebensunterhalts
wieder aufgaben.
42 Vgl. K. Boldan, Život a dílo (wie Anm. 10), S. 147.
43 Vgl. P. Voit, Mikuláš Bakalář jinak [Mikuláš Bakalář anders], in: Kniha [Das Buch] 2012,
S. 68–106.
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Die Utraquisten und der Buchdruck (bis ca. 1526)
153
Fazit
Eingangs wurde die Vorgehensweise der älteren buchwissenschaftlichen Methodologie kritisiert, die das Druckereihandwerk mehr oder weniger nur statisch und
nicht im Vergleich mit ausländischen Beispielen beschrieb und die zudem die
gesellschaftlichen Aufgaben des Buchdrucks außer Acht ließ. Sobald man jedoch
die von der Forschung bisher kaum berücksichtigten Widmungen und Vorreden
in Drucken aus dem frühen 16. Jahrhundert mit einbezieht, wird man feststellen,
dass es noch in den 1520er Jahren, also nach fünf Dekaden der Existenz dieses
Handwerks, nur sehr wenige aufgeklärte und regelmäßige Leser der tschechischsprachigen Literatur unter den stadtbürgerlichen Schichten gab.44 Eine von den
bisher nicht beachteten Ursachen dafür stellt eben das Druckerhandwerk selbst
dar. Zur wenigstens halbwegs befriedigenden Erklärung dieses Befundes muss
man den ausländischen Buchdruck berücksichtigen, welcher schon während der
1480er Jahre im Prozess der Visualisierung und Unifizierung auf die spätgotische
Einfachheit massenhaft verzichtete. Während ausländische Drucker damals im
Durchschnitt mit zehn Schriftgarnituren (manchmal sogar mit der doppelten
Menge) arbeiteten, begnügten sich die heimischen Wiegendrucker beim Hauptext
sowie Kommentar-Satz mit einem einzigen Schrifttyp, der Bastarda. Die heimische Typografie erfuhr bis in die 1530er und 1540er Jahre keine nennenswerte
Modernisierung.45 Der Leser erhielt mithin ein fast ungegliedertes Korpus, das
eine passive Kopie der handschriftlichen Codices darstellte, ohne jede Ambitionen,
die Hierarchie des Textes optisch zu unterscheiden (durch Überschriften, Marginalien, Summarien, Texte unter oder neben dem Hauptsatz). Deswegen kann
m. E. unterstellt werden, dass die einfache, spätgotische Prägung der Typografie
der jagiellonischen Ära die Technik des stillen Lesens kaum befördern konnte,
welche eine sich neu herausbildende Lesergemeinde des niederen und mittleren
Bürgertums für den Übergang zu einer neuen Form der Leserezeption dringend
gebraucht hätte.46 Obwohl Viktorin Kornel von Všehrd die Übersetzungen der
44 Vgl. Ders., Rozpaky nad českou literární a čtenářskou obcí přelomu 15. a 16. století [Bedenken über die tschechische Literatur- und Lesergemeinde an der Wende vom 15. zum
16. Jahrhundert], in: A. Císařová Smítková / A. Jelínková / M. Svobodová (Hgg.),
Libri magistri muti sunt. Pocta Jaroslavě Kašparové [FS für Jaroslava Kašparová], Praha 2013,
S. 35–41; neuerdings dazu K. Boldan, Počátek českého knihtisku [Der Anfang des böhmischen Buchdrucks], Praha 2018, S. 248 f.
45 Vgl. P. Voit, Český knihtisk I (wie Anm. 15), S. 430.
46 Vgl. Ders., Vliv české pozdně gotické typografie na konstituování čtenářské obce [Der Einfluss der böhmischen spätgotischen Typografie auf die Herausbildung einer Lesergemeinde],
in: Studia Bibliographica Posonensia 7 (2012), S. 42–51.
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154
Petr Voit
fremdsprachlichen Texte ins Tschechische verlangte, blieb man ohne den notwendigen Aufbau der typografischen Architektur noch lange Zeit auf halbem Weg
stehen. Die technisch hochentwickelten Zugänge in den lateinischen Drucken
etwa eines Konrad Baumgartens in Olmütz gelangten nicht bis nach Böhmen.
Folgerichtig kam der eigentliche Impuls, durch den das tschechischsprachige
Buch allmählich die Hürde der spätgotischen Einfachheit überwand, erst 1506
von dem venezianischen Drucker deutscher Herkunft Peter Liechtenstein, der
für drei verschiedene Text-Schichten der tschechischen Bibel dann zu drei unterschiedlichen Lettern griff.47
Dieser Prozess wurde jedoch bis zur Wende der 1520er/30er Jahre durch den
Traditionalismus des potenziellen Publikums sowie den Mangel an Schriftstellern und Übersetzern verzögert, die in ihrem eigenen Interesse die neuen typo
grafischen Standards hätten durchsetzen können. Die böhmischen Drucker verkannten lange Zeit die Bedeutung des Buchdrucks als donum Dei, womit man
die kulturellen Werte der Antike und des Humanismus bewahren, verbreiten
und aufgreifen konnte. Die Städte – einschließlich Prag, wo sich der Buchdruck
im 15. und frühen 16. Jahrhundert trotz gewisser Schwierigkeiten am stärksten
entfaltete – fassten das neue Medium zunächst noch ganz mittelalterlich auf.
Die Polemik zur gängigen Vorstellung über Mikuláč Konáč als führenden tschechischen Humanisten würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Rückblickend
muss man feststellen, dass Konáč bis zu seinem Tod im Jahr 1546 zwischen dem
Mittelalter und der Neuzeit, zwischen einem toleranten Humanismus und einem
konservativen Utraquismus schwankte. Konáčs Wirken wurde bislang vor allem
in Bezug auf seine originellen Schöpfungen sowie seine Übersetzungleistungen
untersucht, jedoch nicht hinsichtlich der begleitenden Paratexte und der typo
grafischen Gestaltung, welche die äußere Form seiner Publikationen prägen. Auch
hier würde man auf Spuren des zeitgenössischen Zwiespalts stoßen: einerseits die
bahnbrechende Achtung des humanistischen Stils in den Widmungen, Vorreden
und der leserfreundlichen Nachreden und andererseits das Festhalten an der altertümlichen Oberrheinischen Bastarda oder der spätgotischen Illustration des sog.
Meisters des Neuen Testaments (1497/98).
47 Vgl. Ders., České tištěné bible 1488–1715 v kontextu domácí knižní kultury [Die tschechischen gedruckten Bibeln 1488–1715 im Kontext der heimischen Buchkultur], in: ČL 61 (2013),
S. 477–501, besonders S. 480–484.
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Martin Holý
Die protestantischen Lehrbücher als
Kommunikationsmedium in den Ländern der Böhmischen
Krone im 16. und frühen 17. Jahrhundert
Im 16. und frühen 17. Jahrhundert existierten auf dem untersuchten Territorium,
das Böhmen, Mähren, Schlesien und die Ober- und Niederlausitz umfasste, sowohl
ein katholisches als auch ein protestantisches Schulwesen. Dabei dominierte bis
zur Schlacht am Weißen Berg (1620) das letztgenannte, wobei dies wiederum
konfessionell weit gefächert war. Neben Lateinschulen, die von der Tradition des
heimischen Utraquismus ausgingen, entwickelten auch die Böhmischen Brüder
sowie die Lutheraner und Calvinisten ihr eigenes Bildungssystem. Ein bemerkenswertes Phänomen stellen auch einige konfessionell offene bzw. gemischte
Bildungsstätten dar.1
Mit Ausnahme der Prager Universität, die sich von Zeiten des Hussitentums
an bis zu ihrer Überführung unter die Verwaltung der Societas Jesu 1622 zum
Utraquismus bekannte und lediglich auf eine artistische Fakultät beschränkt war,2
sorgten vor allem präuniversitäre Lateinschulen im behandelten geographischen
Raum für die Bildung der Bevölkerung. Diese ersetzten nicht selten auch das nur
wenig entwickelte Elementarschulwesen. Besonders in Böhmen und in Mähren
waren vor allem sog. städtische Partikularschulen das Rückgrat des Bildungssystems. Sie befanden sich nicht nur in mehreren Dutzenden sog. königlichen Städten, sondern auch anderswo, besonders in grundherrlichen Gebieten. Sie bildeten
ein dichtes Netz mit über 150 Einheiten, das der Bildung des bedeutendsten Teils
der städtischen und auch der ländlichen Bevölkerung diente. Angesichts der konfessionellen Situation in den böhmischen Ländern waren an den meisten dieser
Schulen nichtkatholische Rektoren und Lehrer tätig.3
1
2
3
Vgl. dazu mit weiteren Literaturhinweisen M. Holý, Ähnlichkeit oder Differenz? Bildungssysteme in den Ländern der Böhmischen Krone im 16. und 17. Jahrhundert, in: C. Frey-tag /
S. Salatowski (Hgg.), Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich.
Inhalte – Infrastrukturen – Praktiken (GFFN 14), Stuttgart 2019, S. 39–51.
Zur Geschichte der Karlsuniversität zu dieser Zeit vgl. vor allem M. Svatoš / I. Čornejová / J. Havránek / Z. Pousta (Red.), Dějiny Univerzity Karlovy [Geschichte der Karlsuniversität], 4 Bde., Praha 1995–1998, hier: M. Svatoš (Red.), Bd. 1: 1347/48–1622, Praha
1995; F. Kavka / J. Petráň, A History of Charles University, 2 Bde., Prague 2001, hier Bd. 1.
Partikularschulen (studia particularia) waren solche Bildungseinrichtungen, die im Unterschied
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156
Martin Holý
Neben den genannten Schulen stiegen im Laufe des 16. Jahrhunderts auch die
Anzahl und das Niveau der Bildungsstätten der Brüderunität.4 In einigen Städten
entwickelten sich auch lutherische Schulen rasant – insbesondere in Gebieten, in
denen die deutschsprachige Bevölkerung überwog bzw. in Städten mit einer großen deutschen Minderheit. Dies betrifft vor allem bedeutende königliche Städte
(Prag, Joachimsthal/Jáchymov, Iglau/Jihlava, Znaim/Znojmo usw.).5 Daneben
entstanden auch einige weitere Lateinschulen, die vor allem aus privaten Mitteln
finanziert wurden (Sobieslau/Soběslav, Groß Meseritsch/Velké Meziřící, einige
studia particularia in Prag).6
4
5
6
zu den Universitäten jener Zeit (studia generalia) lediglich eine Teilbildung (also die Partikularbildung) anboten. Auch wenn sie sich untereinander individuell unterscheiden konnten,
war das Hauptziel aller Partikularschulen, den Schülern aktive Lateinkenntnisse beizubringen
(also die lateinische Bildung) und daneben auch solchen Stoff, dessen Beherrschung eine Voraussetzung für das weitere Studium an Schulen vom universitären Typus war. Dabei handelte
es sich vor allem um einen Teil der sog. septem artes liberales (vgl. Anm. 8). Vgl. Z. Winter,
Život a učení na partikulárních školách v Čechách v XV. a XVI. století. Kulturně-historický
obraz [Leben und Lehre an den Partikularschulen in Böhmen im 15. und 16. Jahrhundert.
Ein kulturhistorisches Bild] (Spisy musejní [Museumsschriften] 168), Praha 1901, S. 24–29.
Vgl. H. Ball, Das Schulwesen der böhmischen Brüder: mit einer Einleitung über ihre Geschichte, Berlin 1898; R. Urbánek, Jednota bratrská a vyšší vzdělání až do doby Blahoslavovy. Příspěvek ke 400. výročí narozenin Blahoslavových [Die Brüderunität und die höhere
Bildung bis zu den Zeiten Jan Blahoslavs. Ein Beitrag zur 400. Jährung des Geburtstags von
Jan Blahoslav] (Spisy FFMU [Schriften FF MU] 1), Brno 1923; Českobratrská výchova před
Komenským [Die Erziehung der Böhmischen Brüder vor Comenius], ed. A. Molnár (EPP
1), Praha 1956; R. Říčan, Několik pohledů do českobratrského vyššího školství za mladých
let Jana Amose Komenského [Einige Einblicke in das höhere Schulwesen der Böhmischen
Brüder in den jungen Jahren von Johann Amos Comenius], in: AJAK 21 (1962), S. 114–151;
M. Holý, Die Schulen der Brüderunität in Böhmen und Mähren als Objekt des Studieninteresses der Nobilität in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg, in: AC 24 (2010), S. 49–62;
Ders., Vzdělanostní mecenát v zemích České koruny (1500–1700) [Bildungsmäzenatentum
in den Ländern der Böhmischen Krone (1500–1700)], Praha 2016, S. 142–149.
Vgl. dazu mit weiteren Quellen- und Literaturhinweisen M. Holý, Bildungsmäzenatentum
und lutherisches Schulwesen in den böhmischen Ländern des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts, in: OH 18/2 (2017), S. 268–278.
Vgl. zumindest H. Ball, Schulwesen (wie Anm. 4), S. 106–119; J. Lintner, Škola Rožmberská v Soběslavi [Die Rosenberger Schule in Sobieslau], in: SHK 8/1 (1899), S. 77–84; M.
Holý, Soukromá škola Matouše Kollina z Chotěřiny v Praze a její šlechtičtí žáci [Die Privatschule des Matthäus Collinus von Chotěřina in Prag und ihre adligen Schüler], in: E. Semotanová (Hg.), Cestou dějin. K poctě prof. PhDr. Svatavy Rakové, CSc. [Durch den Weg
der Geschichte. FS für Svatava Raková], Bd. 2 (PHUAVČR C 16/2), Praha 2007, S. 159–184;
Ders., Bildungsmäzenatentum und Schulgründungen des Adels für Protestanten in Böhmen und Mähren (1526–1620), in: J. Bahlcke / T. Winkelbauer (Hgg.), Schulstiftungen und Studienfinanzierung. Bildungsmäzenatentum in den böhmischen, österreichischen
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Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium
157
In den Nebenländern der Böhmischen Krone bildeten bereits seit dem Mittelalter Pfarrschulen und städtische Lateinschulen das Rückgrat der Bildung.
Im Vergleich zu den böhmischen Ländern war jedoch ihr Netz viel spärlicher.
Trotz wiederholter Versuche gelang hier bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts
keine erfolgreiche Universitätsgründung. Die erwähnten präuniversitären Bildungsstätten wurden nach und nach säkularisiert und in der Regel entweder
dem Stadtrat oder der Aufsicht der jeweiligen Herzöge unterstellt. Daneben
wurden auch viele neue Gymnasien gegründet, vor allem dem Vorbild der lutherischen Schulen im Reich folgend. Die überwiegende Mehrheit der städtischen
und fürstlichen Schulen in den Lausitzen und in Schlesien wandte sich von den
1520er bis 1550er Jahren dem Luthertum zu. Daneben entstanden jedoch auch
einige calvinistische Gymnasien. Von den bedeutendsten Lateinschulen in den
Nebenländern der Böhmischen Krone seien zumindest die Gymnasien in Brieg/
Brzeg, Bautzen, Beuthen an der Oder/Bytom Odrzański, Goldberg/Złotoryja,
Breslau/Wrocław, Görlitz und Zittau genannt.7
7
und ungarischen Ländern, 1500–1800 (VIÖG 58), Wien/München 2011, S. 93–107; Ders.,
Vzdělanostní mecenát (wie Anm. 4), S. 85–94, 149–152; Ders., Bildungsmäzenatentum und
lutherisches Schulwesen (wie Anm. 5), S. 268–278; M. Štindl, V proměnách renesanční doby
[Im Wandel des Renaissancezeitalters], in: Z. Fišer (Red.), Velké Meziříčí v zrcadle dějin [Groß
Meseritsch im Spiegel der Geschichte] (VKM 92), Brno 2008, S. 101–137, hier S. 131–134.
Von den wichtigsten Werken, die das lausitzische sowie schlesische Schulwesen behandeln und
sich nicht nur auf eine konkrete Schule oder eine Persönlichkeit begrenzen, seien zumidest
folgende angeführt L. Sturm, Das Volksschulwesen Schlesiens in seiner geschichtlichen Entwicklung: kurz dargestellt für Lehrer und Freunde der Schule, Breslau 1881; H. Oelrichs, Zur
Geschichte des Schulwesens in Schlesien, in: ZfGKGÖS 16 (1882), S. 63–86; J. Soffner, Zur
Geschichte des schlesischen Schulwesens im 16. Jahrhundert, in: ebd. 19 (1885), S. 271–294;
H. Heyden, Beiträge zur Geschichte des höheren Schulwesens in der Oberlausitz, Zittau
1889; E. A. Seeliger, Schulen in den Landstädten und Dörfern der Oberlausitz vor der Reformation, in: NLM 92 (1916), S. 1–19; G. Bauch, Geschichte des Breslauer Schulwesens vor
der Reformation (CDS 25), Breslau 1909; Ders., Geschichte des Breslauer Schulwesens in
der Zeit der Reformation (CDS 26), Breslau 1911; G. Dippold, Der Humanismus im städtischen Schulwesen Schlesiens, in: W. Eberhard / A. A. Strnad (Hgg.), Humanismus und
Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation (FQKKGOd 28), Köln/Wien/Weimar
1996, S. 229–244; B. Burda, Szkolnictwo średnie na Dolnym Śląsku w okresie wczesnonowożytnym (1526–1740) [Das mittlere Schulwesen in Niederschlesien während der Frühen
Neuzeit (1526–1740)], Zielona Góra 2007; C. Absmeier, Schul- und Bildungsgeschichte,
in: J. Bahlcke (Hg.), Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft
(NFSG 11), Köln/Weimar/Wien 2005, S. 543–563; Dies., Herzog Georg II. von Brieg. Ein
Bild von einem Mäzen. Funktion und Nutzen frühneuzeitlichen Bildungsmäzenatentums am
Beispiel eines schlesischen Renaissancefürsten, in: J. Flöter / C. Ritzi (Hgg.), Bildungsmäzenatentum. Privates Handeln – Bürgersinn – kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit
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Martin Holý
Ob es sich nun um präuniversitäre Bildungsstätten in Böhmen, Mähren, den
Lausitzen oder Schlesien handelte, ihr aller Hauptziel war es, den Schülern aktive
Kenntnisse des Lateinischen sowie solche Lehrinhalte, deren Beherrschung eine
Voraussetzung für das Universitätsstudium bildete, zu vermitteln. Dies betraf insbesondere jenen Teil der septem artes liberales, der seit dem Mittelalter als trivium
bezeichnet wurde (Grammatik, Rhetorik und Dialektik), daneben aber auch die
Grundlagen des quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik).8 Im
Laufe des 16. und frühen 17. Jahrhunderts wurden zudem Fächer in den Unterricht aufgenommen, die ursprünglich nicht zu diesem Pensum gehört hatten, wie
beispielsweise Geographie, Geodäsie oder Geschichte.9
Der Erreichung der oben genannten Ziele dienten an allen erwähnten Schulen Lehrbücher, die damals schon sehr häufig gedruckt erschienen. Wie sie im
Unterricht tatsächlich verwendet wurden, kann aber nur begrenzt nachvollzogen
werden. Ihre Überlieferung sowie die Existenz weiterer Lehrmittel sind nur einer
von mehreren Indikatoren. Zudem können Studienordnungen herangezogen
werden, die für die einzelnen Schulen entstanden und in denen häufig konkrete
Unterrichtstexte erwähnt werden. Ihr Überlieferungsstand ist wiederum nicht
allzu gut, vor allem in Bezug auf die böhmischen Länder. Hier betreffen die zur
Verfügung stehenden Vorschriften in der Regel Stadtschulen.10
(BHBF 33), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 107–123; Dies., Das schlesische Schulwesen im
Jahrhundert der Reformation. Ständische Bildungsreformen im Geiste Philipp Melanchthons (Contubernium 74), Stuttgart 2011; M. Holý, Vzdělanostní mecenát (wie Anm. 4),
vor allem S. 166–194.
8 Die sieben freien Künste (septem artes liberales) wurden bereits seit dem Mittelalter in das sog.
trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) aufgeteilt. Zum damaligem Bildungssystem sowie zu den Freien Künsten vgl.
mindestens O. Kádner, Dějiny pedagogiky [Geschichte der Pädagogik], 2 Bde., Praha 21923;
J. Koch (Hg.), Artes Liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters
(STGM 5), Leiden/Köln 1959; H. Schipperges, Artes liberales, in: LexMa, Bd 1: Aachen
bis Bettelordenskirchen, München/Zürich 1980, Sp. 1058–1063; D. L. Wagner (Hg.), The
Seven Liberal Arts in the Middle Ages, Bloomington 1983; W. Rüegg (Hg.), Geschichte der
Universität in Europa, Bd. 2: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800),
München 1996; M. Stolz, Artes-liberales-Zyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter
(BG 47), 2 Bde., Tübingen 2004.
9 Vgl. M. Holý, Schulbücher und Lektüren in der Unterrichtspraxis an böhmischen und mährischen Lateinschulen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: S. Hellekamps / J. L. L. Cam /
A. Conrad (Hgg.), Schulbücher und Lektüren in der vormodernen Unterrichtspraxis [=ZfE
(2012), Sonderheft 17], S. 105–119.
10 Vgl. zumindest J. Strabo, Schola Zatecensis Iacobi Strabonis Glatovini […], Praha: Jiří Černý
z Černého Mostu [Georgius Nigrinus de Nigro Ponte] 1575 (BCBT37193); P. Codicillus,
Ordo studiorum docendi atque discendi literas, in scholis civitatum Regni Boemiae […],
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Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium
159
Obwohl manche der genannten Schulordnungen auch an anderen partikularen Bildungseinrichtungen Verwendung fanden, ist unsere Kenntnis der Lehrbücher, die z. B. an den Schulen der Brüderunität oder an verschiedenen privaten
Lateinschulen benutzt wurden, begrenzt. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die
in die Analyse einbezogenen Schulordnungen den idealen Stand des Unterrichts
und nicht die tatsächliche Praxis reflektieren. So mussten etwa die konkret empfohlenen Schulbücher nicht zwangsläufig an der jeweiligen Schule vorhanden
sein und konnten durch andere Bücher ersetzt werden. In den Nebenländern
der Böhmischen Krone ist zum Glück der Überlieferungsstand der Schulordnungen viel besser.11
Die Grundlage des Unterrichts an der untersten Stufe der Partikularschulen
bildeten in den böhmischen Ländern Fibeln, die manchmal mit einfachen Katechismen verbunden waren oder mit Texten, mit deren Hilfe die Grundlagen der
Arithmetik unterrichtet wurden. Dies galt nicht nur für das verbreitete und wiederholt aufgelegte Lehrbuch „Elementarius libellus in lingua Latina et Boiemica
pro novellis scholasticis“ von Matthäus Collinus von Chotěřina/Matouš Kolin
z Chotěřiny (1516–1566), einem bedeutenden tschechischen Humanisten und
Absolventen der Universität Wittenberg, aus dem Jahr 1550, sondern auch für
weitere Handbücher, die im untersuchten geographischen Raum entstanden.
Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel Adam von Veleslavin] 1586 (BCBT36590); Classes
quinque in Academia Pragensi pro pueris et adolescentibus cujusvis conditionis ac dignitatis, domesticis et peregrinis erectae, Praha: Pavel Sessius 1609 (BCBT39127), vgl. SK Praha,
Sign. AG XIII 133, Nr. 25; im 18. Jahrhundert gedruckt von A. Voigt, Acta litteraria Bohemiae
et Moraviae, Tom. 1, Praha: Wolfgang Gerle 1775, S. 321–336; später nur A. M. z Kaménka,
Intimatio paedagogii academici, trilinguis, trivii […], Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel Adam von Veleslavin] (Erben) 1612 (BCBT38341), vgl. NK Praha, Sign. 45 A 11, Nr. 8; M.
Petra Codicilla z Tulechova Řád školám městským v Čechách a na Moravě léta 1586 akademií
pražskou vydaný: příspěvky k dějinám školství v Čechách [Die Ordnung für die städtischen
Schulen in Böhmen und Mähren des Magister Peter Codicillus von Tulechov, herausgegeben
1586 durch die Prager Akademie: Beiträge zur Geschichte Schulwesens in Mähren], ed. F. J.
Zoubek, Praha 1873; A. Truhlář, M. Vavřince Benedikta z Nudožer školní řád z r. 1607
[Die Schulordnung des Magister Laurentius Benedictus Nudozerinus von 1607], in: ČČM
65 (1891), S. 67–74; Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 608–658; J. V. Novák, Die
Schulordnung des deutschen „Gymnasium illustre“ bei St. Salvator in Prag, in: JGPÖ 27 (1906),
S. 123–150; M. Holý, Soukromá škola (wie Anm. 6), S. 159–184; Ders., Schulbücher (wie
Anm. 9), S. 107, 111–113; Ders., Vzdělanostní mecenát (wie Anm. 4), S. 66.
11 Vgl. M. Holý, Vzdělanostní mecenát (wie Anm. 4), S. 166–194; Ders., Die lutherischen
Schulordnungen in den Nebenländern der Böhmischen Krone im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: L. Harc / G. Wąs (Hgg.), Reformacja: między ideą a realizacją. Aspekty europejskie, polskie, śląskie [Reformation: zwischen Idee und ihrer Umsetzung. Die europäischen,
polnischen und schlesischen Aspekte], Kraków 2019, S. 211–228.
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160
Martin Holý
Ähnlich wie das Werk von Collinus gingen sie nicht nur von der einheimischen
Tradition aus, sondern reflektierten auch einige ausländische Vorbilder.12 Von
den weiteren ABC-Büchern, die in den böhmischen Ländern entstanden sind, sei
zumindest „Isagogicon“ von Beneš Optát (ca. 1480–1559) genannt, das die Fibel
mit einem Arithmetiklehrbuch kombiniert, sowie das Elementarbuch „Slabikář
český“, das 1547 in Proßnitz/Prostějov erschienen ist.13
Die lateinische Grammatik wurde im 16. Jahrhundert an nichtkatholischen
Schulen zum einen anhand einiger mittelalterlicher Autoren unterrichtet, deren
Schulbücher jedoch stark im humanistischen Geiste angepasst wurden; beliebt
war insbesondere Aelius Donatus (4. Jahrhundert n. Chr.). Zum anderen fanden
zunehmend neue Hilfsmittel Verwendung. Gemeint sind hiermit besonders die
Grammatiken Philipp Melanchthons (1497–1560), die aber unter verschiedenen
Bezeichnungen und in verschiedenen Fassungen erschienen. Zu nennen sind hier
beispielsweise diejenigen in der angepassten Fassung des berühmten Rektors des
Goldberger Gymnasiums Valentin Trotzendorf (1490–1556), dessen Pädagogik
in Schlesien zu einem anerkannten Vorbild avancierte, oder in der Fassung des
späteren Vorstands des Görlitzer Gymnasiums Laurentius Ludovicus (1536–1594)
sowie in der Fassung von Paulus Aquilinus, (vor 1520 bis etwa 1569), Rektor der
Lateinschule Proßnitz.14
12 Vgl. M. Collinus, Elementarius libellus in lingua latina et boiemica pro novellis scholasticis
[…], Praha: Jan Kantor Had 1550 (K01572a), vgl. NK Praha, Sign. 65 E 1895.
13 Vgl. B. Optát, Isagogicon, jenž jest první uvedení každému počínajícímu se učiti, a to ku poznání dvojího každému velmi potřebného umění ortographii předkem, kdež se ukazuje české
řeči pravé a mírné psaní i čtení […] aritmetiky potom, kdež se oznamuje umění mírného a
snadného počítání [Isagogicon, das die erste Einführung für jeden lernenden Anfänger ist, und
zwar zum Kennenlernen der beiden für jeden sehr nützlichen Künste, zunächst der Orthografie, wo das der tschechischen Sprache gerechte und gemäßigte Schreiben und Lesen dargestellt
wird […] und danach der Arithmetik, wo die Kunst des gemäßigten und einfachen Rechnens
bekanntgemacht wird], Náměšť nad Oslavou: Jan Pytlík z Dvořiště 1535 (K06640), vgl. SK
Praha, Sign. AG XIII 133; Slabikář český a jiných náboženství počátkové, kterýmžto věcem
dítky křesťanské hned zmladosti učeny býti mají [Tschechische Fibel und Grundlagen anderer Religionen, also Sachen, in denen christliche Kinder gleich in ihrer Jugend unterrichtet
werden sollen], Prostějov: Jan Günther 1547 (K15441), vgl. ÖNB Wien, Sign. BE.2.R.62 /4.
14 Vgl. P. Aquilinas, Grammatica Philippi Melanchthonis latina. Iam denuo recognita et plerisque in locis locupletata, et autoris voluntate edita […] Nunc primum boiemico sermone
illustrata […], Olomouc: Jan Günther 1560 (K05474), vgl. SK Praha, Sign. AC IV 57; V. Trotzendorf / L. Ludovicus (Hgg.), Compendium praeceptionum grammaticarum Philippi
Melanchthonis in usum scholae Gorlicensis […], Görlitz: Ambrosius Fritsch 1593 (VD16 ZV
4906), vgl. RSB Zwickau, Sign. 9.8.19.(1); Diess. / J. Meister / M. Mylius (Hgg.), Compendium praeceptionum grammaticarum Phillipi Melanchthonis in usum scholae Gorlicensis […], Görlitz: Ambrosius Fritsch (Erben) 1594 (VD16 M 3413, VD16 M 4313), vgl. HAB
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161
1614 gab die Prager utraquistische Universität auch eine neue lateinische
Grammatik heraus, die nicht nur auf Melanchthon, sondern auch auf Petrus
Ramus (1515–1572) basierte. Daneben entstanden in den Ländern der Böhmischen Krone auch einige weitere ‚ursprüngliche‘ Grammatiken für Latein aus der
Feder von nichtkatholischen Verfassern, z. B. „Elementa declinationum et conjugationum“ des bekannten Rektors der Karlsuniversität Petrus Codicillus von
Tulechov/z Tulechova (1533–1589).15
Sobald die Schüler die lateinische Grammatik beherrschten, prägten sie sich
auch einige grundlegende Texte des Christentums ein, vor allem „Decem precepta“
und „Symbolum Apostolicum“, die sie unter anderem anhand von Melanchthons
Werk „Enchiridion elementorum puerilium“ lernten,16 und sie begannen ihre
Kenntnisse mit Hilfe der sog. „Libri exegetici“ zu repetieren und zu vertiefen.
Schon während des Mittelalters erfreuten sich vor allem Äsops Fabeln großer
Beliebtheit. Sie erschienen auch während des 16. und frühen 17. Jahrhunderts
in vielen Auflagen. Neben solchen Editionen, die im Untersuchungsgebiet
erschienen, wurden an den Schulen in den Ländern der Böhmischen Krone
anscheinend auch im Reich herausgegebene, insbesondere lutherische, Editionen verwendet.17
Wolfenbüttel, Sign. H: P 871.8 Helmst.; vgl. auch Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3),
S. 520–526; zu Trotzendorf vgl. L. Haupt, Valentin Friedland genannt Trotzendorf, in: NLM
41 (1864), S. 134–144; L. Sturm, Valentin Trotzendorf und die Lateinische Schule zu Goldberg. FS zur Feier des 400jährigen Geburtstages Trotzendorfs, geboren den 14. Februar 1490,
Goldberg 1888; G. Mertz, Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16. Jahrhundert,
Heidelberg 1902, S. 152 f.; F. Meister, Trotzendorf, in: ADB, Bd. 38: Thienemann – Tunicius,
Berlin 1894, S. 661–667; G. Bauch, Valentin Trotzendorf und die Goldberger Schule (MGP
57), Berlin 1921, S. 52–169; K. Weidel, Valentin Trozendorf, in: SLB, Bd. 4, Breslau 1931,
S. 98–101; A. Lubos, Valentin Trozendorf. Ein Bild aus der schlesischen Kulturgeschichte,
Ulm 1962; A. Michler, Valentin Trotzendorf – nauczyciel Śląska [Valentin Trotzendorf –
der Lehrer Schlesiens], Złotoryja 1996; E. Axmacher, Trozendorf, Valentin, in: BBKL, Bd.
12: Tibboniden bis Volpe, Giovanni Antonio, Hamm 1997, Sp. 618–623.
15 Vgl. Elementa grammaticae latinae Philippo-Rameae, pro inferioribus classibus bohemicae
pubis collecta […], Praha: Daniel Carolides a Carlsperg 1614, vgl. KNM Praha, Sign. 26 E 20;
P. Codicillus, Elementa declinationum et coniugationum pro classe ultima […], Praha: Jan
Schumann 1616 (K04162), vgl. NK Praha, Sign. 45 E 38.
16 Vgl. P. Melanchthon, Enchiridion elementorum puerilium, Wittenberg: Josef Klug 1525
(VD16 ZV 25688); später mehrmals nachgedruckt.
17 Aesops Fabeln wurden bereits 1480 in tschechischer Übersetzung in Kuttenberg/Kutná Hora
herausgegeben. Vgl. Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 528; Neuauflagen der Fabeln
erschienen dann 1488 und 1557 in Prag, vgl. Aesopus, Bajky [Fabeln] (Vita et fabulae secundum Henricum Steinhövel, boh), Praha: Tiskař Pražské bible [Drucker der Prager Bibel], o.
J. [um 1488] (INC015), vgl. SK Praha, Sign. D O VI 9; Aesopus, Ezopa mudrce život s fabulemi
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162
Martin Holý
Neben Äsops Fabeln gebrauchte man im Lateinunterricht auch viele weitere
Texte. Seit dem Mittelalter waren ebenfalls die „Disticha Catonis“ beliebt, ein
Werk, das während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts viele Neuauflagen
erfuhr.18 Bereits in den niederen Klassen griff man auch gerne zu verschiedenen Sammlungen von Sentenzen, wie z. B. zu den Sprüchen Salomos.19 Von
den Werken humanistischer Autoren waren vor allem „De civilitate morum
puerilium“ des Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) und seine „Colloquia“
verbreitet, ebenso wie die „Colloquia sive exercitatio Latinae linguae“ des spanischen Gelehrten Juan Luis Vives (1493–1540). Auch weitere Sammlungen
von Phrasen und Wendungen sowie Konversationsbüchlein, insbesondere verschiedene Ausgaben von Melanchthons „Loci communes“ erfreuten sich großer Beliebtheit.20
Klassische Autoren wurden vor allem in höheren Klassen gelesen. Es handelte
sich dabei vor allem um Vergil (70–19 v. Chr.), Ovid (43 v. Chr.–18/19 n. Chr.),
Horaz (65–8 v. Chr.), Catull (84–54 v. Chr.), Caesar (100–44 v. Chr.), Sallust
(86–35/34 v. Chr.) und Cicero (106–43 v. Chr.). Ihre Texte erfuhren verschiedene Ausgaben. Dabei wurden mit Sicherheit nicht nur im Untersuchungsgebiet
entstandene Ausgaben verwendet, sondern auch solche, die anderswo erschienen. Zur allgemeinen Perfektionierung des lateinischen Stils bediente man sich
vor allem der „Epistolae Ciceronis“. Sehr verbreitet waren dabei die Editionen
des protestantischen Straßburger Rektors Johannes Sturm (1507–1589), darunter auch eine Edition des bekannten böhmischen Humanisten Jan Kocín von
Kocinét/z Kocinétu (1543–1610) oder jene von Georg Fabricius (1516–1571),
dem bekannten Rektor der St.-Afra-Schule in Meißen. Syntax und Etymologie
übte man in den böhmischen, überwiegend nichtkatholischen Schulen mit Hilfe
von Melanchthons Lehrbüchern („Syntaxis Philippi“, „Etymologia Latina“), die
anebo s básněmi jeho [Das Leben des Gelehrten Aesop mit seinen Fabeln sowie Gedichten],
Olomouc: Kašpar Aorg/Jan Günther 1557 (K00069), vgl. KNM Praha, Sign. 27 C 20, weitere
Ausgaben (1567, 1579, 1584, 1613) vgl. in: KPS, hier K00070 bis K00075; für Dutzende Ausgaben im deutschen Sprachraum von 16. bis zum 17. Jahrhundert vgl. VD16.
18 Nur in den böhmischen Ländern wurden sie während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
mehr als zwanzigmal neu aufgelegt, vgl. KPS, hier K01477 bis K01495.
19 Salomos Sprüche wurden auch in Böhmen herausgegeben. Vgl. V. Posthumius, Sententiae
Salomonis generaliores de bonis moribus excerptae e libro proverbiorum, praenotatae titulis et
ut proficiant multi in bonis studiis publicatae […], Praha: Jiří Jakubův Dačický 1570 (K14668),
vgl. NK Praha, Sign. 52 F 64, Nr. 18.
20 Wegen der vielen Auflagen der genannten Werke ist es unmöglich, auf sie einzeln zu verweisen. Für die Situation in den böhmischen Ländern vgl. Z. Winter, Život a učení (wie Anm.
3); M. Holý, Schulbücher (wie Anm. 9), S. 109.
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ebenfalls in den Lausitzen und in Schlesien erschienen (Laurentius Ludovicus,
Valentin Trotzendorf ).21
Im Lateinunterricht kamen in allen Klassen auch verschiedene Wörterbücher
zum Einsatz. Viele davon sind ebenfalls mehrsprachig erschienen. Sie dienten
den Schülern nicht nur beim Übersetzen oder bei der Interpretation, sondern
auch zum Memorieren. Die Schüler sollten auch eigene Vokabelhefte führen. Die
Lateinkenntnisse wurden aber nicht nur direkt, sondern auch indirekt, während
des Unterrichts in weiteren Fächern, vertieft, beispielsweise im Religionsunterricht, auf den in der Regel großer Wert gelegt wurde. An protestantischen Schulen
war vor allem der Kleine Katechismus Martin Luthers (1483–1546), und zwar in
verschiedenen Ausgaben, weit verbreitet.22
Es wurden aber auch Werke weiterer Verfasser benutzt, beispielsweise der Katechismus von David Chytraeus (1530–1600), Professor an der Universität Rostock,
oder „De summa Christianae religionis“ des lutherischen Theologen Hieronymus
Nopp (1495–1551). Auch die Brüderunität hatte ihre eigenen Katechismen, die
sie ebenfalls im Schulunterricht verwendete. In der Ober- und Niederlausitz sowie
in Schlesien wurden neben den oben genannten Katechismen auch die wiederholt erscheinenden Katechismen Valentin Trotzendorfs, die mit einem Vorwort
Melanchthons versehen waren, eingesetzt.23
Dem Griechischen wurde an den Lateinschulen der Länder der Böhmischen
Krone viel geringere Aufmerksamkeit geschenkt. Meistens ging es lediglich um
die Beherrschung des griechischen Alphabets und der Grundlagen der Grammatik. Für den Griechischunterricht, der unter Zuhilfenahme der lateinischen
Sprache erteilt wurde, verwendete man Melanchthons griechische Grammatik,
21 Vgl. zumindest Compendium etymologiae et syntaxis, in usum Gymnasii Gorlicensis. Editum
opera Laurentii Ludovici Leoberg. Adiecta sunt Gnorismata regularum in Syntaxi, usurpata
à Valentino Trocedorfio, in schola Goldbergensi, Görlitz: Ambrosius Fritsch 1572 (VD16 L
3138), vgl. BSB München, Sign. L. lat. 486; G. Fabricius, Elegantiarum puerilium, ex M.
Tullii Ciceronis epistolis libri tres […], Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel Adam von
Veleslavin] 1589 (K02405), vgl. NK Praha, Sign. 45 F 40, Nr. 2; Ders., Elegantiarum e Plauto
et Terentio libri duo. Collecti a Georgio Fabricio Chemn. […], Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel Adam von Veleslavin] 1589 (K02406), vgl. NK Praha, Sign. 45 F 40, Nr. 1.
22 Wegen der vielen Editionen kann hier nicht auf einzelne Auflagen hingewiesen werden. Vgl.
dazu VD16 sowie VD17; sowie Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 542–547.
23 Vgl. De summa Christianae religionis brevia quaedam axiomata olim ab Hieronymo Noppo
tradita ac eadem nunc versibus illigata a Mathaeo Collino Gurimeno […], Nürnberg: Johann
Petreius 1564 (VD16 N 1843); D. Chytraeus, Catechesis recens recognita, Leipzig: Hans
Rambau d. Ä. 1558 (VD16 C 2520); beide Katechismem sind später noch vielmals erschienen,
vgl. dazu: VD16 sowie VD17; vgl. auch V. Trotzendorf, Catechesis scholae Goltpergensis
[…], Wittenberg: Johann Krafft d. Ä. 1558 (VD16 F 2803).
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Martin Holý
die in zahlreichen Auflagen erschien. Man nahm jedoch auch die Grammatiken
anderer Autoren zu Hilfe.24 Von den griechischen Klassikern wurden insbesondere Homer (ca. 9. Jahrhundert v. Chr.), Aristophanes (ca. 450/444–380 v. Chr.),
Euripides (ca. 485/84/80–406 v. Chr.), Thukydides (ca. 454–399/96 v. Chr.) und
Demosthenes (384–322 v. Chr.), und zwar in verschiedenen Ausgaben, gelesen.
In welchem Maße direkt der griechische Text der Heiligen Schrift verwendet
wurde, steht nicht eindeutig fest. Im Falle der Episteln kann dies jedoch angenommen werden.25
Vernakularsprachen, für die auch im protestantischen Milieu der Länder der
Böhmischen Krone zahlreiche Handbücher erschienen, waren kein direkter
Bestandteil des Unterrichts und erfüllten nur eine unterstützende Rolle, besonders
zu Beginn des Schulunterrichts. Inwiefern man in den Schulen handschriftliche
Abschriften bzw. bereits in Druck erschienene tschechische und deutsche Grammatiken bzw. auch weitere Lehrbücher für Volkssprachen verwendete, ist nicht
ganz klar. Einige von ihnen wurden dennoch direkt für diesen Zweck konzipiert.26
Mit dem Lateinunterricht war die von den Humanisten stark hervorgehobene
Rhetorik eng verbunden. Sie wurde in den höheren Klassen unterrichtet – dabei
wurden die Rhetorik von Aristoteles (384–322 v. Chr.) und die Reden Ciceros
verwendet, aber auch neue Lehrbücher, die erst im 16. Jahrhundert entstanden.
Beliebt waren die Rhetorikbücher des französischen Humanisten Omer Talon
(ca. 1510–1562) sowie einige Rhetorikwerke Melanchthons. Um die Entwicklung dieses Bereiches machten sich aber auch einheimische Verfasser verdient,
besonders Jan Kocín, der nicht nur die „Rhetoricorum libri tres“ von Aristoteles,
sondern auch einige Rhetorikwerke des Hermogenes von Tarsos (2. Jahrhundert
24 Vgl. P. Melanchthon, Institutiones graecae grammaticae […], Hagenau/Haguenau: Thomas Anshelm 1518 (VD16 M 3491), vgl. BSB München, Sign. Res/4 L.gr. 80; N. Clenardus,
Institutiones linguae graecae […], Köln: Jakob Soter 1557 (VD16 ZV 3696), vgl. UB Freiburg,
Sign. D 522,c. Beide Lehrbücher wurden später mehrmals nachgedruckt. Vgl. dazu: VD16
sowie VD17.
25 Vgl. Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 548 f.; zur Bibellektüre und den Bibelkenntnissen der Schüler vgl. M. Holý / K. Bobková Valentová, Jak důkladně znali gymnazisté Bibli? K užívání biblických textů ve školní výuce v českých zemích 16. až 18. století [Wie
gründlich kannten Gymnasiasten die Bibel? Zur Verwendung biblischer Texte im Schulunterricht in den böhmischen Ländern im 16. bis 18. Jahrhundert], in: HOP 5, H. 2: Česká bible.
Kulturní, ideový a politický fenomén v proměnách staletí [Tschechische Bibel. Ein kulturelles,
gedankliches und politisches Phänomen im Wandel der Jahrhunderte], (2013), S. 63–72.
26 Vgl. dazu mit weiteren Quellen- und Literaturhinweisen M. Holý / K. Bobková Valentová, Vernacular languages in teaching at schools in the Czech lands in the Early Modern
period, in: J. L. L. Cam (Hg.), L’école et les langues dans les espaces en situation de partage
linguistique à travers l’histoire [im Druck].
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n. Chr.) herausgab. Im untersuchten Raum wurden jedoch auch weitere Rhetorikbücher verwendet, beispielsweise jene des Leipziger Humanisten Matthäus
Dresser (1536–1607) sowie die des berühmten protestantischen Dramatikers
Nicodemus Frischlin (1547–1590).27
Mit dem Sprachunterricht waren auch einige weitere Fächer verbunden, beispielsweise die klassische Geschichte – Thukydides, Herodot (ca. 490/80–430/20
v. Chr.), Caesar, Livius (ca. 58 v. Chr.–17 n. Chr.), Sallust, Tacitus (ca. 58–120 n.
Chr.) – sowie die mittelalterliche und die zeitgenössische Geschichte. Der Unterricht erfolgte anhand von verschiedenen Weltchroniken, beispielsweise jener
des deutschen Mathematikers und Astronomen Johann Carion (1499–1537),
oder anhand der in Latein und in den Volkssprachen erschienenen historischen
Kalender und Chronologien, beispielsweise des lutherischen Theologen und
Historikers Abraham Buchholzer (1529–1584) oder des bedeutenden tschechischen Humanisten Daniel Adam von Veleslavin/z Veleslavína (1546–1599) und
weiterer Schriften.28
Von den anderen sieben freien Künsten wurde an den Lateinschulen auch der
Dialektik, Arithmetik und Astronomie Aufmerksamkeit gewidmet. Als Grundlage
diente weiterhin Aristoteles’ Logik. Zur Verfügung standen zahlreiche Lehrbücher,
27 Vgl. A. Talaeus, Institutiones oratoriae […], Paris: Jacques Bogard 1545, vgl. BNF Paris,
Sign. FRBNF31430880; Ders., Rhetorica […], Paris: Matthieu David 1552 (beides später
vielmals nachgedruckt); Hermogenis Tarsensis, Rhetoris acutissimi De ratione inveniendi oratoria libri IIII […], Straßburg: Josias Rihel 1570 (VD16 H 2473), vgl. KNM Praha,
Sign. 59 E 106; Ders., Rhetoris acutissimi partitionum rhetoricarum liber unus […], Straßburg:
Josias Rihel 1570 (VD16 H 2472), vgl. KNM Praha, Sign. 59 E 10a; Ders., Rhetoris acutissimi
De dicendi generibus sive formis orationum libri II […], Straßburg: Josias Rihel 1571 (VD16
H 2474), vgl. NK Praha, Sign. 5 J 110; M. Dresser, Rhetorica, inventionis, dispositionis et
elocutionis illustrata […], Wittenberg: Clemens Schleich / Anton Schöne 1575 (VD16 D
2765), vgl. BSB München, Sign. L.lat. 310; N. Frischlinus, Rhetorica: seu Institutionum
Oratoriarum Libri Duo, Leipzig: Michael Lantzenberger 1604 (VD17 23:286273T), vgl. WLB
Stuttgart, Sign. Phil. oct. 814; zu Kocín vgl. auch M. Holý, Johannes Sturm, das Straßburger
Gymnasium (Akademie) und die Böhmischen Länder in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: M. Arnold (Hg.), Johannes Sturm (1507–1589). Rhetor, Pädagoge und Diplomat
(SMHR 46), Tübingen 2009, S. 303–319, hier S. 308–311.
28 Vgl. J. Carion, Chronica […], Wittenberg: Georg Rhau 1532 (VD16 C 995), vgl. BSB München, Sign. Astr. P32; später wiederholt erschienen, vgl. dazu: VD16; A. Buchholzer,
Chronologia […], Görlitz: Ambrosius Fritsch 1584/85 (VD16 B 9030), vgl. BSB München,
Sign. 4 Chrlg. 205; Ders., Rejstřík historický […] [Historisches Register …], Praha: Anna
Šumanová 1596 (K01366), vgl. NK Praha, Sign. 54 A 3614; D. Adam z Veleslavína, Kalendář historický […] [Historischer Kalender …], Praha: Daniel Adam z Veleslavína [Daniel
Adam von Veleslavin]/Jiří Melantrich z Aventina [Georg Melantrich von Aventin] d. Ä. 1578
(K00058), vgl. NK Praha, Sign. 54. C. 25.
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166
Martin Holý
die im 16. Jahrhundert herausgegeben wurden, beispielsweise Melanchthons „Dialectica“ oder die „Rudimenta dialecticae“ von Petrus Ramus. Auch einige Werke
tschechischer Verfasser – Petrus Codicillus und Sigismund Gelenius/Zikmund
Hrubý z Jelení (1497–1554) – standen zur Verfügung.29
Für die Arithmetik wurden zahlreiche Handbücher verwendet, beispielsweise
dasjenige des niederländischen Mathematikers Gemma Frisius (1508–1555)
oder des aus Lüneburg stammenden Lucas Lossius (1508–1582). Bestandteil des
Unterrichts war auch der Kalender. Als praktisches Hilfsmittel lernten die Schüler den „Cisiojanus“, und zwar nicht nur in Latein, sondern auch in den Volkssprachen.30 Die musica wurde unter anderem anhand vom „Enchiridion musicae“
des lutherischen Komponisten und Musiktheoretikers Georg Rhau (1488–1548)
unterrichtet. Von grundlegender Bedeutung sind zudem die „Musica“ (1558)
des Bischofs der Brüderunität Jan Blahoslav (1523–1571) sowie einige weitere
musiktheoretische Abhandlungen.31
Ein selbstständiges, sehr wichtiges Kapitel des theoretischen sowie praktischen
Unterrichts stellt das frühneuzeitliche Schultheater dar, das sowohl an den präuniversitären Bildungsstätten des Lateinschulwesens als auch an der Prager Universität
29 Vgl. P. Melanchthon, Dialectica […], Hagenau: Johann Setzer 1527 (VD16 ZV 10662),
vgl. ULB Halle, Sign. AB 137444; Ders., De dialectica libri quatuor […], Wittenberg: Josef
Klug 1529 (VD16 M 2997), vgl. BSB München, Sign. Phil. 1397; P. Ramus, Rudimenta dialecticae […], Herborn: Christoph Rab 1599 (VD16 L 503), vgl. ULB Halle, Sign. L503; beide
letztgenannte Drucke später mehrmals nachgedruckt, vgl. VD16 sowie VD17; P. Codicillus,
Praecepta dialectices, pro eius studiosis et tyronibus, diligenti studio M. Petri Codicilli a Tulechova, Pragae recognita, Praha: Jiří Jakubův Dačický 1590 (BCBT36940), vgl. KNM Praha,
Sign. 49 E 6; vgl. auch Šimon Gelenius Sušický [Simon Gelenius von Schüttenhofen],
Logika [Logik], edd. Č. Stehlík / J. Král (FB 1/7), Praha 1926; Z. Winter, Život a učení
(wie Anm. 3), S. 588.
30 Vgl. G. Frisius, Arithmeticae practicae methodus facilis […], Wittenberg: Georg Rhau 1544
(VD16 G 1113), vgl. BSB München, Sign. Math. P160; L. Lossius, Arithmetices erotemata
puerilia […], Frankfurt a. M.: Christian d. Ä. Egenolff (Erben) 1582 (VD16 L 2715), vgl. BSB
München, Sign. Math. p. 745; G. Rhau, Enchiridion utriusque musicę practicę […], Leipzig:
Valentin Schumann 1520 (VD16 R 1671, VD16 G 227, VD16 R 1677); für weitere Ausgaben
vgl. VD16 sowie VD17.
31 Vgl. Rhau, Enchiridion (wie Anm. 30), später mehrfach erneut veröffentlicht; J. Blahoslav, Musica, to jest knížka zpěvákům náležité zprávy v sobě zavírající [Musica, dies ist ein
Büchlein, das in sich entsprechende Lehren für Sänger einschließt], Olomouc: Jan Günther
1558 (K01160), vgl. KNM Praha, Sign. 18 F 7; vgl. auch Z. Winter, Život a učení (wie Anm.
3), S. 573–576; M. Holý, Musik in der Erziehung und Ausbildung des Adels aus den böhmischen Ländern im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: A. Hultsch (Hg.), Musica in Litteris.
Musikalische Geburtstagsgabe für Ludger Udolph, Dresden 2018, S. 21–29.
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Die protestantischen Lehrbücher als Kommunikationsmedium
167
häufig gespielt wurde. In dem von uns untersuchten Zeitraum erschienen bereits
viele Konspekte und Volltexte der Stücke im Druck.32
***
Abschließend kann festgestellt werden, dass die meisten der erwähnten Lehrbücher
in mehrfacher Hinsicht als Kommunikationsmedium angesehen werden können.
Sie vermittelten nämlich nicht nur, ihrer primären Funktion gemäß, entlang der
Achse Verfasser – Lehrer – Schüler ihren edukativen Inhalt, sondern sie waren
zugleich ein bedeutendes Medium der Verbreitung und Stärkung des wahren
Glaubens, gleich um welche Konfession es sich auf dem Gebiet der böhmischen
Länder, der Ober- und Niederlausitz und Schlesiens auch immer handelte. Dies
galt bei weitem nicht nur für solche Texte, die im katechetischen Unterricht
verwendet wurden, sondern auch für Lehrbücher, die primär auf andere Unterrichtsfächer ausgerichtet waren.
Obwohl die Länder der Böhmischen Krone multikonfessionell waren und
einige protestantische Kirchen hier ein eigenes System des Schulwesens schufen,
hatten die meisten Bildungsstätten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in diesem
Raum keine eindeutige religiöse Ausprägung. Dies gilt vor allem für die Schulen
in Böhmen und in Mähren. Sowohl die Lehrer als auch die Schüler stammten
aus verschiedenen Konfessionsgruppen, besonders aus den Reihen der Utraquisten. Ein Teil von ihnen näherte sich allmählich – zum Teil bewusst, zum Teil
32 Dazu vgl. Z. Winter, Život a učení (wie Anm. 3), S. 727–756; J. Máchal, Z dějin akademického divadla v Praze [Aus der Geschichte des Akademietheaters in Prag], in: ČMKČ 89
(1915), S. 15–24, 156–166; Ders., Dějiny českého dramata [Geschichte des tschechischen
Dramas] (Sbírka souvislé četby školní [Sammlung der zusammenhängenden Schullektüre]
37), Praha 1917; M. Cesnaková-Michalcová, Humanistické a reformační divadlo v období znovuupevnění feudalismu [Humanistisches und reformatorisches Theater im Zeitalter
der erneuten Festigung des Feudalismus], in: A. Scherl (Red.), Dějiny českého divadla [Geschichte des böhmischen Theaters], Bd. 1: Od počátků do sklonku osmnáctého století [Seit
seinem Beginn bis zum Ende des 18. Jahrhunderts], Praha 1968, S. 99–152, hier S. 101–139;
A. Jakubcová u. a. (Hgg.), Starší divadlo v českých zemích do konce 18. století. Osobnosti
a díla [Das ältere Theater in den böhmischen Ländern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.
Persönlichkeiten und Werke] (Česká divadelní encyklopedie [Tschechische Theaterenzyklopädie]), Praha 2007; M. Holá / M. Holý, „Pro ornamento facultatis et utilitate juventutis
scholasticae“: divadelní představení pražské karolínské akademie na počátku 17. století […
Theateraufführungen der Prager karolinischen Akademie zu Beginn des 17. Jahrhunderts], in:
I. Ebelová u. a. (Hgg.), Mezi kulturou a uměním: věnováno Zdeňku Hojdovi k životnímu
jubileu [Zwischen Kultur und Kunst. FS für Zdeněk Hojda], Praha 2013, S. 96–108.
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168
Martin Holý
unbewusst – der europäischen Reformation an, insbesondere dem Luthertum.
Dieses überwog später völlig in den Lausitzen und in Schlesien.33
Der Grund für die bedeutende Position lutherischer Schulbücher in den Ländern der Böhmischen Krone des 16. und frühen 17. Jahrhunderts lag aber auch
schlicht in der geographischen Nähe zu den evangelischen Gebieten des Heiligen
Römischen Reichs, die häufig eine Bildungs- und Berufsmigration der Einwohner
des böhmischen Staates nach sich zog. Weitere Faktoren waren die nichtkatholische Kirchenverwaltung dieser Länder sowie die relativ beschränkte Lehrbuchproduktion einheimischer Verfasser. In vielen Fällen erschienen Lehrbücher von
ursprünglich lutherischen Verfassern aus dem Reich, die auf die Bedürfnisse der
Schulen in den Ländern der Böhmischen Krone angepasst wurden. Auch der
eigentliche Inhalt muss in Betracht gezogen werden. Er war stets nur in begrenztem Maße ‚konfessionell‘; mithin war es dann nicht störend, wenn die meisten
Lehrkräfte einem anderen Glauben angehörten. Damit möchte ich aber nicht
sagen, dass Lehrbücher nicht zu zentralen Instrumenten der Konfessionalisierung
gehört hätten. Im Gegenteil, und dessen waren sich zeitgenössische pädagogische
Autoritäten wie Philipp Melanchthon, Valentin Trotzendorf und andere beim
Verfassen ihrer Lehrbücher sehr wohl bewusst.
33 Vgl. auch mit weiteren Literaturhinweisen M. Holý, Ähnlichkeit (wie Anm. 1), S. 39–51.
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DIE POLITISCHEN AKTEURE:
STÄNDE – ADEL – FÜRSTINNEN
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Jiří Just
Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation des
16. Jahrhunderts
Einleitung
Ein Erfolg der Reformation in den Ländern der Böhmischen Krone wäre im 15.
und im 16. Jahrhundert ohne die Teilnahme des Adels kaum denkbar gewesen.1
Der Adel in Böhmen und Mähren stellte in dieser Zeit im politischen System beider Länder eine bedeutende Kraft dar und wurde allmählich zum realen Gegenpol der Herrschermacht, des böhmischen Königs. Dies führte zur politischen
Konstellation, die man in beiden Ländern als einen Dualismus der Stände- und
Herrschermacht bezeichnet.2
1
2
Im böhmisch-mährischen Milieu hat der Begriff ‚Reformation‘ – vor allem aus chronologischer und teilweise auch inhaltlicher Sicht – eine viel breitere Bedeutung als im Reich. Der
reformatorische Prozess begann hier 100 Jahre früher und er führte zu einer weitreichenden
kirchlichen Reform, bei der die Autorität der römischen Kirche erschüttert wurde, neue
kirchliche Institutionen entstanden, es zur Säkularisation der kirchlichen Güter in einem
erheblichen Ausmaß kam und die Individualisierung der Suche nach dem Heil einen neuen
Horizont erlangte. Vgl. W. Eberhard, Zur reformatorischen Qualität und Konfessionalisierung des nachrevolutionären Hussitismus, in: F. Šmahel (Hg.) / E. Müller-Luckner
(Mitarb.), Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter (SHK Kolloquien 39), München 1998, S. 213–238; T. A. Fudge, Magnificent Ride. The First Reformation in Hussite
Bohemia (SASRH), Aldershot 1998; K. Richter, Die böhmischen Länder von 1471–1740,
in: K. Bosl (Hg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 2: Die böhmischen
Länder von der Hochblüte der Ständeherrschaft bis zum Erwachen eines modernen Nationalbewußtseins, Stuttgart 1974, S. 97–412; K. Oberdorffer, Die Reformation in Böhmen
und das späte Hussitentum, in: Bohemia 6 (1966), S. 123–145.
Vgl. W. Eberhard, Zur Religionsproblematik in der böhmischen Landesverfassung der
Reformationsepoche, in: K. Malý / J. Pánek (Hgg.), Vladislavské zřízení zemské a počátky
ústavního zřízení v českých zemích (1500–1619) [Die Wladislaw’sche Landesordnung und
die Anfänge der Verfassungsordnung in den Böhmischen Ländern (1500–1619)], Praha 2001,
S. 249–266; J. Macek, Jagellonský věk v českých zemích (1471–1526) [Das jagiellonische
Zeitalter in den Böhmischen Ländern (1471–1526)], Bd. 2: Šlechta [Adel], Praha 1994; J.
Pánek, The Religious Question and the Political System of Bohemia before and after the
Battle of the White Mountain, in: R. J. W. Evans / T. V. Thomas (Hgg.), Crown, Church
and Estates. Central European Politics in the Sixteenth and Seventeenth Centuries (Studies
in Russia and East Europe), New York 1991, S. 121–148; J. Válka, Moravia and the Crisis of
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172
Jiří Just
Seine Stellung befestigte der Adel gerade in der Zeit der hussitischen Bewegung (1419–1434) neben der politischen auch auf der wirtschaftlichen Ebene –
auf dieser vor allem zu Lasten der katholischen Kirche.3 Sowohl die Herren als
auch die Ritter profitierten von der Säkularisation der Kirchengüter, die zu den
bedeutendsten Ergebnissen der hussitischen Revolution gehört. In der späteren
Zeit, im 16. Jahrhundert, wies der Adel relativ erfolgreich alle Restitutionsversuche des Herrschers und der katholischen Institutionen zurück. Die Vermögensbasis des Adels war imposant. Im 16. Jahrhundert beliefen sich die Herrschaften
der beiden adligen Stände auf ca. zwei Drittel der Landesfläche; die Kammer des
böhmischen Königs, die königlichen Städte und die Kircheninstitutionen mussten sich mit nur einem Drittel begnügen.4
Der utraquistische Adel wurde nach der Durchsetzung der hussitischen Reformation im 15. Jahrhundert zum Garanten der neuen kirchlichen Verhältnisse sowie
zum Beschützer der utraquistischen Kirche.5 Eine wichtige Rolle spielte der Adel
in Böhmen auch bei der Vereinbarung des sog. Kuttenberger Religionsfriedens
im Jahr 1485, und Jahrzehnte danach beaufsichtigten die beiden adligen Stände
die Tätigkeit des sog. unteren Konsistoriums in Prag, der obersten kirchlichen
Behörde der utraquistischen Kirche.6
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam es dann zur weiteren Stärkung der
Adelsmacht – nun zu Lasten der Städte. Die Rivalität zwischen den königlichen
Städten und dem Adel, die in den 1510er Jahren zu eskalieren drohte, hatte zwar
keinen eindeutigen Sieger, aber letztlich ging der Adel im Vergleich zu den Städten
3
4
5
6
the Estates’ System in the Lands of the Bohemian Crown, in: ebd., S. 149–157; K. J. Dillon,
King and Estates in the Bohemian Lands 1526–1564 (SPICHRPI 57), Bruxelles 1976.
Vgl. F. Šmahel, Die Hussitische Revolution. Aus dem Tschechischen übersetzt von Thomas
Krzenck, 3 Bde. (MGH Schriften 43), Hannover 2002, Bd. 3, S. 1782–1818.
Vgl. ebd., S. 1807–1818; J. Macek, Jagellonský věk (wie Anm. 2), S. 90–119; J. Janáček, České
dějiny [Tschechische Geschichte], Buch 1: Doba předbělohorská [Die vorweißenbergische
Zeit], T. 1: 1526–1547, Praha 1968, S. 132–134; A. Míka, Majetkové rozvrstvení české šlechty
v předbělohorském období [Die Vermögensschichtung des böhmischen Adels im Zeitalter vor
der Schlacht am Weißen Berg], in: Sborník historický [Historischer Sammelband] 15 (1967),
S. 45–75.
Vgl. W. Eberhard, Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530 (VCC 38), München/Wien 1981.
Vgl. J. Just, Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1485, in: J. Bahlcke / S. Rohdewald /
T. Wünsch (Hgg.) / M. Arens / K. Boeckh / M. Fata / N. Kersken / S. Samerski /
D. Ursprung / E. Wetter (Mitarb.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013,
S. 838–850; W. Eberhard, Entstehungsbedingungen für öffentliche Toleranz am Beispiel
des Kuttenberger Religionsfriedens, in: CV 29 (1986), S. 129–154.
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Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation
173
aus diesem Kampf wirtschaftlich gestärkt heraus.7 Die Macht des Adels kulminierte
nach 1547, als die Städte infolge der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg und der Unterdrückung des (ersten) böhmischen nichtkatholischen
Ständeaufstandes ihren Einfluss auf der politischen Ebene spürbar verloren.8
Die Interessen des Adels an der Reformation und ihr Realisierungsraum
Der böhmische und mährische Adel war ein wichtiger Akteur im Prozess der
Reformation vor allem dank des relativ großen Ausmaßes der obrigkeitlichen
Macht, die der Adel in seinen eigenen Herrschaften ausübte. Das galt auch für
die Organisationsebene des kirchlichen Lebens. Ein wichtiges Instrument, mit
dem der Adel die kirchlichen Verhältnisse auf seinen Gütern markant beeinflusste,
war das Patronatsrecht für die Pfarreien.9 Dieses Privileg schuf – gemeinsam mit
7
8
9
Vgl. J. Pešek / B. Zilynský, Městský stav v boji se šlechtou na počátku 16. století [Der Städtestand im Kampf mit dem Adel am Anfang des 16. Jahrhunderts], in: FHB 6 (1984), S. 137–
161; J. Tomas, Některé problémy ekonomických a mocenských vztahů mezi stavy v českých
zemích v 15. a 16. století [Einige Probleme der ökonomischen und Machtbeziehungen unter
den Ständen in den böhmischen Ländern im 15. und 16. Jahrhundert], in: ebd., S. 109–136.
Vgl. P. Vorel, Sankce vůči českým královským městům roku 1547 v kontextu habsburské politiky první poloviny 16. století („Gentský ortel“ v politické propagandě stavovského odboje).
Ediční příloha: Český překlad rozsudku Karla V. nad městem Gent z května 1540 [Sanktionen
gegenüber den böhmischen königlichen Städten im Jahr 1547 im Kontext der habsburgischen
Politik der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (der „Genter Urteilsspruch“ in der politischen
Propaganda des Ständeaufstands). Editionsanhang: Tschechische Übersetzung des Urteils
Karls V. über die Stadt Gent vom Mai 1540], in: TH 16 (2015), S. 41–60; Ders., Die Außenbeziehungen der böhmischen Stände um die Mitte des 16. Jahrhunderts und das Problem
der Konfessionalisierung, in: J. Bahlcke / A. Strohmeyer (Hgg.), Konfessionalisierung
in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat,
Gesellschaft und Kultur (FGKÖM 7), Stuttgart 1999, S. 169–178; W. Eberhard, Monarchie
und Widerstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystem Ferdinands I. in
Böhmen (VCC 54), München 1985; Ders., Reformatorische Gegensätze – reformatorischer
Konsens – reformatorische Formierung in Böhmen, Mähren und Polen, in: J. Bahlcke /
H.-J. Bömelburg / N. Kersken (Hgg.), Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.–18. Jahrhundert
(FGKÖM 4), Leipzig 1996, S. 187–215; J. Janáček, České dějiny [Tschechische Geschichte],
Buch 1: Doba předbělohorská [Die vorweißenbergische Zeit], T. 2, Praha 1984.
Eine neuere komplexe Studie zum Thema des Patronatsrechts in Böhmen und Mähren fehlt.
Eine solide Betrachtung stellt immer noch dar J. Schlenz, Das Kirchenpatronat in Böhmen. Beiträge zu seiner Geschichte und Rechtsentwicklung (QFG 4), Prag 1928; das Thema
berühren teilweise P. Maťa, Vorkonfessionelles, überkonfessionelles, transkonfessionelles
Christentum. Prolegomena zu einer Untersuchung der Konfessionalität des böhmischen und
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174
Jiří Just
der von äußeren Einflüssen kaum gestörten Unabhängigkeit der obrigkeitlichen
Verwaltung – auf den Adelsherrschaften im ganzen 16. Jahrhundert gute Bedingungen für die Durchsetzung und Verbreitung der Ideen der europäischen Reformation, falls die Obrigkeit mit diesen sympathisierte. Andererseits konnte der
Adel auf dieser Grundlage eventuelle Eingriffe des Landesherrn in die religiösen
Angelegenheiten effektiv verhindern.
Die Potenz des Adels, Prozesse aktiv zu gestalten oder sogar die Initiative zu
übernehmen, zeigt sich markant bei der Verbreitung der lutherischen Reformation in Nordwestböhmen.10 Die Hinwendung ganzer Gebieten zur neuen Lehre
war ohne die massive Unterstützung der Grafen von Schlik, der Herren von Salhausen, der Ritter von Bünau und der Herren von Biberstein kaum möglich.11
Die Berufung der im Reich gebildeten und ordinierten lutherischen Geistlichen
auf die Pfarreien der adligen Herrschaften, und die Unterstützung der lokalen
mährischen Hochadels zwischen Hussitismus und Zwangskatholisierung, in: J. Bahlcke /
K. Lambrecht / H.-Ch. Maner (Hgg.), Konfessionelle Pluralität als Herausforderung.
Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65.
Geburtstag, Leipzig 2006, S. 307–331, hier S. 328–331; A. Skýbová, K politickým otázkám
dvojvěří v Českém království doby předbělohorské [Zu den politischen Fragen der Bikonfessionalität im Königreich Böhmen im Zeitalter vor der Schlacht am Weißen Berg], in: HT 4
(1981), S. 145–157; die Situation in Österreich, die der in den Ländern der Böhmischen Krone
ähnlich war, behandelt H. Feigl, Entwicklung und Auswirkungen des Patronatsrechtes in
Niederösterreich, in: JbLKNÖ NF 43 (1977), S. 81–114.
10 Die Durchsetzung der lutherischen Reformation betraf in Böhmen vor allem die Gebiete,
die bisher unter katholischer Verwaltung standen. In den Gebieten, die von den utraquistischen Geistlichen betreut wurden, kam es im Zusammenhang mit der Verbreitung der Ideen
der europäischen Reformation häufig zum Synkretismus verschiedener Einflüsse der älteren
hussitischen Traditionen sowie der neuen Lehre. Eine eindeutige Entscheidung für eine bestimmte Konfession war eher selten und erst seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts
bemerkbar. Vgl. W. Eberhard, Die deutsche Reformation in Böhmen 1520–1620, in: H.
Rothe (Hg.), Deutsche in den böhmischen Ländern (StDtO 25/1), Bd. 1, Köln/Weimar/
Wien 1992, S. 103–123.
11 Vgl. T. Šimková, „Hrad přepevný je Pán Bůh náš.“ Saská luterská šlechta severozápadních Čech
ve světle raněnovověké sakrální architektury [„Ein feste Burg ist unser Gott.“ Der sächsische
lutherische Adel Nordwestböhmens im Licht der frühneuzeitlichen Sakralarchitektur] (AUP
FP SH 19), Ústí nad Labem/Praha 2018; J. Just, Luteráni v našich zemích do Bílé hory [Die
Lutheraner in unseren Ländern bis zur Schlacht am Weißen Berg], in: Ders. / Z. R. Nešpor /
O. Matějka u. a., Luteráni v českých zemích v proměnách staletí [Die Lutheraner in den
Böhmischen Ländern im Wandel der Jahrhunderte], Praha 2009, S. 23–126, hier S. 50–65; A.
Dietrich / B. Finger / L. Hennig, Adel ohne Grenze. Die Herren von Bünau in Sachsen
und Böhmen, Müglitztal 2006; A. Horčička, Das geistige Leben in Elbogen zur Zeit der
Reformation, in: Jahresbericht des k. k. Neustädter deutschen Staats-Ober-Gymnasiums in
Prag am Graben, Jg. 1895, S. 3–46.
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Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation
175
Bildungsinstitutionen, oft gefördert durch die direkte Kommunikation mit deutschen Reformatoren, was z. B. bei Sebastian Schlik († 1528) zu beobachten ist, halfen erheblich bei der Etablierung der lutherischen Konfessionskultur in Böhmen.12
Eine interessante Einsicht in die Problematik des adligen Engagements für
die Reform der kirchlichen Verhältnisse bietet auch die Erforschung der großen
Kommunität der böhmischen und mährischen Utraquisten. Der utraquistische
Adel hatte einen unmittelbaren Einfluss auf die Leitung der gesamten Kirche, weil
er bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts das Konsistorium in Prag beaufsichtigte.
Das Selbstbewusstsein dieser Laienführer der Kirche zeigte sich unter anderem
in der gelegentlichen öffentlichen Kritik am utraquistischen Klerus. Nach dem
Vorbild des böhmischen Unterkämmerers Vaněk Valečovskýs von Fürstenbruck/z
Kněžmostu († 1472), der nach der Mitte des 15. Jahrhunderts die Priesterschaft
des hussitischen Erzbischofs Jan Rokycana (ca. 1390/96–1471) einer scharfen
Kritik unterzogen hatte,13 ließ im Jahr 1521 der Ritter Jan (Myška) Přemyšlenský
von Zlunitz/ze Žlunic einen offenen Brief drucken, in dem er die Missstände im
utraquistischen Klerus erbarmungslos anprangerte.14
Die Schrift enthält – bezeichnenderweise – keine tiefergehende theologische
Argumentation. Die Kritik von Přemyšlenský zielte vor allem auf die schlechten
12 Vgl. J. Just, Luteráni v našich zemích (wie Anm. 11), S. 51 f.; J. Hejnic, Philipp Melanchthon
und die Schule in H. Slavkov, in: LF 105 (1982), S. 236–239; S. Sieber, Geistige Beziehungen zwischen Böhmen und Sachsen zur Zeit der Reformation, T. 1: Pfarrer und Lehrer im
16. Jahrhundert, in: Bohemia 6 (1965), S. 146–172.
13 Vgl. Acta Unitatis Fratrum. Dokumente zur Geschichte der Böhmischen Brüder im 15. und
16. Jahrhundert, edd. J. Bahlcke / J. Halama / M. Holý / J. Just / M. Rothkegel / L.
Udolph, Bd. 1: Regesten der in den Handschriftenbänden Acta Unitatis Fratrum i–IV überlieferten Texte, Wiesbaden 2018, S. 263–267, Nr. 55; J. Čelakovský, Traktát podkomořího
Vaňka Valečovského proti panování kněžstva [Traktat des Unterkämmerers Vaněk Valečovskýs
gegen die Regierung des Klerus], in: Zprávy o zasedání Královské české společnosti nauk v
Praze [Sitzungsberichte der königl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag], Jg.
1881, Praha 1882, S. 325–345.
14 Vgl. J. Myška Přemyšlenský ze Žlunic, List pana Jana Přemyšlenského, kterýž jest napsal
ke všem stavuom […] [Ein Brief Herrn Jan Přemyšlenskýs, den er an alle Stände schrieb …],
Praha 1521 (K14490); die gedruckte Schrift ist als Unikat erhalten in: NK ČR Praha, Sign.
54 G 64086, Bbd. 3; vgl. P. Voit, Český knihtisk mezi pozdní gotikou a renesancí I. Severinsko-kosořská dynastie 1488–1557 [Der böhmische Buchdruck zwischen der Spätgotik und
der Renaissance I. Die Severin-Kosoř’sche Dynastie 1488–1557], Praha 2013, S. 26, Nr. 3. Die
Schrift wurde von Pavel Severin († 1553/54) gedruckt, der von 1520 bis 1523 fast ausschließlich
die Werke (in der tschechischen Übersetzung) Martin Luthers (1483–1546) und die Traktate
des südböhmischen Nonkonformisten Petr Chelčický (Peter von Cheltschitz, ca. 1390–1460)
publizierte. Auf die Kleruskritik Přemyšlenskýs machte aufmerksam W. Eberhard, Konfessionsbildung (wie Anm. 5), S. 130.
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Jiří Just
sittlichen Verhältnisse. Seiner Meinung nach praktizierten die utraquistischen
Priester nun genau das, was sie früher an den römischen Geistlichen kritisiert
hatten: Sie strebten nach weltlichen Gütern und nach dem Lob der Welt. Gute
Priester fände man selten, sie würden verachtet und oft würden Gauner (lotrzi)
zu den geistlichen Ämtern eingesegnet.15 Solche Pastoren seien, so der Autor,
höchstens zum Hüten einer Herde geeignet.16 Bei den Geistlichen blühe überall
Simonie, Sauferei und Unflätigkeit. Mit armen Leuten wolle keiner die Zeit verlieren.17 Manche Priester verfügten kaum über Bildung und sie könnten nur mit
Schwierigkeiten lesen.18 Das Konsistorium solle besser darauf achten, wer zum
geistlichen Amt zu bestellen sei.
Manche Adlige, obwohl sie formal Katholiken oder Utraquisten waren, weigerten sich nicht, noch weiter zu gehen, denn sie unterstützten auf ihren Herrschaften die Gruppen der sog. radikalen Reformation. Hinlänglich bekannt ist
die schnelle Verbreitung der Gemeinden der Brüderunität an der Wende vom 15.
zum 16. Jahrhundert, wobei sich allerdings praktisch in keinem Ort konfessionelle Homogenität herausbildete.19 Die Brüder lebten als Minderheitengruppe
innerhalb der utraquistischen Bevölkerung mancher unter adeliger Obrigkeit stehenden Städte Mittel- und Ostböhmens und Mährens, weil nur die Adligen die
Brüderunität effektiv vor der Verfolgung schützen konnten.20 Noch in der ersten
15 J. Myška Přemyšlenský ze Žlunic, List pana Jana Přemyšlenského (wie Anm. 14), fol.
A2r.
16 Vgl. ebd., fol. A3v.
17 Vgl. ebd., fol. A3v–B1r.
18 Vgl. ebd., fol. B1r–B2r.
19 Die Brüderunität erschien nach der Mitte des 15. Jahrhunderts auf der Bühne der Geschichte
und stand von Anfang an außerhalb der Landesgesetze. Die Gemeinden der Brüder konnten
nur in den adligen Herrschaften entstehen. Aus den königlichen Städten wurden sie schon in
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ausgewiesen. Zur Geschichte der Brüderunität vgl. J.
T. Müller, Geschichte der Böhmischen Brüder, Bd. 1: 1400–1528, Herrnhut 1922, Bd. 2:
1528–1576, Herrnhut 1931, Bd. 3: Die polnische Unität 1548–1793. Die böhmisch-mährische
Unität 1575–1781, Herrnhut 1931.
20 Die Verfolgungen durch die königliche Macht betrafen die Unität seit dem Anfang ihrer Existenz fast periodisch, aber zu einem dauerhaften Erfolg dieser Maßnahmen konnte es nur auf
den Gebieten kommen, wo die königlichen Behörden einen unmittelbaren Einfluss hatten,
also z. B. gerade in den königlichen Städten. Vgl. J. Just, Die Schrift Weshalb die Menschen
nicht durch Gewalt zum Glauben gezwungen werden sollen des Prokop aus Neuhaus. Ein Plädoyer der Böhmischen Brüder für die Glaubensfreiheit von 1474/1508, in: J. Bahlcke / K.
Bobková-Valentová / J. Mikulec (Hgg.), Religious Violence, Confessional Conflicts
and Models for Violence Prevention in Central Europe (15th–18th Centuries) / Religiöse
Gewalt, konfessionelle Konflikte und Modelle von Gewaltprävention in Mitteleuropa (15.–
18. Jahrhundert), Praha/Stuttgart 2017, S. 325–334; M. Thomsen, „Wider die Picarder“.
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Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation
177
Hälfte des 16. Jahrhunderts etablierten sich die Herren Kostka von Postupitz auf
Leitomischl/Litomyšl und die Krajíř von Krajek auf Jungbunzlau/Mladá Boleslav
als die wichtigsten Unterstützer der Brüderunität. Doch kann man diese Gönner der Unität kaum als einen ‚brüderischen Adel‘ im engeren Sinn des Wortes
bezeichnen. Es ist gut belegt, dass diese Obrigkeiten in den eigenen Herrschaften die Mehrheitskonfession, also die utraquistische Kirchenverwaltung, nicht
weniger unterstützten.
Gerade die Herren Krajíř von Krajek sind ein gutes Beispiel dafür, dass die
Interessen der adeligen Obrigkeit ein viel breiteres Spektrum hatten, als sich die
Theologen einer bestimmten Konfession – in diesem Fall der Brüderunität, die
sich gerne in der Rolle der geistlichen Verwalter der Krajíř von Krajek sah – vorstellen konnten.21 Konrad (ca. 1471–1542) und sein Sohn Ernst/Arnošt Krajíř
von Krajek († 1555) beobachteten auch mit großer Sympathie die literarische
Tätigkeit der führenden Köpfe der schweizerischen Reformation, beide lasen und
verbreiteten die Werke Heinrich Bullingers (1504–1575). Die Residenz der Herren Krajíř von Krajek, die Stadt Jungbunzlau, wurde in dieser Zeit zum wichtigen
Knotenpunkt der Kommunikation zwischen der Schweiz und den Anhängern
Bullingers in Zittau.22 Die Quellen belegen ein Netz ähnlich interessierter PerDiskriminierung und Vertreibung der Böhmischen Brüder im 16. und 17. Jahrhundert, in: J.
Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (Religions- und Kirchengeschichte in Ostmittel- und
Südosteuropa 4), Berlin/Münster 2008, S. 145–164.
21 In der Brüderunität selbst bildete sich ein interessantes Modell der Kompetenzbegrenzung
zwischen der weltlichen und der geistlichen Macht heraus. Die Brüderpriester schlossen den
Adel von jedem Eingriff in die religiösen Verhältnisse aus, die Obrigkeiten sollten nur für die
weltlichen Dinge sorgen, weil die Angelegenheiten der Kirche nur von den Geistlichen zu
verwalten seien. Vgl. J. Halama, Die Soziallehre der Böhmischen Brüder 1464‒1618. Zum
unerledigten Dialog der böhmischen Reformation mit der lutherischen und calvinistischen.
Aus dem Tschechischen übersetzt [durch] Karl-Eugen Langerfeld (UF Beiheft 27), Herrnhut
2017; Ders., The Crisis of the Union of Czech Brethren in the Years Prior to the Thirty Years
War or On the Usefulness of Persecution, in: CV 44 (2002), S. 51–68; E. Peschke, Kirche
und Welt in der Theologie der Böhmischen Brüder. Vom Mittelalter zur Reformation, Berlin
1981.
22 Zum ersten Mal machte auf diesen interessanten Aspekt aufmerksam E. A. Seeliger, Zittauer
Freunde der Züricher Reformatoren und der Böhmischen Brüder, in: ZG 9 (1932), S. 37–44;
im Zusammenhang mit dem Kontext der geistlichen und kulturellen Beziehungen zwischen
Zittau und Jungbunzlau zuletzt auch P. Hrachovec, Von feindlichen Ketzern zu Glaubensgenossen und wieder zurück. Das Bild der böhmischen Reformation in Zittauer Quellen
des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, in: M. Winzeler (Hg.), Jan Hus. Die Wege der
Wahrheit. Das Erbe des böhmischen Reformators in der Oberlausitz und in Nordböhmen
(ZG 52), Zittau/Görlitz 2015, S. 131–156.
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178
Jiří Just
sonen aus dem Umkreis des mittelböhmischen Adels, die im engeren Kontakt
zu den Herren Krajíř von Krajek standen. Der Fall von Konrad und Ernst Krajíř
von Krajek zeigt gleichzeitig, wie eindimensional oftmals – vor allem im Milieu
der konfessionellen Geschichtsschreibung – die konfessionelle ‚Einordnung‘ einer
bestimmten Person ist.23
Nur selten erreichten bei einem Adligen die individuellen Interessen an den
Ideen der Reformation eine solche Tiefe, dass dieser in seiner eigenen Herrschaft
eine grundlegende Reform der kirchlichen Verhältnisse in Angriff nahm und
selbst die Rolle eines ‚Reformators‘, des Führers einer religiösen Gruppe, übernahm, der Ambitionen zur Durchsetzung einer eigenen Konfession hatte. Eine
solche Person war der mährischer Ritter Jan Dubčanský von Zdenín/ze Zdenína
(† 1543), der auf seiner Herrschaft Habrowan/Habrovany bei Wischau/Vyškov,
die sich zwischen Brünn/Brno und Kremsier/Kroměříž erstreckte, versuchte, eine
lokale zwinglianische Gemeinschaft zu bilden, wobei er selbst zum Leiter dieser
Gruppe wurde.24 Obwohl die sog. Habrovaner nur kurze Zeit von äußeren Einflüssen ungestört existierten, zeigt dieses Beispiel, wie weitreichend die religiöse
Toleranz in Mähren im 16. Jahrhundert war.25
23 Im Werk von A. Molnár, Boleslavští bratří [Die ( Jung-)Bunzlauer Brüder] (Spisy Komenského
evangelické fakulty bohoslovecké [Schriften der evangelisch-theologischen Comenius-Fakultät]
A 21), Praha 1952, werden die Herren Krajíř von Krajek als eine fast ideale brüderische Obrigkeit präsentiert, obwohl der Autor gleichzeitig die komplizierten Beziehungen einiger Personen
dieses Geschlechts zur Brüderunität nicht verschweigt. Stark beeinflusst von dieser traditionellen Sicht ist immer noch die neue Monografie über die Herren Krajíř von Krajek von S. Nováková, Krajířové z Krajku. Z Korutan do zemí České koruny [Die Herren Krajíř von Krajek.
Von Kärnten in die Länder der Böhmischen Krone] (Šlechta zemí České koruny [Der Adel der
Länder der Böhmischen Krone] 7), České Budějovice 2010, wo nicht einmal die Kontakte der
Jungbunzlauer Herren mit dem Züricher Reformator Heinrich Bullinger reflektiert sind.
24 Den Fall des mährischen Adligen Jan Dubčanskýs von Zdenín beschrieb M. Rothkegel,
Mährische Sakramentierer des zweiten Viertels des 16. Jahrhunderts: Matěj Poustevník, Beneš
Optát, Johann Zeising ( Jan Čížek), Jan Dubčanský ze Zdenína und die Habrovaner (Lulčer)
Brüder (BBA 208; BD 24), Baden-Baden 2005, S. 123–226.
25 Vgl. J. Válka, Tolerance or Co-Existence? Relations between Religious Groups from the Fifteenth to Seventeenth Centuries, in: J. R. Palmitessa (Hg.), Between Lipany and White
Mountain. Essays in Late Medieval and Early Modern Bohemian History in Modern Czech
Scholarship (SCEH 58), Leiden/Boston 2014, S. 182–196; W. Eberhard, Toleranz und Religionsfreiheit im 15.–17. Jahrhundert in Mitteleuropa. Probleme und Prozesse, in: P. Hlaváček
(Hg.), Bruncvík a víla. Přemýšlení o kulturní a politické identitě Evropy / Bruncwik und die
Nymphe. Die Überlegungen zur kulturellen und politischen Identität Europas (Europaeana
Pragensia 2), Praha 2010, S. 55–72; J. Mezník, Religious Toleration in Moravia in the 16th
Century, in: Kosmas 3/4 (1984/85), S. 109–123; F. Seibt, Das Toleranzproblem im alten
böhmischen Staat, in: Bohemia 16 (1975), S. 39–50. Das Ausmaß der religiösen Toleranz in
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Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation
179
Die adligen Kirchenordnungen als Instrument der Reform
Es sind eben die inneren Beziehungen in den adligen Herrschaften, in denen
sich die verschiedenen Vorstellungen über eine lokale kirchliche Reform manifestierten. Noch in der Mitte des 16. Jahrhunderts kam es zur Erschütterung der
Position des Adels in seiner Rolle als Garant der utraquistischen Kirche. Aufgrund der Unterdrückung des (ersten) böhmischen Ständeaufstandes im Jahr
1547 versuchte König Ferdinand I. (1526–1564), eine Regelung der religiösen
Verhältnisse in Böhmen durchzusetzen.26 Nur zeitweilig erfolgreich waren die
Ausweisungen der lutherischen Geistlichen, von denen mehrere Orte betroffen
waren, und die Erneuerung des Mandats gegen die Brüderunität. Die Leitung der
Unität verschob einfach den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit nach Mähren, und an
Stelle der ausgewiesenen lutherischen Pastoren wurden nach einer gewissen Zeit
neue gleichgesinnte Personen berufen.27
Von einer wesentlichen Änderung war die utraquistische Kirche aber betroffen.
Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts verlor der böhmische Adel schrittweise den
Einfluss auf das sog. untere Konsistorium. Die Behörde wurde dem König unterstellt, was man zu den Teilerfolgen des Herrschers bei seinen Rekatholisierungsbemühungen zählen kann.28 Der Adel hatte keinen direkten Einfluss mehr auf die
Verwaltung der religiösen Angelegenheiten auf der Landesebene und er hatte jetzt
Mähren bestätigt die Existenz zahlreicher Täufergruppen, vor allem im Südosten des Landes,
sowie ein Strom der Nonkonformisten, die im 16. Jahrhundert in Mähren Zuflucht suchten.
26 Vgl. M. Thomsen, Diskriminierung (wie Anm. 20), S. 149–156; J. Janáček, České dějiny, T.
2 (wie Anm. 8), S. 299–335; J. Pánek, Stavovská opozice a její zápas s Habsburky. K politické
krizi feudální třídy v předbělohorském českém státě [Die Ständeopposition und ihr Kampf
mit den Habsburgern. Zur politischen Krise der Feudalklasse im böhmischen Staat vor der
Schlacht am Weißen Berg] (Studie ČSAV 2/1982), Praha 1982, S. 18–35.
27 Vgl. J. Just, Luteráni v našich zemích (wie Anm. 11), S. 69–77; A. Molnár, Boleslavští bratří
(wie Anm. 23), S. 160–199; J. T. Müller, Geschichte, Bd. 2 (wie Anm. 19), S. 199–290.
28 Vgl. Z. V. David, A Brief Honeymoon in 1564–1566. The Utraquist Consistory and the Arch
bishop of Prague, in: Bohemia 39 (1998), S. 265–284; J. Rak, Vývoj utrakvistické správní organizace v době předbělohorské [Die Entwicklung der utraquistischen Verwaltungsorganisation
in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg], in: SAP 31 (1981), S. 179–206; J. Matoušek,
Kurie a boj o konsistoř pod obojí za administratora Rezka. Příspěvek k dějinám katolické obnovy v Čechách [Die Kurie und der Kampf um das utraquistische Konsistorium in der Zeit
des Administrators Rezek. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Erneuerung in Böhmen], in: ČČH 37 (1931), S. 16–41, 252–292; K. Krofta, Boj o konsistoř podobojí v letech
1562 až 1575 a jeho historický základ [Der Kampf um das utraquistische Konsistorium von
1562 bis 1575 und seine historische Basis], in: ebd. 17 (1911), S. 28–57, 178–199, 283–303,
383–420.
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180
Jiří Just
nur noch beschränkte Möglichkeiten, die religiösen Verhältnisse allgemein zu
beeinflussen. Diesen Verlust konnte der Adel jedoch in einem bestimmten Maß
auf der regionalen Ebene ausgleichen, wobei sich seine Aktivitäten weiterhin auf
den Bereich der regionalen und lokalen kirchlichen Verwaltung konzentrierten.
Die adligen Obrigkeiten nutzen ihre Rolle als Träger der Patronatsrechte für die
Regelung der religiösen Verhältnisse auf ihren Herrschaften breit aus. Dies erfolgte
nicht nur durch die ungestörte Besetzung der Pfarreien nach eigener Wahl,29 sondern – unter anderem – auch durch die Herausgabe und Einführung der Kirchenordnungen, die das religiöse Leben auf dem Gebiet der Herrschaft regeln sollten.
Die Ideen der verschiedenen Strömungen der europäischen Reformation, die für
den Adel nach der Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend attraktiv wurden, setzten sich mit Hilfe dieser Instrumente (auch im Milieu des utraquistischen Adels)
allmählich durch.
Bisher haben sich mehr als 20 evangelische Kirchenordnungen aus beiden
Ländern (Böhmen und Mähren) erhalten, die sowohl Gemeinsamkeiten als auch
wesentliche Unterschiede aufweisen.30 Charakteristisch für manche der Texte,
die bis in die 1570er Jahre entstanden, ist, dass sie keiner klaren oder eindeutigen
konfessionellen Linie folgen. Wir sind eher Zeugen einer Tendenz zum Synkretismus verschiedener konfessioneller Einflüsse. Die Kirchenordnung, die im
Jahr 1558 Adalbert/Vojtěch II . von Pernstein/z Pernštejna (1532–1561) für seine
mährische Herrschaft Prostějov/Proßnitz herausgab, enthält 15 knappe Artikel,
die von theologischen Kontroversen nur wenig beeinflusst sind.31 Aus anderen
29 Anstatt der meistens konfessionell unproblematischen Geistlichen, die vom utraquistischen –
nun aber der königlichen Macht unterstellten – Konsistorium gestellt werden konnten, zielte
die Wahl der adligen Herren oft auf die im Ausland an den protestantischen Institutionen
ausgebildeten und dort ordinierten Geistlichen, die sich oft aus den Reihen der Untertanen ihrer eigenen Herrschaften rekrutierten. Zu den Orten, wo die Adepten des geistlichen
Amtes ordiniert wurden, zählten vor allem Wittenberg, aber auch Leipzig, Brieg/Brzeg und
Zerbst. Vgl. P. Dedic, Zur Frage der kirchlichen Organisation des Luthertums in Mähren
im Reformationsjahrhundert, in: JGPÖ 60 (1939), S. 7–48; I. Hübel, Beziehungen Mährens
zu den deutschen Universitäten im 16. Jahrhundert, in: ZDVGMS 29 (1927), S. 157–198, 30
(1928), S. 1–40; H. Becker, Böhmische Pastoren, in Anhalt ordiniert 1583–1609, in: JGPÖ
17 (1896), S. 72–95, 129–156, 18 (1897), S. 73–87.
30 Vgl. Evangelické církevní řády pro šlechtická panství v Čechách a na Moravě 1520–1620 [Protestantische Kirchenordnungen für adlige Herrschaften in Böhmen und Mähren zwischen
1520 und 1620], edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (DRGBI B/8), České Budějovice
2017; A. Eckert, Fünf evangelische (vor allem lutherische) Kirchenordnungen in Böhmen
zwischen 1522 und 1609, in: Bohemia 18 (1977), S. 35–50.
31 Vgl. Evangelické církevní řády, edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (wie Anm. 30), S. 139–
144, Nr. 4.
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Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation
181
Quellen geht deutlich hervor, dass es die Absicht Pernsteins war, einen konfessionellen Rahmen zu schaffen, der für alle Nichtkatholiken seiner Herrschaft
akzeptabel war. Adalbert von Pernstein respektierte dabei die konfessionelle
Vielfalt in seiner Herrschaft, in der die Utraquisten, orientiert an verschiedenen
Strömungen der europäischen Reformation, die Mitglieder der Brüderunität
sowie die Anhänger weiterer Gruppen der radikalen Reformation nebeneinander lebten.32
Eine ähnliche Tendenz tritt bei der Herausgabe der sog. Mährischen Konfession im Jahr 1566 zutage, die in der südostmährischen Stadt Ungarisch Brod/
Uherský Brod verfasst wurde.33 Die ursprüngliche Fassung der Konfession wurde
in den folgenden Jahrzehnten mehrmals revidiert, erweitert und an anderen
Orten wieder verwendet, aber die allgemeine Tendenz blieb dieselbe: Es sollte
sich um einen einzigen verbindlichen Ausdruck des Glaubens aller mährischen
Protestanten handeln.
Erst seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts entstanden eine Reihe von
Kirchenordnungen, die einer bestimmten konfessionellen Linie folgen. Deutlich lutherisch geprägt waren die Ordnungen für Friedland/Frýdlant (1584) und
Rokitnitz im Adlergebirge/Rokytnice v Orlických horách (1601) in Böhmen
oder Freudenthal/Bruntál (1584) in Schlesien.34 In Südostmähren erschienen
an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert dagegen Kirchenordnungen, die
mit der reformierten Lehre sympathisierten.35 In diesen Texten tritt bereits
eine Tendenz zum Verzicht auf die Einhaltung des Kuttenberger Religionsfriedens zutage, die für das katholisch-utraquistische Milieu in Böhmen typisch
war. Die Kirchenordnung von Rokitnitz im Adlergebirge droht denjenigen
mit Sanktionen, welche die (lutherischen) Gottesdienste in der Pfarrkirche der
Herrschaft nicht besuchen wollen (obwohl eine freie Wahl der – utraquistischen
32 Vgl. G. A. Skalský, Spor Bratří s Vojtěchem z Pernšteina r. 1557 [Der Streit der Böhmischen Brüder mit Adalbert von Pernstein im Jahr 1557], in: ČMKČ 83 (1909), S. 16–25; J. V.
Novák, Spor Bratří s p. Vojtěchem z Pernšteina v Prostějově r. 1557 a 1558 [Der Streit der
Böhmischen Brüder mit dem Herrn Adalbert von Pernstein in Proßnitz im Jahr 1557/58],
in: ebd. 65 (1891), S. 43–56, 197–208.
33 Vgl. Evangelické církevní řády, edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (wie Anm. 30), S. 145–
151, Nr. 5.
34 Vgl. ebd., S. 341–343, Nr. 14, S. 344–355, Nr. 15, S. 361–364, Nr. 17.
35 Es geht um die Kirchenordnungen der Herrschaften Ungarisch Brod (1582–1584), Neu-Swietlau/Nový Světlov, Slawitschin/Slavičín, Straßnitz/Strážnice und Wessely an der March/Veselí
nad Moravou (1584), und besonders Ungarisch Ostra(u)/Uherský Ostroh (1603), wo die Tendenz zum Calvinismus schon deutlich erkennbar ist. Vgl. ebd., S. 268–335, Nr. 12, S. 336–340,
Nr. 13, S. 365–385, Nr. 18.
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Jiří Just
oder katholischen – Kirche nach dem Kuttenberger Frieden zum Recht jedes
Untertanen gehörte).36
Bei der Formulierung der Texte sowie beim ganzen Prozess dieser örtlichen
‚Reformationen‘ arbeiteten die Obrigkeiten mit den lokalen Geistlichen so eng
zusammen, dass es praktisch unmöglich ist, zu einem klaren Urteil über die Autorschaft dieser Ordnungen zu gelangen. Für eine adlige Obrigkeit war die Kirchenordnung nicht nur ein Instrument, wie der lokale institutionelle Aufbau
der Kirchenorganisation gesichert werden konnte, sondern auch Ausdruck ihrer
Herrschaftsverantwortung. Die Obrigkeit, das Haupt der weltlichen Macht im
Rahmen der Herrschaft, betrachtete die religiöse Frage unter einem anderen
Horizont als ein Theologe oder Geistlicher. Wo der Geistliche eine Gemeinde
Gottes vor Augen hatte, welche der wahren Lehre zum Erlangen des Heils folgen sollte, sah die Obrigkeit eine irdische Gemeinde, die man mit verschiedenen
Instrumenten betreuen und ausrichten musste, damit eine gute Ordnung und
Frieden herrschen konnten. Die Stelle, wo die Anschauungen und Erwartungen
im Kommunikationsprozess beider Seiten eine Schnittmenge hatten, stellte die
Hoffnung dar, dass sich die sozialen sowie religiösen Verhältnisse innerhalb der
Herrschaft in eine ruhige und annehmbare Richtung entwickeln würden.
Einige Kirchenordnungen hatten beinahe die Form eines Vertrages, wo sich
beide Seiten gegeneinander verpflichteten: die Obrigkeit zur Unterstützung des
Geistlichen, d. h. dass der Pfarrer eine solide Entlohnung bekomme und den
Schutz der Obrigkeit genießen dürfe (dieser Schutz bezieht sich gewöhnlich
auf die ganze Familie des Geistlichen, die Person des Geistlichen steht dabei
nicht in einem Untertanenverhältnis zur Obrigkeit), und der Pfarrer, dass er die
ganze Gemeinde mit dem kompletten geistlichen und seelsorgerlichen ‚Service‘
betreuen werde (d. h. mit Sakramentsspendung, Kasualien, Bildung der Kinder).37
Typisch ist, dass die Kirchenordnungen mit keiner oberen Instanz der geistlichen
36 Vgl. ebd., S. 361–364, Nr. 17. Bei Unterlassung einiger Zeremonien sind die Schuldigen zur
Bezahlung einer Geldstrafe zu verurteilen. Bei Nichtbezahlung der Strafe drohte dem Schuldner Gefängnis bis zur vollen Begleichung der Summe.
37 Vgl. die Kirchenordnung für Groß Meseritsch/Velké Meziříčí (1576/1581), deren Text in enger
Zusammenarbeit einer Gruppe der lokalen Obrigkeiten und der Geistlichen formuliert wurde.
Hier im Text stehen explizit die Wörter: Formular und Beschreibung einer Christlichen berednüs
und vergleichung wegen der Christlichen Religion unnd des heiligen Predigampts, gehalten und
geschehen zu Meseritsch zwischen etlichen wolgebornen Graffen, Herrn und vom Ritterstandt in
Mehrland, so der Augspurgischen confession verwant sein, und derselbigen predicanten. Ebd.,
S. 165–244, Nr. 8a–d, hier S. 209, Nr. 8d; vgl. auch ebd., S. 178, Nr. 8d. Danach folgen die
Verpflichtungen der Geistlichen, der Lehrer und der Kollatoren; der Text ist in tschechischer,
deutscher und lateinischer Fassung erhalten.
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Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation
183
Jurisdiktion (die sich außerhalb der Herrschaftsgrenzen befand) rechneten. Das
Konsistorium in Prag, das der königlichen Autorität unterlag, wurde völlig außer
Acht gelassen. Die adligen Herrschaften blieben auf der Ebene der kirchlichen
Verwaltung von den zentralen Landesinstitutionen weiter unabhängig.
Nach der Schilderung dieses Hintergrunds verbleibt noch als ein wichtiges
Merkmal zu betonen, dass in Böhmen und vor allem in Mähren bei mehreren
Adligen die Tendenz zum sog. überkonfessionellen Christentum erkennbar war.38
Besonders in Mähren lebten oft auf dem Gebiet einer Herrschaft Anhänger verschiedener Konfessionen nebeneinander: Utraquisten (oder lutherisch/reformiert geprägte Utraquisten), Böhmische Brüder, Täufer. Die Protektion einer
bestimmten Konfession zu Lasten einer anderen hätte zur Störung des Zusammenlebens aller dieser Gruppen führen können, was die Obrigkeit als eine gefährliche
Bedrohung des lokalen Friedens betrachtete. Bevorzugt war nicht die konfessionelle Einheit, sondern eher eine Einheit in der Vielfältigkeit. Auf dieser Basis
entfaltete sich in Mähren im gesamten 16. Jahrhundert ein starkes Bewusstsein
für die konfessionelle Toleranz.
Die Böhmische Konfession – der Höhepunkt der adligen
Kirchenreform
Einen Höhepunkt der adligen Aktivitäten im ganzen Reformationsprozess in
Böhmen bilden die Bemühungen um die Durchsetzung der sog. Böhmischen
Konfession (Confessio Bohemica) im Jahr 1575.39 Auf der einen Seite kann man
38 Vgl. T. Winkelbauer, Überkonfessionelles Christentum in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts
in Mähren und seinen Nachbarländern, in: L. Jan / B. Chocholáč (Hgg.), Dějiny Moravy
a Matice moravská. Problémy a perspektivy [Die Geschichte Mährens und Matice moravská.
Probleme und Perspektiven] (Disputationes Moravicae 1), Brno 2000, S. 131–146; J. Válka,
Die „Politiques“: Konfessionelle Orientierung und politische Landesinteressen in Böhmen
und Mähren (bis 1630), in: J. Bahlcke / H.-J. Bömelburg / N. Kersken (Hgg.), Ständefreiheit (wie Anm. 8), S. 229–241.
39 Vgl. ihre neueste Edition in J. Just / M. Rothkegel, Confessio Bohemica 1575/1609, Reformierte Bekenntnisschriften, edd. A. Mühling / P. Opitz, Bd. 3/1: 1570–1599, Neukirchen-Vluyn 2012, S. 47–176, Nr. 67; eine Geschichte der Landtagsverhandlungen im Jahr
1575 skizzierte in einem breiteren Kontext J. Pánek, Stavovská opozice (wie Anm. 26); als
Standardwerk zur Entstehungsgeschichte der Böhmischen Konfession gilt immer noch F.
Hrejsa, Česká konfesse, její vznik, podstata a dějiny [Die Confessio Bohemica, ihre Entstehung, ihr Wesen und ihre Geschichte] (Rozpravy [Abhandlungen] ČAVU I/46), Praha
1912; die gekürzte deutsche Fassung Ders., Die Böhmische Konfession, ihre Entstehung, ihr
Wesen und ihre Geschichte, in: JGPÖ 35 (1914), S. 81–123; 37 (1916), S. 33–54; 38 (1917),
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Jiří Just
dies für einen Versuch halten, die – für den Adel – ungünstige Lage in Bezug auf
das utraquistische Konsistorium zu durchbrechen, andererseits für eine gezielte
Initiative, in Böhmen einen neuen konfessionell-juristischen Rahmen zu schaffen,
der allen Nichtkatholiken einen gesetzlichen Schutz hätte sichern können. Die
Böhmische Konfession entstand vor dem Hintergrund des böhmischen Landtages
im Jahr 1575, als sich für die böhmischen Stände auf der politischen Bühne eine
gute Konstellation zur Durchsetzung ihrer Forderungen ergab.40
Zur Abfassung des Bekenntnisses wurde im März 1575 eine ständische Kommission von 18 Personen einberufen, in der alle drei Stände (Herrenstand, Ritterstand und königliche Städte) gleichmäßig vertreten waren. Die Gruppe wurde
zwar bald um zwei oder drei Professoren der Prager utraquistischen Universität
ergänzt, aber die entscheidende Rolle bei der Entstehung des Textes, der am 18.
Mai 1575 von einer Ständedeputation dem König vorgelegt wurde, und vor allem
beim Versuch seiner Durchsetzung spielte der Adel. Den adligen Autoritäten ist
auch zu verdanken, dass die Verhandlungen über die Konfession in einem realistischen Rahmen blieben, als die zu unterschiedlichen Vorstellungen der Theologen
und engagierten Geistlichen in unproduktive Auseinandersetzungen zu führen
drohten. König Maximilian II . (1564–1576) lehnte jedoch die Konfession Anfang
September 1575 ab und erlaubte keine Veränderung der religiösen Verhältnisse im
Land.41 Die Entscheidung des Königs war logisch, eine solche Neugestaltung der
kirchlichen Verhältnisse hätte effektiv seine Bemühungen um die Durchsetzung
der Kirchenreform im katholischen Sinne verhindern können und unabwendbar
zur Schwächung der Katholiken führen müssen.
Das Ziel der nichtkatholischen Adligen war nicht nur eine Restauration ihrer
Macht über das utraquistische Konsistorium, denn die Wahl des Administrators
und der Vorsitzenden des Konsistoriums hätte jetzt den Ständen zufallen sollen
(das Konsistorium selbst sollte dann die gesamte Verwaltung des nichtkatholischen Klerus, die geistliche Gerichtsbarkeit und die Druckzensur übernehmen),
S. 96–174. Es ist wohl nicht uninteressant, dass Ferdinand Hrejsa (1867–1953) mit dieser
Arbeit über die Böhmische Konfession die Idee der Schaffung einer unierten evangelischen
Kirche in Böhmen und Mähren stärken wollte.
40 Die Stände setzten in der ersten Phase der Landtagsverhandlungen gegenüber dem König
durch, dass zuerst ihre Forderungen verhandeln werden mussten, und erst danach standen die
königlichen Landtagspropositionen zur Diskussion. Vgl. J. Just / M. Rothkegel, Confessio
Bohemica (wie Anm. 39), S. 49; J. Pánek, Stavovská opozice (wie Anm. 26), S. 104 ff.
41 Schon am 5.10.1575 ließ Maximilian II. ein neues Mandat gegen die Brüderunität veröffentlichen, wobei er auch den Druck der Böhmischen Konfession untersagte. Vgl. J. Just / M.
Rothkegel, Confessio Bohemica (wie Anm. 39), S. 53; J. Pánek, Stavovská opozice (wie
Anm. 26), S. 116.
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Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation
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sondern auch eine Neuordnung der nichtkatholischen Verwaltung auf allen Ebenen. Neben dem Text der Konfession entstand nämlich auch eine neue Kirchenordnung, welche die einzelnen Angelegenheiten der Verwaltung und des religiösen Lebens regeln sollte.42 Den Ständen sollte daneben auch die Aufsicht über
die Prager Universität übergeben werden, damit den evangelischen Geistlichen
eine Ausbildungsinstitution zur Verfügung stehen könnte.43
Die Kirchenordnung von 1575 war als Grundlage für eine Neuordnung der
nichtkatholischen Kirchenverwaltung gedacht. Ihre oberste Instanz sollte das
utraquistische Konsistorium mit einem Administrator an der Spitze sein. Das
Konsistorium sollte die gesamte Priesterschaft beaufsichtigen und für die Bewahrung der wahren und reinen Lehre sorgen, damit für die Bevölkerung eine ordentliche Predigt des Wortes Gottes und Spendung der Sakramente gesichert würden.
Dem Amt selbst unterlagen die Ordinierung sowie die Installation der Geistlichen
(die auch gegen die Forderungen eines Patronatsherrn erfolgen durfte). Auf der
regionalen Ebene sollte die Autorität des Konsistoriums die Kreisdekane und
Kreiskonsistorien unterstützen, damit eine funktionierende Kommunikation
mit lokalen Geistlichen gesichert würde. Bei jeder Pfarrgemeinde sollten zwei bis
sechs Laienkuratoren dem Priester zur Seite stehen, die ihm bei der Durchsetzung
der Disziplin helfen sollten. Dem Konsistorium unterlag auch die Jurisdiktion
in Eherechtsangelegenheiten. Die Existenz des Konsistoriums sollten die Defensoren sichern, die von allen drei Ständen gewählt würden. Dem Adel wäre also
ein beträchtlicher Einfluss auf die religiösen Verhältnisse in Böhmen eingeräumt
worden. Obwohl die Realisierung der gesamten evangelischen Reform – infolge
der Ablehnung der Böhmischen Konfession – vom Herrscher verhindert wurde,
diente diese Kirchenordnung als ein Muster für manche ähnliche Texte, die nach
1575 entstanden.
42 Diesen Text edierte J. Just, Církevní řád konzistoře podobojí z roku 1575 v kontextu dobové
konfesní situace předbělohorských Čech [Die Kirchenordnung des utraquistischen Konsistoriums vom Jahr 1575 im Kontext der konfessionellen Situation in Böhmen vor der Schlacht
am Weißen Berg], in: FHB 31 (2016), S. 5–23; nach der handschriftlichen Überlieferung der
Kirchenordnung in der Sammlung der Quellen zur Geschichte der Böhmischen Brüder in:
KNM Praha, Sign. II D 8, AUF, Bd. 14, fol. 100r–104v.
43 Eine nichtkatholische theologische Ausbildung auf universitärem Niveau gab es in Böhmen
oder Mähren in der Zeit vor 1609 nicht, die Bemühungen, eine theologische Fakultät an der
Prager Universität zu eröffnen, wurden jedoch von den Ständen auch nach 1609 nicht realisiert. Vor 1620 mussten die Protestanten aus Böhmen und Mähren für eine akademische
theologische Ausbildung ausländische Institutionen aufsuchen. Zur Geschichte der Prager
Universität unter der direkten ständischen Verwaltung nach 1609 vgl. J. Rak, Karlova univerzita v pravomoci defenzorů (1609–1622) [Die Karlsuniversität in der Machtbefugnis der
Defensoren (1609–1622)], in: AUC – HUCP 17 (1977), S. 33–46.
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Jiří Just
Zur Legalisierung der Böhmischen Konfession kam es in Böhmen unter ganz
anderen Bedingungen erst 1609 während der Regierung Rudolfs II . (1576–
1611/12). Der böhmische König wurde infolge des beharrlichen Druckes der
nichtkatholischen Stände zur Herausgabe des sog. Majestätsbriefes zur Gewährung
der religiösen Freiheit gezwungen. Diese wurde formal mit der Anerkennung der
Confessio Bohemica verbunden und die kirchlichen Verhältnisse sollten nach der
Kirchenordnung von 1575 geregelt werden.44 Der Erfolg der Stände war aber nur
von kurzer Dauer. Nach der Niederlage der Stände am Weißen Berg 1620 wurde
die Gültigkeit des Majestätsbriefes von 1609 aufgrund der flächendeckend eingeführten Rekatholisierungsmaßnahmen in Böhmen aufgehoben und die Protestanten sollten sich für die Konversion entscheiden oder (falls es um die freien
Schichten der Bevölkerung ging) das Land verlassen. Damit ging auch die ganze
nichtkatholische Verwaltung in Böhmen und Mähren unter.
Schlussbetrachtung
Das Engagement des böhmischen und mährischen Adels im Reformationsprozess
während des 16. Jahrhunderts regt zu der Frage an, inwieweit man für Böhmen
und Mähren im 16. Jahrhundert von einer ‚Adelsreformation‘ sprechen kann.45
Solche Überlegungen sind sicher berechtigt. Es besteht kein Zweifel, dass der
Adel in beiden Ländern einen erheblichen Einfluss auf den Reformationsprozess hatte, sowohl bei der Verbreitung der reformatorischen Ideen als auch bei
der Etablierung der Institutionen der kirchlichen Verwaltung. Es war auch der
Adel, der die Rekatholisierungsaktivitäten des Herrschers in der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts relativ effektiv verhindern konnte und wenigstens in seinen
eigenen Herrschaften Raum für eine relativ freie Existenz der reformatorischen
Konfessionen schuf. In diesem Sinn kann man, auf einer regionalen und lokalen
44 Vgl. J. Just, Die Neuordnung der nichtkatholischen Kirchenverwaltung in Böhmen nach dem
Majestätsbrief: Ziele und Probleme, in: J. Hausenblasová / J. Mikulec / M. Thomsen
(Hgg.), Religion und Politik im frühneuzeitlichen Böhmen. Der Majestätsbrief Kaiser Rudolfs II. von 1609 (FGKÖM 46), Stuttgart 2014, S. 143–154.
45 Inspiration zu dieser Überlegung bietet E. Schubert, Fürstenreformation. Die Realität hinter einem Vereinbarungsbegriff, in: E. Bünz / S. Rhein / G. Wartenberg (Hgg.), Glaube
und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation (SLSA 5), Leipzig
2005, S. 23–47, hier S. 24: „Warum aber fehlt der Begriff der Adelsreformation? Schließlich
hatte der Adel über die Besetzung von Patronatspfarreien einen ganz erheblichen Einfluss auf
die Konfessionsbildung in ländlichen Gebieten.“
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Böhmischer und mährischer Adel in der Reformation
187
Ebene, sogar von einer ‚Adelskonfessionalisierung‘ sprechen.46 Die Landschaft
Böhmens und vor allem Mährens stellte im 16. Jahrhundert ein buntes Mosaik
dar, ein Gebiet, wo staatsrechtlich nur zwei religiöse Gemeinschaften (Katholiken und Utraquisten) erlaubt waren, wo aber nicht nur die Einflüsse, sondern
sogar verschiedene Existenzformen der nichtkatholischen Konfessionen ziemlich
deutlich zum Vorschein kamen. Obwohl dieses Phänomen nur einen lokalen oder
regionalen Charakter hatte und – zumindest in Böhmen – nicht das gesamte
Territorium erfasste, sind beide Länder interessante Beispiele für die Geschichte
der Konfessionalisierung im frühneuzeitlichen Europa.
46 Vgl. J. Hrdlička, Konfesijní politika šlechtických vrchností a šlechtická konfesionalizace v
Čechách a na Moravě v 16. a 17. století [Die Konfessionspolitik der adligen Obrigkeiten und
die Adelskonfessionalisierung in Böhmen und in Mähren im 16. und 17. Jahrhundert], in:
ČČH 108 (2010), S. 406–442.
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Martina Schattkowsky
Adel und Reformation
Adliges Engagement zur Konfessionsbildung im ländlichen Raum
Reformation und Konfessionalisierung gehören zu den fundamentalen Heraus
forderungen, denen sich im 16. und frühen 17. Jahrhundert auch der sächsische Adel zu stellen hatte.1 Diese Ereignisse griffen tief in adlige Lebens- und
Verhaltensweisen ein. Sie brachten nicht nur Einschnitte bei der Ausübung der
Patronatsrechte in den lokalen Kirchen, sondern zeigten sich auch im Wegfall
von Versorgungsmöglichkeiten für jüngere Söhne durch geistliche Pfründen und
sie tangierten die Unterbringung unverheirateter Töchter in Klöstern. Darüber
hinaus betreffen sie Fragen der persönlichen Frömmigkeit sowie der Norm- und
Wertvorstellungen des Adels – stellten doch die neuen Forderungen nach religiöser Konformität und nach einem sittlichen Verhalten im Sinne der Kirche das
althergebrachte Ethos des Adels durchaus in Frage.2 Eng damit verbunden war
ein neues Verständnis von Herrschaft. Das Bild des Hausvaters, der sich um die
eigene Haushaltsführung ebenso fürsorglich kümmerte wie um das Seelenheil
seiner Untergebenen, prägte nicht allein den Typus des evangelischen Landesvaters, sondern auch das normative Bild des patriarchalischen Grundherrn. In Sachsen stehen dafür idealtypisch Beispiele wie Heinrich Hildebrand von Einsiedel
(1497–1557), der zwischen 1539 und 1549 seine religiös motivierten Bedenken
gegenüber bäuerlichen Fronforderungen mit Martin Luther (1483–1546) und
Philipp Melanchthon (1497–1560) erörterte,3 oder ein patriarchalischer und
1
2
3
Vgl. dazu bereits M. Schattkowsky, Adel und Reformation. Grundherrschaftliches Engagement zur Konfessionsbildung im ländlichen Raum, in: W. Müller (Hg.), Perspektiven
der Reformationsforschung in Sachsen. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Karlheinz
Blaschke (Bausteine ISGV 12), Dresden 2008 [2009], S. 125–133; generell zum Thema „Adel
und Reformation“ vgl. jüngst Dies. (Hg.), Adel – Macht – Reformation. Konzepte, Praxis
und Vergleich (SSGV 60), Leipzig 2020.
Vgl. R. G. Asch, Zwischen defensiver Legitimation und kultureller Hegemonie: Strategien
adliger Selbstbehauptung in der frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 2, http://www.
zeitenblicke.de/2005/2/Asch, URN: urn:nbn:de0009-9-1219 (letzter Zugriff am 22.3.2020).
Vgl. J. L. Hauschild, Juristische Abhandlungen von Bauern und deren Frohndiensten, auch
der in Rechten gegründeten Vermuthung ihrer natürlichen Freyheit, Dresden/Leipzig 1771,
S. 16 ff.; sowie I. Höss, Georg Spalatin. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation, Weimar 21989, S. 428 f.; H. Reich, Frühbürgerliche Revolution in unserem Territorium. Luther/Einsiedel. Gedanken über die Frondienste, Geithain 1983.
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190
Martina Schattkowsky
konsensorientierter Grundherr wie Christoph von Loß auf Schleinitz (1574–
1620), auf die noch zurückzukommen sein wird. (Abb. 1)
Jenseits solcher Einzelbeispiele sind übergreifende Arbeiten jedoch rar. Mit
Blick auf die Alltagspraxis und die Haltung des Adels zu Reformation und Konfessionalisierung in der Zeit zwischen Augsburger Religionsfrieden und Ausbruch
des Dreißigjährigen Krieges stößt man – und zwar nicht nur für Kursachsen – auf
erhebliche Forschungsdefizite.4 Ein fundiertes und differenziertes Urteil über die
reformatorischen Aktivitäten des Adels in den einzelnen Territorien ist bis heute
jedenfalls kaum möglich.5
Volker Press (1939–1993) verwies vor nunmehr fast 40 Jahren auf die
zunächst eher abwartende Haltung des reichsritterlichen wie des landsässigen
Adels gegenüber einer konfessionellen Festlegung.6 Konkret unterschied Press
für das 16. Jahrhundert drei Phasen:
– spontane Einzelaktionen des Adels bis etwa 1530
– anschließend die Orientierung im territorialen und reichspolitischen Rahmen
und schließlich erst
– ab 1555 die adlige Konfessionsbildung unter den Bedingungen des Religions
friedens.7
Das Bild des passiven, zögerlichen Adels, der insbesondere in der Kirchengüterfrage in Konkurrenz zur landesherrlichen Kirchenpolitik geriet, ist vielfach bis
heute prägend und wird zumeist polarisierend dem Fürstenengagement gegenübergestellt. Dies zeigt sich vor allem im Fall von Kursachsen, wo man der landesherrlichen Initiative ein erhebliches Gewicht für die kirchlichen Veränderungen
im Reformationsjahrhundert zubilligt. Nicht umsonst gilt Kursachsen geradezu
als Paradebeispiel für die klassische territoriale Fürstenreformation.8
4
5
6
7
8
Vgl. neuerdings C. Volkmar, Die Reformation der Junker. Landadel und lutherische Konfessionsbildung im Mittelelberaum (QFRG 92), Gütersloh 2019.
So auch F. Göse, Adlige Führungsgruppen in nordostdeutschen Territorialstaaten des 16. Jahrhunderts, in: P.-M. Hahn / H. Lorenz (Hgg.), Formen der Visualisierung von Herrschaft:
Studien zu Adel, Fürst und Schloßbau vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (QSGKBPAR 6), Potsdam 1998, S. 139–210, hier S. 178; zu einer vergleichenden Sicht auf das Thema „Adel und
Reformation“ vgl. M. Schattkowsky (Hg.), Adel – Macht – Reformation (wie Anm. 1).
Vgl. V. Press, Adel, Reich und Reformation, in: W. J. Mommsen (Hg.) / P. Alter / R. W.
Scribner (Mitarb.), Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland (VDHIL 5), Stuttgart 1979, S. 330–383,
hier S. 342.
Vgl. ebd., S. 341.
Vgl. etwa M. Rudersdorf, Die Generation der lutherischen Landesväter im Reich. Bausteine
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Adel und Reformation
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Abb. 1: Epitaph für Heinrich Hildebrand von Einsiedel (1497–1557),
um 1640, Dorfkirche Gnandstein
[Staatliche Schlösser, Burgen und Gärten
Sachsen gemeinnützige GmbH, Burg
Gnandstein].
Tatsächlich war das Reformationsgeschehen ganz wesentlich vom Einsatz des
fürstlichen Landesherrn abhängig, so wie der Territorialstaat im Gegenzug
durch Säkularisation und Sequestration an Raum und Macht gewann.9 Außerdem drang der frühmoderne Staat zunehmend in Verantwortungsbereiche wie
Bildung, Sozialfürsorge oder Sittenaufsicht vor, die bisher vorrangig der Kirche
unterstanden. Gleichwohl rückten gerade im Umfeld des Reformationsjubiläums
9
zu einer Typologie der deutschen Reformationsfürsten, in: A. Schindling / W. Ziegler
(Hgg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung.
Land und Konfession 1500–1650, Bd. 2: Der Nordosten (KLK 50), Münster 1990, S. 137–170,
hier S. 139; zu den Grenzen des Begriffs ‚Fürstenreformation‘ vgl. E. Schubert, Fürstenreformation. Die Realität hinter einem Vereinbarungsbegriff, in: E. Bünz / S. Rhein / G.
Wartenberg (Hgg.), Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der
Reformation (SLSA 5), Leipzig 2005, S. 23–47.
Vgl. dazu: K. Blaschke, Wechselwirkung zwischen der Reformation und dem Aufbau des
Territorialstaates, in: Der Staat 9 (1970), S. 347–364; hier zitiert nach ND in: U. Schirmer /
A. Thieme (Hgg.), Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Sachsen. Ausgewählte Aufsätze von Karlheinz Blaschke aus Anlaß seines 75. Geburtstages (SSGV 5), Leipzig
2002, S. 435–452.
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Martina Schattkowsky
von 2017 jenseits der Fürsten – und neuerdings auch der Fürstinnen10 – verstärkt die Handlungsmotive und Interessenlagen weiterer Akteure in den Fokus.
Kritische Stimmen fördern die Einsicht, dass sich die Reformation eben nicht
einfach so von oben, von den Fürsten, verordnen ließ. Vielmehr vollzog sie
sich unter tätiger Mitwirkung von Bürgern, Bauern, Klerikern sowie eben von
Niederadligen.
Erst ganz allmählich gelangen damit auch ländliche Akteure ins Rampenlicht
der Forschung und erinnern daran, dass es sich bei der Reformation eben keineswegs nur um ein städtisches Ereignis handelte, sondern eine Gesellschaft erfasste,
die überwiegend in den Ackerbürgerstädten und Dörfern lebte. Die Rezeption,
Durchsetzung (oder Verhinderung) der Reformation im ländlichen Raum spielte
in der Forschung bislang allerdings kaum eine Rolle.11
Spätestens an dieser Stelle muss auch der Adel ins Spiel gebracht werden.12
Noch immer steht die Anregung von Ernst Schubert (1941–2006) weithin
unreflektiert im Raum, ob nicht angesichts des prägenden Einflusses des Adels auf
die Konfessionsbildung in ländlichen Gebieten neben einer Fürsten-, Stadt- oder
Gemeindereformation auch die Adelsreformation in Betracht gezogen werden
muss.13 Sofern es überhaupt solcher Klassifikationen bedarf, verdient auch der
Adel ein solches Label: War es doch nicht zuletzt der adlige Grundherr, der auf
lokaler Ebene Sozialdisziplinierung und Frömmigkeitsformen propagierte und
implementierte bzw. implementieren konnte – so zumindest in Territorien wie
Kursachsen, wo der landsässige Adel, bedingt durch Ständemacht und patrimoniale Ortsobrigkeit mit weitreichenden Herrschaftsrechten, auch in Glaubensfragen
Einfluss ausüben konnte.14 Dabei steht fest, dass adlige Grundherren das Anliegen
der Reformation zugleich machtpolitisch für eigene Interessen genutzt haben.
10 Vgl. dazu: M. Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement (SSGV 55), Leipzig 2016; KES, Bd. 1: Die Jahre 1505 bis 1532, ed. A.
Thieme (QMSGV III/1), Leipzig 2010; ebd., Bd. 2: Die Jahre 1533 und 1534, ed. J. Klingner
(QMSGV III/2), Leipzig 2016.
11 Vgl. E. Bünz, Adel in Sachsen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Stand, Aufgaben
und Perspektiven der Forschung, in: B. Richter (Red.), Die Familie von Einsiedel. Stand,
Aufgaben und Perspektiven der Adelsforschung in Sachsen, Leipzig 2007, S. 7–41.
12 Vgl. etwa K. Andermann, Ritterschaft und Konfession. Beobachtungen zu einem alten Thema,
in: Ders. / S. Lorenz (Hgg.), Zwischen Stagnation und Innovation. Landsässiger Adel und
Reichsritterschaft im 17. und 18. Jahrhundert (SSWDL 56), Ostfildern 2005, S. 93–104.
13 Vgl. E. Schubert, Fürstenreformation (wie Anm. 8), S. 24.
14 Im Gegensatz dazu blieben religiöse Einflussmöglichkeiten des Adels mangels Privilegien –
wie höhere Gerichtsbarkeit und Patronatsrecht – in anderen Territorien eher begrenzt. Vgl.
z. B. H. Wunder / A. Jendorff / C. Schmidt (Hgg.), Reformation – Konfession – Konversion. Adel und Religion zwischen Rheingau und Siegerland (VHKN 88), Wiesbaden 2017.
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Will man dem Hinweis von Ernst Schubert speziell für Kursachsen nachgehen und das konfessionelle Verhalten des Adels, genauer gesagt: des albertinisch-sächsischen Adels, näher bestimmen, stößt man schnell an Grenzen. Noch
weitgehend unbearbeitet ist die Religionspolitik des Landadels im eigenen Herrschaftsbereich.15 Welchen Einfluss nahm er auf die religiöse Erziehung seiner
Untertanen? Wie erfüllte er die Aufgaben als Patronatsherr, bei der Beaufsichtigung seines Kirchenbezirks oder bei der Kontrolle der Pfarrer und deren Amtsausübung? Solche Themen harren ebenso einer genaueren Untersuchung wie die
Verinnerlichung religiöser Werte und Normen sowie die Aneignung veränderter
Handlungsmaßstäbe.
Erst zögerlich wendet sich die sächsische Adelsforschung der Quellenvielfalt
von Gutsarchiven zu, die neben Gerichts- und Verwaltungsakten auch Briefe,
Testamente, Leichenpredigten oder Geschlechtsordnungen enthalten, die eine
Annäherung an individuelle Denk- und Verhaltensweisen ermöglichen. In diesen
Zusammenhang gehören auch kunstgeschichtliche Studien zu ländlichen Kirchenbauten sowie zu Grabmälern und Epitaphien, aber auch zu Kanzeln, Taufsteinen,
Patronatslogen oder zu liturgischem Gerät, die vielfach im Auftrag adliger Familien entstanden sind. Beispielhaft sind hier die Studien von Marius Winzeler
zur sächsischen Familie von Einsiedel auf Gnandstein, die Einblicke in das adlige
Stiftungs- und Donationswesen ermöglichen und die zugleich Wandlungsprozesse
in der Adelsfrömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit herausarbeiten.16 Unübersehbar ist demnach auf vielen Adelssitzen ein genereller Trend von
der Privatfrömmigkeit hin zum Bekenntnis im öffentlichen Kirchenraum. Auch im
Gnandsteiner Beispiel verlor die private Glaubensmanifestation im Bereich privater
Räume nach der Reformation an Bedeutung, während die herrschaftliche Präsenz
in der 1518 vollendeten Dorfkirche umso wichtiger wurde. (Abb. 2) Es war der
Ort, an dem die Familie von Einsiedel nicht nur ihr eigenes Glaubensbekenntnis
öffentlich bildhaft in Szene setzte,17 sondern wo sie Herrschaftsverhältnisse auch
optisch sichtbar machte – abzulesen in der Architektur mit ihren Vorlieben für
Emporen ebenso wie anhand der Sitzordnung in der Kirche.
15 Vgl. dazu M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut, Residenz und Reich. Die Lebenswelt des
sächsischen Landadligen Christoph von Loß (1574–1620) (SSGV 20), Leipzig 2007, S. 138–150.
16 Vgl. M. Winzeler, Burgkapelle, Patronatskirche, Familiengrablege. Tradition und Wandel
der Adelsfrömmigkeit und ihres künstlerischen Ausdrucks im 16. und 17. Jahrhundert. Das
Beispiel der Familie von Einsiedel, in: K. Keller / J. Matzerath (Hgg.) / C. Klecker /
K.-D. Wintermann (Mitarb.), Geschichte des sächsischen Adels, Köln/Weimar/Wien
1997, S. 207–224; M. Winzeler / J. Stekovics, Burg und Kirche. Christliche Kunst in
Gnandstein, Halle/Saale 1994.
17 Vgl. M. Winzeler, Burgkapelle (wie Anm. 16), S. 218.
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Martina Schattkowsky
Kombiniert man Zeugnisse der Bau- und Kunstgeschichte mit Schriftquellen
verschiedenster Art, zeichnet sich ab, wie sehr sich die Einstellung des albertinisch-sächsischen Adels zur evangelischen Konfession im Lauf eines Menschenalters verändert hat.18 Noch für die 1540er Jahre geht die Forschung von einer eher
distanzierten Haltung einer Mehrzahl adliger Familien zu der 1539 eingeführten
Reformation aus. Ganz anders beurteilt man die Situation in den 1570er Jahren:
Der Adel bekannte sich jetzt mehrheitlich zur neuen Lehre und unterstützte
die lutherische Landespolitik eines Territorialstaates, der unter den Kurfürsten
Moritz (1541/47–1553) und August (1553–1586) auch auf der Grundlage der
Säkularisation von Kirchengut innerlich gefestigt war.
Trotz dieses insgesamt sicherlich zutreffenden Trends wird sich jedoch das
ganze Ausmaß der konfessionellen Mobilität des sächsischen Adels erst zuverlässig quantifizieren lassen, wenn wir über einen breiteren Fundus an biografischen Studien und Darstellungen über einzelne Orte, Familien und Landschaften verfügen. Erst dann wird man wissen, was dran ist an der passiven Haltung
des Adels in der Frühphase der Reformation, ob speziell in Sachsen tatsächlich
nur von spontanen proreformatorischen Einzelaktionen die Rede sein kann, ob
sich also – wie behauptet – mecklenburgische oder brandenburgische Adlige im
Vergleich dazu früher und stärker für Luthers Kirchenreform engagiert haben.19
Schon bei flüchtigem Hinsehen lassen sich jedoch auch im albertinischen
Landesteil Geschlechter oder einzelne Adlige ausmachen, die sich früh dem
Luthertum zuwandten. Von der Familie von Einsiedel war bereits die Rede.20 Sie
wurde vom altgläubigen sächsischen Herzog Georg (1500–1539) vor die Wahl
gestellt: Entweder sollte sie beim Meißner Bischof um Absolution bitten oder
ihre Güter auf albertinischem Gebiet verkaufen.21 Immerhin gelang es, die ganze
Sache bis zum Tod Georgs hinauszuzögern. Erinnert sei in diesem Zusammenhang
18 Zur Problematik ‚sächsischer Adel und Reformation‘ vgl. unter anderem G. Wartenberg,
Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik
bis 1546 (AKG 10), Weimar 1988, S. 139 f.; S. Hoyer, Die sächsischen Stände unter Christian I., in: DH 29 (1992), H. 1: Um die Vormacht im Reich. Christian I., Sächsischer Kurfürst
1586–1591, S. 14–21, hier S. 14; sowie zuletzt die Beiträge in: M. Schattkowsky (Hg.),
Adel – Macht – Reformation (wie Anm. 1).
19 So etwa bei: F. Göse, Adlige Führungsgruppen (wie Anm. 5), S. 178 ff.
20 Vgl. H. Reich, Die Familie von Einsiedel auf Gnandstein im Reformationszeitalter, Markkleeberg 2017.
21 So bei S. Hoyer, Staat und Stände und Konfessionen in Kursachsen Ende des 16. Jahrhunderts.
Das Experiment Christians I., in: H. Timmermann (Hg.), Die Bildung des frühmodernen
Staates. Stände und Konfessionen (Forum: Politik 6), Saarbrücken/Scheidt 1989, S. 175–192,
hier S. 177; sowie M. Winzeler, Burgkapelle (wie Anm. 16), S. 214 f.
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Abb. 2: Die 1518 neu erbaute Pfarrkirche in Gnandstein, Luftbild 2017 [Institut für Sächsi
sche Geschichte und Volkskunde, Foto: Michael Schmidt].
auch an den lutherischen Hofprediger Johannes Albinus (eigentlich Weiß) (ca.
1498–1561), der in den 1540er Jahren, als er beim Landesherrn in Ungnade
gefallen war, Rückhalt gerade bei Adligen fand, nämlich bei den Familien von
Schleinitz und Schönberg.22 Ähnlich frühe reformatorische Aktivitäten lassen
sich auch bei der Familie von Lindenau finden.23
Mag sein, dass es sich hierbei um Einzelbeispiele einer frühen Adelsreformation
handelt, doch immerhin deuten sie an, wie förderlich es ist, sich mit diesen Fragen systematischer zu befassen und Archivbestände in großem Stil auszuwerten.
Um dies zu veranschaulichen, sollen die reichen Quellenbestände einer adligen
Grundherrschaft herangezogen werden. Gemeint ist das Rittergut Schleinitz in der
Gegend zwischen Meißen und Döbeln – ein Adelsgut mit hohem repräsentativen
22 So der Hinweis bei F. Göse, Adlige Führungsgruppen (wie Anm. 5), S. 180, Anm. 133.
23 Vgl. A. Kohnle, Die Herren von Lindenau und die frühe Reformation, in: M. Schatt
kowsky (Hg.), Adlige Lebenswelten in Sachsen. Kommentierte Bild- und Schriftquellen,
Köln/Weimar/Wien 2013, S. 320–326.
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Martina Schattkowsky
und ökonomischen Potenzial.24 Schleinitz war eines der bedeutendsten Rittergüter
im Meißner Kreis und noch 1823 wurde es als eines der stärksten und nutzbarsten
hiesiger Gegend bezeichnet.25 Die fruchtbaren Lößböden und gute Absatzmöglichkeiten für Agrarprodukte brachten in dieser Gegend nicht nur ertragreiche
Rittergüter, sondern auch leistungsfähige Bauernwirtschaften hervor. Zu den ökonomischen Vorzügen kam die beachtliche adlige Repräsentativität des Schleinitzer
Schlosses. Das monumentale Wasserschloss symbolisierte Rang und Herrschaft
nach außen hin auf eindrucksvolle Weise.
Aus dieser Gegend und vor allem in dem zu Schleinitz gehörenden Kirchspiel
Leuben lassen sich bei intensiver Quellensuche zahlreiche reformatorische Zeugnisse ausmachen.26 Schon vor 1539, also noch vor der offiziellen Einführung der
Reformation im albertinischen Sachsen, zeichnete sich hier ein Netzwerk lutherischer Adelsfamilien ab. Neben dem Geschlecht von Schleinitz selbst war es
beispielsweise die Familie von Rechenberg, die frühzeitig Sympathien für den
lutherischen Glauben entwickelte. So zählte der 1555 verstorbene Rudolf von
Rechenberg (1495–1555), einer der Leubener Patronatsherren, zu jenem Personenkreis, der von Herzog Heinrich (1539–1541) im Juli und August 1539 mit
der ersten Visitation im albertinischen Herzogtum betraut wurde. Noch heute
findet man sein Grabmal in der Kirche von Leuben.
Zu Rechenbergs verwandtschaftlichem Netzwerk gehörte auch die Familie von
Schleinitz. Mosaiksteinartig wird ihre Annäherung an die lutherische Lehre greifbar. Fündig wird man bereits bei Hugold IV., der zwischen 1519 und 1545 Herr auf
Schleinitz war. Dieser Hugold hinterließ z. B. ein Erbregister aus dem Jahr 1519,
dessen Ledereinband die Bildnisse bedeutender Männer der Reformationszeit
zeigt.27 Überliefert ist auch, dass Hugolds älteste Tochter Caspar von Schönberg
(1504–1562) geheiratet hatte, der als treuer Anhänger des Luthertums galt und
der ebenso wie Rudolf von Rechenberg als Visitator des meißnischen Gebiets
tätig war. Nicht unerwähnt bleiben soll außerdem der Hinweis von Cornelius
Gurlitt (1850–1938), wonach sich im Schleinitzer Schloss ein Gobelin aus
24 Vgl. M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut (wie Anm. 15), S. 69–96.
25 A. Schumann, Vollständiges Staats-, Post- und Zeitungs-Lexikon von Sachsen, Bd. 10,
Zwickau 1823, S. 335.
26 Vgl. zum Folgenden G. W. Segnitz, Einige geschichtliche Nachrichten über die Kirche und
Kirchfahrt zu Leuben, Meißen 1839, S. 7 ff.
27 Dazu zählen unter anderem Kaiser Karl V. (1519–1558), Kurfürst Friedrich der Weise (1486–
1525), Herzog Georg, Martin Luther, Philipp Melanchthon und Jan Hus (ca. 1370–1415).
Gustav Wilhelm Segnitz (1807–1876) schloss auch aus der Anordnung dieses höchst unterschiedlichen Personenkreises auf dem Einband des nicht mehr vorhandenen Erbbuches auf
den hohen Stellenwert des reformatorischen Gedankenguts. Vgl. ebd., S. 12.
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der Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Bildnis Martin Luthers befand.28 Auch
entdeckte Georg Buchwald (1859–1947) 1916 in der Schleinitzer Schlossbibliothek ein Blatt aus einem eigenhändig von Luther verfassten Manuskript der
Schrift „Die Epistel des Propheten Jesaia“ von 1526.29 Soweit eine erste Spurensuche aus der Reformationszeit.
Herausforderungen ganz anderer Art erwarteten die nachfolgenden Generationen Schleinitzer Rittergutsbesitzer in den konfessionspolitisch aufgeladenen
Zeiten der sog. Zweiten Reformation und dann nach 1591, als sich die lutherisch-orthodoxe Glaubensrichtung endgültig gegen das reformierte Gedankengut durchsetzen sollte.
Christoph von Loß (1574–1620), Hofmarschall, Geheimer Rat, Reichspfennigmeister und seit 1608 durch Heirat Erb- und Gerichtsherr auf Schleinitz, steht
geradezu exemplarisch für einen adligen Grundherrn des konfessionellen Zeitalters. Herausragend sind seine explizite Hinwendung zum orthodoxen Luthertum
und sein Engagement sowohl für die Rittergutsökonomie als auch für die religiöse
Disziplinierung seiner Untertanen.30
Das Christ-Sein hat den Alltag des in die 1570er Jahre hineingeborenen Christoph von Loß stark beeinflusst. Wie die Quellen berichten, galt er als sonderbarer
liebhaber der Musica, deren Er wohl kündig, und hat sogar christliche Gesenge sel
ber gemacht.31 Außerdem hat er die Bibel 23. mal außgelesen, die denkwürdigsten
Sprüche aus allen Kapiteln exzerpiert und sogar Bibelauslegungen ins Deutsche
übertragen.32
Doch nicht nur das eigene konfessionelle Bekenntnis lag Christoph von Loß
am Herzen. Geprägt von seinem Selbstverständnis als patriarchalischer lutherischer Grundherr nahm für ihn auch die christliche Fürsorgepflicht für die Familie wie für die Untertanen einen hohen Stellenwert ein. Tatsächlich belegen die
Quellen den Anspruch, eigenes Wirken mit dem Maßstab einer ‚christlichen
Obrigkeit‘ zu messen.33 Dies entsprach durchaus dem Zeitgeist. Nicht umsonst
28 Vgl. C. Gurlitt, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler in Sachsen, H. 41: Amtshauptmannschaft Meißen-Land, Dresden 1923, ND: Neustadt/Aisch 2003,
S. 468.
29 Vgl. PfA Leuben, Die Schleinitzer Bibliothek betr., 1916.
30 Vgl. HStA Dresden, Gh. Schleinitz, Nr. 1748.
31 A. Strauch, Christliche Leichpredigt / bey dem Begräbnüß / Des […] Christoffen von Loß
[…], Dresden 1620 (VD17 14:051820K), unpag.
32 Tatsächlich ist ein ca. 700-seitiges Manuskript des Christoph von Loß aus dem Jahr 1616 erhalten geblieben, das die für ihn wichtigsten Bibelstellen in einer Art ‚Hausbibel‘ zusammenfasst. Vgl. HStA Dresden, Gh. Schleinitz, Nr. 1387.
33 Vgl. ebd.
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198
Martina Schattkowsky
wurde gerade um 1600 die gute Behandlung von Untergebenen zu einem Topos
adliger Leichenpredigten.34
Bereits 1609 etwa wurde in Erinnerung an Christophs gleichnamigen Vater
(1548–1609) herausgestellt, dass dieser seine Unterthanen bey Recht und Gerechtig
keit geschützet, ihnen das Getreyde […] vorgesetzet, und damit keinen übermäßigen
Wucher getrieben hätte.35 Auch das Seelenheil der Untertanen spielte dabei eine
Rolle. So wäre Christoph d. Ä. aller Unzucht und Üppigkeit herzlich Feind gewe
sen und hätte entsprechende Verstöße seiner Untergebenen gestrafft, und […] die
Nachttäntze, die […] nur Anleitung seyn zu aller Unzucht, unter seinen Gebiethe
gäntzlich verbothen und abgeschafft.36
Über seinen Sohn Christoph wiederum heißt es in der Leichenpredigt, er
hätte seinen Glauben in den Werken der Liebe gegen den Nehesten gezeigt, seine
Unterthanen mit sanfftmuth regieret, […] und ganz ungern gestraffet.37 Dieses
Selbstverständnis eines gerechten, in der Not helfenden, sich um die christliche
Erziehung der Untertanen sorgenden Hausvaters zieht sich wie ein roter Faden
durch die Quellenüberlieferung.38 Dass der hohe obrigkeitliche Anspruch und die
Alltagspraxis auf dem Gutshof mitunter auseinanderklafften, steht fest. Dennoch
erhärten die Quellen einen konsensorientierten Herrschaftsstil, verbunden mit
einem ausgeprägten Engagement des adligen Grundherrn für Glaubensfragen
und religiöse Erziehung seiner Untertanen.
Auf Christoph von Loß geht etwa ein Collegium musicum zurück, das in der
Kirche zu Leuben bei währendem Gottesdienste aufwarten sollte.39 Die Musikan34 Vgl. B. Bei der Wieden, Außenwelt und Anschauungen Ludolf von Münchhausens (1570–
1640) (VHKNS 32; Niedersächsische Biographien 5), Hannover 1993, S. 200.
35 SLUB, Handschriftenabteilung, F. L. Zacharias, Sammlung historisch-topographisch u. genealogischer Nachrichten über das Königl. Sächs. Cammerguth und Lust Schloß Pillnitz, 1826,
fol. 62 f.
36 Ebd., fol. 63.
37 A. Strauch, Christliche Leichpredigt (wie Anm. 31).
38 Zwar ist der Aussagewert dieser positiven Bewertung z. B. in der Leichenpredigt bekanntlich
quellenkritisch zu hinterfragen, dennoch war es wohl für den Verfasser der Predigt kaum
möglich, Tatsachen vor versammelter Trauergemeinde bewusst zu verfälschen, sondern höchstens zu verschweigen. Außerdem zeigen sich beim Vergleich von Leichenpredigten durchaus
Nuancen bei der Darstellung von Herrenverhalten. Über Christian von Münchhausen hieß
es beispielsweise, er hätte alle in löblicher Furcht gehalten. Zitiert nach B. Bei der Wieden,
Ludolf von Münchhausen (wie Anm. 34), S. 202.
39 Zitiert nach F. Nagler, Das klingende Land. Musikalische Wanderungen und Wallfahrten
in Sachsen, Leipzig 1936, S. 235. Auch G. W. Segnitz gibt Christoph von Loß als Gründer
des Collegiums an, ohne allerdings auf Quellen zu verweisen. Vgl. G. W. Segnitz, Kirche und
Kirchfahrt zu Leuben (wie Anm. 26), S. 42.
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Adel und Reformation
199
ten waren Rittergutsuntertanen, wohlgemerkt Bauern, Gärtner und Häusler, die
sich regelmäßig im Haus des Schulmeisters trafen, um hier „feine Kunstmusik“ zu
üben.40 In der Musik sah der Grundherr – in Anlehnung an Martin Luther – eine
halbe Disciplin und Zuchtmeisterin, die die Leute gelinder, sanftmüthiger, sittsamer
und vernünftiger machet.41 Vor allem jedoch sollte die Musiksozietät zur Hebung
der Kirchenzucht der Schleinitzer Rittergutsuntertanen beitragen.
In eine ähnliche Richtung gehen weitere obrigkeitliche Maßnahmen, die der
Kontrolle des christlichen Lebenswandels und insbesondere des Sexual- und
Eheverhaltens der Dorfbewohner dienen.42 Parallel zur regelrechten Reglementierungswut auf landesherrlicher Ebene in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hat Christoph von Loß auch für seinen lokalen Herrschaftsbereich zahlreiche Ordnungen und Mandate erlassen.43 Hervorzuheben sind hier die 1607
aufgestellten Regeln für den Kirchenbesuch der Rittergutsbewohner44 sowie die
Schleinitzer Gerichtsrügen von 1616, wo Regelungsbereiche wie Vergehen gegen
die kirchlich-religiöse Ordnung (Sonn- und Feiertagsheiligung, Fluchen, Gotteslästerung) sowie Delikte im Bereich der Sittlichkeit, Ehe und Familie (Tanzvergehen, Trunkenheit, Wirtshaussitzen, Spielen, uneinige Eheleute, Unzucht)
eine zentrale Rolle spielen.45
Nicht nur anhand des Schleinitzer Beispiels erhärtet sich der Eindruck, dass für
adlige Grundherren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts religiös motivierte
Handlungsmaßstäbe erheblich an Bedeutung gewannen. Seinen Niederschlag
fand dies nicht zuletzt in der adligen Stiftungspraxis, die bekanntlich auch nach
der Reformation keineswegs erlosch. Zu denken ist etwa an die nach der Jahrhundertmitte zunehmenden Kirch- und Schulstiftungen oder an Stiftungen für
das Armen- und Hospitalwesen.46 Gerade hier ergaben sich nach der Reformation
40 Vgl. M. Schattkowsky, Musik als „Disciplin und Zuchtmeisterin“ ländlicher Untertanen
in Sachsen (17./18. Jahrhundert), in: NASG 88 (2017), S. 131–149.
41 HStA Dresden, Gh. Schleinitz, Nr. 1300; die folgenden Zitate beziehen sich ebenfalls auf diese
Quelle.
42 Vgl. H. Smolinsky, Albertinisches Sachsen, in: A. Schindling / W. Ziegler (Hgg.),
Territorien des Reichs (wie Anm. 8), S. 8–32, hier S. 25 f.
43 Vgl. dazu W. Müller / M. Schattkowsky / D. Syndram (Hgg.), Kurfürst August von
Sachsen. Ein nachreformatorischer „Friedensfürst“ zwischen Territorium und Reich, Dresden
2017.
44 Vgl. HStA Dresden, Gh. Schleinitz, Nr. 1298.
45 Vgl. PfA Leuben, Gerichts Rügen derer Undterthanen, so zum Rittergutte Schleinitz, undt uff
jeden Gerichts Stuehl, dorzu sie vor langer alter zeithero gehörigk, undt itzo bey gehenkten
Bericht vor mir Martin Weimern dieser Zeit Schößern des orts von newen wieder einbrachtt
wordenn, Anno 1616.
46 Dies bestätigen Studien von Peter Wiegand zur Familie von Schönberg. Vgl. P. Wiegand,
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200
Martina Schattkowsky
neue obrigkeitliche Handlungsfelder, die zunehmend auch der Landadel besetzte.
Zwar besteht zur Fürsorgepraxis des landsässigen Adels wie überhaupt zum ländlichen Armenwesen noch enormer Forschungsbedarf,47 doch wird man generell
wohl davon auszugehen haben, dass neben privater Wohltätigkeit und Gemeindearmenfürsorge vor allem die Familien eine große Rolle spielten.48 Für Kursachsen
liegen punktuelle Beobachtungen vor, wonach adlige Grundherren gelegentlich
bedürftige Untertanen in städtische Spitäler ‚abschoben‘.49
Im Herrschaftsbereich des Schleinitzer Ritterguts allerdings wird grundherrliches Engagement für die Armenfürsorge direkt greifbar, und zwar in Form eines
Armenhospitals in Leuben.50 Dieses Hospital wurde bereits in der Mitte des
16. Jahrhunderts durch Hans von Schleinitz (ca. 1543–1597) gestiftet und von
dessen Nachfolger Abraham (1545–1594) weiter ausgebaut. Anschließend verfiel
es zwischenzeitlich, bevor es durch Christoph von Loß wieder errichtet und 1613
mit einer Hospitalordnung versehen wurde. Diese Ordnung, die der Schleinitzer
Grundherr eigenhändig verfasste, regelte bis ins Kleinste sowohl die finanzielle
Basis als auch das Zusammenleben der Hospitalbewohner. Wie es hieß, sollten
die Regeln uff eine Taffel getzogen, in der Eßstube aufgehengt und den Insassen im
vierteljährlichen Abstand verlesen werden.51
Ein Blick in die Hospitalordnung mit nicht weniger als 45 Paragrafen lässt
keinen Zweifel am Bemühen des Erb- und Gerichtsherrn, normative Verhaltensstrukturen und effiziente Kontrollmechanismen zu etablieren.52 Gleich die ersten
47
48
49
50
51
52
Zur Stiftertätigkeit der Familie von Schönberg in der Neuzeit im Spiegel der Bestände des
Hauptstaatsarchivs Dresden (16.–20. Jahrhundert), in: B. Richter (Red.), Die Adelsfamilie
von Schönberg in Sachsen, Leipzig 2011, S. 76–98, hier S. 82 f.
Zum Dresdner Spitalwesen vgl. A.-K. Stanislaw-Kemenah, Spitäler in Dresden. Vom
Wandel einer Institution (13. bis 16. Jahrhundert) (SSGV 24), Leipzig 2008; zu Problemen von
Armut und Armenwesen in sächsischen Städten des 18. und 19. Jahrhunderts vgl. vor allem
die Quellensammlung: Armut und Armutsbekämpfung. Schriftliche und bildliche Quellen
bis um 1800 aus Chemnitz, Dresden, Freiberg, Leipzig und Zwickau. Ein sachthematisches
Inventar, edd. H. Bräuer / E. Schlenkrich, 2 Bde., Leipzig 2002.
Vgl. M. Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit
einem Konzept, in: GG 17 (1991), S. 5–29, hier S. 11.
Darauf verweist etwa ein Visitationsprotokoll von 1555 zum Dresdner Jacobspital, worin bemängelt wurde, dass in diesem Spital Leute vom Lande von ihren Edelleuten eingeschoben wür
den. Zitiert nach A.-K. Stanislaw-Kemenah, Spitäler in Dresden (wie Anm. 47), S. 488.
Vgl. M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut (wie Anm. 15), S. 147 f.
Diese Hospitalordnung des Christoph von Loß wird heute im PfA Leuben aufbewahrt und
befindet sich als Abschrift in: M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut (wie Anm. 15),
S. 445–450, hier S. 450.
Vgl. analog dazu A.-K. Stanislaw-Kemenah, Spitäler in Dresden (wie Anm. 47), S. 60–69.
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Adel und Reformation
201
fünf Artikel beziehen sich auf die christliche Lebensführung sowie die regelmäßige Glaubensunterweisung der Hospitalleute.53 Sollte sich bei ihrer Befragung
herausstellen, dass es um ihr Christenthum oder Catechißmen schlecht bestellt
war, wurde Nachhilfe angeordnet, und zwar entweder in der Kirche selbst oder
in der kinderlehre.54
Und auch das gehört noch in den Bereich der obrigkeitlichen Armenfürsorge:
In seinem Testament hinterließ Christoph von Loß dem Leubener Hospital 100
Gulden.55
‚Adel und Reformation‘ – zumindest für Kursachsen deutet sich an: Auch wenn
es zweifellos des lenkenden Eingriffs der Landesherren bedurfte, hätte sich die
evangelische Lehre weder im ernestinischen noch im albertinischen Landesteil
ohne den gut vernetzten Adel nicht so schnell durchsetzen können. So dürfte
letztlich an dem von Ernst Schubert in die Diskussion eingebrachten Phänomen der Adelsreformation kein Weg vorbeiführen.
53 Anders als in der Leubener Ordnung spielte beispielsweise in der von Martin Dinges untersuchten Bordelaiser Armenfürsorge des 16. und 17. Jahrhunderts die Erziehung zu christlicher
Lebensführung nur eine marginale Rolle, vgl. M. Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge
(wie Anm. 48), S. 18.
54 Vgl. die Abschrift im Anhang von M. Schattkowsky, Zwischen Rittergut (wie Anm. 15),
S. 447.
55 Vgl. PfA Leuben, Testament des Christoph von Loß vom 28.8.1613.
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Jens Klingner
Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen
(1502–1557)
Eine reformationsgeschichtliche Quelle
Am 30. August 1532 schrieb Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557) an
Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen (1503–1554):
[…] F[reundlicher] h[erz] a[ller] l[iebster] b[ruder], ych geb e[uer] l[ieben] auch tzu vorstend,
das man heyr sagett, e[uer] l[ieben] und m[ein] b[ruder] sollen auff tzoffych seyn; ych byt e[uer]
l[ieben] last mich es wissen, dan meyn bruder hatt mir yetz geschriben und schrib mir dar von
gar nichst, das mich es wunder glich. Ych bytt e[uer] l[ieben] wolt sych est nich yeren lassen umb
meyn willen, dan e[uer] l[ieben] west seyn gebrechen wol, das romorychst yst; e[uer] l[ieben] sey
am klougesten und wert weyder eins mit einnander, dan es sen vel leut gern und lachen sen. E[uer]
l[ieben] dut dach auch wast umb meyn willen, ych wil weyder wast umb e[uer] l[ieben] willen
dunt. […] Dat[um] freytag nach Barttelmest anno xxxii.1
Die Herzogin berichtete also, dass man am Dresdner Hof behaupte, Kurfürst
Johann Friedrich und Landgraf Philipp von Hessen (1504–1567) lägen im Streit
miteinander. Im Brief verwendet Herzogin Elisabeth die Redewendung auff
tzoffych seyn. Im übertragenen Sinn bedeutet „auf Zoff sein“, umgangssprachlich
heute noch geläufiger als „zoffen“, im Streit miteinander liegen.2 Elisabeth zeigte
sich darüber sehr verwundert, denn ihr Bruder, der Landgraf, habe in seinem Brief
an sie wiederum nichts über einen Konflikt verlauten lassen. Nun, so forderte sie
den Kurfürsten auf, möge er sie wissen lassen, welchen Wahrheitsgehalt sie den
Gerüchten beimessen solle. Unabhängig von seiner Antwort gab die Herzogin
dem Kurfürsten den Ratschlag mit auf den Weg, sich mit ihrem Bruder nicht zu
entzweien. Johann Friedrich kenne Philipps Schwäche, dass er romorychst yst –
also Rumoren oder Geschrei machen würde. Johann Friedrich solle sich klug
verhalten und sich mit ihm versöhnen.
1
2
KES, Bd. 1: Die Jahre 1505 bis 1532, ed. A. Thieme (QMSGV III/1), Leipzig 2010, S. 312 f.,
Nr. 175.
Vgl. das Wort „zoffen“ in Duden online: https://www.duden.de/rechtschreibung/zoffen
(letzter Zugriff am 21.2.2020).
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204
Jens Klingner
Diese kurze Passage und das – zugegebenermaßen – auf den ersten Blick etwas
unspektakuläre Exempel offenbart gleich mehrere Facetten der mit etwa 2.000
bekannten Briefen doch ziemlich umfangreichen Korrespondenz Herzogin Elisabeths, die am Dresdner Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde
ediert werden.3 Einerseits deutet es die für Fürstinnen im Spätmittelalter und der
Frühen Neuzeit üblichen Schreib- und Sprachgewohnheiten an, nämlich dass
sie unter anderem ihre Briefe eigenhändig und nach dem Hörensagen verfassten, während sich ihre Briefpartner an dem kanzleimäßigen Schriftgebrauch der
Zeit orientierten.4 Ausdruck findet dies in ihrer eigenwilligen Orthografie, ihrer
eigenen Grammatik sowie der von ihr angewendeten, speziellen Getrennt- und
Zusammenschreibung. Besonders auffällig sind die griechischen und lateinischen
Lehnwörter, beispielsweise bei Titeln und Ämtern, oder aber die schwer aufzulösenden Orts- und Personennamen, die teils in einer äußerst kuriosen Darstellungsweise festgehalten wurden. Letztere finden sich auch durch Siglen abgekürzt,
was in Einzelfällen zu Identifizierungsproblemen führt. Zudem verzichtete die
Herzogin konsequent auf Satzzeichen und Absätze, sodass sich die Rekonstruktion
3
4
Im Rahmen des Projektes „Fürstinnenkorrespondenzen der Reformationszeit“ am ISGV werden
die Briefe Herzogin Elisabeths erstmals in Gänze zugänglich gemacht. Bisher erschienen sind:
KES, Bd. 1 (wie Anm. 1); KES, Bd. 2: Die Jahre 1533 und 1534, ed. J. Klingner (QMSGV
III/2), Leipzig 2016; weitere Informationen zum Editionsprojekt unter https://www.isgv.de/
elisabeth (letzter Zugriff am 21.2.2020); sowie J. Klingner, Fürstinnenkorrespondenzen der
Reformationszeit. Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557), in:
W. Müller (Hg.) / D. Geissler (Red.), Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde
1997–2017 (Spurensuche 7), Dresden 2017, S. 92–99; Ders., dan so vel ich er farre, so vel schrib
ich dir. Die Edition der Korrespondenz Herzogin Elisabeths von Sachsen, in: M. Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement
(SSGV 55), Leipzig 2016, S. 55–86; A. Thieme, Fürstinnenkorrespondenzen in der Reformationszeit, in: W. Müller (Hg.) / A. Martin (Red.), Institut für Sächsische Geschichte
und Volkskunde 1997–2007 (Spurensuche 1), Dresden 2007, S. 70–77.
Vgl. unter anderem M. Schneikart, Briefe pommerscher Fürstinnen zwischen 1600 und
1633. Privatbriefe oder „geringe Haußbrieflein“?, in: D. Schleinert / Dies. (Hgg.), Zwischen Thronsaal und Frawenzimmer. Handlungsfelder pommerscher Fürstinnen um 1600
(VHKP FPG 50), Köln/Weimar/Wien 2017, S. 235–250; U. Essegern, Die Kanzlei liest mit.
Familiäre Netzwerke von Fürstinnen am Beispiel der Kopialbuchüberlieferung Sophias von
Brandenburg (1568–1622), in: ebd., S. 271–294; J. Daybell (Hg.), Early modern women’s
letter writing 1450–1700, Basingstoke/Hampshire/London 2001; C. Nolte, Pey eytler
finster in einem weichen pet geschrieben. Eigenhändige Briefe in der Familienkorrespondenz
der Markgrafen von Brandenburg (1470–1530), in: H.-D. Heimann (Hg.), Adelige Welt
und familiäre Beziehung. Aspekte der „privaten Welt“ des Adels in böhmischen, polnischen
und deutschen Beispielen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (QSGKBPAR 7), Potsdam 2000,
S. 177–202.
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Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557)
205
Abb. 1: Handschrift Herzogin Elisabeths
von Sachsen, Brief an Kurfürst Johann
Friedrich (der Großmütige), 16. September 1532, Vorderseite [HStA Dresden,
10024, Loc. 10548/6, fol. 6r].
von Satz- und Sinnzusammenhängen als sehr schwierig herausstellt. Neben der
nicht genormten Schreibtätigkeit fällt ihr individuelles hessisch-sächsisches Dialektgemisch auf. Ausgeprägt erscheinen die häufigen, meist harten konsonantischen Endungen, das hessische aber für „oder“ sowie der hessische Vokalismus
der Verwendung von ‚i‘, ‚e‘ oder ‚ei‘.5 In ihren Briefen spiegelt sich zudem ihre
direkte Sprache wider. Sie verwendete teilweise eine sehr derbe Ausdrucksform,
wenn sie von einem „bloßen Maul“ schreibt oder ihre Gegner stult, also dumm
und einfältig nennt. Der Gebrauch von Sprichwörtern und Redewendungen
wird mit ‚Zoffen‘ ebenfalls angedeutet. Einige wenige ausgewählte Beispiele aus
der bisher bearbeiteten Korrespondenz seien in der folgenden Übersicht zusammengefasst:6 (Abb. 1)
Dialektgemisch
moen = mühen
drawett = trauen
5
6
Vgl. KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. XXXVIII.
Die Beispiele finden sich ebd.; und in: KES, Bd. 2 (wie Anm. 3).
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206
Jens Klingner
frett = Frieden
breitteiger = Prediger
Getrenntschreibung
forscht sam = furchtsam
vor botten = verboten
bourn auff stend = Bauernaufstand
dantz schou = Tanzschuhe
vor retterye = Verräterei
bleymett leyn = Blümlein
Lehn- und Fremdwörter
bersown = Person
faron = Pharao
bobest = Papstes
brackereytzern = praktizieren
yn fett argen = Inventarium
auffeitzseygal = Offizial
Namen
graun felter = Antoine Perrenot de Granvelle
dymost = Franz von Hemste, genannt Thamise
mit we = Mittweida
He v S = Heinrich von Schleinitz
Ha v S = Hans von Schönberg
A v der Dant =Alexander von der Tann
Sprichwörter
Das glaubt der Kuckuck.
Wenn man einen im Löffel ertränken könnte, würde man keine Schüssel dazu
nehmen.
***
Andererseits wird anhand des eingangs genannten Schreibens Elisabeths die enge
Verbindung dreier Personen verdeutlicht, nämlich Herzogin Elisabeth – Kurfürst
Johann Friedrich I. von Sachsen (1532–1547/54) – Landgraf Philipp I. von Hessen
(1509/18–1567). Dieser Konstellation soll im Folgenden anhand einer biografischen Skizze der Herzogin für die Zeit am Dresdner Hof Beachtung geschenkt und
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Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557)
207
die Bedeutung dieser ‚Kommunikationsachse‘7 nachgezeichnet werden. Der Brief
weist auf einen regen Informationsaustausch zwischen den drei nahezu gleichaltrigen Fürsten bzw. der Fürstin hin. Aus inhaltlicher Perspektive offenbart er eine
Auseinandersetzung zwischen dem Kurfürsten und dem Landgrafen, die in der
Folge des Nürnberger Religionsfriedens vom Juli 1532 entstanden war. Georg
Mentz (1870–1943) spricht im Zusammenhang mit dem hier angesprochenen Streit von einer in dieser Phase „gereizten Korrespondenz“ zwischen Johann
Friedrich und Philipp.8 Letzterer sah in den durch die Ernestiner ausgehandelten
Ergebnissen des Nürnberger Anstands ein Hindernis für die weitere Ausbreitung der lutherischen Lehre.9 Der Brief zeigt das Aufgreifen von Gerüchten am
Dresdner Hof durch die Herzogin: Nämlich das man heyr sagett.10 Ferner deutet
das Beispiel die Besorgnis der Herzogin wegen des sich anbahnenden Konflikts
zwischen ihren Briefpartnern an. Insgesamt eröffnen der Brief und schließlich
die gesamte Korrespondenz Herzogin Elisabeths einen weiteren Blickwinkel auf
die Geschehnisse der Zeit und ergänzt die in erster Linie politischen Briefwechsel der agierenden Fürsten, in denen sich zumeist die ‚offiziellen‘ diplomatischen
Vorgänge festgehalten finden. (Abb. 2)
Herzogin Elisabeth von Sachsen ist heute vor allem unter dem Namen ihres
Wittums als Elisabeth von Rochlitz bekannt. Die geborene Landgräfin von Hessen
ist nicht nur wegen ihrer Lebensdaten als eine „klassische Reformationsfürstin“
zu bezeichnen,11 sondern auch wegen ihrer Rolle als aktiv handelnde Herzogin
und Witwe. André Thieme hält treffend fest:
„Durch die Reformation also ist der Lebensweg der Herzogin Elisabeth tief beeinflusst worden, und ihrerseits versuchte auch Elisabeth, diese Reformation nach Kräften mit zu gestalten.
7 Vgl. A. Thieme, Religiöse Rhetorik und symbolische Kommunikation. Herzogin Elisabeth
von Sachsen am Dresdner Hof (1517–1537), in: W. Müller (Hg.), Perspektiven der Reformationsforschung in Sachsen Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Karlheinz Blaschke
(Bausteine ISGV 12), Dresden 2008, S. 95–106; vgl. auch Ders., Glaube und Ohnmacht?
Herzogin Elisabeth von Rochlitz am Dresdner Hof, in: E. Bünz / S. Rhein / G. Wartenberg (Hgg.), Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation (SLSA 5), Leipzig 2005, S. 149–174.
8 G. Mentz, Johann Friedrich der Grossmütige 1503–1554, T. 2: Vom Regierungsantritt bis
zum Beginn des Schmalkaldischen Krieges (Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens I/2),
Jena 1908, S. 6.
9 Vgl. ebd., S. 5 f.; sowie Ders., Johann Friedrich der Grossmütige 1503–1554, T. 1: Johann
Friedrich bis zu seinem Regierungsantritt 1503–1532 (Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens I/1), Jena 1903, S. 92.
10 KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 312 f., Nr. 175.
11 Ebd., S. XIV.
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208
Jens Klingner
Abb. 2: Herzogin Elisabeth von
Sachsen, Reisebild, um 1577
[Sammlung des Museums Schloss
Wilhelmsburg Schmalkalden, D IV
a 1307].
Über die Spielräume einer ‚gewöhnlichen‘ Fürstin und Fürstenwitwe hinaus wuchs ihr dabei
eine markante politische und kommunikative Bedeutung innerhalb der so genannten Fürstenreformation zu.“12
Im Jahr 1502 zur Welt gekommen, erfolgte bereits im Alter von drei Jahren die
Aushandlung ihrer Ehe zwischen ihrem Vater, Landgraf Wilhelm II. (dem Mittleren) von Hessen (1469–1509), und Herzog Georg (dem Bärtigen) von Sachsen
(1471–1539). Durch die Verheiratung mit Herzog Johann (1498–1537), dem
ältesten Sohn Georgs, sollten die Verbindungen zwischen den albertinischen
Wettinern und dem Haus Hessen gestärkt werden. Hervorzuheben ist bei dieser
Verbindung insbesondere die außergewöhnliche Position Elisabeths in einem
familiären Geflecht, welches von den engen Verwandtschaftsbeziehungen zu den
wichtigsten Reformationsfürsten der ersten und zweiten Generation gekennzeichnet ist. Durch ihre hessische Herkunft und ihre Einheirat in den albertinischen
Familienzweig der Wettiner markieren ihre vielfältigen Verwandtschaften wichtige
Eckpunkte ihres Lebens bzw. ihrer Korrespondenz. Zu nennen sind erstens ihr
12 Ebd.
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Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557)
209
Gemahl Herzog Johann von Sachsen, dem vorherbestimmten Nachfolger des –
zweitens – albertinischen Herzogs Georg von Sachsen (1500–1539) und bedeutendsten antilutherischen Fürsten. Drittens führte ihr zwei Jahre jüngerer Bruder
Landgraf Philipp von Hessen die Reformation in seiner Landgrafschaft ein und war
gemeinsam mit – viertens – dem Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen Führer
des Schmalkaldischen Bundes, dem bedeutendsten religiös motivierten Bündnis
der protestantischen Stände. Für Elisabeths Lebensphase als Witwe in Rochlitz
nahm – fünftens – der spätere Kurfürst Moritz von Sachsen (1521–1553) eine
wichtige Rolle ein, zu dem sie zunächst ein enges Verhältnis gepflegt hatte, der sie
dann aber im Zuge des Schmalkaldischen Krieges ihres Wittums enthob.13 Ihre
besondere dynastische Konstellation wird also nicht nur durch ihre persönliche
Nähe zu den Fürsten charakterisiert, sondern gleichfalls durch ihre ambivalente
Stellung in der Konfliktlinie zwischen den beiden Bekenntnissen.
Elisabeth lebte ab dem Herbst 1517 dauerhaft am Dresdner Hof. Erstmals wird
im Juni 1526 ein reformationsgeschichtlich interessanter Aspekt greifbar, das als
erstes Beispiel für den Quellenwert der Korrespondenz herangezogen werden
soll. In ihrem Schreiben an Herzog Johann Friedrich schildert sie ausführlich die
theologischen und kirchenpolitischen Sichtweisen am Dresdner Hof und stellt
sie in den Kontext eigener religiöser Anschauungen.14 Kernaussage des Schreibens
sind ihre Bemühungen, Kurfürst Johann (den Beständigen) (1468–1532) durch
dessen Sohn Johann Friedrich dahingehend zu bewegen, ein Schreiben an Herzog Georg aufzusetzen. In diesem solle der Kurfürst seine Teilnahme an einem
christlichen Konzil zusichern. Elisabeth glaubte – wie sie selbst schreibt –, dass
Herzog Georg so auf Verhandlungen eingehen müsse, denn bislang habe er immer
behauptet, Kurfürst Johann (1486/1525–1532) wolle über die Religion nicht
mit sich reden lassen. In ihrem Brief gibt Elisabeth zudem Handlungsvorschläge
im Umgang mit Herzog Georg. Sie ermahnte ihr Gegenüber, dem Herzog solle
man in einem freundlichen Ton schreiben und ausdrücklich von dein mist bro
chgen beider seits retten – also den Missbräuchen beider Seiten sprechen.15 Diese
Vorschläge Elisabeths scheinen durch die Ernestiner aufgegriffen worden zu sein,
denn im Juli 1526 instruierte Kurfürst Johann zwei seiner Räte entsprechend.
Diese sollten Georg anbieten, über die Abstellung kirchlicher Missbräuche durch
beiderseitige Räte oder die gemeinsame Landschaft beraten zu lassen.16
13
14
15
16
Vgl. ebd., S. XIV f.
Vgl. ebd., S. 177–182, Nr. 98; vgl. auch ebd., S. XXV.
Ebd., S. 177–182, Nr. 98.
Vgl. ABKG, ed. F. Gess, Bd. 2: 1525–1527 (SSKG 22), Leipzig 1917, ND: Leipzig 1985, S. 569 ff.,
Nr. 1277.
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210
Jens Klingner
Der Briefwechsel zeigt darüber hinaus die eigene Rolle der Herzogin als Vermittlerin in einer Schlüsselstellung zwischen den Fürsten. In den folgenden Jahren intensivierte sie ihre Schreibtätigkeit und baute dadurch diese kommunikative Position aus. Elisabeth übernahm die Funktion einer Informantin für ihren
Bruder sowie den sächsischen Kurfürsten und schilderte Stimmungen, Gerüchte
und Pläne am Dresdner Hof – wie das Beispiel am Anfang zeigt. In der Affäre
um Vizekanzler Otto von Pack (ca. 1480–1537) engagierte sich Elisabeth 1528
erstmals politisch. Nachdem die Ernestiner und Herzog Georg von Otto von Pack
abgerückt waren, distanzierte sich auch Elisabeth schnell von ihm und versuchte
vergeblich, ihren Bruder Philipp zu einem entschiedenen Vorgehen gegen den
mittlerweile verhafteten Vizekanzler zu veranlassen.17
Ihre Rolle als Ratgeberin und Schlichterin zwischen den zerstrittenen Parteien
gewann an Bedeutung, als sie nach dem Ableben ihrer Schwiegermutter Barbara von Polen (1478–1534) zur ersten Frau am Hof aufstieg und sie die damit
verbundenen Freiräume für ihr politisches Engagement nutzte. Ein wichtiger
Meilenstein war ihre aktive Rolle bei der Vermittlung des Friedens von Kaaden/
Kadaň 1534. Bei diesen Friedensverhandlungen schlichtete sie gemeinsam mit
Herzog Georg erfolgreich zwischen ihrem Bruder und Kurfürst Johann Friedrich und trug somit zu dem Ausgleich zwischen den verschiedenen Parteien
bei.18 Die Korrespondenz der Herzogin informiert ausführlich über den Verlauf
der sich anschließenden Gespräche in Annaberg und Kaaden, und zwar aus der
Sicht Elisabeths. Innerhalb des kurzen Zeitraums der Verhandlungen vom 11.
bis 23. Juni verfasste sie mindestens 13 Briefe19 sowie im Nachgang bis Anfang
Juli fünf weitere zu den Inhalten des abgeschlossenen Friedensvertrags. Vor allem
geben ihre Schreiben einen umfassenden Einblick in ihren eigenen Beitrag zu
den Friedensbemühungen.
Schon die Zeitgenossen erkannten ihren daraus gestiegenen kommunikativen
Stellenwert. Herauszuheben ist in diesem Kontext die eigenständige Anfrage des
bedeutenden albertinischen Rats Georg von Carlowitz (ca. 1471–1550) sowie
des Kanzlers Simon Pistoris d. J. (1489–1562), die Ende September 1534 um ihre
Mithilfe im Fall des Predigers von Niederdorla um Vermittlung zwischen Herzog
17 Vgl. KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 230–235, Nr. 125 ff., S. 238–246, Nr. 134–137, S. 247–250, Nr.
139, S. 252–260, Nr. 142, S. 261–264, Nr. 145, S. 264–267, Nr. 147, S. 269–274, Nr. 149–152;
K. Dülfer, Die Packschen Händel (VHKHW 24; QDGLPG 3), Marburg 1958.
18 Vgl. KES, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. XVIII–XXIII; zum Vertrag von Kaaden vgl. ABKG, edd. H.
Jadatz / C. Winter, Bd. 3: 1528–1534, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 753 f., Nr. 2494.
19 Vgl. KES, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. 304–311, Nr. 169–172, S. 314, Nr. 174, S. 317–323, Nr. 177 f.,
S. 327–330, Nr. 181–184, S. 339–343, Nr. 188 f.
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Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557)
211
Georg und Landgraf Philipp baten.20 Weitere Beispiele lassen sich anfügen, so
etwa die Auseinandersetzung um die Predigten Martin Luthers (1483–1546)
gegen Herzog Georg zum Jahreswechsel 1534/35. Hier trat Elisabeth gemeinsam
mit ihrem Gemahl politisch in Erscheinung, denn sie formulierte ihre Anfrage
bezüglich der Predigten Luthers in Wittenberg als Begleitschreiben zum Brief
Herzog Johanns21 an den Kurfürsten,22 der wiederrum – darauf reagierend – sie
seinerseits um Vermittlung bat, sollte es zum Streit mit den albertinischen Herzögen kommen.23 Auch später auf ihrem Wittum setzte Elisabeth ihre am Dresdner Hof begonnenen politischen Aktivitäten fort. Ihren Bruder überzeugte sie
unter anderem zu einer Teilnahme an dem von Georg von Carlowitz initiierten
Leipziger Religionsgespräch 1539, bei dem kursächsische, hessische und sächsisch-albertinische Vertreter zusammentrafen.24 Diese politischen Aktivitäten
zeigen eindrucksvoll ihre eigenständige Haltung gegenüber ihrem Bruder sowie
dem Kurfürsten und machen ihr Selbstverständnis in der Rolle als albertinische
Fürstin sichtbar.
Neben ihrer Vermittlerrolle zwischen den Fürsten sind die Jahre der jungen
Herzogin am Dresdner Hof von einer zunehmenden Konfrontation mit ihrem
Schwiegervater gekennzeichnet. Der Konflikt ging zunächst auf die Schwierigkeiten Elisabeths zurück, sich den höfischen Regeln der albertinischen Residenz unterzuordnen. Ihre Eigenwilligkeit, ihr ungebührliches Verhalten und die
Missachtung von Hierarchien führten zu intensiven Auseinandersetzungen. Der
Generationskonflikt wurde durch die unterschiedlichen Hofkulturen, mit dem
freizügigen Leben in Hessen auf der einen und der strengen, autoritäreren Haushaltung am Hof in Sachsen auf der anderen Seite, verstärkt. Insbesondere wurde
der Streit im Frauenzimmer Elisabeths ausgetragen, wo die Herzogin häufig mit
der verantwortlichen Hofmeisterin aneinandergeriet.25 Diese fortwährenden
20 Vgl. ebd., S. 383 ff., Nr. 210; darüber hinaus ebd., S. 386 f., Nr. 212, S. 391–395, Nr. 215 f.; vgl.
auch ABKG, Bd. 3 (wie Anm. 18), S. 459 f., Nr. 2086, S. 466 f., Nr. 2098, S. 470 f., Nr. 2103.
21 Zum Brief Herzog Johanns vgl. ebd., S. 824 f., Nr. 2620.
22 Vgl. KES, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. 404 f., Nr. 222.
23 Vgl. ebd., S. 407 ff., Nr. 224.
24 Vgl. ABKG, edd. H. Jadatz / C. Winter, Bd. 4: 1535–1539, Köln/Weimar/Wien 2012,
S. 622 f., Nr. 3441; vgl. auch ebd., S. 662–668, Nr. 3492; sowie G. Wartenberg, Die Leipziger Religionsgespräche von 1534 und 1539. Ihre Bedeutung für die sächsisch-albertinische
Innenpolitik und für das Wirken Georgs von Karlowitz, in: G. Müller (Hg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit (SVRG 191), Gütersloh 1980, S. 35–41.
25 Vgl. A. Thieme, Herzogin Elisabeth von Rochlitz – ein Fürstinnenleben im Zeitalter der
Reformation, in: S. Schellenberger / Ders. / D. Welich (Hgg.), Eine STARKE FRAUENgeschichte. 500 Jahre Reformation, Beucha/Markkleeberg 2014, S. 41–46, hier S. 42.
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212
Jens Klingner
Spannungen verschärften sich spätestens 1526 durch Elisabeths Hinwendung zur
lutherischen Lehre, die in der Korrespondenz greifbar wird.26 Im November des
Jahres berichtete sie Johann Friedrich, dass Herzog Georg erfahren habe, dass sie
das Sakrament in beiderlei Gestalt nehmen wolle: wei ym for kumb, wey ych wilt
zu dem sackratment gein in beytter gestalt aber wilst k[ei]nst nem, […] Martteins
meinung geveilt mir ser wolt, […] wan mans mir beytterleig geb, wolt ych so nem, dan
Got hest so ausz gesast.27 Elisabeth habe ihm daraufhin erklärt, dass sie es lieber in
der evangelischen Gestalt hätte – weil Gott das so gewollt habe. In diesem Brief
werden erstmals ihre eigene religiöse Sichtweise und ihre Zuneigung zur lutherischen Lehre sichtbar, die zu einem grundlegenden Bestandteil ihres Lebens und
ihrer Identität wurde. Im April 1527 schrieb sie ihrem Bruder, dass sie versucht
habe, ihren Gemahl zum evangelischen Bekenntnis zu bewegen: Auch hab ych
mein hern und gemalt gesag, wei e[uer] l[ieben] s[eine] l[ieben] enttbotten hott, […]
Wan es auch dei weige er reichgett, das her in das regement kemb, wort es wolt gutt
werden, […] dei Mertteinse sach geveilt im nich so gar obelt […].28 Sie habe zwar
keine Antwort bekommen, aber Herzog Johann sei der lutherischen Sache nicht
abgeneigt – wenn nur die Beleidigungen Luthers gegenüber seinem Vater sowie
der Missbrauch der Sakramente durch die evangelische Seite nicht wären. Hier
offenbart sich im Übrigen Johanns Kritik an der lutherischen Lehre und den Folgen der Säkularisationen, die identisch mit der seines Vaters war.
Festzuhalten bleibt, dass Johann Friedrich und Philipp zentrale Vertrauenspartner in dieser für Elisabeth schwierigen Lebensphase waren. Es wird weiterhin klar,
dass die Herzogin eine besondere Rolle innehatte. Als lutherische Gemahlin des
künftigen sächsisch-albertinischen Herzogs am Hof des Luthergegners Herzog
Georg nahm sie eine wichtige strategische Funktion ein. Sie war der zentrale Baustein, um das albertinische Sachsen nach dem jederzeit erwarteten Ableben des
alten Herzogs durch ihren Gemahl zu reformieren. Philipp und Johann Friedrich
nutzten Elisabeth, um auf den jungen Herzog Johann Einfluss auszuüben. Diese
26 Elisabeth Werl (1898–1983) vermutet, dass Herzogin Elisabeth sich bereits 1524 der lutherischen Lehre zuwendete. Günther Wartenberg (1943–2007) verweist dagegen auf das Jahr
1525, als Alexius Chrosner (ca. 1490–1535) als Prediger am Dresdner Hof angestellt wurde;
vgl. E. Werl, Elisabeth, Herzogin zu Sachsen, die Schwester Landgraf Philipps von Hessen.
Eine deutsche evangelische Frau der Reformationszeit, Bd. 1: Jugend in Hessen und Ehezeit
am sächsischen Hofe zu Dresden, Weida 1937, S. 74; G. Wartenberg, Herzogin Elisabeth
von Sachsen als reformatorische Fürstin, in: M. Schattkowsky (Hg.), Witwenschaft in
der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung
(SSGV 6), Leipzig 2003, S. 191–201, hier S. 195.
27 KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 190–207, Nr. 111.
28 Ebd., S. 212–215, Nr. 116.
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Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557)
213
besondere Konstellation barg ein großes Konfliktpotenzial. Am kämpferisch
altgläubigen Dresdner Hof bekam ihre religiöse Auseinandersetzung mit dem
Schwiegervater eine ganz eigene Dynamik. In der religiösen Frage versuchte wiederum Herzog Georg Elisabeth über ihren Gemahl Herzog Johann zu beeinflussen und sie zu einer Abkehr von der lutherischen Lehre zu bewegen. 1533 rückte
die Auseinandersetzung in eine breitere Öffentlichkeit, als Elisabeth Beichte und
Abendmahl verweigerte. Im Zentrum stand die Gewissensfrage zum Abendmahl.
Elisabeth schilderte Anstrengungen Herzog Georgs, sie durch ihren Gemahl zum
Ablegen der Beichte zu bringen. Dieses Ersuchen lehnte Elisabeth mit der Begründung ab, sie könne unter Zwang das Sakrament in einer Gestalt nicht nehmen:
[…] ich gebe e[uer] l[ieben] fruntlych tzu erkeyn, das ich gantz bedach bin, das sackrament nich
tzu nemen, man geb mir es dan in beyder gestal, […] dan mir yst in meyn gewissen also, das ich
nich kant sellych wertten wo ich dey menschsen serer forcht dan Got und wil es wagen, wast sey
wollen anfan.29
In dieser Auseinandersetzung suchte Elisabeth bei dem Kurfürsten und ihrem Bruder um Rat. Sie befürchtete, Herzog Georg würde sie zum katholischen Bekenntnis zwingen. Johann Friedrich und Philipp rieten ihr, das Abendmahl vorerst
auszusetzen und die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Wie stark sich
die Herzogin in dieser Phase am Dresdner Hof einer Gefahr für Leib und Leben
ausgesetzt sah, zeigen Warnungen vor einer möglichen Vergiftung und ihre Schilderung der Behauptung Herzog Georgs, er habe den „Feind im Hause“.30 Höhepunkt der Auseinandersetzungen sind die aufkommenden Anschuldigungen am
Dresdner Hof zum Ehebruch Elisabeths ab 1532.31 Erst Anfang 1534 kam es zu
einem Ausgleich zwischen Elisabeth und ihrem Schwiegervater und danach normalisierte sich ihre Beziehung. Eine Lösung in der Frage des Abendmahls scheint
auch gefunden worden zu sein. Vermutlich hatte Herzog Johann über einen Pfarrer ermöglicht, im Geheimen das Sakrament in beiderlei Gestalt zu erhalten.32
Im Januar 1537 starb überraschend ihr Gemahl und Elisabeth trat in der Folge
die Rochlitzer Wittumsherrschaft an.33 Mit dem Verlassen des höfischen Umfelds
29 KES, Bd. 2 (wie Anm. 3), S. 103 f., Nr. 47.
30 Ebd., S. 123, Nr. 58; vgl. auch ebd., S. 98–104, Nr. 46 f., S. 109 ff., Nr. 51, S. 115 ff., Nr. 55 sowie
S. 122–125, Nr. 58, S. 135–139, Nr. 61.
31 Vgl. „causa Elisabeth“ ebd., S. IX–XIV.
32 Nach dem Tod Herzog Johanns 1537 klagte Elisabeth, keinen Pfarrer mehr zu haben, vgl. A.
Thieme, Glaube und Ohnmacht (wie Anm. 7), S. 169.
33 Vgl. dazu J. Klingner, Elisabeth von Sachsen und die Einführung der Reformation in Rochlitz 1537, in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.), Reformationen vor Ort.
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214
Jens Klingner
der landesherrlichen Residenz eröffneten sich für sie als fürstliche Witwe neue
Handlungsfelder und Gestaltungsmöglichkeiten. Rochlitz lag im albertinischen
Sachsen unmittelbar an der Grenze zum lutherisch gewordenen ernestinischen
Kurfürstentum. Zu ihrem Territorium gehörten neben dem namensgebenden
Schloss die Städte Rochlitz, Mittweida und Geithain sowie 74 Dörfer. Zusätzlich erhielt Elisabeth die Herrschaft Kriebstein mit Waldheim und Hartha. Ihr
Wittum verstand sie nicht nur als Versorgungsresidenz, sondern als selbstständigen Herrschaftsbereich. Dazu wurden bereits in der Eheberedung von 1505
Bestimmungen über die Witwenausstattung der Herzogin festgehalten. Speziell
die Beschreibung des Rochlitzer Wittums als herrschaftliche Einheit war Grundlage für ihr weitgehend eigenständiges herrschaftliches Handeln.34 Schließlich
setzte sie gegen den erklärten Willen Herzog Georgs in ihrem Herrschaftsgebiet
die Reformation durch – damit hatte diese bereits zwei Jahre eher stattgefunden,
bevor Herzog Heinrich der Fromme (1473–1541) das gesamte albertinische
Herzogtum 1539 reformierte.35 Als Zäsur für die Einführung der Reformation in
ihrem Wittum wird das Mandat über die Priesterehe und den Abendmahlsempfang an den Rat Mittweida vom 2. Dezember 1537 angesehen.36 (Abb. 3) Damit
erlaubte sie Priestern, in den Stand der Ehe zu treten. Außerdem überließ sie die
Entscheidung über die Form der Austeilung des Sakraments den Empfängern.
Es durften nur Priester im Wittum bleiben, die auch das evangelische Sakrament zu reichen bereit waren. Die Einführung geschah nicht willkürlich, vielmehr griff sie die bereits vorhandenen reformatorischen Strömungen in ihrem
Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (SBVL 20), Berlin 2017, S. 216–232.
34 Vgl. KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 3–13, Nr. 1.
35 Herzog Heinrich hatte seine Herrschaft – vor Elisabeth – ebenfalls 1537 reformiert. Vgl. G.
Wartenberg, Die Einwirkungen Luthers auf die reformatorische Bewegung im Freiberger
Gebiet und auf die Herausbildung des evangelischen Kirchenwesens unter Herzog Heinrich
von Sachsen, in: HC 13 (1981/82), S. 93–117; ND in: Ders., Wittenberger Reformation und
territoriale Politik. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von J. Flöter / M. Hein (AKThG 11), Leipzig 2003, S. 121–146; Ders., Herzogin Elisabeth (wie Anm. 26), S. 193.
36 Vgl. Mandat der Herzogin Elisabeth von Sachsen über die Priesterehe und den Abendmahlsempfang an den Rat der Stadt Mittweida, 1537 in: Stadtverwaltung Mittweida, StA, V.I. Nr. 8;
vgl. auch ABKG, Bd. 4 (wie Anm. 24), S. 483, Nr. 3280; gedruckt in E. Werl, Aus der Reformationsgeschichte der Stadt Mittweida, in: F. Lau (Hg.), Das Hochstift Meißen. Aufsätze
zur sächsischen Kirchengeschichte (HC Sonderbd. 1), Berlin 1973, S. 223–240, hier S. 228 f.;
W. C. Pfau, Die Schützengesellschaft zu Waldheim und ihre Schwestergilden im Rochlitzer
Amt zur Reformationszeit. Ein Beitrag zur Waldheimer Reformationsgeschichte, Waldheim
1917, S. 10; A. C. Kretzschmar, Nachrichten aus der alten und neuen Zeit, welche die Stadt
Mittweyda betreffen […], Bd. 1, Mittweida 1839, S. 80–83.
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Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557)
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Abb. 3: Mandat der Herzogin Elisabeth von Sachsen an den Rat der Stadt Mittweida über
die Priesterehe und den Abendmahlsempfang, 1537 [Stadtverwaltung Mittweida, Stadtar
chiv, V.I. Nr. 8, fol. 1r].
Herrschaftsbereich auf. Günther Wartenberg hält treffend fest, dass Elisabeth
„auf Drängen der Bewohner, auf Zureden von Landgraf Philipp und Kurfürst
Johann Friedrich, unter Drohungen von Herzog Georg, aber aus eigener Überzeugung handelte“.37
Zur Durchsetzung der Reformation löste sie mit der Anstellung Anton Musas
(ca. 1485–1547) eine wichtige Personalie. Als Prediger und Superintendent von
Jena hatte er bereits im sächsischen Kurfürstentum am Aufbau des evangelischen
Kirchenwesens mitgewirkt. Aus dem Briefwechsel geht hervor, dass Kurfürst
Johann Friedrich Musa nach Rochlitz schickte, wo er die Funktion des Pfarrers
und eines Superintendenten übernahm.38 In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Elisabeth, Herzog Georg und den Bischöfen. Der Meißner
37 G. Wartenberg, Herzogin Elisabeth (wie Anm. 26), S. 193.
38 Vgl. S. Siebert, Musa, Anton, in: BBKL, Bd. 6: Moenius Georg bis Patijn, Constantijn Leopold, Nordhausen 1993, Sp. 370–372.
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Jens Klingner
Bischof reagierte auf Musas Anstellung: Die Herzogin könne nicht geistliches
Oberhaupt sein. Eine Einmischung soll sie sich als eine Weibsperson nicht anmaßen, auch wenn sie als Fürstin aus einem berühmten Geschlecht stamme.39 Die
Argumentation des Bischofs folgte dem traditionellen Rollenmuster – der Unterordnung des weiblichen Geschlechts unter den Mann. Elisabeth begründete
ihrerseits die Endscheidungsgewalt mit ihrem Recht als Regentin ihres Wittums.40
Im April 1538 schlug Landgraf Philipp zuerst der Herzogin und wenig später in
Braunschweig den Bundgenossen die Aufnahme seiner Schwester in den Schmalkaldischen Bund vor. Als Mitglied des Bundes konnte die Herzogin im Notfall
militärischen Beistand erwarten. Dieser Schritt sicherte letztlich die Einführung
der Reformation politisch ab.41 Bereits Ende Januar 1538 hatte Herzog Georg
resignierend dem Merseburger Bischof geschrieben, wenn sich Elisabeth über die
Verbote hinwegsetze, mussen wyr es auch dabey wenden lassen, biß so lang eynn
mahl eynn besserung gefunden werden mug.42
***
Die Korrespondenz Herzogin Elisabeths zählt wegen ihrer thematischen Vielschichtigkeit zu den materialreichsten persönlichen Quellenzeugnissen der Reformationszeit und bietet einen außergewöhnlichen Einblick in weibliche Lebenswelten der Frühen Neuzeit. Allerdings wurden das Leben und Wirken Herzogin
Elisabeths von der Landesgeschichte zunächst wenig beachtet und erfuhren nur
durch die heimatgeschichtliche Forschung in Rochlitz und Schmalkalden Aufmerksamkeit. Erst in den biografischen Darstellungen zu ihrem Bruder, Landgraf Philipp, ihrem Cousin Kurfürst Johann Friedrich sowie Kurfürst Moritz
von Sachsen (1541/47–1553) rückte sie im 19. Jahrhundert in das Blickfeld der
Historiker, ohne dass jedoch ihre reformationsgeschichtliche Bedeutung bedacht
worden wäre.43 Einzelstudien, die Elisabeth zum Thema hatten, entstanden nicht
vor dem 20. Jahrhundert: Gerhard Planitz legte 1904 seine Untersuchungen
zu ihrer Verheiratung sowie zur Einführung der Reformation im Rochlitzer Wittum vor.44 20 Jahre später ging Elisabeth Werl im Rahmen ihres Promotionsvorhabens an die Abfassung einer Biografie. Davon erschien aber nur der erste
39
40
41
42
43
44
ABKG, Bd. 4 (wie Anm. 24), S. 522 f., Nr. 3323.
Vgl. J. Klingner, Elisabeth von Sachsen (wie Anm. 33), S. 229 ff.
Vgl. ABKG, Bd. 4 (wie Anm. 24), S. 458, Nr. 3243.
Ebd., S. 505, Nr. 3304.
Vgl. KES, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. IX–XIV.
Vgl. G. Planitz, Zur Einführung der Reformation in den Ämtern Rochlitz und Kriebstein,
in: BSKG 17 (1903), S. 24–141; Ders., Zur Heiratsgeschichte der Herzogin von Rochlitz, in:
NASG 24 (1903), S. 79–99.
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Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Sachsen (1502–1557)
217
Teil, der die Jugendjahre Elisabeths in Hessen und ihre Ehezeit am Dresdner Hof
bis 1537 umfasst.45 Werl ist es zu verdanken, dass die Korrespondenz Elisabeths
mit wichtigen ergänzenden Quellen aus den verschiedenen Archiven erstmals
zusammengetragen wurde. Auf diesen Vorarbeiten fußt das aktuelle Editionsprojekt am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Nachdrücklicher als
bisher rückt es die Briefe Herzogin Elisabeths von Sachsen in den Blickpunkt der
Forschung und wird sämtliche überlieferte Schreiben im Volltext und umfassend
kommentiert zur Verfügung stellen.
Betrachtet man die Korrespondenz unter dem eingangs erwähnten Gesichtspunkt ihres Quellenwertes für die Reformationsgeschichte, so sind bereits zum
gegenwärtigen Stand der Forschung zumindest die folgenden vier Punkte festzuhalten:
Erstens belegt die Korrespondenz mit zahlreichen Beispielen den mehr oder
weniger starken Einfluss, den Elisabeth und die Reformationsfürsten, Landgraf
Philipp von Hessen und der ernestinische Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen aufeinander genommen haben. Die Fürstin füllte je nach Lebenssituation
verschiedene Rollen aus: als besorgte Schwester, die um ihren Bruder bangte; als
Ratgeberin für den Umgang mit Herzog Georg; als Fürsprecherin und Komplizin Johann Friedrichs und Philipps am Dresdner Hof; als Vermittlerin zwischen
den zerstrittenen Fürsten; oder später als Spionin im Schmalkaldischen Krieg. Ihr
Briefwechsel ergänzt die vielbeachteten Quellen der männlichen Protagonisten
der Reformationszeit und setzt insofern einen Kontrapunkt zu den Sichtweisen
der Fürsten.
Zweitens liefert die Korrespondenz Hintergrundinformationen zu politischen
Geschehnissen der Zeit. Nahezu jeder Brief nimmt Bezug auf aktuelle Ereignisse.
Elisabeth berichtete darüber, was sie erfuhr und wie sie selbst darüber urteilte.
Gespräche der Fürsten gab sie aus erster oder zweiter Hand wieder. Unter anderem schilderte sie das Zustandekommen von Verträgen, beschrieb die Haltung
des Adels oder die Stimmung bei Hof oder in der Stadt. Sogar aufschlussreiche
theologische Diskussionen am Hof und mit Herzog Georg und seinen Räten
hielt sie fest und gab damit einen seltenen Einblick in die diskursive Meinungsbildung der Dresdner Herrschaftselite. Der Wert ihrer Mitteilungen erhöht sich
dadurch, dass sie deutlich Tatsachenberichte und Gerüchte unterschied. Ferner
bewertete sie ihre Quellen und prüfte die Glaubwürdigkeit der an sie überbrachten Aussagen und fragte – wie im zu Beginn angeführten Beispiel – ihre
Briefpartner überdies nach der Richtigkeit der Meldungen. Von Bedeutung sind
auch die zusammen mit ihren Briefen versandten und weitergeleiteten Beilagen;
45 Vgl. E. Werl, Elisabeth, Herzogin zu Sachsen (wie Anm. 26).
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218
Jens Klingner
dazu zählen einfache Zettel, mehrseitige Instruktionen oder Protokolle bzw.
Konzepte von Verträgen.
Drittens zeigen Elisabeths Briefe (wie das genannte Mandat von Mittweida)
ihr herrschaftliches Handeln zur Einführung und Durchsetzung der Reformation in ihrem Wittum; dieser Gesichtspunkt wird in den kommenden Bänden
der Edition sicherlich noch stärker ins Blickfeld rücken.
Und nicht zuletzt sind viertens die Briefe der Herzogin eine ganz persönliche
Korrespondenz, in der sie nicht nur über Befindlichkeiten, Gefühle, Sexualität und
Krankheiten schrieb (was an sich schon ungewöhnlich genug ist), sondern auch
ihre eigenen religiösen Anschauungen festhielt. Der Briefwechsel dokumentiert
politische Geschehnisse und religiöse Diskurse. Die außerordentliche reformationsgeschichtliche Bedeutung des Briefwechsels liegt somit auf der Hand. Mehr
noch: Die Korrespondenz erhellt die eigenen, ganz persönlichen Vorstellungen
einer eindrucksvollen Frau des Reformationszeitalters.
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Enno Bünz
Stadtpfarrkirchen und Reformation
Wandel und Bestand am Beispiel Leipzigs
Vorbemerkung
Das kirchliche Leben der Städte wurde vor wie nach der Reformation ganz wesentlich von den Pfarrkirchen geprägt, die für die religiöse Versorgung der Bevölkerung unverzichtbar waren. Die Pfarrei1 ist als die wichtigste kirchliche Institution vor Ort anzusehen, ungeachtet des Umstandes, dass es in vielen Städten
weitere geistliche Institutionen gab, vor allem Niederlassungen der Bettelorden
und anderer geistlicher Gemeinschaften, aber auch Kapellen, die beispielsweise
mit Hospitälern verbunden waren.2 Die Pfarrkirchen waren nicht nur die Zentren der Seelsorge, an die die Bevölkerung durch den Pfarrzwang gebunden war,
sondern sie waren auch wichtige Bezugspunkte der städtischen Frömmigkeit und
Identität, in denen sich vor allem das Bürgertum durch Altar- und Bilderstiftungen, Gräber und Epitaphien manifestierte. Im Gegensatz zu den Klöstern, deren
geistliche Gemeinschaften im Zuge der Reformation aufgehoben wurden, und
der Kapellen, die als Stätten der Privatfrömmigkeit zumeist ihre Bedeutung verloren und abgerissen oder profaniert wurden, haben die Pfarrkirchen in der Regel
über die Reformation hinaus fortbestanden, wurden dabei aber vom religiösen
Umbruch erfasst und verwandelt. Sie erwiesen sich gerade durch Beständigkeit
wie Anpassungsfähigkeit als „die erfolgreichste Institution des Mittelalters“, letztlich bis heute!3 Systematisch untersucht wurden die hiermit zusammenhängenden
1
2
3
Vgl. W. Petke, Die Pfarrei. Ein Institut von langer Dauer als Forschungsaufgabe, in: E. Bünz /
K.-J. Lorenzen-Schmidt (Hgg.), Klerus, Kirche, Frömmigkeit im mittelalterlichen Schleswig-Holstein (SWSGSH 41), Neumünster 2006, S. 17–49; N. Kruppa (Hg.), Pfarreien im
Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich (VMPIG 238; SGS 32),
Göttingen 2008; W. Freitag (Hg.), Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern – Bürgerkirche –
Urbanes Zentrum (Städteforschung A 82), Köln/Weimar/Wien 2011; E. Bünz / G. Fouquet
(Hgg.), Die Pfarrei im späten Mittelalter (VuF 77), Ostfildern 2013; E. Bünz, Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.–16. Jahrhundert (SMHR 96), Tübingen 2017.
Vgl. E. Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln/Weimar/Wien 22014, hier S. 605–668, zum
Themenbereich „Stadt und Kirche“ mit umfassenden Literaturangaben ebd., S. 1056–1063.
E. Bünz, Die erfolgreichste Institution des Mittelalters: Die Pfarrei, in: D. Klein (Hg.) /
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222
Enno Bünz
Fragen bislang nicht; die Forschung hat sich vor allem für Wandel und Bestand
der Kirchenausstattung interessiert,4 doch sollten auch andere Aspekte wie der
Wandel kultureller Praktiken und Mentalitäten,5 aber auch die Veränderungen der
Kirchenverfassung und der rechtlichen Rahmenbedingungen nicht außer Acht
bleiben. Diese Entwicklung soll im Folgenden exemplarisch anhand der Leipziger
Pfarrkirchen im Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit betrachtet
werden. Im Mittelpunkt wird dabei die Frage nach Wandel und Bestand in der
Reformationszeit stehen. Leipzig ist dafür ein besonders interessantes Beispiel,
denn die Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai gehören zu den berühmtesten Pfarrkirchen der Welt.6 Die Thomaskirche ist untrennbar mit dem Wirken
des Kantors Johann Sebastian Bach (1685–1750) in den Jahren von 1723 bis
4
5
6
M. Frankl / F. Fuchs (Mitarb.), Überall ist Mittelalter. Zur Aktualität einer vergangenen
Epoche (Würzburger Ringvorlesungen 11), Würzburg 2015, S. 109–138.
Vgl. etwa die Beiträge in W. Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst. Katalog
der Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, 11. November 1983–8. Januar 1984, München
1983; und in J. M. Fritz (Hg.), Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen Kirchen, Regensbur 1997; H. Mai, Der Einfluß der Reformation auf
Kirchenbau und kirchliche Kunst, in: H. Junghans (Hg.), Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Leipzig 2005, S. 153–176; P. Knüvener, Was bleibt? Was kann weg? Die
Umwandlung mittelalterlicher Kirchenausstattungen nach Einführung der Reformation in
Brandenburg und in den Lausitzen, in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.),
Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und
Sachsen im 16. Jahrhundert (SBVL 20), Berlin 2017, S. 362–389; G. Weilandt, Der Kirchenbau und der Wandel in der Kirchenausstattung im südwestlichen Ostseeraum in den ersten
Jahrzehnten der Reformation, in: K. Baumann / J. Krüger / U. Kuhl (Hgg.), Luthers
Norden. Katalog zur Ausstellung Pommersches Landesmuseum Greifswald 14. Mai–3. September 2017 und Stiftung Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf, Schleswig, 8. Oktober 2017–28. Januar 2018, Petersberg 2017, S. 196–205; J. Harasimowicz / B.
Seyderhelm (Hgg.), Cranachs Kirche. Begleitbuch zur Landesausstellung Sachsen-Anhalt
Cranach der Jüngere 2015, Beucha/Markkleeberg 2015 (Ausstattung der Stadtpfarrkirche in
Wittenberg); materialreich hinsichtlich der Kirchenausstattung ist J. A. Steiger, Gedächtnisorte der Reformation. Sakrale Kunst im Norden (16.–18. Jahrhundert), B. 1: A–K; Bd. 2:
L–Z, Regensburg 2016.
Dazu nun S. C. Karant-Nunn, The Reformation of Feeling. Shaping the Religious Emotions in Early Modern Germany, Oxford 2010; Dies., Tod, wo ist Dein Stachel? Kontinuität
und Neuerung bei Tod und Begräbnis in der jungen evangelischen Kirche, in: C. Magin /
U. Schindel / C. Wulf (Hgg.), Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten
Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext, Wiesbaden 2008, S. 193–204.
Vgl. E. Bünz, Mehr als nur die berühmtesten Pfarrkirchen der Welt. Das kirchliche Leipzig
vor der Reformation, in: S. Blattner / C. Dertinger / W. Meier / J. Neudert (Red.),
Glaube – Kirche – Stadt. FS zur Kirchweihe der katholischen Propsteikirche Leipzig, Leipzig
2015, S. 10–21, erweiterter ND in: SächsHbll 61 (2015), S. 107–121.
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
223
1750 verbunden;7 und auf die Nikolaikirche richteten sich im Herbst 1989 die
Augen der Welt, als von dort eine Protestbewegung ausging, die den Untergang
der DDR eingeläutet hat.8
Beide Kirchen waren aber bereits seit dem hohen Mittelalter Teil der Stadtgeschichte Leipzigs und verdeutlichen damit, dass die Pfarrei eine Institution
von ‚langer Dauer‘ ist. Sowohl St. Thomas,9 seit 1212 zugleich Stiftskirche der
Augustiner-Chorherren, als auch St. Nikolai10 sind – jede auf ihre Weise – ein
Spiegel kommunaler Geschichte. Dies gilt auch für die dritte Pfarrkirche in
Leipzig, die heute völlig vergessen ist: St. Jakob lag außerhalb des Mauerrings
im Nordwesten der Stadt im sog. Naundörfchen bei der Rannischen Vorstadt
und wurde wenige Jahre nach Einführung der Reformation in Leipzig abgerissen.11 Diese Pfarrkirche ist im öffentlichen Bewusstsein gar nicht mehr präsent, was umso bedauerlicher ist, weil St. Jakob im Gegensatz zu St. Thomas
7 Vgl. A. Glöckner, Die Ära Johann Sebastian Bachs, in: D. Döring (Hg.) / U. John / H.
Steinführer (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2: Von der Reformation bis zum
Wiener Kongress, Leipzig 2016, S. 534–550, bes. S. 541–545.
8 Vgl. K. Löffler, Leipziger Herbst 1989, in: U. von Hehl (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 4: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Leipzig 2019,
S. 758–794, S. 1055–1061.
9 H. Magirius, Evangelisch-lutherische Stadtpfarrkirche St. Thomas, in: Ders. / H. Mai /
T. Trajkovits / W. Werner (Bearb.), Stadt Leipzig. Die Sakralbauten. Mit einem Überblick über die städtebauliche Entwicklung von den Anfängen bis 1989, 2 Bde. (Die Bau- und
Kunstdenkmäler von Sachsen), München 1995, Bd. 1, S. 153–335, mit umfangreichen bibliografischen Nachweisen S. 153 ff. Eine umfassende Geschichte sowohl des Thomasstifts als
auch der Thomaspfarrei steht noch aus. Knappe Gesamtdarstellungen mit dem Schwerpunkt
auf der nachreformatorischen Zeit bieten H. Stiehl (Hg.), 750 Jahre St. Thomas zu Leipzig,
Berlin 41984; und M. Petzoldt (Hg.), Thomaskirche Leipzig, Leipzig 2012; grundlegend
für die Geschichte von Stift und Pfarrei nun die Beiträge in: D. Zerbe (Hg.), 800 Jahre St.
Thomas zu Leipzig. Ein Gang durch die Geschichte, Leipzig 2013; sowie E. Bünz, Pfarreien
und Kapellen, in: Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1: Von
den Anfängen bis zur Reformation, Leipzig 2015, S. 454–481, S. 880–887; zu St. Thomas vgl.
ebd., S. 465–468; Ders., Klöster und Stifte, ebd. S. 482–498, S. 888 ff.; zum Thomasstift vgl.
ebd., S. 484–488.
10 Vgl. H. Magirius, Evangelisch-lutherische Stadtpfarrkirche St. Nikolai, in: Ders. / H.
Mai / T. Trajkovits / W. Werner (Bearb.), Stadt Leipzig. Die Sakralbauten (wie Anm.
9), S. 337–474; eine kurze Gesamtdarstellung bietet F. Ostarhild, St. Nikolai zu Leipzig.
Geschichte des Gotteshauses und der Gemeinde 1160–1960, Berlin 1964; weiterführend nun
die Beiträge in A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig. 850 Jahre Kirche in der Stadt, Petersberg 2015; E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 469–473.
11 Vgl. M. Cottin / H. Steinführer, Die Leipziger Jakobskirche – ein Schlüssel zur frühen
Stadtgeschichte?, in: K. Herbers / E. Bünz (Hgg.), Der Jakobuskult in Sachsen ( Jakobus-Studien 17), Tübingen 2007, S. 97–112; E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 474 f.
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224
Enno Bünz
und St. Nikolai eine in mancher Hinsicht recht aussagekräftige Überlieferung
aufweist. Teile des Pfarrarchivs gelangten nach der Aufhebung der Parochie
1544 in das Ratsarchiv.12 Die Kirchenarchive von St. Thomas und St. Nikolai
sind hingegen bis heute vor Ort geblieben; die mittelalterliche Überlieferung
ist offenbar nach der Reformation kassiert worden, doch fehlen Untersuchungen über die Zusammensetzung und Entwicklung der Archivbestände.13 Da beide Pfarrkirchen aber eng mit dem Thomasstift zusammenhingen,
hat sich in dessen Archiv, das nach der Säkularisation des Stiftes 1540 an die
Stadt gefallen ist, doch manches erhalten, und anderes wurde – weil es die
Bürgerkirche St. Nikolai betraf – auch in die Ratsbücher eingetragen.14 Die
Leipziger Pfarrkirchen haben bislang vor allem aus kunstgeschichtlicher Sicht
Interesse gefunden.15
12 Diese Quellen, darunter zwei spätmittelalterliche Bibliothekskataloge der Pfarrei, werde ich
in einer gesonderten Studie edieren und auswerten.
13 Einige Hinweise zu den Kirchenarchiven gibt H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas
(wie Anm. 9), S. 153; Ders., Stadtpfarrkirche St. Nikolai (wie Anm. 10), S. 337.
14 Die städtischen Urkunden sind bis 1485, die der Klöster und Stifte bis zu ihrer Aufhebung
durch die Reformation 1539/40 gedruckt in: UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett
(CDSR II/8-9), Bd. 1–2, Leipzig 1868/70; UB Leipzig, ed. J. Förstemann (CDSR II/10),
Bd. 3, Leipzig 1894; Bd. 1 enthält die städtischen Urkunden, Bd. 2 die Urkunden des Thomasstifts, Bd. 3 die Urkunden der übrigen Klöster; einige einschlägige Urkunden finden sich
auch in: Urkundenbuch der Universität Leipzig von 1409 bis 1555, ed. B. Stübel (CDSR
II/11), Leipzig 1879; die ältesten Stadtbücher wurden ediert in: Die Leipziger Ratsbücher
1466–1500. Forschung und Edition, ed. H. Steinführer (QMGSL 1), 2 Bde., Leipzig 2003;
die Edition der Ratsbücher 3 und 4 bereitet Dr. Jens Kunze (Wermsdorf ) vor. Urkundliche
Einträge aus den Ratsbüchern 1 und 2, die die Nikolaikirche betreffen, finden sich in: UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (s. o.); während Einträge aus den jüngeren Ratsbüchern (nach 1500) dort nicht berücksichtigt wurden; zur Überlieferung der Ratsbücher und
anderer städtischer Amtsbücher bis 1500 vgl. Leipziger Ratsbücher, ed. H. Steinführer,
Bd. 1 (s. o.), S. XXXVII–XXXIX; Quellenwert besitzt auch die im 16. Jahrhundert verfasste,
älteste gedruckte Darstellung der Leipziger Stadtgeschichte: D. Peifer, Lipsia religiosa, seu
originum Lipsiensium libri IV […], Merseburg/Leipzig: Reinhard Wächtler 1689 (VD17
23:305928H, VD17 39:126759F); hier zitiert nach dem übersetzten Auszug in Ders., Das
religiöse Leipzig oder Buch III des Leipziger Ursprungs und seiner Geschichte (Lipsia religiosa seu originum et rerum Lipsiensium Liber III), ed. G. Löwe nach der Übersetzung von
E. von Reeken (Leipziger Hefte 5), Beucha 1996. Eine wissenschaftliche Bearbeitung der
Leipziger Inschriften im Rahmen des Corpus-Werkes „Die Deutschen Inschriften bis 1650“
fehlt; die umfassendste Sammlung bietet noch immer S. Stepner, Inscriptiones Lipsienses.
Das ist: Verzeichnis allerhand denckwürdiger Uberschrifftten, Grab- und Gedächtnis-Mahle
in Leipzig […], Leipzig: Nicolaus Scipio 1686 (VD17 14:015022L).
15 Vgl. neben der in Anm. 9 f. genannten Literatur auch H. Magirius, Die Stadtpfarrkirchen
St. Thomas und St. Nikolai – Ihre Vorgängerbauten im hohen Mittelalter, in: E. Ullmann
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
225
Die Geschichte der mittelalterlichen Pfarrkirchen Leipzigs in institutioneller
wie personeller Hinsicht ist hingegen lange unbearbeitet geblieben.16 Erst in den
letzten Jahren hat sich der Forschungsstand etwas verbessert, weil anlässlich der
800-Jahrfeier der Thomaskirche und der 850-Jahrfeier von St. Nikolai, aber auch
anlässlich der 1000-Jahrfeier Leipzigs neuere Publikationen erschienen sind.17
Dabei ist allerdings kritisch anzumerken, dass die Beschäftigung mit der Pfarreigeschichte nach wie vor Historiker wie Kirchenhistoriker vor manche Probleme
stellt. Die Defizite, die bei diesen Jubiläen und den begleitenden Publikationen
deutlich geworden sind, können hier nicht ausführlich thematisiert werden. Die
Beschäftigung mit diesen Kirchen erschöpft sich nur allzu schnell in der Behandlung einzelner Pfarrgeistlicher, die im Rahmen größerer kirchengeschichtlicher
Bezüge und vor allem theologisch-dogmatischer Diskurse gesehen und eingeordnet
werden. Gewiss ist es interessant, ob ein Pfarrgeistlicher Gnesiolutheraner oder
Kryptocalvinist war, aber nicht weniger interessant ist es, nach seinem Engagement
als Seelsorger, dem Verhältnis zur Gemeinde usw. zu fragen. Es fehlt zumeist auch
der institutionengeschichtliche Blick auf die Pfarrei und dessen Erweiterung um
sozialgeschichtliche Dimensionen, also die Pfarreigeschichte aus der Perspektive
(Hg.), „… die ganze Welt im kleinen …“. Kunst und Kunstgeschichte in Leipzig (Seemann-Beiträge zur Kunstwissenschaft), Leipzig 1989, S. 12–33; und W. Hocquél, Die Nikolaikirche
zu Leipzig im Mittelalter, in: Ders., Archäologie und Architektur. Das frühe Leipzig, Beucha
2003, S. 82–98; die beide aber nur die Baugeschichte behandeln. Sehr knappe Abrisse bieten das Büchlein von M. Gretzschel / H. Mai, Kirchen in Leipzig (SLGV NF 2), Beucha
1993; und H. Magirius, Von der spätromanischen Basilika zur spätgotischen Hallenkirche.
Restaurierungen und Umbauten der Nikolaikirche bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: A.
Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 158–181.
16 Immer noch nützlich ist K. C. C. Gretschel, Kirchliche Zustände Leipzigs vor und während der Reformation im Jahre 1539. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte der sächs. Lande,
so wie eine Gedenkschrift zur 300jährigen Jubelfeier der leipziger Reformation. Großentheil
nach ungedruckten Quellen, Leipzig 1839, bes. S. 76–112 über die Pfarrkirchen; G. Wustmann, Geschichte der Stadt Leipzig. Bilder und Studien, Bd. 1, Leipzig 1905, S. 22 f.; G.
Buchwald, Reformationsgeschichte der Stadt Leipzig, Leipzig 1900; W. Schlesinger,
Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter, 2 Bde. (MF 27/1–2), Köln/Wien 21983, hier Bd.
2: Das Zeitalter der deutschen Ostsiedlung (1100–1300), S. 412 f.
17 Vgl. E. Bünz / A. Kohnle (Hgg.) / S. Kusche (Red.), Das religiöse Leipzig. Stadt und
Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart (QFGSL 6), Leipzig 2013; S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana. Glauben – Singen – Lernen. FS zum Jubiläum von Thomaskirche, Thomaschor und Thomasschule, Wettin-Löbejün 2012; D. Zerbe (Hg.), 800 Jahre
St. Thomas (wie Anm. 9); M. Petzoldt (Hg.), Thomaskirche (wie Anm. 9); A. Kohnle
(Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10); E. Bünz (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte
der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9).
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226
Enno Bünz
des Klerus, der Laien und der Gemeinde, die Frage nach ihren Einwirkungs- und
Gestaltungsmöglichkeiten.
Die mittelalterlichen Grundlagen
Die Entwicklung des Leipziger Kirchenwesens im Mittelalter ist schnell skizziert. Die urbs Libzi ist 1015 erstmals bei Thietmar von Merseburg (975–1018)
belegt, und bereits zum Jahr 1017 erwähnt dieser Chronist die Schenkung einer
Kirche in Leipzig an das Bistum Merseburg.18 Um welche Kirche es sich handelte, erwähnt Thietmar nicht, er schreibt nur von einer ecclesia. Ursprünglich
verfügte das Königtum über die urbs, d. h. Burgward Leipzig, doch gelangte
Leipzig im Laufe des Hochmittelalters in die Hände der Wettiner als Markgrafen von Meißen. Die Wettiner haben im Laufe des 12. Jahrhunderts die Entwicklung Leipzigs zur Stadt entscheidend gefördert.19 Dazu gehörte der großzügige Ausbau des Kirchenwesens, ablesbar daran, dass die Markgrafen wohl
schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Pfarrkirche St. Thomas, in
der zweiten Hälfte die Pfarrkirche St. Nikolai gründeten. Beide Kirchen waren
nachweislich Eigenkirchen des Markgrafen. Das wird deutlich, als Markgraf Dietrich (1198–1221) 1212/13 das Augustinerchorherrenstift St. Thomas als erste
monastische Gemeinschaft in Leipzig stiftet. 1213 hat dieser Markgraf beide
Pfarrkirchen mit ihrer Dotation, darunter mehrere Dörfer, dem Thomasstift zu
vollem Eigen geschenkt. Das Thomasstift hat sich dann 1218 und 1220 in zwei
Urkunden von Papst Honorius III. (1216–1227) den Besitz der beiden Leipziger Pfarrkirchen bestätigen lassen.20 Wir fassen hiermit eine frühe Form der
Inkorporation in Mitteldeutschland.21
Dieses Inkorporationsverhältnis hat die kirchlichen Verhältnisse der Stadt
Leipzig bis zur Reformation maßgeblich geprägt. St. Thomas war Pfarr- und Stiftskirche zugleich, St. Nikolai hingegen nur Pfarrkirche. Beide Kirchen verfügten
über ungefähr gleich große Pfarrsprengel.22 Die Pfarrseelsorge wurde an beiden
18 Vgl. E. Bünz, Die Chronik Thietmars von Merseburg und die Ersterwähnung von 1015, in:
Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 86–89
und S. 798 f.
19 Vgl. Ders., Entstehung und Entwicklung der Stadt im 12. und 13. Jahrhundert, in: ebd.
S. 123–143 und S. 805–811.
20 Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 2 f., Nr. 2, S. 5, Nr.
5, S. 6, Nr. 7.
21 Vgl. W. Schlesinger, Kirchengeschichte, Bd. 2 (wie Anm. 16), S. 587 ff.
22 Vgl. M. Wejwoda, Pfarrzwang, Grabstätten und Steuerlisten. Zur Rekonstruktion der Sprengel
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
227
Kirchen von Angehörigen des Chorherrenstifts St. Thomas versehen, also von
Ordensgeistlichen, denen allerdings in beiden Kirchen Weltgeistliche als Unterpfarrer, Kapläne, Prediger und Frühmessner zur Seite standen. In der Thomaskirche wurde erst durch Apollonia von Wiedebach (1470–1526) testamentarisch
1526 eine Prädikatur gestiftet.23
Schon seit dem Hochmittelalter bestand in Leipzig als dritte Pfarrkirche St.
Jakob vor den Mauern, deren Siedlung zwar bis 1503 nicht zur Stadt Leipzig
gehörte, wohl aber innerhalb des Weichbildes der Stadt lag. Die Jakobsparochie,
1226 erstmals urkundlich genannt, gehörte – warum auch immer – dem Schottenkloster in Erfurt. Als die dortigen Benediktiner 1484 in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten, verkauften sie das Patronatsrecht an den Leipziger Stadtrat, der
damit in vorreformatorischer Zeit seine kirchlichen Kompetenzen, wenn auch in
einem sehr überschaubaren Rahmen, ausbauen konnte.24 Ansonsten kontrollierte
das Thomasstift weitgehend die Kirchen und Kapellen in der Stadt. Lediglich die
beiden Hospitalkapellen vor den Stadtmauern – St. Georg und St. Johannes –
und die Ratskapelle im Rathaus blieben dem Zugriff der Augustinerchorherren
entzogen.25 Ungeachtet dieser kirchlichen Rechte konnte der Rat aber schon seit
dem späten Mittelalter die Kirchtürme von St. Thoma und St. Nikolai als Aussichtstürme nutzen, auf denen Wächter für die Sicherheit der Stadt fungierten.
Diese „Hausmänner“, wie man die Turmwächter in Mitteldeutschland nannte,
wurden von der Stadt bestellt und entlohnt.26
Zur Größe der Pfarrsprengel liegen aus dem Jahr 1534 recht präzise Zahlenangaben vor, denn im Auftrag Herzog Georgs wurden die Kommunikanten an
23
24
25
26
der Leipziger Pfarreien St. Thomas und St. Nikolai im Mittelalter, in: Leipziger Stadtgeschichte.
Jahrbuch 2012 (erschienen: Markkleeberg 2013), S. 15–31; die Karte umgezeichnet auch in: E.
Bünz (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 461.
Vgl. H. Jadatz, Apollonia von Wiedebach – eine Förderin der evangelischen Predigt an der
Thomaskirche?, in: S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17),
S. 146–155.
Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 1 (wie Anm. 14), S. 438–441, Nr. 527 f.;
zur ‚Kirchenpolitik‘ des Rates: E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 454 ff.; und Ders., Die
Leipziger Ratskapelle im späten Mittelalter, in: Stadtgeschichte. MLGV. Jahrbuch 2007 (erschienen: Beucha 2008), S. 17–61.
Über die Kapellen zuletzt E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 475–481; und H. Kühne,
Frömmigkeit vor und nach der Reformation: Die Wallfahrt zur Heilig-Kreuz-Kapelle und der
Leipziger Wunderbrunnen, in: E. Bünz / A. Kohnle (Hgg.) / S. Kusche (Red.), Religiöses
Leipzig (wie Anm. 17), S. 63–85.
Siehe dazu nun E. Bünz, Türmer, Hausmann, Hausmannsturm. Aussichtstürme in sächsischen Städten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Volkskunde in Sachsen. Jahrbuch
für Kulturanthropologie 31 (2019 = Festschrift Andreas Martin) S. 165–176.
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228
Enno Bünz
Ostern gezählt.27 In St. Nikolai haben 3.120 Gläubige kommuniziert, in St. Thomas mehr als 3.600 und in der Jakobsparochie 250. In der Nikolaiparochie war die
tatsächliche Zahl der Kommunikanten sogar noch höher, weil in diesem Kirchspiel die meisten Universitätskollegien und Bursen lagen,28 so dass auch mehrere
hundert Studenten die Gottesdienste besucht haben werden.
Die Grenze zwischen den beiden Pfarrsprengeln von St. Thomas und St. Nikolai verlief innerhalb der Ummauerung von Süden nach Norden quer durch die
Stadt. Aus vorreformatorischer Zeit ist keine Beschreibung der Sprengelgrenzen
überliefert, doch lassen sich diese anhand der Bestattungspraxis rekonstruieren.
Zwar haben sich in den Leipziger Pfarrkirchen nur wenige mittelalterliche Grabsteine und Epitaphien erhalten, aber der Leipziger Universitätsmagister Salomon
Stepner hat im 17. Jahrhundert systematisch die damals noch vorhandenen Grabschriften gesammelt.29 Bis zur Einführung der Reformation lassen sich auf dieser
Grundlage 74 Begräbnisse in der Thomaskirche und 75 in der Nikolaikirche
nachweisen, von denen wiederum 71 bzw. 49 Bürgerfamilien zuzuweisen sind.30
Da sich für 40 in der Thomaskirche begrabene Bürger und für 36 Bürger, deren
Grabstätte sich in St. Nikolai befand, anhand der Steuerregister des 15. und frühen 16. Jahrhunderts die Wohnadresse feststellen lässt, kann die Grenze zwischen
den beiden Pfarrsprengeln recht genau rekonstruiert werden. Die Grenze verlief
vom Peterstor im Süden der Stadt die Petersstraße entlang über den Marktplatz
zur Katharinenstraße, folgte dieser bis zum Brühl, dort ein kurzes Stück Richtung Osten bis zur Hallischen Straße und dem Hallischen Tor im Norden. Der
westliche Teil der Innenstadt und der Hallischen Vorstadt sowie die Rannische
Vorstadt (mit Ausnahme der Jakobsparochie) gehörten zum Pfarrsprengel von St.
Thomas, der östliche Teil der Innenstadt und der Hallischen Vorstadt sowie die
Petersvorstadt und die Grimmaische Vorstadt bildeten den Sprengel des Kirchspiels von St. Nikolai. Darüber hinaus griffen beide Pfarrsprengel auch in das
Umland aus und schlossen mehrere Dörfer mit ein.31
27 Vgl. ABKG, edd. H. Jadatz / C. Winter, Bd. 3: 1528–1534, Köln/Weimar/Wien 2010,
S. 726 f., Nr. 2444; vgl. dazu auch K. C. C. Gretschel, Kirchliche Zustände (wie Anm.
16), S. 226 f.
28 Vgl. E. Bünz, Gründung und Entfaltung: Die spätmittelalterliche Universität Leipzig 1409–
1539, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, hrsg. von der Senatskommission zur
Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 1: Spätes Mittelalter
und Frühe Neuzeit 1409–1830/31, Leipzig 2009, S. 17–325, hier S. 105–125.
29 Vgl. S. Stepner, Inscriptiones Lipsienses (wie Anm. 14).
30 Vgl. M. Wejwoda, Pfarrzwang (wie Anm. 22), S. 15 ff.
31 Vgl. E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 460 f.
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
229
Das Leipziger Schulwesen reicht bis in das Mittelalter zurück, war aber nicht
Teil der Pfarreigeschichte und muss hier deshalb nicht weiter behandelt werden.32
Die bereits 1254 erwähnte Thomasschule war bis zur Aufhebung des Augustinerchorherrenstifts eine Klosterschule, die dann in städtische Trägerschaft überging, und die 1512 eröffnete Nikolaischule war von vornherein eine Ratsschule.
Anders als in den meisten deutschen Städten lässt sich für Leipzig also nicht die
typische Entwicklung von Pfarr- zu Ratsschulen feststellen. Ungeachtet dessen
stellte der kirchliche Chordienst der Thomasschüler (schola Thomana) aber ein
wichtiges verbindendes Element zwischen Schule und Kirche dar, das auch über
die Reformation hinaus erhalten blieb.
Zwischen Mittelalter und Reformation: Der Wandel der Friedhöfe
Generell besteht die Auffassung,33 dass die Verlegung städtischer Friedhöfe vor
die Mauern eine Folge der Reformation sei, doch trifft dies nicht zu. Schon
aus chronologischen Gründen ist wenig wahrscheinlich, dass die Friedhofsverlegung in Leipzig mit reformatorischen Vorstellungen in Zusammenhang
stand.34 Die beiden Leipziger Stadtpfarrkirchen St. Nikolai und St. Thomas
32 Dazu Ders., Schulwesen, in: Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 534–549 und S. 898–900; zu den Veränderungen des Leipzigers
Schulwesens in der Reformationszeit vgl. T. Töpfer, Schule und Erziehung, in: D. Döring
(Hg.) / U. John / H. Steinführer (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2 (wie Anm.
7), S. 442–472 und S. 892–896, hier bes. S. 447–453.
33 C. Koslofsky, The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Modern Germany,
1450–1700 (Early Modern History: Society and Culture), Houndmills/Basingstoke/Hampshire/London 2000, S. 41–46, betont, dass die Friedhöfe vor den Mauern erst im 16. Jahrhundert aufgekommen seien, was aber nicht zutrifft. Diese Entwicklung setzt tatsächlich schon im
15. Jahrhundert ein; unter Verweis auf diese Arbeit betont N. Fischer, Friedhof, in: EdN, Bd.
4: Friede-Gutsherrschaft, Stuttgart/Weimar 2004, Sp. 48–51, hier Sp. 49, dass die Friedhöfe
in der Regel „erst im Anschluss an die Reformation (die einen Zusammenhang zwischen Bestattungsort und jenseitigem Seelenfrieden negierte)“ vor die Stadt verlegt wurden. Aus einer
Fülle von Überblicksdarstellungen, die den Zusammenhang von Friedhofsverlegung und Reformation betonen, sei hier nur zitiert H. K. L. Schulze, „… darauf man mit Andacht gehen
kann“. Historische Friedhöfe in Schleswig-Holstein (Kleine Schleswig-Holstein Bücher 49),
Heide 1999, S. 25 f.; und B. Happe, Die Trennung von Kirche und Grab. Außerstädtische
Begräbnisplätze im 16. und 17. Jahrhundert, in: R. Sörries (Hg.), Raum für Tote. Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung,
Braunschweig 2003, S. 63–82.
34 Wie verbreitet diese Vorstellung ist, verdeutlicht z. B. das populäre Buch von P. Mewes / P.
Benecken, Leipzigs Grün. Ein Park- und Gartenführer, Leipzig 2013, wo es S. 141 über den
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230
Enno Bünz
werden ebenso wie die vor den Mauern gelegene Pfarrei St. Jakob bereits seit
dem 12. Jahrhundert über Begräbnisplätze verfügt haben, doch liegen darüber
vor dem 15. Jahrhundert nur spärliche Quellenzeugnisse vor.35 Wer auf dem
Kirchhof von St. Thomas bzw. von St. Nikolai beigesetzt wurde, hing von der
Pfarrzugehörigkeit ab, doch ist über die Belegung der Friedhöfe im Einzelnen
nichts bekannt. Dass der Pfarrzwang auch in dieser Hinsicht weitgehend befolgt
wurde, zeigen aber die Beisetzungen in den Kirchen.36 Ihre Zahl war liminitiert,
denn kirchenrechtlich war vorgeschrieben, dass nur Kleriker und hochrangige
Laien innerhalb des Kirchenraumes beigesetzt werden konnten.37 Die Masse
der Verstorbenen fand ihre letzte Ruhestätte auf den Kirchhöfen im Umfeld der
Pfarrkirchen, doch war der Platz auch hier begrenzt und die Belegung wurde
schon im ausgehenden Mittelalter aufgrund der demographischen Entwicklung
der Stadt problematisch. Allein von 1481 bis 1529 war die Einwohnerzahl von
7.839 auf 9.221 angewachsen.38
Das Jahr 1475 markiert einen ersten Einschnitt in das Begräbniswesen der
Stadt.39 Die Bevölkerungsentwicklung und eine durch Epidemien verursachte
höhere Sterblichkeit führten dazu, dass die Grabplätze auf den Pfarrkirchhöfen
35
36
37
38
39
Johannisfriedhof heißt, die Verlegung durch Herzog Georg 1536 „stand im Kontext einer
Forderung der lutherischen Reformation, nach der die Friedhöfe vor die Mauern verlagert
werden sollten“.
Vgl. P. Benndorf, Die Entwicklung des Begräbniswesens in Leipzig bis zum Ende des
18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Stadtgeschichte, in: Wissenschaftliche Beilage der Leipziger
Zeitung, Nr. 11, 14. März 1908, S. 49–52; Ders., Der alte Johannisfriedhof in Leipzig. Ein
Beitrag zur Stadtgeschichte, Leipzig 1922; E. Bünz, Friedhöfe und Begräbniswesen, in: Ders.
(Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 521–531 und
S. 894–897.
Siehe oben bei Anm. 29.
Vgl. B. Schimmelpfennig, Begräbnis, Begräbnissitten, C. Kirchliches Begräbnisrecht, in:
LexMa, Bd. 1: Aachen bis Bettelordenskirchen, München/Zürich 1980, Sp. 1807 f.: „Nur
Geistliche und, seit dem 9. Jh., auch höhergestellte Laien durften innerhalb einer Kirche bestattet werden.“
Vgl. E. Bünz, Bevölkerungszahl, Sozialtopographie, Vermögensverteilung, in: Ders. (Hg.)
/ U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 274–281 und
S. 841–844, hier S. 278.
Zum Folgenden vgl. vor allem die Studien von C. Koslofsky, Die Trennung der Lebenden
von den Toten: Friedhofverlegungen und die Reformation in Leipzig, 1536, in: O. G. Oexle
(Hg.), Memoria als Kultur (VMPIG 121), Göttingen 1995, S. 335–385; Ders., „Pest“ – „Gift“ –
„Ketzerei“. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe
(Leipzig 1536), in: B. Jussen / Ders. (Hgg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im
Umbruch 1400–1600 (VMPIG 145), Göttingen 1999, S. 193–238; Ders., Reformation of
the Dead (wie Anm. 33), S. 54–76.
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
231
allmählich knapp wurden. Seitens der Landesherrschaft (vff vnser geschefte vnnde
beger, wie es in dem 1475 von Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht zwischen
Stadt und Thomasstift vermittelten Vergleich heißt) wurde darauf gedrungen,
den Friedhof von St. Johannis vor den Mauern auszubauen.40 1476 wurde der
erweiterte Friedhof, der sich östlich der Johanniskirche erstreckte, eingeweiht.
Wie aus dem Vergleich von 1475 hervorgeht, sollten die Bewohner der Dörfer
und der Vorstädte (in den fursteten), die zwar kein volles Bürgerrecht hatten (die
nicht foll burgerrecht haben), aber zu den Pfarrsprengeln von St. Thomas und St.
Nikolai gehörten, künftig auf dem Friedhof des Johannisspitals beigesetzt werden.
Von dieser Regelung ausgenommen waren nur die Bewohner der Hallischen Vorstadt, die in vollem burgerrecht sitzen. Der Propst des Thomasstifts hatte für die
Begräbnisse einen Priester aus den Reihen der Augustinerchorherren abzustellen,
der die toden vff dem kirchoff zcu sant Johannes vor vnser stat Liptzk zcu der erden
bestaten sollte. Wie aus den Einzelbestimmungen des Vergleichs von 1475 hervorgeht (vor allem die Einnahme und Aufteilung der anfallenden Opfergelder und
anderen Spenden), sollte dieser Priester dauerhaft an der Johanniskirche tätig sein.
Der Vertrag ist dem Leipziger Rat 1484 von dem päpstlichen Legaten Bartolomeo Maraschi (ca. 1420–1487) bestätigt worden, als er sich im Stift Neuwerk bei
Halle aufhielt; dabei wird übrigens ausdrücklich auf die latente Gefährdung der
Stadt in Pestzeiten verwiesen, wenn zu jeder Tag- und Nachtzeit Begräbnisse auf
den Friedhöfen der Stadt vorgenommen werden müssten.41
Die Neuordnung des Leipziger Begräbniswesens, die 1475 durch den Ausbau
des Johannisfriedhofs eingeleitet worden war, sollte schließlich in die landesherrliche Begräbnisordnung von 1536 münden. Herzog Georg hat die Ordnung am
13. Januar beurkundet, die zwischen dem Leipziger Rat und dem Propst des Thomasstiftes durch die herzoglichen Räte Georg von Carlowitz (ca. 1471–1550),
Georg von Breitenbach (ca. 1485–1540/41), ein Leipziger Jurist, und Andreas
Pflug zu Löbnitz (1507–1560) ausgehandelt worden war.42 Zwischen dem Thomasstift und dem Leipziger Rat hätten sich, heißt es am Anfang des Vergleichs,
der begrebtnissen halber in der vnnd vor der stadt irrungenn aus dem zugetragen,
das es vonn wegenn der mennige des volcks vnnd vorstehennden sterbeleufftenn, so
sich fast alle ihar sorgklich ereugt, nit vor guet anngesehenn, die absterbendenn for
der in der stadt zubegrabenn.
40 UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 1 (wie Anm. 14), S. 409 f., Nr. 487.
41 Ebd., S. 443 f., Nr. 532.
42 Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 416 ff., Nr. 449; ABKG,
edd. H. Jadatz / C. Winter, Bd. 4: 1535–1539, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 245 f., Nr.
2942.
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Enno Bünz
Die erste und wichtigste Bestimmung war, das das begrebnis zcw s. Johanns hin
furder gelegt vnnd der kirchoff mit der zeit geweittert werde, wofür der Rat durch
Verschiebung des Franzosenhauses Platz schaffen sollte, welcher raum volgennde
auch geweihet werdenn soll. Ausgenommen von dieser Regelung wurden die Adligen, die ihr Begräbnis in den Klöstern haben. Ansonsten waren Beisetzungen in
den beiden Bettelordensklöstern der Dominikaner und Franziskaner weiterhin
möglich, sofern die Erben zwei silberne Schock an den zuständigen Pfarrer vor sein
pfarrecht und zwei gute Schock an die Kirchenfabrik zahlten. Entsprechende Abgaben an den Pfarrer und die Kirche von St. Thomas wurden fällig, wenn Personen,
die itziger zeit bestettigte stiefftung ader gaistliche lehenn dorinnen habenn, dort beigesetzt werden sollten. Recht detailliert wurde geregelt, wie mit den Verstorbenen
zu verfahren war, die auf dem Johannisfriedhof begraben wurden: Unabhängig
davon, welchem Kirchspiel der Verstorbene angehörte, wurde der Leichnam nach
St. Thomas gebracht – hier erstmals als die hauptpfarre bezeichnet43 – und von dort
durch Priester und Schüler bis zum Grimmaischen Tor geleitet, sofern dies mit
dem Propst nicht anders vereinbart wurde, und von dort holten den Leichnam
dann einige Schüler und der Pfarrer von St. Johannis ab und begruben ihn dort.
Wenn jemand vormittags begraben wurde, sollten Vigilien und Seelmesse in St.
Johannis stattfinden, fand das Begräbnis nachmittags statt, wurden Vigilien und
Seelmesse in der Pfarrei des Verstorbenen abgehalten. Wenn der Dreißigste bestellt
wurde, sollte dieser stets in der pfarre, do der verstorben gewohnet hat, gehalten wer
denn. Seelmessen und Begängnisse der Bruderschaften und anderer Personen, do
keinne leiche ist, sollen in denn pfarrenn closternn vnnd kirchen gehaltenn werden,
doreinn sie gehorenn vnnd gestiefft seinn, wie ietzundt geschicht. Diese Regelung
sollte wohl sicherstellen, dass die Jahrtagsstiftungen weiter in den Pfarreien und
anderen Kirchen der Stadt gestiftet wurden und nicht mit den Begräbnissen nach
St. Johannis verlagert wurden. Mit dem Spolium der Verstorbenen, das in den
beiden Pfarrkirchen anfiel, sollte wie bisher verfahren werden.
Wütete in Leipzig eine Seuche, galten die Ausnahmegenehmigungen für Begräbnisse in den Pfarr- und Klosterkirchen allerdings nicht. In der Begräbnisordnung
von 1536 heißt es vielmehr: Welcher aber im sterbenn ann der pestilenntz stirbet,
denn sall mann an allenn vnderschaidt zw s. Johannes begrabenn, und dann auch
ohne Versammlung, Geläut und Geleit durch die Schüler oder die freuntschafft
des Verstorbenen und auch zu einer Tageszeit, wann wenig volcks auff der gassenn
gehet, also bei Nacht und Nebel. Die Entscheidung, wann eine Seuche grassierte,
wurde rational definiert: vnnd sall dis fals einn sterbenn heissenn, alledieweill eine
43 UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 417, Nr. 449: […] in s.Tho
mas closter, weill dasselbige die hauptpfarre […].
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
233
woche in der stad vnnd vorstedtenn zwainntzig personn ann der pestilentz sterbenn.
Der 1475 geschlossene Vergleich mit dem Thomasstift sollte übrigens weiter Gültigkeit haben. Die weitere Belegung des Friedhofs von St. Jakob vor den Mauern
wurde durch die Begräbnisordnung nicht berührt. Erst mit der Aufhebung der
Jakobsparochie 1543 wurde der Johannisfriedhof zum Begräbnisplatz der bisherigen Pfarrangehörigen.
Widerstand gegen die Begräbnisordnung regte sich vor allem von Seiten der
Universität, so dass Herzog Georg die Kirchhöfe zeitweilig überwachen lassen
musste, damit dort keine Begräbnisse mehr vorgenommen wurden. Vor allem die
Theologische Fakultät kritisierte die Begräbnisordnung als einen Bruch mit den
bisher praktizierten Formen der Jenseitsfürsorge, weil die Bürger nicht länger in
der Lage seien, „in der Gegenwart der Toten für die Toten zu handeln, weil der
neue Friedhof zu weit von ihren Arbeitsstätten in der Stadt entfernt sei“.44 Der
Merseburger Bischof Sigismund von Lindenau (1535–1544) befürchtete sogar
einen Zusammenhang der Friedhofsverlegung mit lutherischen Ideen. Trotz
anhaltender Kritik an der Begräbnisordnung, auch durch ein anonymes Klageschreiben, das dem Landesherrn zugesteckt wurde, hat Herzog Georg, dem man
wahrlich keine Neigungen zur lutherischen Bewegung nachsagen konnte, an der
Begräbnisordnung festgehalten. Nachdem die Verhandlungen mit der Universität,
zuletzt auf dem Leipziger Ostermarkt, zu keinem Ergebnis geführt hatten, entschied der Herzog am 26. Mai 1536, dass Rektor, Magister und Studenten, sofern
sie nicht das Bürgerrecht in Leipzig hätten, ihr Begräbnis bei den Franziskanern
oder den Dominikanern wählen dürften. Sie mussten dafür aber dem Pfarrer
und der Kirchenfabrik des Pfarrsprengels, zu dem sie gehörten, zur Abgeltung
des Pfarrrechts jeweils ein Schock entrichten. Den Dreißigsten und den Jahrtag
sollten sie hingegen begehen lassen, wo sie wollten. Damit mochte ein Kompromiss gefunden sein, der gleichermaßen den Interessen der Universitätsangehörigen, der Klöster und der Pfarreien (respektive des Thomasstifts) gerecht wurde.
Weitere Klagen über die Begräbnisordnung sind jedenfalls nicht überliefert, und
alle weiteren Klagen über die Trennung der Lebenden und der Toten sowie die
Sorge um deren Seelenheil haben sich durch Einführung der Reformation 1539
ohnehin erledigt.
44 C. Koslofsky, Pest (wie Anm. 40), S. 198; vgl. grundsätzlich: O. G. Oexle, Die Gegenwart
der Toten, in: H. Braet / W. Verbeke (Hgg.), Death in the Middle Ages (ML I/9), Leuven
1983, S. 19–77; wieder abgedruckt in Ders., Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, hrsg. von A. von Hülsen-Esch / B. Jussen / F. Rexroth Göttingen/Oakville
2011, S. 99–155.
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234
Enno Bünz
Die Begräbnisordnung von 1536 zwang zur Änderung überkommener
Gewohnheiten, stellte aber keineswegs grundsätzlich die altgläubige Begräbnisund Memorialpraxis in Frage.45 Die detaillierten Regelungen über die Begräbnisfeier, Abhaltung des Dreißigsten und Feier des Jahrtags zeigen dies zur Genüge.
Von daher sollte man auch zurückhaltend sein, von einem „kulturell tiefgreifenden Wandel in der Haltung gegenüber den Toten“ zu sprechen, auch wenn
der altgläubige Herzog Georg „sich von der neuen Ansicht [hatte, Anm. E. B.]
überzeugen lassen, daß die Gesundheit der Lebenden gegenüber der Gegenwart
der Toten Vorrang habe“.46
War dies tatsächlich so revolutionär? Die Ablösung der Friedhöfe von der Pfarrkirche ist ein Vorgang, der allenthalben im deutschsprachigen Raum seit dem ausgehenden Mittelalter einsetzt und im 16. Jahrhundert vielerorts durchgeführt wurde,
übrigens stets mit dem Hinweis auf die anwachsende Bevölkerung und vermehrte
Todesfälle durch Seuchenzüge.47 In Leipzig hatte man, wie erwähnt, schon 1474/75
aus diesem Grund das Begräbnis auf den Pfarrkirchhöfen eingeschränkt. In der
bayerischen Residenzstadt München erwirkte man 1480 die päpstliche Genehmigung, die Kirchhöfe in der Stadt aufzugeben, ebenso in Freiburg im Breisgau
1513. In Nürnberg wurde vor den Toren 1519 der Rochusfriedhof angelegt und der
Johannisfriedhof erweitert.48 Aufgrund der vielfältigen Beziehungen nicht nur der
Messestadt, sondern auch Herzog Georgs nach Nürnberg wird diese Maßnahme in
Leipzig gewiss nicht unbekannt geblieben sein. In Halle (Saale) wurde der Stadtgottesacker vor den Toren 1529 begründet. Womöglich registrierte man auch,
dass selbst kleinere Städte ihren Kirchhof in der Stadt aufgaben, beispielsweise das
thüringische Neustadt an der Orla, wo 1494/95 der Friedhof beim Lorenzhospital
vor den Mauern zum allgemeinen Begräbnisplatz erhoben wurde.49 Ein Bruch mit
45 Lutheraner erhielten ein unehrliches Begräbnis, und Herzog Georg wies den Leipziger Rat
am 23.3.1533 an, Anhänger der luterischen secten vnnd Nawygkayt ohne Geleit und kirchliche
Zeremonien beizusetzen; ABKG, edd. H. Jadatz / C. Winter, Bd. 3 (wie Anm. 28), S. 561,
Nr. 2220.
46 C. Koslofsky, Pest (wie Anm. 39), S. 204.
47 Zum Folgenden vor allem A. A. Tietz, Der frühneuzeitliche Gottesacker. Entstehung und
Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des Architekturtypus Camposanto in Mitteldeutschland (Beiträge zur Denkmalkunde 8), Halle/Saale 2012, S. 17–31, mit weiteren
Beispielen.
48 Vgl. A. Landois / U. Swoboda / H. Weingärtner / C. Maué (Red.), Hingeht die Zeit,
herkommt der Todt. 500 Jahre Johannis- und Rochusfriedhof. Katalog zur gleichnamigen
Ausstellung des Stadtarchivs Nürnberg vom 25. Oktober 2018 bis zum 8. März 2019 (AKStA
Nürnberg 26), Neustadt/Aisch 2018.
49 Vgl. E. Bünz, Die Bürger von Neustadt an der Orla und ihre Kirchen am Vorabend der Reformation, in: W. Greiling / U. Schirmer / R. Schwalbe (Hgg.), Der Altar von Lucas
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
235
der kirchlichen Praxis der Vorreformation war die Verlegung der Friedhöfe vor die
Mauern der Städte allerdings nicht, denn sie blieben mit einem Gotteshaus verbunden, weshalb vielfach einfach die Hospitalfriedhöfe erweitert wurden, die mit
einer Kapelle verbunden waren.
Verzögerte Reformation in Leipzig seit 1539
Leipzig gehörte seit der wettinischen Landesteilung von 1485 zum albertinischen
Herzogtum Sachsen.50 Das hatte weitreichende Konsequenzen, weil der seit 1500
allein regierende Albertiner Herzog Georg (reg. 1471–1539)51 spätestens seit
der Leipziger Disputation von 1519 ein entschiedener Gegner der lutherischen
Reformation war.52 Zwar regte sich seit 1524 in Leipzig, der größten und durch
die drei großen Märkte wirtschaftlich prosperierenden Stadt im Herzogtum,
eine lutherische Bewegung, doch gelang es Herzog Georg, das Eindringen der
Reformation in seinem Territorium einzudämmen. Bis zum Tod des altgläubigen
Landesherrn im April 1539 war diese antilutherische Politik auch erfolgreich. Im
Vergleich zum ernestinischen Kurfürstentum Sachsen, das bereits in den 1520er
Jahren von der Reformation erfasst wurde und nach 1525 eine evangelische Kirchenordnung durchsetzte, kann man für das Herzogtum Sachsen von einer verzögerten Reformation sprechen,53 und dies gilt natürlich auch für Leipzig, die
bedeutendste Stadt im Herzogtum.54
50
51
52
53
54
Cranach d. Ä. in Neustadt an der Orla und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation (QFThZR 3; Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, Sonderbd.), Köln/Weimar/Wien
2014, S. 59–99, hier S. 88–90 und S. 99.
Vgl. K. Blaschke, Die wettinischen Länder von der Leipziger Teilung 1485 bis zum Naumburger Vertrag 1554. Karte und Beiheft (AGLS C III 1), Dresden 2010.
Vgl. C. Volkmar, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen
1488–1525 (SMHR 41), Tübingen 2008; englische Übersetzung: Ders., Catholic Reform in
the Age of Luther. Duke George of Saxony and the Church, 1488–1525, translated by Brian
McNeil and Bill Ray (SMRT 209), Leiden/Boston 2017.
Vgl. M. Hein / A. Kohnle (Hgg.), Die Leipziger Disputation 1519. Ein theologisches Streitgespräch und seine Bedeutung für die frühe Reformation (HC Sonderbd. 25), Leipzig 2 2019.
Vgl. E. Bünz, Getrennte Wege: Die Reformation im Kurfürstentum und im Herzogtum Sachsen (1517–1539/40), in: F.-L. Kroll / G. Redworth / D. J. Weiss (Hgg.), Deutschland
und die Britischen Inseln im Reformationsgeschehen. Vergleich, Transfer, Verflechtungen
(PAS 34; AKGB 97), Berlin 2018, S. 275–301.
Vgl. A. Kohnle, Der lange Weg zur Reformation, in: E. Bünz (Hg.) / U. John (Mitarb.),
Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 648–667 und S. 918–921; Ders., Kirche
und lutherische Orthodoxie 1539–1650, in: D. Döring (Hg.) / U. John / H. Steinführer
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Enno Bünz
Der Nachfolger Herzog Georgs, sein Bruder Heinrich, hat in seiner kurzen
Regierungszeit 1539 bis 1541 zügig Maßnahmen zur Einführung der Reformation
umgesetzt; dessen Sohn Herzog Moritz hat diese Maßnahmen dann erfolgreich
weitergeführt, auch gegen zeitweilig beharrliche altgläubige Widerstände. Dies
gilt auch für Leipzig.55 Martin Luther (1483–1546) hat zwar anlässlich der Einführung der Reformation Pfingsten 1539 in der Leipziger Thomaskirche gepredigt,
aber er hat zeitlebens eine Abneigung gegen die Stadt empfunden, vordergründig
wegen der Leipziger ‚Pfeffersäcke‘, aber wohl auch wegen der verzögerten Hinwendung zur Reformation.56
Die Einführung der Reformation in den Städten und Dörfern des albertinischen Herzogtums bediente sich der aus Kursachsen bekannten bewährten Instrumente:57 Der Erlass einer neuen Gottesdienstordnung („Heinrichsagende“),58
die zweimalige Visitation der Kirchen und Klöster 1539/40 und der Aufbau
neuer kirchlicher Strukturen (Superintendenten) sind hier vor allem zu nennen.
Die Reformation hat sich auf das Kirchenwesen der Stadt nachhaltig ausgewirkt.
Die vier Klöster – ein Benediktinerinnenkonvent (St. Georg), zwei Bettelordenskonvente der Dominikaner und der Franziskaner sowie das Augustinerchorherrenstift St. Thomas – wurden bis Anfang der 1540er Jahre ebenso aufgehoben
55
56
57
58
(Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2 (wie Anm. 7), S. 313–339 und S. 876–881;
Ders., Zwischen Luthertum und Calvinismus. Leipzig im konfessionellen Zeitalter (1539–
1648), in: E. Bünz / Ders. (Hgg.) / S. Kusche (Red.), Religiöses Leipzig (wie Anm. 17),
S. 165–178, bes. S. 165–168; C. Volkmar, Ein zweites Sodom? Leipzig in der frühen Reformation, in: ebd., S. 143–163.
Vgl. C. Volkmar, Luther am Boden, in: E. Bünz (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte
der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 668–670 und S. 921 f.
Vgl. H. Junghans, Luthers Beziehungen zu Leipzig bis zu seinem Tode 1546, in: E.
Henschke / K. Sohl (Hgg.), Luther und Leipzig. Beiträge und Katalog zur Ausstellung
(Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 3), Leipzig 1996, S. 7–24; G. Wustmann,
Luther in Leipzig, in: Ders., Aus Leipzigs Vergangenheit. Gesammelte Aufsätze (SVGL 3),
Leipzig 1885, S. 34–101, zu Pfingsten 1539 vgl. ebd. S. 95 f.; zu den Aufenthalten Luthers in
Leipzig seit 1539 vgl. auch Ders., Geschichte (wie Anm. 16), S. 449 f. und S. 506 f.
Vgl. G. Wartenberg, Die Entstehung der sächsischen Landeskirche von 1539 bis 1559, in:
H. Junghans (Hg.), Jahrhundert der Reformation (wie Anm. 4), S. 69–92, hier S. 70–77;
Y. Hoffmann / U. Richter (Hgg.), Herzog Heinrich der Fromme (1473–1541), Beucha
2007; K. Enge, Heinrich von Sachsen (1473–1541), in: S. Richter / A. Kohnle (Hgg.),
Herrschaft und Glaubenswechsel. Die Fürstenreformation im Reich und in Europa in 28 Biographien (HAMNG 24), Heidelberg 2016, S. 214–229.
Vgl. EKO, ed. E. Sehling, Bd. 1: Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten,
Halbbd. 1: Die Ordnungen Luthers. Die Ernestinischen und Albertinischen Gebiete, Leipzig
1902, ND: Aalen 1979, S. 264–281, Nr. 24.
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
237
wie der Beginenkonvent der Franziskaner.59 Damit verschwanden die Klöster
zumindest teilweise aus dem Stadtbild. Die Klausur- und Wirtschaftsgebäude
des Thomasstifts wurden schon 1543 abgerissen; nur das Schulhaus blieb stehen.60
Gleichzeitig ließ der Rat das Franziskanerkloster und den Chor der Kirche, die
profaniert wurde, abbrechen.61
Die Säkularisation des Thomasstifts betraf sehr zentral auch die Pfarrseelsorge
in der Stadt, die aufgrund der Inkorporation beider Pfarrkirchen seit 1213 von
den Chorherren besorgt worden war.62 Mit der Reformation 1539 stellte sich
allerdings nicht nur die Frage der Seelsorgeorganisation, sondern viel grundsätzlicher auch die der Finanzierung und der Besetzung der Pfarrstellen.63 Zur
Regelung dieser Fragen kam es durch Herzog Moritz (reg. 1541–1553, seit 1547
Kurfürst).64 Bereits der Landtag zu Leipzig 1541 hat über dieses Problem, das sich
angesichts der zahlreichen den Klöstern inkorporierten Pfarreien nicht nur für
Leipzig stellte, verhandelt und festgehalten, dass die Pfarren von den klosterge
stifften unterhalten werden sollten.65 Die Stadt Leipzig hat bereits im folgenden
59 Vgl. S. Zinsmeyer, Die Aufhebung der Klöster und des Stifts St. Thomas, in: E. Bünz (Hg.) /
U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 676–679 und S. 923 f.;
A. J. Gornig, Das Nonnenkloster Sankt Georg vor Leipzig. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Stadt- und Kirchengeschichte, 2 Teilbde., unpublizierte Phil. Diss. Leipzig 2015, erscheint
in der Reihe „QFGSL“; von der älteren Literatur ist die aus den Akten gearbeitete Darstellung
von G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 458–495, noch immer von Wert.
60 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 498 f.; H. Magirius, Stadtpfarrkirche
St. Thomas (wie Anm. 9), S. 199; M. Rudersdorf, Einführung der Reformation. Stadt und
Land im Wandel, in: D. Zerbe (Hg.), 800 Jahre St. Thomas (wie Anm. 9), S. 77–109, hier
S. 99.
61 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 499 f.; H. Mai, Matthäikirche, in: H.
Magirius / Ders. / T. Trajkovits / W. Werner (Bearb.), Stadt Leipzig. Die Sakralbauten (wie Anm. 9), S. 677–697, hier S. 686.
62 Siehe oben Anm. 20.
63 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 460, der erwähnt, dass der Rat bei der
ersten Kirchenvisitation im August 1539 gegenüber dem Landesherrn behauptete, die Bestellung der Geistlichen habe ihm schon „vor Alters“ zugestanden, was die Visitatoren aber
zu Recht bestritten; vgl. auch K.-H. Diener von Schönberg, Das Stadtpatronat an der
Thomaskirche zu Leipzig, Phil. Diss. Leipzig, Borna/Leipzig 1925.
64 Vgl. J. Herrmann, Moritz von Sachsen (1521–1553). Landes-, Reichs- und Friedensfürst,
Beucha 2003; C. Winter, Moritz von Sachsen (1521–1553), in: S. Richter / A. Kohnle
(Hgg.), Herrschaft (wie Anm. 57), S. 231–249.
65 G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 461; zum Folgenden nun auch M. Beyer,
Leipziger Kirchen und Kirchengut in der Reformationszeit. Die Absicherung der städtischen
kirchlichen Versorgung aus dem Thomaskloster durch Herzog Moritz von Sachsen, in: S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17), S. 137–145.
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Enno Bünz
Jahr Herzog Moritz 30.000 Gulden vorgestreckt und sich damit ein Vorkaufsrecht
an den Klostergütern gesichert.66 Daraufhin hat Herzog Moritz am 1. Mai 1543
der Stadt Leipzig den folgenden Tatbestand beurkundet:67 Nachdem dy beyden
pfarrer czu s. Niclaus und s. Thomas yn unser stadt Leipzigk myt beyden pfarrher
ren, kappellanen und allen andern kirchendienern aus und von des klosters czu s.
Thomas güttern über menschengedenken unterhalten worden seien, nun aber durch
das Licht der Wahrheit das Thomaskloster ledig wordenn sei und der große Ausschuss auf dem Landtag beschlossen habe, die Pfarreien aus den Klostergütern zu
besolden, gestand er dem Leipziger Rat das Recht zu, künftig die Kirchen- und
Schuldiener auf diese Weise zu finanzieren und übertrug dem Rat deshalb auch
das Patronatsrecht.68 Am 6. August 1543 beurkundete Herzog Moritz den Verkauf
des Barfüßerklosters mit dem Beginenhaus, des Thomasstifts, des Nonnenklosters
St. Georg mit der Mühle sowie eines Teils der Klostergüter im Umland an die
Stadt Leipzig für 83.342 Gulden.69 Durch den Erwerb der Klostergüter konnte
der Leipziger Rat seinen Landbesitz erheblich ausbauen.70
Die Besoldung der Kirchendiener war grundsätzlich schon bei der ersten Kirchenvisitation im August 1539 festgelegt worden.71 Der Pfarrer von St. Thomas
erhielt jährlich 200 Gulden, der Prediger 150, die beiden Kapläne jeweils 100 Gulden, der Organist 40 und der Glöckner 35 Gulden im Jahr. Für den Schulmeister
der Thomasschule wurde ein Jahresgehalt von 80 Gulden festgelegt.72 Entsprechend wurden an der Nikolaikirche ebenfalls vier Geistliche besoldet, nämlich der
Nikolaipfarrer oder Pastor, der im Wechsel mit seinem Kollegen von St. Thomas
66 Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 441 ff., Nr. 475 f.
67 Vgl. ebd., S. 444 ff., Nr. 478.
68 K.-H. Diener von Schönberg, Stadtpatronat (wie Anm. 63), S. 55 f.; vgl. auch M. Rudersdorf, Einführung (wie Anm. 60), S. 93.
69 Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 447–450, Nr. 480;
A. Kohnle, Kirche (wie Anm. 54), S. 319.
70 Vgl. W. Emmerich, Der ländliche Besitz des Leipziger Rates. Entwicklung, Bewirtschaftung und Verwaltung bis zum 18. Jahrhundert (Aus Leipzigs Vergangenheit 3), Leipzig 1936;
S. Zinsmeyer, Der Besitz der Leipziger Klöster und des Stifts St. Thomas um 1500, in: V.
Rodekamp / R. Smolnik (Hgg.), 1015. Leipzig von Anfang an. Begleitband zur Ausstellung
des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig 20. Mai–25. Oktober 2015 (Veröffentlichung des
Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig), Dresden/Leipzig 2015, S. 123 f. mit Karte.
71 Vgl. EKO, ed. E. Sehling, Bd. I/1 (wie Anm. 58), S. 259 f., Nr. 22.
72 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 463 f.; M. Rudersdorf, Einführung (wie
Anm. 60), S. 94; zum Personal vgl. K. C. C. Gretschel, Kirchliche Zustände (wie Anm. 16),
S. 265–267; und S. Altner / M. Petzoldt / M. Täschner, Synoptische Übersicht der
Bediensteten in der Thomaskirche und Thomasschule seit der Reformation, in: S. Altner /
M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17), S. 428–435, hier S. 428.
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
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das Amt des „Superattendenten“ ausübte, der Archidiakon, der Diakon und der
Subdiakon.73 Die Gehälter hat die Stadt schon übernommen, bevor ihr die Güter
des Thomasklosters zugestanden wurden.74 Bis zur Reformation war der Propst
des Thomasstiftes die beherrschende Gestalt des Pfarrwesens gewesen. Der letzte
Propst Ambrosius Rauch verlor aber schon mit der ersten Visitation 1539 seinen
Einfluss, durfte aber noch im Stift leben, bis er im September 1543 entlassen und
mit einer Pension abgefunden wurde.75
Mit diesen Besoldungslasten hängt auch zusammen, dass die Jakobsparochie
vor den Mauern 1543 aufgegeben und zur Thomasparochie geschlagen wurde.76
Die Jakobskirche wurde im folgenden Jahr abgebrochen.77 Damit erlosch auch das
städtische Pfarrpatronat über diese Kirche, die nur über einen winzigen Sprengel
und entsprechend geringe Einkünfte verfügte.
In den Pfarrkirchen war der religiöse Wandel rein äußerlich an Veränderungen
des Kircheninneren ablesbar. In der Thomaskirche wurde 1539 oder 1540 der
Kreuzaltar und die Wand, die den Chor quericht scheidet […] abgebrochen und
als der Chor des prospects halben gantz geöffnet.78 Damit war die Beseitigung des
Lettners gemeint, der bislang den Chorbereich der Augustinerchorherren vom
Langhaus, das als städtische Pfarrkirche diente, geschieden hat.79 Damit konnte
der Kreuzaltar, der bislang vor dem Lettner stand,80 abgebrochen werden, und der
Hauptaltar des Konvents, der bislang durch den Lettner nicht sichtbar gewesen
73 Vgl. A. Kohnle, Die Nikolaikirche und ihre Pfarrer von der Reformation bis zum Ende des
18. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 64–91, hier S. 66;
erster Superintendent wurde der Pfarrer der Nikolaikirche, Johannes Pfeffinger (1493–1573),
vgl. Ders., Kirche (wie Anm. 54), S. 316; zum Personal 1539/40 auch K. C. C. Gretschel,
Kirchliche Zustände (wie Anm. 16), S. 263–265; und M. Thiem, Pfarrer und Superintendenten seit der Reformation, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10),
S. 303–322, hier S. 304, 307, 310, 340.
74 Vgl. die jährlichen Besoldungskosten für die Kirchen- und Schuldiener seit 1540 bei G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 485 f.
75 Vgl. A. Kohnle, Kirche (wie Anm. 54), S. 313 f. und S. 317 mit weiterführenden Hinweisen.
76 Vgl. K. C. C. Gretschel, Kirchliche Zustände (wie Anm. 16), S. 261 f., der weitere Veränderungen der Kirchspielsgrenzen im Zuge der Reformation erwähnt.
77 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 503–505; bei der ersten Kirchenvisitation
im August 1539 hatte man zunächst noch an ihrem Bestand festgehalten und die Pfarrbesetzung neu geregelt, vgl. ebd. S. 462 f.
78 Zitiert nach H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 201.
79 Vgl. ebd.; G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 456, erwähnt für 1539 den Abbruch
der „Fürgebäu“, der Lettner, in den Leipziger Kirchen.
80 Vgl. H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 176.
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Enno Bünz
war, wurde zum Hauptaltar der Pfarrkirche; dieser um 1500 entstandene Flügelaltar wurde 1721 an die Lutherkirche zu Plauen im Vogtland verkauft.81
Die Beseitigung der zahlreichen Seiten- bzw. Nebenaltäre, die nicht nur in
Leipzig das Erscheinungsbild der Stadtkirchen vor der Reformation sehr geprägt
haben,82 dürfte der sichtbarste Eingriff in die Kirchenräume gewesen sein. Aus
reformatorischer Sicht dienten sie bloß sog. Winkelmessen,83 nämlich Seelmessen, die von Altaristen zum Seelenheil von Stiftern ohne Gemeinde gelesen wurden. Die Einkünfte der mit den Altären verbundenen Benefizien (lehen) sollten
laut Anordnung der Visitatoren 1539 in den gemeinen kasten geschlagen werden.84 Lediglich in der Jakobskirche scheint es solche Nebenaltäre nicht gegeben
zu haben. In St. Thomas gab es maximal 27 Nebenaltäre, die aber nicht nur in
der Kirche, sondern z. T. auch im Kreuzgang lagen,85 und in St. Nikolai waren
es mindestens 18,86 die laut David Peifer (1530–1602) gleich nach Einführung
der Reformation abgebrochen wurden. Peifer betont in diesem Zusammenhang,
dass anstelle dieser Altäre im Kirchenschiff Sitzplätze geschaffen worden seien.87
Hierbei ist wohl davon auszugehen, dass eine einheitliche Bestuhlung erfolgte,
die die spätmittelalterliche Zergliederung der Kirchenräume durch abgeschlossene Gestühlbereiche bestimmter Familien und Gitter ablöste. Nach der ersten
Kirchenvisitation in Leipzig im August 1539 ordneten die Visitatoren an, in den
Kirchen die gegitter zu beseitigen, die bislang den Gottesdienstbesuchern Anlass
zu allerlei Mutmaßungen darüber gegeben hatten, wer denn hinder den gegittern
steet oder welche Personen gar nicht zugegen seind.88
Wie gründlich schon bald nach Einführung der Reformation aufgeräumt wurde,
ist daran ablesbar, dass sich nur aus der Nikolaikirche Teile eines spätgotischen
Altarretabels erhalten haben, die in die Zeit um 1520 gehören. Es handelt sich
81 Vgl. ebd. S. 199; zum Hauptaltar vgl. auch ebd. S. 255 f.
82 Vgl. J. E. A. Kroesen, Seitenaltäre in mittelalterlichen Kirchen. Standort – Raum – Liturgie,
Regensburg 2010.
83 Ein Leitbegriff der lutherischen Reformation, vgl. z. B. die sächsische „Heinrichsagende“ 1539
in: EKO, ed. E. Sehling, Bd. I/1 (wie Anm. 58), S. 259, Nr. 22.
84 Ebd., S. 282, Nr. 25 (Artikel XIII.); allerdings scheint dann in Leipzig keine Kastenordnung
umgesetzt worden zu sein.
85 Vgl. M. Wejwoda, Stadt und Kirche als Sakralgemeinschaft. Das Augustiner-Chorherrenstift
St. Thomas zu Leipzig im späten Mittelalter, in: D. Zerbe (Hg.), 800 St. Thomas (wie Anm.
9), S. 41–73, hier S. 46 f.
86 Vgl. E. Bünz, Die Nikolaikirche im Mittelalter, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig
(wie Anm. 10), S. 18–63, hier S. 43 f.
87 Vgl. D. Peifer, Lipsia (wie Anm. 14), S. 373; moderne Teilübersetzung Ders., Religiöses
Leipzig (wie Anm. 14), S. 50.
88 EKO, ed. E. Sehling, Bd. I/1 (wie Anm. 58), S. 592, Nr. 106.
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
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um mehrere Schnitzreliefs mit Darstellung des Lebens und Leidens Christi, die
1605 aus St. Nikolai an die Johanniskirche abgegeben und dort in einen barocken
Hochaltar integriert wurden. Nach einer Restaurierung in den Jahren 1978 bis
1981 wurden die Tafeln neu zusammengefügt und befinden sich seit 1993 wieder
in der Nikolaikirche. Es dürfte sich hierbei um Reste der seit dem 15. Jahrhundert
belegten Fronleichnamsvikarie gehandelt haben.89 Auch bei dem Hauptaltar der
Thomaskirche, der 1721 nach Plauen verkauft wurde, handelt es sich aufgrund
der Ikonographie und der Abmessungen wohl nicht um den mittelalterlichen
Hauptaltar, sondern um einen ehemaligen Nebenaltar, der erst nach der Reformation im Chorraum aufgestellt wurde.90
Auch sonst wird manches an alten Bildwerken, die der Andacht und religiösen
Erbauung dienten, aus den Kirchen verschwunden sein,91 ohne dass freilich ein
Bildersturm oder eine systematische Beseitigung (‚Abtuung‘) der Bilder durchgeführt wurde.92 Die Visitationsordnungen von 1539 haben zum Umgang mit
den Bildern keine Vorgaben gemacht.93 Normative Vorgaben der Visitatoren oder
der Kirchenordnungen für den Umgang mit vorreformatorischen Bildwerken
gab es nicht. So blieben vor allem in der Nikolaikirche etliche Bilder aus vorreformatorischer Zeit erhalten, die jetzt im Stadtgeschichtlichen Museum und im
Museum der bildenden Künste zu Leipzig verwahrt werden.94 Im Gegensatz zu
89 Vgl. E. Bünz, Nikolaikirche (wie Anm. 86), S. 44–46, mit Abbildung des Altarretabels.
90 Allerdings meint H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 199, dass dieser
Flügelaltar nicht der mittelalterliche Hauptaltar war, sondern dass es sich um einen ehemaligen Nebenaltar handelt, der erst nach der Reformation im Chorraum aufgestellt wurde.
91 Heinrich Magirius in: ebd., S. 201, verweist auf die „abgöttischen Wachsbilder“, die am
16.8.1539 aus der Thomaskirche entfernt wurden. Dies könnten Votivgaben gewesen sein.
92 Zur vergleichenden Einordnung vgl. die Beiträge in R. W. Scribner (Hg.), Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (WF 46), Wiesbaden 1990; C. Dupeux / P. Jezler / J. Wirth (Hgg.), Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Katalog
zur Ausstellung, Bern/Straßburg 2000; P. Blickle / A. Holenstein / H. R. Schmidt /
F.-J. Sladeczek (Hgg.), Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im
Kontext der europäischen Geschichte (HZ Beiheft NF 33), München 2002; J. E. A. Kroesen,
Na de Beeldenstorm: Continuïteit en verandering in het gebruik van middeleeuwse kerkruimten in Nederland na de Reformatie, met bijzondere aandacht voor het koor, in: JLO 30 (2014),
S. 137–163.
93 Vgl. EKO, ed. E. Sehling, Bd. I/1 (wie Anm. 58), S. 257–263, Nr. 22, und S. 281–284, Nr.
25.
94 Vgl. H. Guratzsch / D. Sander (Hgg.), Vergessene altdeutsche Gemälde. 1815 auf dem
Dachboden der Leipziger Nikolaikirche gefunden – 1997 anläßlich des 27. Deutschen Kirchentages präsentiert, Heidelberg 1997; E. Bünz, Rekonstruktion des Epitaphs der Familie
Schmidburg-Pistoris, in: H. Kühne / Ders. / T. T. Müller (Hgg.), Alltag und Frömmigkeit
am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung „Umsonst ist
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Enno Bünz
den Seitenaltären störten diese Epitaphien wohl nicht im Kirchenraum und blieben deshalb an ihrem angestammten Platz, bis der durchgreifende klassizistische
Umbau von St. Nikolai es nötig machte, alle älteren Bildwerke aus dem Kirchenraum zu beseitigen.95 Erst damals wurde auch die spätgotische Steinkanzel von
1521 aus dem Langhaus der Kirche entfernt und in der Nordkapelle aufgestellt.96
Man scheut sich, diesen Predigtstuhl ganz zu beseitigen, weil er vermeintlich als
Lutherkanzel galt. Tatsächlich aber hat Martin Luther niemals in der Nikolaikirche
gepredigt.97 Die Vasa sacra der Leipziger Kirchen wurden im Frühjahr 1540 vom
Rat verzeichnet, mussten aber mit Ausnahme der Pfarrkleinodien an die Sequestratoren der Klostergüter abgeliefert werden.98 Von dem liturgischen Gerät der
Thomaskirche sind aus vorreformatorischer Zeit nur noch zwei Abendmahlskelche
und eine Patene vom Anfang des 16. Jahrhunderts erhalten geblieben,99 und in
St. Nikolai ist nur noch ein Abendmahlskelch von 1514 mit Patene überliefert.100
Auf der anderen Seite sind Neuanschaffungen zu verbuchen, so bereits 1540 eine
Abendmahlskanne für die Thomaskirche.101 Von dem reichen Bestand an Paramenten, der in den Leipziger Kirchen vorhanden war, ist nach der Reformation
fast alles verlorengegangen, allerdings in einem schleichenden Prozess, weil die
Messgewänder z. T. noch lange weiterverwendet wurden. Aus dem Bestand der
95
96
97
98
99
100
101
der Tod“, Petersberg 2013, S. 97–100; Ders., Tod eines Bürgers – Lukas Cranachs „Sterbender“, in: Ders. (Hg.) / U. John (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 1 (wie Anm.
9), S. 531–533 und S. 897.
Vgl. G. Pasch, Die Nikolaikirche seit der Erneuerung des späten 18. Jahrhunderts, in: A.
Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 182–208, bes. S. 185–195, zur Erneuerung durch Johann Carl Friedrich Dauthe (1746–1816).
Vgl. H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Nikolai (wie Anm. 10), S. 437–439; F. Schmidt,
Die Kanzel von 1521, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 178.
Vgl. F. Seifert, Die Durchführung der Reformation in Leipzig 1539–1545, in: BSKG 1 (1882),
S. 125–166, hat S. 131–136 dargelegt, Luther habe zur Einführung der Reformation Pfingsten
1539 dort gepredigt. Dieser Irrtum aber korrigiert von Ders., Wo hat Luther am Pfingstsonntage (25. Mai) in Leipzig gepredigt?, in: ebd., 2 (1883), S. 45–53; A. Kohnle, Kirche (wie
Anm. 54), S. 314, mit Bezugnahme auf die vermeintliche ‚Lutherkanzel‘.
Vgl. UB Leipzig, ed. K. F. von Posern-Klett, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 428 f., Nr. 465; G.
Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 480.
Vgl. H. Magirius, Stadtpfarrkirche St. Thomas (wie Anm. 9), S. 323.
Vgl. ebd., S. 465.
Vgl. S. Walther, „bibite ex hoc omnes“ – Liturgisches Gerät aus St. Thomas zu Leipzig und
der Nathanaelkirchgemeinde Leipzig als frühes Zeugnis des lutherischen Abendmahlsverständnisses, in: Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch 2017 (erschienen: Markkleeberg 2018),
S. 5–14; behandelt wird auch ein liturgischer Sieblöffel von 1540, der in der Nathanaelgemeinde verwahrt wird und aufgrund der Inschrift ADML 1540 hypothetisch als ‚Lutherlöffel‘
angesprochen wird.
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Stadtpfarrkirchen und Reformation
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Nikolaikirche wurden 1596 31 Messgewänder verkauft, und bis heute ist nur eine
Kasel von ca. 1530, die sich im Grassimuseum befindet, erhalten geblieben.102
Die zahlreichen Kapellen, die nicht mit Seelsorgeaufgaben verbunden waren,
verschwanden durch Abbruch entweder ganz aus dem Stadtbild (Marienkapelle,
Katharinenkapelle, Kapelle des Studienkollegs St. Bernhard) oder wurden, wie
die Peterskapelle, profaniert.103 Ebenso verfuhr man mit den Gebäuden des Franziskanerklosters sowie mit dem Georgenkloster, das vor den Mauern lag und dem
Ausbau der landesherrlichen Burg zur Renaissancefestung (sog. Pleißenburg) im
Weg war und deshalb vollständig weichen musste.104
Lediglich das Dominikanerkloster mit der Paulinerkirche blieb als Baukomplex weitgehend intakt erhalten, nachdem Herzog Moritz 1543 entschieden
hatte, dieses Kloster nicht der Stadt, sondern der Universität zu übergeben.105
So wurde aus der Paulinerkirche der Dominikaner die Universitätskirche, die
nach der Reformation vor allem von der Theologischen Fakultät genutzt wurde
und Leipziger Professoren und Bürgern als Grablege diente.106 Die Bibliotheksbestände der Leipziger Klöster kamen, soweit sie nach der Selektion durch
Caspar Borner (1492–1547) als wertvoll oder nützlich erachtet wurden, an die
Universitätsbibliothek,107 darunter auch Teile der Bibliothek des Thomasstifts.
102 Vgl. G. Wustmann, Geschichte (wie Anm. 16), S. 497; H. Magirius, Stadtpfarrkirche St.
Nikolai (wie Anm. 10), S. 473 f.
103 Vgl. E. Bünz, Pfarreien (wie Anm. 9), S. 478.
104 Vgl. S. Zinsmeyer, Aufhebung (wie Anm. 59), S. 677 f.; A. J. Gornig, Nonnenkloster Sankt
Georg (wie Anm. 59), S. 28–33 u. S. 252–255.
105 Vgl. M. Rudersdorf, Weichenstellung für die Neuzeit. Die Universität Leipzig zwischen
Reformation und Dreißigjährigem Krieg 1539–1648/1660, in: Geschichte der Universität
Leipzig, Bd. 1 (wie Anm. 27), S. 327–515, hier S. 368–373.
106 Vgl. H. Mai, Die Universitätskirche St. Pauli, in: M. Marek / T. Topfstedt (Hgg.) / U.
John (Mitarb.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 5: Geschichte der Leipziger Universitätsbauten im urbanen Kontext, Leipzig 2009, S. 77–132, hier bes. S. 89–112
über die Funktion als Universitätskirche in der Frühen Neuzeit; H. Mai, Das Leipziger Dominikanerkloster – Baugeschichte und Ausstattung, in: E. Bünz / D. M. Mütze / S. Zinsmeyer (Hgg.), Neue Forschungen zu sächsischen Klöstern. Ergebnisse und Perspektiven der
Arbeit am Sächsischen Klosterbuch (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde
62), Leipzig 2020, S. 507–535; wenig Neues bieten die Beiträge in: P. Zimmerling (Hg.),
Universitätskirche St. Pauli. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. FS zur Wiedereinweihung
der Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig, Leipzig 2017.
107 Vgl. M. Rudersdorf, Weichenstellung (wie Anm. 105), S. 355–358 und S. 373; wie stark
ausgewählt wurde, zeigt C. Mackert, Geist aus den Klöstern. Buchkultur und intellektuelles
Leben in Sachsen bis zur Reformation. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig vom 15. Oktober 2017 bis 7. Januar 2018 (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 39), Leipzig 2017.
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Ob es in St. Thomas und St. Nikolai darüber hinaus auch gesonderte Pfarroder Prädikaturbibliotheken gegeben hat oder sie erst nach der Reformation
eingerichtet wurden, ist nicht sicher.108 Da sich in unmittelbarer Nähe der
Nikolaikirche die Universitätskollegien mit ihren Buchbeständen sowie die seit
dem 15. Jahrhundert öffentlich zugängliche Bibliothek des Dominikanerklosters befanden, mag sich die Anschaffung eines gesonderten Buchbestandes für
den Prediger der Nikolaikirche erübrigt haben.109 Evangelische Kirchenbibliotheken wurden sowohl an St. Thomas als auch an St. Nikolai erst im späten
16. Jahrhundert aufgebaut.110
Freilich verfügte jede Pfarrkirche, auch wenn keine gesonderte Pfarr- oder
Prädikaturbibliothek vorhanden war, über Bücher, die für die Gottesdienste und
andere liturgische Feiern erforderlich waren.111 Vor allem solche Bücher hatten in
der Reformationszeit aber nur eine geringe Überlieferungschance, weil das kirchlich-liturgische Leben gründlich umgestaltet wurde.112 Vor diesem Hintergrund
108 T. Fuchs, Die Kirchenbibliothek von St. Nikolai, in: A. Kohnle (Hg.), St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 272–277, hier S. 272, meint, es habe in St. Nikolai eine mittelalterliche
Bibliothek „mit Sicherheit gegeben“; allerdings waren spätmittelalterliche Pfarrbibliotheken
nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme, vgl. E. Bünz, Buchbesitz von Pfarrern im ausgehenden Mittelalter (15. und frühes 16. Jahrhundert), in: Ders., Mittelalterliche Pfarrei (wie
Anm. 1), S. 295–333.
109 Vgl. Ders., Nikolaikirche (wie Anm. 86), S. 42.
110 Vgl. T. Fuchs, Kirchenbibliothek (wie Anm. 108), S. 272–277; S. Kötz (Hg.), Dokumente
des lutherischen Glaubens. Die Kirchenbibliothek von St. Nikolai in Leipzig. Katalog zur
Ausstellung in der Bibliotheca Albertina Leipzig 11.03.2015–31.05.2015 (Schriften aus der
Universitätsbibliothek Leipzig 34), Leipzig 2015; T. Fuchs / C. Mackert, 3 × Thomas.
Die Bibliotheken des Thomasklosters, der Thomaskirche und der Thomasschule im Laufe
der Jahrhunderte. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Bibliotheca Albertina vom
18. Oktober 2012 bis 20. Januar 2013 (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 27),
Leipzig 2012; T. Fuchs, Die Bibliothek der Thomaskirche, in: S. Altner / M. Petzoldt
(Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17), S. 346–363.
111 Zu den unterschiedlichen Buchbeständen von Kirche und Geistlichen vgl. E. Bünz, Buchbesitz (wie Anm. 108), passim; und Ders., Das Buch in den Händen von Geistlichen. Beobachtungen zum kirchlichen und klerikalen Buchbesitz (12.–16. Jahrhundert), in: Ders. / T.
Fuchs / S. Rhein (Hgg.), Buch und Reformation. Beiträge zur Buch- und Bibliotheksgeschichte Mitteldeutschlands im 16. Jahrhundert (SLSA 16), Leipzig 2014, S. 39–68.
112 Vgl. B. Kranemann, Liturgien unter dem Einfluss der Reformation, in: J. Bärsch / Ders.
(Hgg.) / W. Haunerland / M. Klöckener (Mitarb.), Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens. Rituelle Entwicklungen, theologische Konzepte und kulturelle Kontexte,
Bd. 1: Von der Antike bis zur Neuzeit, Münster 2018, S. 425–479: P. Graff, Geschichte der
Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands,
Bd. 1: Bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus, Waltrop 1994, ND der 2. vermehrten und verbesserten Auflage Göttingen 1937.
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ist es überraschend, dass sich in St. Nikolai mehrere Chorbücher des 15. Jahrhunderts und darauf beruhende Kopien des 16. bis 18. Jahrhunderts erhalten haben.113
Diese Chorbücher verdeutlichen, dass das Institut der beiden Choralisten an der
Nikolaikirche auch nach 1539 erhalten blieb und dass sie donnerstags, samstags
und sonntags bei den Frühgottesdiensten den liturgischen Gesang bestritten. Diese
Einrichtung der Choralisten hat bis 1823 bestanden. In diesem Zusammenhang
ist auch zu erwähnen, dass die Schola der Thomaner noch bis 1876 ihrer 1536
geregelten Verpflichtung nachkam, den Verstorbenen aus der Stadt das Geleit zum
Johannisfriedhof vor der Stadt zu geben.114 Diese Beispiele mögen abschließend
verdeutlichen, dass es in manchen Bereichen des kirchlichen Lebens überraschende
Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Neuzeit gegeben hat.
***
Zusammenfassend lässt sich sagen: Auf der einen Seite wurde das Kirchenwesen
der Stadt Leipzig in Folge der Reformation radikal vereinfacht und das Stadtbild, das von vielen Kirchenbauten geprägt war, weitgehend entsakralisiert: Vier
Klöster und Stifte wurden säkularisiert und z. T. abgebrochen. Ebenso wurden
mit Ausnahme der Peterskirche, die profaniert wurde, und der beiden Hospitalkirchen alle Kapellen aufgehoben und abgebrochen. Das gleiche Schicksal erlitt
die Pfarrkirche St. Jakob vor den Mauern, die mit ihrer kleinen Pfarrgemeinde
nicht mehr existenzfähig war und der Thomasparochie zugeschlagen wurde. Der
religiöse Wandel wurde äußerlich sichtbar durch die Veränderung der Kirchenräume, aus denen die zahlreichen Nebenaltäre verschwanden und das Gestühl
vereinheitlicht wurde. Auf der anderen Seite blieben die beiden Stadtpfarrkirchen
St. Thomas und St. Nikolai erhalten und waren bis zum Ende des 17. Jahrhunderts alleine für die Seelsorge der Innenstadtbevölkerung zuständig. Erst mit dem
Anwachsen der Gemeinden wurde es um 1700 nötig, innerhalb dieser fortbestehenden Pfarrorganisation die Peterskapelle und die einstige Franziskaner-, nun
Neukirche (später Matthäikirche genannt) wieder als Gotteshäuser zu nutzen.115
Die Pfarrei erweist sich auch in Leipzig als das bedeutendste Kontinuitätselement
113 Zum Folgenden M. Maul, Kirchenmusik an St. Nikolai in älterer Zeit, in: A. Kohnle (Hg.),
St. Nikolai zu Leipzig (wie Anm. 10), S. 244–261, hier bes. S. 244 ff. über die Choralisten und
ihre Chorbücher, die weiterer Untersuchung bedürften, wie ebd., S. 246, betont wird.
114 Vgl. P. Benndorf, Entwicklung (wie Anm. 35), S. 52; M. Maul, Die Frühgeschichte des
Thomaskantorats und die Entwicklung des Chores bis zum Amtsantritt Johann Sebastian
Bachs, in: S. Altner / M. Petzoldt (Hgg.), 800 Jahre Thomana (wie Anm. 17), S. 79–103.
115 Vgl. R. Otto, Kirchliches Leben 1650–1815, in: D. Döring (Hg.) / U. John / H. Steinführer (Mitarb.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2 (wie Anm. 7), S. 340–375, S. 881–886,
hier S. 346.
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Enno Bünz
zwischen vor- und nachreformatorischer Kirche. Weitere Forschungen werden
sich vor allem darauf konzentrieren müssen, den Wandel der kirchlichen Praxis
vom ausgehenden Mittelalter zur Frühen Neuzeit näher zu beschreiben.
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Winfried Müller
Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel im
höheren Schulwesen
„Luther hätte getwittert“ – unter dieser Überschrift stellte der Präsident der
Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in einem in der Online-Ausgabe
der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichten Beitrag auf das Thema ab, das
den Rahmen für den vorliegenden Band vorgibt: Reformation als Kommunikationsprozess. Kirchenpräsident Volker Jung räumte ein, dass Martin Luther
(1483–1546) bei der Formulierung seiner Tweets gewiss nicht zimperlich gewesen wäre, reiche doch die Bandbreite seiner Äußerungen „von genial bis zu geht
gar nicht“.1 Und in der Tat verleiten manche überlieferten Äußerungen Luthers,
die sich gegen seinen Ingolstädter Kontrahenten Johannes Eck (1486–1543)
richten oder seine Tiraden gegen Bauernrotten und Juden sowie die Suggestion
eines twitternden Reformators zum Abgleich mit der aktuellen politischen Kultur. Doch nicht um Poltergeister aus Vergangenheit und Gegenwart soll es im
Folgenden gehen, im Mittelpunkt stehen vielmehr geräuschlose und nachhaltige
Kommunikationsprozesse in einem – so lesen wir in einer neueren Studie zum
Thema „Kommunikation und Zusammenarbeit in der Schule“ – „mechanischen
Organisationssystem“, das „dazu geschaffen“ wurde, „gewisse wünschenswerte
Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen zustande zu bringen“.2 Es geht im
Folgenden also um die Schule und deren Bildungsauftrag für weltliche und geistliche Eliten, oder in der Sprache Luthers formuliert: soll man denn zu lassen, das
eyttel rülltzen und knebel regiren, so mans wol bessern kann?3
1
2
3
V. Jung, Luther hätte getwittert, in: Zeit Online, 2. April 2017, vgl. https://www.zeit.de/
2017/15/reformation-martin-luther-medien (letzter Zugriff am 22.3.2020).
A. Ebelhoff, Kommunikation und Zusammenarbeit in der Schule, Weinheim/Basel 1974,
S. 18.
M. Luther, An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen
aufrichten und halten sollen. 1524, in: WA, Bd. 15, Weimar 1899, S. 9–53, hier S. 34 f.; vgl. auch
die 1530 gehaltene Predigt, daß man die Kinder zur Schule halten solle in: Dr. Martin Luthers
pädagogische Schriften und Äußerungen, ed. H. Keferstein (Bibliothek pädagogischer
Klassiker 28), Langensalza 1888, S. 228–244, hier S. 235; wo im Hinblick auf die Bedürfnisse
der Seelsorge die Notwendigkeit des Lateinunterrichts auch für breitere Bevölkerungsschichten betont wird: Solche tüchtigen Knaben sollte man zur Lehre halten, sonderlich der armen
Leute Kinder: denn dazu sind aller Stifte und Klöster Pfründe und Zinsen verordnet; wiewohl
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Winfried Müller
Diese besorgte Frage aus Luthers 1524 erschienenem Appell „An die Ratsherren
aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten
sollen“ versuchte in gemeinwohlorientierter Absicht von der Notwendigkeit von
Investitionen in das Schulwesen zu überzeugen. Das bonum commune hänge ganz
wesentlich davon ab, dass man viel feyner gelerter, vernünfftiger, erbar, wol gezogener
burger habe.4 Diese allgemeine Zielsetzung war unterfüttert von der Erwartung,
dass in einem wohlgeordneten Gemeinwesen die reformatorische Lehre durchgesetzt und unter landesherrliches Protektorat gestellt würde.
Die Bedeutung der Schule als – wiederum modern gesprochen – einem Ort
der vertikalen Kommunikation zwischen vorgesetzten Lehrern und untergebenen Schülern für die religiöse Sozialisation wurde von den Reformatoren
besonders hoch eingeschätzt. Einerseits galt es – so formulierte es der sächsische
Fürstenratgeber Georg von Carlowitz (ca. 1471–1550) – bei der Erneuerung
der Christenheit an der jugend an[zu]fahen; beim alters ists verloren.5 Andererseits wurden die Reformatoren von einem veritablen Misstrauen gegenüber der
Elterngeneration umgetrieben. Wiederum Luther: so ist der größte Teil der Eltern
leider dazu ungeschickt und weiß nicht, wie man Kinder erziehen und lehren soll.
Denn sie haben selbst nichts gelernt, außer den Bauch zu versorgen, und es gehö
ren besondere Leute dazu, die Kinder gut und recht lehren und erziehen sollen.6
Das setzte allerdings die Bereitschaft der Eltern voraus, ihre Kinder überhaupt
in die Schule zu schicken, denn von einer allgemeinen Schulpflicht konnte im
16. Jahrhundert ja noch keine Rede sein. Es sollen auch die Prediger die leute
vermanen, yhre kinder zur schule zu thun, damit man leut aufziehe, geschickt zu
leren ynn der Kirchen und sonst zu regiren, formulierte Philipp Melanchthon
4
5
6
daneben dennoch auch die anderen Knaben, ob sie nicht so wohl geschickt wären, auch sollten
lernen zum wenigsten Latein verstehen, schreiben und lesen. Denn man darf nicht allein hoch
gelehrte Doktores und Magister in der Schrift, man muß auch gemeine Pfarrherren haben, die
das Evangelium und Katechismum treiben im jungen und groben Volk, taufen und Sakrament
reichen etc. Ob sie nicht zum Streit wider die Ketzer taugen, da liegt nicht Macht an; man muß
zum guten Gebäu nicht allein Werkstücke, sondern auch Füllsteine haben: so muß man auch
Küster und andere Personen haben, die da dienen und helfen zum Predigtamt und Wort Got
tes. Und wenn schon ein solcher Knabe, so Latein gelernet hat, darnach ein Handwerk lernet
und Bürger wird, hat man denselbigen im Vorrat: ob man sein etwa zum Pfarrherrn, oder sonst
zum Wort brauchen müßte: schadet ihm solche Lehre auch nichts zur Nahrung, kann sein Haus
desto baß regieren, und ist über das zugerichtet und bereit zum Predigtamt oder Pfarramt, wo
man sein bedarf.
Ebd.
Zitiert nach R. Bohley, Die Gründung der sächsischen Landesschulen und der Versuch, eine
christliche Einigkeit zu erhalten. Eine Skizze, in: HC 15 (1987/88), S. 77–106, hier S. 82.
M. Luther, An die Ratsherren (wie Anm. 3), S. 34.
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Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel
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(1497–1560) folgerichtig 1528 im „Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn
im Kurfürstentum zu Sachsen“.7
In einer historischen Phase, in der sich einerseits die Aufgabe stellte, eine neue
evangelische Kirchenordnung zu etablieren, und in der andererseits die Elterngeneration vielfach mit den Lehrinhalten noch längst nicht hinreichend vertraut war,
kam der Schule also eine überaus wichtige Funktion zu. Über die Schule wurde
die nachwachsende Generation religiös erzogen, vor allem aber wurde dort der
dringend benötigte Nachwuchs für den Kirchen-, Schul- und Staatsdienst ausgebildet. Kirchenreform, Konfessionsbildung, Aufbau des modernen Territorialstaats und des landesherrlichen Kirchenregiments standen somit in engstem
wechselseitigen Zusammenhang mit der Schule bzw. Schulreform.
Zwar ging es dabei auch um das niedere Schulwesen, denn natürlich waren die
Vermittlung der elementaren Kulturtechniken und der Katechismusunterricht für
breite Bevölkerungsschichten ein Anliegen der Reformation. Aber wenn es um
die Durchsetzung der neuen Lehre und um die Festigung des Kirchenregiments
ging, so waren jene Schüler die Zielgruppe, die eine Karriere in Verwaltung, Bildungswesen oder Kirchendienst anstrebten bzw. die gezielt für diesen Berufsweg
gewonnen werden sollten. Von dieser Zielsetzung leitete sich das große Interesse
an der Pflege der ‚heiligen‘ Sprachen als unabdingbarer Voraussetzung des richtigen Bibelverständnisses in Luthers Ratsherrenschrift ab. Zugleich war die Ratsherrenschrift eindeutig ein Reflex auf die frühreformatorische Bildungskrise.8
Gemeint ist damit der massive Einbruch in der Frequenz der Universitäten,
nachvollziehbar im Rückgang der Immatrikulationszahlen um über 30 Prozent
während der 1520er Jahre.9 Als Hintergrund ist hier zum einen zu beachten,
dass im Zuge der Reformation mit den Kloster- und Domschulen ein traditioneller Zulieferer der Universitäten wegfiel. Dazu kam die Ablehnung der
7
8
9
P. Melanchthon, Unterricht der Visitatoren (1528), in: Ders., Werke in Auswahl, ed. R.
Stupperich, Bd. 1: Reformatorische Schriften, Gütersloh 1951, S. 215–271, hier S. 265.
Hierzu grundlegend A. Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in:
N. Hammerstein (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: 15. bis 17.
Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe,
München 1996, S. 197–374, hier S. 256 ff.
Nachgerade dramatisch verlief diese Entwicklung an der Universität Leipzig, wo sich 1520
noch 417 Studenten neu immatrikuliert hatten. 1526 war die Zahl der Neueinschreibungen
auf 86 gesunken, vgl. G. Uhlig, Geschichte des sächsischen Schulwesens bis 1600 (Kleine
sächsische Bibliothek 6), Dresden 1999, S. 91; vgl. den Abschnitt „Von der Reform zur Reformation“ bei: E. Bünz, Gründung und Entfaltung. Die spätmittelalterliche Universität Leipzig
1409–1539, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 1: Spätes Mittelalter und
Frühe Neuzeit 1409–1830/31, hrsg. von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger
Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Leipzig 2009, S. 17–325, hier S. 301 ff.
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Winfried Müller
Universitätstheologie durch die Reformatoren; Andreas Karlstadt (1486–1541)
gab beispielsweise seine Wittenberger Professur auf, „um künftig sein Brot biblisch ‚im Schweiße seines Angesichts‘ zu essen“.10 Schließlich fiel in einer religiösen
Umbruchsituation aufgrund unsicherer Perspektiven im geistlichen Berufsfeld
der Anreiz weg, ein Theologiestudium aufzunehmen. All dies schlug nicht nur
auf die Universitäten durch, sondern auch auf die städtischen Lateinschulen, die
zurückgehende Schülerzahlen und damit auch geringere Einnahmen aus dem
Schulgeld zu verkraften hatten. Zudem versiegten Nebeneinkünfte aus kirchlichen Stiftungen. Kurzum: Die städtischen Lateinschulen waren vorübergehend in
ihrem Lebensnerv getroffen. Die Krise des Lateinschulwesens drohte weltlichem
und geistlichem Regiment gleichermaßen die Grundlage zu entziehen. Nebenbei bemerkt war das ein Problem, das sich in gleicher Weise in den altgläubig
gebliebenen Gebieten stellte. Die Überalterung oder Verödung von Konventen,
ein rapider Rückgang der Theologiestudenten und der Priesterweihen, dies alles
mündete auch in einem Territorium wie Bayern, wo die Landesherren eine dezidiert gegenreformatorische Politik verfolgten, in eine schwere Krise: „Der Kirche
ging der Nachwuchs aus, sie drohte sang- und klanglos auszusterben.“11
Dass sich Luther zwecks Behebung dieser Krise an die Bürgermeister und Ratsherren wandte, war dem Umstand geschuldet, dass das Lateinschulwesen – also der
sekundäre Bildungsbereich – vor allem unter kommunaler Regie stand. Bereits in
vorreformatorischer Zeit war nämlich in den innerstädtischen Schulkämpfen die
Schulträgerschaft kirchlicher Einrichtungen und die ausschließliche Bestimmung
der Bildungsinhalte durch die Kirche vielfach gebrochen worden zugunsten der
kommunalen Schulhoheit. Diese war Ausdruck städtischer Unabhängigkeit, die
sich in keiner Weise gegen eine religiöse Erziehung in den Schulen richtete. Im
Gegenteil: Die Kritik an der kirchlichen Bildungsträgerschaft wurde nicht zuletzt
von der Unzufriedenheit darüber gespeist, dass der Welt- und Ordensklerus sich den
Aufgaben der religiösen Erziehung nicht gewachsen zeigte. Vor allem aber war ein
Hauptzweck der städtischen Lateinschulen die Vorbereitung auf die Universität. Aus
diesem Grund war es den städtischen Obrigkeiten so wichtig, dass an ihren Schulen Latein als entscheidende Zugangsvoraussetzung für ein Studium gelehrt wurde.
10 A. Seifert, Höheres Schulwesen (wie Anm. 8), S. 257.
11 Ders., Die „Seminarpolitik“ der bayerischen Herzöge im 16. Jahrhundert und die Begründung
des jesuitischen Schulwesens, in: H. Glaser (Hg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. 2/1: Um
Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst
1573–1657, München/Zürich 1980, S. 125–132, hier S. 125; zusammenfassend W. Ziegler,
Reformation und Gegenreformation 1517–1648: Altbayern, in: W. Brandmüller (Hg.),
Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. 2: Von der Glaubensspaltung bis zur Säkularisation, St. Ottilien 1993, S. 1–64, hier S. 25 ff.
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Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel
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Das Lateinschulwesen als kommunale Aufgabe – das verweist zugleich darauf,
dass bis ins 16. Jahrhundert das Ziel der landesherrlichen bildungspolitischen
Aktivitäten nicht die Schule bzw. das höhere Schulwesen war, sondern die Universität. In moderner Begrifflichkeit ausgedrückt: Die Landesherren wurden in
vorreformatorischer Zeit lediglich im tertiären Bildungssektor tätig, im Hochschulbereich also. Das Recht, eine Universität zu stiften, war gleich dem Recht
zur Stadtgründung oder zur Anlage von Burgen Herrenrecht.12 Ausgeübt wurde
es zur Mehrung des Ansehens der regierenden Dynastie und des Landes gleichermaßen, das über die Universitäten seine Eliten für die weltliche Verwaltung und
für den Kirchendienst rekrutierte. Prestigedenken der Dynastien und das Streben
der Territorien nach bildungspolitischer Autarkie – aus der Logik des Zusammenspiels dieser Faktoren ergab es sich, dass im deutschen Reich im späten Mittelalter
eine Welle von Universitätsgründungen zu beobachten war. In der Universitätsgeschichtsschreibung spricht man von der partikularen Epoche der Universitäten im Gegensatz zur zeitlich vorgelagerten universalen, als die Scholaren aus
Deutschland noch an die wenigen Universitäten in Europa – Paris und Bologna
vor allem – zogen. Dieser Übergang von der universalen zur partikularen Epoche
der Universitätsgeschichte impliziert auch einen Vorgang der Regionalisierung, der
zur Mobilisierung der landeseigenen Bildungsreserven führte.13 Verstärkt wurde
diese Regionalisierung dann noch einmal durch die mit der Reformation ein
gezogenen konfessionellen Trennungslinien. Für den mitteldeutschen Raum ist für
das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit auf Universitätsgründungen in Erfurt
1392, Leipzig 1409, Wittenberg 1502, Jena 1558 und Halle 1694 zu verweisen.
Die Leistungsfähigkeit der frühmodernen Territorialstaaten wird gut illustriert,
wenn man diese Reihung zur heutigen Universitätslandschaft in Beziehung setzt.
Mit den Universitäten erstreckten sich Gestaltungswille und Zuständigkeit
des Landesherrn bildlich gesprochen also auf das Dach des Bildungssystems, oder
um es noch einmal in moderner Terminologie auszudrücken: auf den tertiären
12 Vgl. R. C. Schwinges, Prestige und gemeiner Nutzen. Universitätsgründungen im deutschen
Spätmittelalter, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), S. 5–17; F. Rexroth,
Deutsche Universitätsstiftungen von Prag bis Köln. Die Intentionen des Stifters und die Wege
und Chancen ihrer Verwirklichung im spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaat (AfKG
Beiheft 34), Köln/Weimar/Wien 1992; W. E. Wagner, Universitätsstift und Kollegium in
Prag, Wien und Heidelberg. Eine vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher Stiftungen
im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft (Europa im Mittelalter 2), Berlin 1999.
13 Vgl. J. Verger, Patterns, in: W. Rüegg (Hg.), A History of the University in Europe, vol.
1: Universities in the Middle Ages, Cambridge 1992, S. 35–74, hier S. 55 ff.; R. A. Müller,
Geschichte der Universität. Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule,
München 1990, S. 45 ff.
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Winfried Müller
Bildungssektor, wohingegen der Bau der darunterliegenden Ebenen den Lokalund Privatgewalten überlassen war. So folgerichtig es deshalb war, dass sich Luthers
Appell für die Errichtung von (Latein-)Schulen als dem sekundären Bildungssektor an die Bürgermeister und Ratsherren richtete, so kam es im Zuge der nachreformatorischen schulischen Neuorganisation doch auch zu einer innovativen
Einbindung der Landesherren. Denn durch das im Verlauf der Reformation von
den protestantischen Landesherren sequestrierte Kloster- und Kirchengut stand
ja eine Verfügungsmasse bereit, die nach dem Willen der Reformatoren ad pias
causas, also für Seelsorge, caritas und Bildungswesen, eingesetzt werden sollte –
auch um sich nicht dem von der katholischen Gegenpartei erhobenen Vorwurf
auszusetzen, Kirchengut zu profanieren. Die Argumentationslinie war bereits
frühzeitig durch die von Luther gutgeheißene und von ihm mit einem Vorwort
versehene Leisniger Kastenordnung von 1523 vorgegeben worden.14 Durch Philipp Melanchthons Gutachten über den rechten Gebrauch der Kapitel und Klöster (1537) oder Martin Bucers (1491–1551) Schrift „Von Kirchengütern“ (1540)
wurde sie weitergeführt. Der Tenor dieser Schriften ist, dass die sich zum neuen
evangelischen Glauben bekennenden Fürsten zwar die Institutionen der alten Kirche beseitigt hatten, dass aber deren Güter in Entsprechung zum ursprünglichen
Stiftungszweck verwendet, also für Seelsorge, Armenfürsorge und nicht zuletzt
für Einrichtungen zur Ausbildung des evangelischen Klerus zur Verfügung gestellt
werden müssten: Dan was sein stifft und kloster anders geweßen / den Christliche
schulenn / darynnen man leret/schrifft vnnd zucht nach Christlicher weiße / vnnd
leut auff ertzog / zu regieren und predigen – so wiederum Luther in seiner 1520
erschienenen Schrift „An den christlichen Adel“.15
Damit schlug die historische Stunde des Vordringens des Territorialstaats in
den sekundären Bildungsbereich, wobei es mit Georg von Carlowitz ein katholischer Fürstenberater im seinerzeit noch am alten Glauben festhaltenden albertinischen Sachsen war, der offenkundig im mitteldeutschen Raum der Erste war, der
1537 das Modell der Landes- oder Fürstenschulen andachte.16 Und zwar schlug
14 Vgl. M. Luther, Ordnung eines gemeinen kastens. Radschlag wie die geistlichen guter zu
handeln sind. 1523, in: EKO, ed. E. Sehling, Bd. 1: Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten, Halbbd. 1: Die Ordnungen Luthers. Die Ernestinischen und Albertinischen
Gebiete, Leipzig 1902, ND: Aalen 1979, S. 598–604, Nr. 109, hier 598 f.; O. Fries, Luthers
Schrift „Ordnung eines gemeinen Kastens“, in: SBAG 11 (1953), S. 27–42.
15 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. 1520, in: WA, Bd. 6, Weimar 1888, S. 380–469, hier S. 439; vgl. auch R. Bohley,
Gründung der sächsischen Landesschulen (wie Anm. 5), S. 79.
16 Vgl. im Überblick ebd.; J. Flöter / G. Wartenberg (Hgg.), Die sächsischen Fürsten- und
Landesschulen. Interaktion von lutherisch-humanistischem Erziehungsideal und Eliten-Bildung
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Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel
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Carlowitz vor, vom erledigten Klostergut an ein oder zwei Orten landesherrliche
höhere Schulen einzurichten. Adressat dieses in einem vertraulichen Schreiben
formulierten Vorschlags war Landgraf Philipp von Hessen (1509/18–1567). Im
albertinischen Sachsen selbst konnte man einem solchen Vorhaben erst nach dem
Tod Herzog Georgs (1500–1539), also nach 1539, nähertreten, wobei die für
die künftigen Fürstenschulen entscheidende Phase 1541 unter Herzog/Kurfürst
Moritz (1541/47–1553) begann. Bereits wenige Monate nach seinem Regierungsantritt wurden Überlegungen über die Verwendung sequestrierten Klosterguts angestellt, die in der „Neuen Landesordnung“ vom 21. Mai 154317 in die
Vorgabe mündeten, drei Landesschulen zu gründen.18 Eine sollte im vormaligen
Zisterzienserkloster St. Maria ad Portam untergebracht werden. Eine weitere
Landesschule war für Merseburg geplant, der zähe Widerstand des Domkapitels brachte es mit sich, dass die Landesschule dann erst 1550 in Grimma in der
aufgegebenen Niederlassung der Augustiner-Eremiten eröffnet werden konnte.19
Und drittens kam es schließlich zur Gründung einer Landesschule in der Niederlassung der Augustiner-Chorherren in Meißen, wo bereits im Juli 1543 der
Unterrichtsbetrieb aufgenommen wurde. Die landesherrliche Stiftungsurkunde
wurde erst am 23. Januar 1544 ausgestellt. Der neuen Bildungseinrichtung wurden
(SSGV 9), Leipzig 2004; W. Müller, Herzog Moritz und die Neugestaltung des Bildungswesens nach der Einführung der Reformation im albertinischen Sachsen, in: K. Blaschke
(Hg.), Moritz von Sachsen. Ein Fürst der Reformationszeit zwischen Territorium und Reich
(QFSG 29), Stuttgart 2007, S. 173–201.
17 Vgl. Neue Landes-Ordnung Hertzog Moritzens zu Sachsen, die drey Schulen zu Meissen, Merseburg und zur Pforten, wie auch etliche andere Articul betreffend, Montags nach Trinitatis,
An. 1543, in: Codex Augusteus […], Bd. 1, ed. J. C. Lünig, Leipzig 1724, Sp. 13–24, hier Sp.
13 f.
18 Zu den einzelnen Schulen vgl. J. Flöter / M. Pesenecker (Hgg.), Erziehung zur Elite. Die
Fürsten- und Landesschulen zu Grimma, Meißen und Schulpforte um 1900, Leipzig 2003; J.
Flöter / G. Wartenberg (Hgg.), Sächsische Fürsten- und Landesschulen (wie Anm. 16);
G. Arnhardt / G.-B. v. Reinert, Die Fürsten- und Landesschulen Meißen, Schulpforte
und Grimma. Lebensweise und Unterricht über Jahrhunderte (SchrRh. WEE 5), Weinheim/
Basel 2002; T. Flathe, Sanct Afra. Geschichte der königlich sächsischen Fürstenschule zu
Meißen seit ihrer Gründung im Jahre 1543 bis zu ihrem Neubau in den Jahren 1877–1879,
Leipzig 1879; A. Clemen, Fürsten- und Landesschule St. Augustin zu Grimma, in: Veröffentlichungen zur Geschichte des gelehrten Schulwesens im albertinischen Sachsen 1 (1900) [=
Übersicht über die geschichtliche Entwicklung der Gymnasien], S. 20–33; G. Arnhardt,
Schulpforte – eine Schule im Zeichen der humanistischen Bildungstradition (Monumenta
paedagogica 25), Berlin 1988; H. Heumann, Schulpforta. Tradition und Wandel einer Eliteschule, Erfurt 1994.
19 Vgl. G. Wartenberg, Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546 (QFRG 55), Gütersloh 1988, S. 195.
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dabei Einnahmen aus dem Besitz von St. Afra und aus dem Verkauf anderweitiger Klostergüter zugesprochen. In Verbindung mit weiteren Zuweisungen wurde
die Schule auf ein solides finanzielles Fundament gestellt, das dem Unterhalt des
Schulpersonals und der Schüler diente. Laut Stiftungsbrief waren für die Fürstenschule St. Afra 60 Schüler eingeplant, die unentgeltlichen Unterricht und freie
Kost genossen und für die der Aufenthalt im ehemaligen Kloster, im Alumnat,
vorgesehen war. Letztlich wurde die Zahl der Freistellen auf 105 erhöht, was es
für eine beschränkte Zahl von Schülern mit sich brachte, dass sie als ‚Extraneer‘
außerhalb des Alumnats wohnten. Der Regelfall war also der Internatsbetrieb
für Schüler, die bereits über schulische Vorbildung verfügten. In der „Neuen
Landesordnung“ von 1543 lesen wir in diesem Zusammenhang, dass kein Knabe
aufgenommen werden solle, der nicht schreiben und lesen kan, auch keiner, der
seines Alters unter eilff, oder über funfzehen Jahr ist.20 In der Kirchenordnung von
Kurfürst August (1553–1586) aus dem Jahre 1580 wurde dann präzisiert, dass
nur Knaben angenommen werden sollten, die zuvor auf einer Lateinschule über
die Anfangsgründe des Lateinischen hinausgelangt waren.21
Konkret besagte das: Die Neukonstruktion der Landesschulen sollte die Begabungsreserven der städtischen Lateinschulen abschöpfen. Nach dem Besuch der
unteren Klassen an einem städtischen Gymnasium sollten die gymnasiale Mittelund Oberstufe von den besonders Begabten an den Landesschulen absolviert werden. Dort sollten die Schüler sechs Jahre lang zum Glauben, Christlicher Tugennt
getzogen und underweiset werden, bis zu Irem verstande und mundigen Jharn –
und zwar unentgeltlich und ohne Ansehen ihrer sozialen Herkunft. Zielsetzung
war die Vorbereitung auf die Universität. Nach Endung derer sechs Jahr, so lesen
wir in der „Neuen Landesordnung“ von 1543, mögen die Knaben […] in unsere
Universität gen Leipzig geschicket werden, wo wiederum Stipendien ausgeworfen
werden sollten.
Diese Zusammenziehung der Hochbegabten hinter die Mauern ehemaliger
Klöster, wo sie dann nach einem streng reglementierten, an klösterliche Lebensordnung gemahnenden Tagesplan zusammenlebten und lernten, war nicht unumstritten. Die räumliche Absonderung von den Universitäten, für die die neuen
Schulen ja eigentlich vorbereiten sollten, wurde beispielsweise vielfach kritisch
20 Dieses und die nachfolgenden Zitate in: Neue Landes-Ordnung (wie Anm. 17), Sp. 13 f.
21 Vgl. Die Schul- und Universitäts-Ordnung Kurfürst Augusts von Sachsen. Aus der Kursächsischen Kirchenordnung vom Jahre 1580, ed. L. Wattendorf (Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus alter und neuer Zeit 7), Paderborn 1890; F. Ludwig, Die
Entstehung der kursächsischen Schulordnung von 1580 auf Grund archivalischer Studien
(MGdESG Beiheft 13), Berlin 1907.
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beurteilt. Und manchem passte der Geist der neuen Einrichtungen grundsätzlich
nicht. Kein Geringerer als Philipp Melanchthon hielt das absondern vnd einschlies
sen der jugendt für eine Neue müncherey, für ein Fortschreiben der gerade durch
die Reformation überwundenen monastischen Lebensform.22 Die Jugend werde
dadurch scheu und werde in moribus nicht auf das spätere Leben vorbereitet. Und
in der Tat war das quasi-klösterliche Leben für die Schüler sicher nicht immer
einfach. Der Preis für die Unentgeltlichkeit des Unterrichts waren strenge Aufsicht und Disziplin, die natürlich auch immer wieder durchbrochen wurden. Die
Klagen über das Aussteigen der Schüler bei Nacht und über den sog. Pennalismus,
der neu ankommende Schüler mit einer mit mancherlei Schikanen verbundenen
Hack- und Rangordnung konfrontierte – auch das gehört zur Geschichte der Internatsschulen. Auf der anderen Seite war natürlich gerade die Internatserziehung
im Ambiente aufgehobener Klöster genau das, was die Befürworter dieser Erziehungsanstalten wollten: eine disziplinierte und effiziente Ausbildung – fernab von
den Anfechtungen einer Universitätsstadt, aber auch fernab vom Elternhaus. Von
Luther wurde diese, modern gesprochen, Einschränkung des Elternrechts durchaus billigend in Kauf genommen, denn: ist der groessest hauffe der elltern leyder
ungeschickt dazu und nicht weys, wie man kinder zihen und lernen soll. Denn sie
nichts selbst gelernet haben, on den bauch versorgen, und gehoeren sonderliche leut
dazu, die kinder wol und recht leren und zihen sollen.23
Mit den sächsischen Landesschulen wurde also eine neue Ebene zwischen das
bestehende System der städtischen Lateinschulen und die unter landesherrlicher
Regie stehende Universität gezogen. Durch die Regulierung des Ein- und Austrittsalters und der Vorkenntnisse wurde sichergestellt, dass die Absolventen der
Landesschulen der gleichen Alterskohorte angehörten. Dies war ein gravierender
Unterschied zur vorreformatorischen Zeit, in der vielfach Halbwüchsige z. T. sehr
verschiedenen Alters und mit unterschiedlicher Vorbildung an die Universität
gekommen waren; Luther hatte sich 1501 im Alter von 18 Jahren an der Universität Erfurt immatrikuliert,24 Luthers Gegner Johann Eck war elf Jahre alt, als er
sich 1498 in Heidelberg einschrieb,25 und Luthers Mitstreiter Philipp Melanchthon war mit zwölf Jahren auf die Universität gezogen.26
22 Zitiert nach A. Seifert, Höheres Schulwesen (wie Anm. 8), S. 308.
23 M. Luther, An die Ratsherren (wie Anm. 3), S. 34.
24 Vgl. O. Scheel, Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation, Bd. 1: Auf der Schule
und Universität, Tübingen 31921, S. 32 ff.
25 Vgl. M. Weitlauff, Johannes Eck, in: L. Boehm / W. Müller / W. J. Smolka / H. Zedelmaier (Hgg.), Biogr. Lex. LMU, Bd. 1: Ingolstadt-Landshut 1472–1826, Berlin 1998,
S. 88.
26 Vgl. H. Rupp, Philipp Melanchthon – der vergessene „Praeceptor Germaniae“? Der Versuch
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Zur altersmäßigen Homogenisierung kam die Standardisierung der Ausbildungsinhalte hinzu: Dass in einer Schulen wie der andern gleichformig gelernet
werden solle, die Absolventen der Landesschulen sich also beim Übergang zur
Universität auf gleichem Lernniveau bewegten, war eine der Vorgaben der Landesordnung von 1543.27 Die ‚Gleichförmigkeit‘ des Unterrichts durch einheitliche, staatliche vorgegebene Ausbildungskriterien – das war ein Prinzip, das eine
enorme Fernwirkung entfalten sollte, zumal dann im ‚pädagogischen‘ 18. Jahrhundert, als sich der formierende bürokratische Monopolstaat der Reform des
Bildungswesens und des flächendeckenden Ausbaus des Schulwesens besonders
intensiv annahm.
Zugleich trugen die Landesschulen dem Umstand Rechnung, dass aus Sicht der
Reformatoren Personen vornehmer Herkunft für den geistlichen Beruf ungeeignet seien, da für diese die Kirchenämter nur Versorgungsstellen gewesen waren.
Worauf es nun aber ankam, war eine breite Schicht gut qualifizierter Pfarrer, die
sich nach Amtsauffassung und -ausübung vom vorreformatorischen Klerus positiv abhob. Man entdeckte gewissermaßen den ‚gemeinen Mann‘ als Zielgruppe
der Bildungswerbung. Diesen in das höhere Bildungswesen zu integrieren, setzte
freilich ein gut funktionierendes Stipendienwesen voraus. Auch in dieser Hinsicht
sind die sächsischen Landesschulen ein aufschlussreiches Beispiel, sah doch deren
Konzeption vor, die Begabten aller Schichten zu gewinnen und diesen durch
Kostenlosigkeit des Unterrichts und des Internatsaufenthalts eine Ausbildung zu
gestatten, die auf das künftige Universitätsstudium vorbereitete. Dieses Anliegen
war bereits in den frühen Äußerungen von Georg von Carlowitz formuliert worden: Bei der Auswahl und Aufnahme der Schüler solle kein Stand ausgeschlossen
werden: Ehr sey Edelman, Burger, oder Pauer, So zu der Leer geschicht und geneigt.
Und so gesehen stand es, als es an die Realisierung der Fürstenschulen ging, außer
Diskussion, dass an allen drei Standorten mit Vorstehern und Dienern, Lehre, Kosten
und anderer Nothdurfft, wie folget, umsonst versehen, und unterhalten werden.28 Um
die höhere Bildung im Interesse des Überlebens der sich formierenden Landeskirche auch den sozial Schwachen zu öffnen, widersetzte man sich von landesherrlicher Seite dem Zugriff der Landstände, insbesondere des Adels, auf den neuen
Schultypus. Dahinter stand die Befürchtung, bei einem zu starken ständischen
Einfluss würde sich in den Landesschulen wiederholen, was man in der vorreformatorischen Kirche hatte beobachten können, dass nämlich vakante Plätze zur
einer Synthese von Humanismus und Reformation im Deutschland des 16. Jahrhunderts, in:
JHB 4 (1998), S. 45–63.
27 Neue Landes-Ordnung (wie Anm. 17), Sp. 14.
28 Ebd., Sp. 13 f.
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Die Reformation als Impuls für den Strukturwandel
257
Beute adeliger Pfründenjäger wurden. Zwar wurde für den Adel ausdrücklich eine
gewisse Anzahl von Freiplätzen reserviert, aber grundsätzlich war es die Intention
der Landesherren, auf der voruniversitären Ausbildungsebene die Begabungsreserven des Landes ohne Ansehen der sozialen Herkunft zu mobilisieren und den
Universitäten gewissermaßen Studierende mit Gütesiegel und Erfolgsgarantie
zuzuführen. Um die Konsequenzen dieser auf die sozial schwächeren Schichten
abzielenden Bildungsoffensive zu erfassen, sind noch vertiefende Studien erforderlich. Für Württemberg mit seinen evangelischen Klosterschulen wurde aber
bereits ermittelt, dass eine zunehmende Akademisierung des Klerus erfolgte. Bald
nach der Jahrhundertmitte, also in der zweiten evangelischen Pfarrergeneration,
war es zu einer fast 100-prozentigen Akademisierung gekommen, wobei alleine
das Tübinger Stift drei Viertel der württembergischen Pfarrstellen mit seinen
Absolventen versorgte. Im Vergleich zur vorreformatorischen Kirche war also
eine deutliche Hebung des Ausbildungsniveaus und damit auch der Qualität
der Seelsorge zu beobachten.29 Diese kam nicht nur den Landeskirchen zugute,
sondern auch den weltlichen Berufen. Denn dass der sich ausdifferenzierende
Staatsapparat gleichfalls geschulter, gut ausgebildeter Fachkräfte bedurfte, die
durch die Unentgeltlichkeit von Unterricht und Internatsaufenthalt in Loyalität
zum Land und seinem Fürsten erzogen wurden, liegt auf der Hand. Ausdrücklich war denn auch in der Neuen Landesordnung des Moritz von Sachsen nicht
nur von der Ausbildung künftiger Kirchendiener die Rede, sondern auch von der
anderer gelahrten Leuten in unseren Landen.30
Dass Unentgeltlichkeit von Unterricht und Internatsaufenthalt der Loyalität
der Absolventen gegenüber dem Land und seinem Fürsten, der ja nicht nur die
Ausbildung, sondern auch die künftige berufliche Versorgung sicherte, förderlich
waren, dürfte außer Zweifel stehen. Diesem Ziel der intrinsischen Bindung der
künftigen Kirchen- und Staatsdiener diente auch eine weitere Bestimmung, die in
den Vorüberlegungen und in den Gründungsdokumenten der sächsischen Fürstenschulen immer wieder auftauchte: und sollen die Knaben alle unsere Untertha
nen und keine Auslendische seyn […], vor unserer Underthanen Kinder und sunst
vor Niemandt seien die neuen Schulen gedacht.31 Der Territorialstaat achtete auf
bildungspolitische Autarkie, er grenzte sich aus konfessionellen und auch ökonomischen Gründen nach außen ab. Dieser Trend sollte sich – wie durch eine
Fülle sog. Landeskindermandate belegt wird – in der Zukunft noch verstärken.
29 Vgl. A. Seifert, Höheres Schulwesen (wie Anm. 8), S. 273.
30 Neue Landes-Ordnung (wie Anm. 17), Sp. 13.
31 Ebd., Sp. 14.
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258
Winfried Müller
Die bildungspolitische Innovation der Landesschule hatte – so viel sollte mittlerweile deutlich geworden sein – aus der Perspektive der Landesherren eine Reihe
entscheidender Vorteile. Und deshalb blieb er auch kein sächsisches Spezifikum.
Eine bezüglich Zielsetzung und Organisation identische Einrichtung finden wir
beispielsweise in Stettin/Szczecin, wo die Herzöge von Pommern 1543 das sog.
Pädagogium einrichteten.32 Aus dem Herzogtum Württemberg kennen wir die
Pädagogien in Stuttgart und Tübingen.33 Mit dem braunschweigischen paeda
gogium illustre in Gandersheim34 und der 1607 nach sächsischem Vorbild entstandenen brandenburgischen Fürstenschule in Joachimsthal bei Eberswalde35
lässt sich die Reihe der Beispiele ebenso fortsetzen wie mit dem 1605 eröffneten
Casimirianum in Coburg,36 in dessen Stiftungsbrief noch einmal die Stellung des
neuen Schultyps zwischen Lateinschule und Universität auf den Punkt gebracht
wurde: Die Landt-Schul sei als ein medium oder mittell zwischen andern gemeinen
triviall und hohen Schulen oder Academien constituirt worden – Gott zu ehren […]
und unseren Landen zu wohlfarth.37
32 Vgl. S. Wesołowska, Das Fürstliche Pädagogium bzw. Gymnasium Carolinum in Stettin,
in: D. Alvermann / N. Jörn / J. E. Olesen (Hgg.), Die Universität Greifswald in der
Bildungslandschaft des Ostseeraums (Nordische Geschichte 5), Berlin 2007, S. 105–122, hier
S. 105 ff.
33 Vgl. A. Seifert, Höheres Schulwesen (wie Anm. 8), S. 306 f.
34 Vgl. A. Reitemeier, Reformation in Norddeutschland. Gottvertrauen zwischen Fürstenherrschaft und Teufelsfurcht, Göttingen 2017, S. 227 f.
35 Vgl. J. Flöter / C. Ritzi (Hgg.), Das Joachimsthalsche Gymnasium. Beiträge zum Aufstieg
und Niedergang der Fürstenschule der Hohenzollern, Bad Heilbrunn 2009.
36 Vgl. G. Melville, „Eine sonderbare hohe Landesschul“. Die Anfänge des Coburger Casimirianums in schulgeschichtlichen Kontexten, in: J. Goslar / W. Tasler (Hgg.), Musarum
sedes 1605–2005. FS zum 400-jährigen Bestehen des Gymnasiums Casimirianum Coburg
(SchrRh. der Historischen Gesellschaft Coburg e. V. 18), Coburg 22005, S. 35–57; W. Müller, „Gott zu ehren … und unsern Landen zu wohlfarth“. Die Reformation als pädagogische
Bewegung und das Modell der Landesschulen am Beispiel des Coburger Casimirianums, in:
G. Melville (Hg.), Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg (1564–1633). Einblicke
in eine Epoche des Wandels (SchrRh. der Historischen Gesellschaft Coburg e. V. 27), Coburg
2016, S. 53–65.
37 Zitiert nach G. Melville, Anfänge des Coburger Casimirianums (wie Anm. 36), S. 36.
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DIE KUNST DER REFORMATION
ALS KOMMUNIKATIONSMEDIUM
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Kateřina Horníčková
Framing the Difference
Visual Strategies of Religious Identification in the Czech Utraquist
Towns
Legal framing
In the late Middle Ages, urban spaces of exchange and communication such as
piazzas, streets, church and town hall facades, gates, and fortifications became
public places where inscriptions and images were displayed.1 In Bohemia in the
sixteenth century (already starting during the fifteenth century) prominent urban
spaces became “contested territory”,2 where denominational meanings could be
conveyed. Written records, and to a lesser extent preserved monuments, reveal
that Bohemian towns in the post-Hussite period and during the Reformation
occasionally used urban public spaces3 to show the denominational status of the
community or individual residents through images, inscriptions, symbols, and
even performances.4 This text reviews the legal framework of function, role, and
1
2
3
4
Cf. L. Burkart, Die Stadt der Bilder. Familiale und kommunale Bildinvestition im spätmittelalterlichen Verona, Munich 2000; G. Jaritz (ed.), Die Straße. Zur Funktion und Perzeption öffentlichen Raums im späten Mittelalter (Forschungen IMAREAL 6), Vienna 2001; esp.
Id., Straßenbilder des Spätmittelalters, in: ibid., pp. 47–70; M. Camille, Signs on Medieval
Street Corners, in: ibid., pp. 91–117.
J. L. Koerner, The Reformation of the Image, London 2004, p. 56.
In this article, I understand the term ‘public space’ in its premodern sense, as publicly accessible symbolically-loaded locales and spaces of communication in late medieval and early modern towns. Based on S. Rau / G. Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit.
Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Iid. (eds.), Zwischen
Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (NuS 21),
Cologne/Weimar/Vienna 2004, pp. 11–51, esp. pp. 17–23; but broadened by the notion of
visual culture/aspects of seeing.
This text summarizes my previous research in this field dispersed in the works K. Horníčková, Beyond the Chalice. Monuments Manifesting Utraquist Religious Identity in the Bohemian Urban Context in the Fifteenth and Early Sixteenth Centuries, in: ERH/REH 20
(2013), pp. 137–152; Ead., Symbol kalicha ve veřejném prostoru utrakvistických měst [The
Symbol of the Chalice in the Public Space of Utraquist Towns], in: O. Halama / P. Soukup
(eds.), Kalich jako symbol v prvním století utrakvismu [Chalice as Symbol in the First Century of Utraquism], Prague 2016, pp. 59–75; and in edited works: Ead. / M. Šroněk (eds.),
In puncto religionis. Konfesní dimenze předbělohorské kultury v Čechách a na Moravě […
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262
Kateřina Horníčková
reception of these Protestant images and monuments in the denominational
communication in sixteenth-century Bohemia and identifies the factors that
influenced their survival.
Lucas Burkart, in “Die Stadt der Bilder”, showed that images played an
important role in representing community and urban social networks in Italy.
He wrote about Italian, German, and Flemish cities: “Es gehörte zum Selbstverständnis dieser Städte und ihrer Bürger, ihre Bedeutung und politische Stellung
nicht nur in Texten zu dokumentieren, sondern sich auch in Bildern zu repräsentieren”.5 Although focused on the political meanings of images in urban space,
his concept of the town as a ‘Bilderraum’ presented a point of view that I found
particularly inspiring for the study of communication in urban religious communities in Bohemian towns in the second half of the fifteenth and sixteenth
century. Images were straightforward, could easily be read and understood, and
investing in them helped to express communal and political views and organized
urban political communities in simple and clear terms. The same characteristics
also meant that they could incite conflict. In the context of the religious division
that became a part of the daily reality in post-Hussite Bohemia, images occasionally became markers of religious identity within the complicated framework of
the denominational situation, which, on the surface, was represented by illusive
religious tolerance.
5
The Confessional Dimensions of the Bohemian and Moravian Culture before the Battle of
White Mountain], Prague 2013; Iid. (eds.), Umění české reformace (1380–1620) [The Art
of the Bohemian Reformation (1380–1620)], Prague 2010; K. Horníčková, Insider’s Visions. Memory and Self-Representation in Bohemian Utraquist Towns, in: Ead. (ed.), Faces
of Community in Central European Towns. Images, Symbols, and Performances, 1400–1700,
Lanham/Boulder/New York/London 2018, pp. 113–148. This edited volume contains other
contributions dealing with the symbolic identification through visual culture in denominationally-diverse urban space, esp. M. Šroněk, The Representation Practices of the Prague
Painters’ Guild in the Late Middle Ages and Early Modern Period, in: ibid., pp. 149–193; Z.
Míchalová, The Self-Presentation of Burghers in Moravian Seigniorial Towns. Telč and
Slavonice in the Second Half of the Sixteenth Century, in: ibid., pp. 195–210; J. Hrdlička,
Public Expressions of Religious Transformation in Moravian Towns (1550–1618), in: ibid.,
pp. 211–228; O. Jakubec, Epitaphs in the Moravian Royal Cities Around 1600 and their
Confessional Imagination, in: ibid., pp. 251–278; K. Pražáková, Rewriting Memory. Remodelling Churches in Seventeenth-Century Freistadt, in: ibid., pp. 211–338. Concerning
Utraquist images I am indebted in particular to works by Zikmund Winter (1846–1912),
Josef Macek (1922–1991), Jan Royt, Milena Bartlová, Josef Krása (1933–1985) and
Karel Stejskal (1931–2014).
L. Burkart, Die Stadt der Bilder. Verona im Spätmittelalter, in: P. Johanek (ed.), Bild und
Wahrnehmung der Stadt (Städteforschung A 63), Cologne/Weimar/Vienna 2011, pp. 25–50,
here p. 25; cf. further: Id., Stadt der Bilder (as note 1).
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Framing the Difference
263
In 1539, aldermen (‘šepmistři’, ‘Schöffen’) of Kutná Hora/Kuttenberg and the
Master of the Mint (‘mincmistr’, ‘Münzmeister’), Albrecht of Gutštejn/Guttenstein († 1550), called a certain Matěj Máša,6 asking why he depicted Jan Žižka (ca.
1360–1424), the redoubtable Hussite military leader, on the façade of his house.7
‚Matěj Máša was asked by the order of His Grace Master of the Mint why he had his house
painted with [an image of, rem. K. H.] Žižka and by whose order, [as it is, rem. K. H.] against
the law of the land, where it stands that the parties under one and both kinds should not offend
or disrespect each other. In response, Máša said that he did not wish to do anything wrong [to
6
7
Matěj Máša of Hornosyn/z Hornosyna (Hornosín in Southern Bohemia), ‘erckaféř’ (ore
merchant) and burgher in Kutná Hora, guaranteed a payment of 80 schock (‘kop’) by Pavel
Havránek of Vostrov/z Vostrova to Jan Bernhart of Hoštice/z Hoštic in 1531. In 1539 he received fishponds and an iron-smelting mill in pawn for 60 schock. In 1555 he bequeathed his
house (called Mejšnarovský) to his son Petr and his garden to another Petr and a daughter,
Regina, cf. SOkA Kutná Hora, fonds: AM KH, Městské knihy [Town Books], book no. 404
(Liber testamentorum, 1544–1584), fol. C25; it is possible that the image was painted on this
house, but it is not certain. We are only informed that the house in question stood on a corner
and can assume from the controversy that it was publicly visible.
Cf. SOkA Kutná Hora, AM KH, Městské knihy [Town Books], book no. 14 (Kniha pamětní
[Book of Memory of Kutná Hora], 1538–1541), fol. 292r/D18: Matějo[v]i Mášo[v]i mlu[ven]
o z rozkazu JMti pana minc[mejs]tra proč j[es]t Žižku dal malo[va]ti a z čího návodu na domu
své[m] p[ro]ti zřízení zemské[m]u, kdež stojí, že strana pod jednú a pod obojí zpuosobú nemají se
dotýkati ani ku potupě jedna druhé nedo[týka]ti. P[ro]ti to[m]u Máša, že j[es]t se nenadál, aby
tí[m] malování[m] měl co učiniti nenáležitého, než že to bude ku poctě městu tomuto, po[něva]dž
j[es]t duo[m] ten na rohu, po[něva]dž jinde po domích a kostelích j[es]t malován Žižka, a že mu k
to[m]u Lorenc, kterýž j[es]t mezi saudci, radil […]. A po[něva]dž to j[es]t pá[nuo]m obtížný an[e]b
JMti pá[n]u, že on to snadno dá zamazati a skaziti. Po[vědí]no mu, že je[m]u domu ozdobiti
nehájí a že sú to[m]u rádi, než aby Žižky nemalo[v]al, po[něva]dž by to k nepokoji bylo, však můž
z těch vojákuov nětco jiné[h]o, nějakú ffikuru z zákona dáti vymalovati. A p[ro]tož, aby šel nyní
ku p[ro]daji a po p[ro]daji, aby p[ři]šel ku panu šephmistru a tu, což mu bude ozná[men]o, tí[m]
se sp[ra]ví. A j[es]t na to[m] zuostáno, podle vůle a psaní pana minc[mejs]tra, aby on i jiní, kteříž
k to[m]u radili, byli trestáni. Lorenc Kořenský pověděl, že to žertem pověděl a on Mášovi neroz
kazoval, než tak pověděl, kdyby byla má věc, že by dal Žižku namalo[va]ti. A po[něva]dž tak se
j[es]t dálo, tož má z[uo]stá[n]o býti. I am indebted to Mgr. Viktor Pohanka for finding and
transcribing the entry for me; the index of the book’s content is ibid. on fol. 11v: Matěj Máša
domluvu má, že dal na domě svém Žižku malovati [‚Matěj Máša was admonished that he had
his house painted with Žižka‘]; with the folio number and Žižka’s name erased; extract in J.
Šimek, Zprávy o starodávných malbách na domech kutnohorských [Accounts of the Ancient
Paintings on Houses in Kutná Hora], in: PAM 14 (1887–1889), col. 407 f.; re-printed in Id.,
Kutná Hora v XV. a XVI. století. Řada obrazů, pojednání a črt z kulturních a politických dějin
kutnohorských [Kutná Hora in the 15th and 16th Centuries. A Set of Images, Essays, and Studies
on the Cultural and Political History of Kutná Hora], Kutná Hora 1907, p. 226.
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264
Kateřina Horníčková
cause any trouble, rem. K. H.] with the painting, and that it would be an ornament to the city
because the house is on the corner and elsewhere in houses and churches Žižka is painted, and
that Lorenc, one of the councillors, himself gave him the advice [to paint Žižka, rem. K. H.]
[…]. But if it bothers the gentlemen or His Grace Master of the Mint he can easily whitewash
and destroy it. He was told [by the aldermen, rem. K. H.] that they do not want to prevent him
from decorating the house and that [the aldermen, rem. K. H.] were happy with it, but that
he should not paint Žižka because it would create tensions. He can have some other soldier
painted, [for example, rem. K. H.] another character from the [Old, rem. K. H.] Testament.
And that he should now go to do trade and after the trading he shall come back to the mayor
and do what he is told to. And it was agreed, according to the will and letter of the Master of
the Mint, that he [Máša, rem. K. H.] and others who advised him to do this should be punished. Lorenc Kořenský said that he recommended this [the figure of Žižka, rem. K. H.] to
Máša as a joke and that he did not command him, but he also said that if it was up to him he
would [also, rem. K. H.] have Žižka painted [on his house, rem. K. H.]. And so it happened,
and so it has to remain.‘
They argued that it was against the law of the land (proti zřízení zemskému), which
held that no religious community, Catholic or Utraquist, should insult or vituperate the other (dotýkati, ani ku potupě […] nedotýkati). Máša defended himself that
he had not known that he was doing anything illegal and listed the reasons why
he thought he was innocent: First, he thought that decorating his house would be
an honor to the town as it stood on a corner; second, he had seen other images of
Žižka depicted on houses and churches elsewhere; and third, one of the aldermen
had advised him to paint this motif on his house. If, however, it was against the
wishes of the town authorities he could paint over the painting or even destroy it.
The aldermen responded that they had nothing against the decoration of houses
as such, in fact the opposite, but he, Máša, should not show Žižka on his façade
as this would disturb the peace and lead to conflict in the town. He could have
“any other soldier [military leader, rem. K. H.] painted instead, any figure from
the Bible that complies with the law”.8 The councillor who gave Máša the advice,
Lorenc Kořanský,9 was also questioned about his advice to Matěj. He responded
8
9
Cf. note 7; the formulation z zákona [ ‘from the Testament’] in the text of the entry does not
make it clear whether the aldermen recommended that Máša paint a figure from the New or
Old Testament or whether they meant that painting any figure that complies with the law
would do. Personally, I incline to believing the first, as figures from the Old and New Testament were common on façades.
Lorenc Kořanský or Kořenský (Corczanský) is mentioned in the list of the aldermen for the
year 1539; SOkA Kutná Hora, AM KH, Městské knihy [Town Books], book no. 14 (Kniha
pamětní [Book of Memory of Kutná Hora], 1538–1541), fol. B22.
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Framing the Difference
265
that he had been joking when he said this to him, but if it were his house he would
have painted Žižka too. Subsequently, both Matěj and Lorenc were punished at
the request of the Master of the Mint, although the account does not give the
exact nature of this punishment.
Why were the authorities in Kutná Hora so concerned about an image of
Žižka on the façade when images of other military leaders were acceptable?
What could such an image on the façade of a town house have meant to the
fellow burghers in 1539? The answer must be sought in the legal conditions of
religious cohabitation in Bohemia. On one side, he was a positive symbolic figure for the Hussites and Utraquists, on the other side, the Catholic party naturally considered his figure an open insult. Publicly representing Žižka’s image
had been controversial before. When Enea Silvio Piccolomini (1405–1464),
later pope Pius II (1458–1464), reporting on his visit to Hussite Tábor/Tabor
to Cardinal Juan Carvajal (ca. 1400–1469) in a letter in 1451, he describes an
image of Žižka combined with another image of an angel with a chalice displayed on the main gate of the town, which he saw as proof of the burghers’
fallacy and heresy.10 In order to portray the Tábor burghers as perfidious, blasphemous, and heretical, Enea Silvio omits the recognition that the political and
memorial meaning of the images was to proclaim the communal identity of
Tábor (a community of the chalice professing the legacy of the ‘founder’ of the
town) and instead accuses the burghers of venerating Žižka’s image. In mid-fifteenth century Tábor the image of Žižka had served as a proud expression of
the communal identity of Tábor burghers based on religion, its past historical
role, and a nascent foundation myth (and as such it logically became a source of
indignation to the Catholic bishop). In 1539, however, the Kutná Hora town
authorities considered it a dangerous violation of the law of the land; they were
predominantly Utraquists, with the probable exception of the Master of the Mint
Albrecht of Gutštejn, who initiated the case.11 Around 1500, Žižka was a strong
symbolic figure for the Utraquists, reminding them of a glorious military past,
but also reminding Catholics of the Bohemian rebellion; both interpretations
10 Cf. K. Horníčková, Insider’s Visions (as note 4), pp. 123 f.; edition of the letter in: Der
Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, 3. Abt.: Briefe als Bischof von Siena, Bd. 1: Briefe
von seiner Erhebung zum Bischof von Siena bis zum Ausgang des Regensburger Reichstages
(23. September 1450–1. Juni 1454), T. 1: Privatbriefe, ed. R. Wolkan (FRA DA 68), Vienna
1918, pp. 22–57, no. 12.
11 Cf. Paměti Mikuláše Dačického z Heslova [Memoirs of Mikuláš Dačický of Heslov], ed. A.
Rezek, vol. 1 (PSLČ III/5), Prague 1878, p. XVI. Albrecht of Gutštejn was Master of the Mint
from 1534 to 1542 and often intrigued against the town council.
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266
Kateřina Horníčková
were revived each time a conflict arose.12 Although Kutná Hora was predominantly an Utraquist town, the town authorities there tried to subdue any individual public manifestation of denominational difference that the other party
could have considered a vituperation, harmful to the fragile balance of religious
cohabitation in the town.
When taking legal steps against Máša, the councillors referred to the legal constitution of the Vladislaus’s II (1471–1526) “Land Order” (1500), which states
in the chapter O hanění (“On vituperation”) that no verbal or painted ‘attack’
of either party was allowed between the two major religious parties in Bohemia
under the threat of a penalty:13
‘441. The provision of law found: As for the [cohabitation in, rem. K. H.] faith sub una and
utraque species, we shall not oppress each other, and be as one as good friends. If any discord
about any priests arises or of any other matter that concerns oppression in faith, it shall be raised
with the king, lords, and knights/gentry at the land court. Whoever would oppress anyone he
should come before the court without delay and the lords and knights corrected the matter […]
and any party shall not vituperate the other (and any party shall not paint anything to insult
the other; if any party would command a painting to insult the other, it to could be prosecuted
on grounds of vituperation’.14
12 Cf. J. Macek, Víra a zbožnost jagellonského věku [Faith and Piety of the Jagiellonian Age]
(Edice Každodenní život [Series Daily Life] 9), Prague 2001, p. 83.
13 Zřízení zemské Králowstwí českého za krále Wladislawa roku 1500 wydané [The Bohemian
Kingdom’s Land Order of 1500 issued under King Vladislaus], in: AČ, vol. 5, ed. F. Palacký,
Prague 1862, pp. 5–266, here pp. 211 f., chpt.: O hanění / De Infamacione, art. 441. In the Czech
original (1500) as well as in the Latin translation (1527) of the whole Land Order by the lawyer
and Catholic humanist Racek Doubravský of Doubrava/Roderich Dubravius (ca. 1470/72–
1547) for the new elected king of Bohemia Ferdinand I (1526–1564); full text at https://
sources.cms.flu.cas.cz/src/index.php?s=v&action=jdi&cat=10&bookid=1067&page=211&action_button.x=0&action_button.y=0 (last accessed: 2020/03/18).
14 Ibid.: 441. Nalezli wuobec za práwo: Což se wiery dotýče pod jednú spuosobú a pod oběma, aby
chom se neutiskali, než spolu byli za jednoho člowěka, jako dobří přátelé. Pakliby jaká ruoznice
očkoli o jakékoli kněžie znikla neb o jiné wěci, což se útiskouw wiery dotýče, aby to wznešeno bylo
na krále a na pány a wládyky w saudu zemském. A ten, kdožby komu nátisk učinil, aby před
saudem zemským bez puohonu stál, a tu aby páni a wládyky tu wěc napravovali. […] A strana
strany ať nehanie (a strana straně k potupě nemaluj; pakliby která strana malovati kázala k potupě
druhé straně, muože jí pohnati též jako o haněnie) / 441. Pro iure constitutum est: quod pertinet
ad fidem sub una specie et sub utraque, ut nos inuicem in hoc non persequeremur, sed potius ut
essemus pro uno homine, uti amici boni. Si tum aliqua dissensio ob quascunque res aut quales
cunque exoriretur in hoc, quod pertinet ad persecutionem mutuam fidei, ut tunc id mox signifi
caretur ac perferrent ad regiam maiestatem et ad barones et equestres in regni iudicio; et is, qui
alteri ob fidem oppresionem intenderet facere, ut ante iudicium regni absque citatione compareret,
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Framing the Difference
267
This legal constitution was based on the first article of the earlier institution, the
Religious Peace Treaty of Kutná Hora, signed in March 1485, which had settled
the religious conflict re-ignited by the Prague Uprising of 1483.15
The Religious Peace Treaty of Kutná Hora and the “Vladislaus’s Land Order”
as the law of the land provided a sufficient basic legal framework for religious
cohabitation in Bohemian towns on the local and individual level; the urban laws
thus needed to regulate only issues related directly to urban religious life. This
(and the fact that urban law collections were often based on earlier pre-Hussite
models) may have caused a certain hesitation in the contemporary town legal collections, where the matter was only established slowly. Contemporary with these
events in Kutná Hora, the urban law collection “Práva městská” (1536) by Brikcí
z Licka/Briccius of Licko (ca. 1488–1543) required new burghers to accept both
the religious and secular customs of the town, especially in terms of conversion to
the dominant faith (for the major towns in Bohemia this meant sub utraque, the
communion of corpus Christi and Blood under both species),16 to avoid insulting
anyone when renovating a house,17 and set a fine of 5 pounds ( funtů) for disturbing the peace through offensive speech, including in religious matters.18 A similar
regulation on joining the prevalent (or a particular) denomination in the town
15
16
17
18
et domini ut hanc rem in integrum restituerentet corrigerent. […] Ne pars una alteram partem
infamaret, neue pars in contumeliam partis aliquid pingat; si autem id fieret, quod pars una in
contemptum partis alterius quid pingere faceret, potest tunc eam citare sicut pro infamatione.
Cf. Akta weřejná i sněmowní w Králowstwí českém od r. 1453 do 1490 [Public and Diets’
Protocols in the Bohemian Kingdom from 1453 to 1490], in: ibid., vol. 4, ed. F. Palacký,
Prague 1846, pp. 413–525, here pp. 512–516, no. 28 (Zápis sněmu Kutnohorského o pokoji
a swobodě náboženstwí w Čechách [Resolution of the Kutná Hora Diet on Religious Peace
and Freedom in Bohemia]); full text at https://sources.cms.flu.cas.cz/src/index.php?s=v&action=jdi&cat=10&bookid=795&page=512&action_button.x=0&action_button.y=0 (last
accessed: 2020/03/18); on the Prague uprising, cf. F. Šmahel, Pražské povstání 1483 [The
Prague Uprising of 1483], in: PSH 19 (1986), pp. 35–102.
Cf. M. Brikcího z Licka Práva městská. Dle textu z r. 1536 [M. Briccius’s of Licko Town Laws.
Based on its Text of 1536], eds. J. Jireček / H. Jireček, Prague 1880; here p. 25, art. 48:
[…] srovnati v řádích duchovních i světských, a zvláště v přijímání těla a krve Pána Krista pod
obojí zpuosobau / ‘[…] to unite in spiritual and secular matters, and in particular in receiving
the body and blood of the Lord Christ under both kinds‘. Full text at https://digi.law.muni.
cz/handle/digilaw/14200 (last accessed: 2020/03/18).
Cf. ibid., p. 31, 62, chpt. 5, art. 1.
[…] zaviněnie slov, jako jest rauhánie neb svědectvie jazyka […] / ‘[disturbing the peace, rem.
K. H.] through words such as blasphemy or offence by language […]‘; ibid., p. 256, chpt. 47,
art. 4; cf. to “Vladislaus’s Land Order”: chpt.: O hanění / De Infamacione; Zřízení zemské, ed.
F. Palacký (as note 13).
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268
Kateřina Horníčková
was issued in the statutes for professional corporations and confraternities.19 This
shows the eminent effort of the town elites to discipline any dissent that would
deviate from the locally dominant denomination.
With the spread of the German (especially Lutheran) Reformation and further religious fragmentation during the sixteenth century, the problem of potentially offensive public religious communication intensified. In 1579–1581, Pavel
Kristián Koldín’s (1530–1589) “Town Laws” (“Práva městská”) confirmed the
“Vladislaus’s Land Order” formulation and expanded them in a specific subchapter De injuria / O zhanění: “One shall not vituperate another in painting, or due
to faith. Whoever would perpetrate this, will be punished by a fine either under
the complaint on damage of honor or vituperation.”
The gravity of the offense guided the punishment; in the case of an offense
against honor, it was damnation, prison, a monetary fine, and compensation for
the inflicted. In lighter cases of vituperation the fine was set to ten schock (kopa)
of coins and a week in prison, or – if the incumbent was insolvent – three months
in prison.20 Similarly to “Vladislaus’s Land Order”, paintings were seen as relevant
in social and confessional communication in Koldín’s “Town Laws”.21 The law
affected primarily public images in the town.
The legal framework was set up to put limits on conflicting religious symbols
and imagery displayed in the urban space. This clearly shows that in spite of urging
the peaceful cohabitation of denominations in the town (which in practice often
meant the hegemony of one party, either Utraquists or Catholics), the potential
for public indignation or a local conflict was high and began to increase around
1600.22 Growing denominational diversity and latent conflict, however, led to a
19 Cf. H. Pátková, Bratrstvie ke cti Božie. Poznámky ke kultovní činnosti bratrstev a cechů ve
středověkých Čechách [Confraternities in Honor of God. Notes on Ritual Activity of the Bohemian Medieval Confraternities and Guilds] (CML (RB) 5/1), Prague 2000, pp. 85–87.
20 Jeden druhému ku potupě nic malovati, ani pro víru jeden druhého haněti nemá. Kdožby se toho
dopustil, pokutau buď za nářek cti aneb za zhanění strestán bude; Práva městská Království
českého a Markrabství moravského spolu s krátkou jich sumou od Pavla Krystyana z Koldína
[Pavel Kristián’s of Koldín Town Laws of the Kingdom of Bohemia and Margraviate of Moravia
along with their Brief Summary], ed. J. Jireček, Prague 1876, p. 370, art. R. VI.; cf. further
Z. Marethová, Trest na cti [Punishment on the Honor of the Person], unpublished Master’s Thesis at the Faculty of Law, Masaryk University Brno 2012/13, p. 59, fn. 265; full text
at https://is.muni.cz/th/h7vva/Trest_na_cti.pdf (last accessed: 2020/03/18).
21 For the legal framework against vituperation through images, cf. previously M. Šroněk,
Obrazy u soudu [Images at court], in: D. Prix (ed.), Pro arte. Sborník k poctě Ivo Hlobila
[… FS in Honor of Ivo Hlobil], Prague 2002, pp. 299–302, esp. pp. 300 f.
22 For extreme situations, cf. J. Hrdlička, Víra a moc. Politika, komunikace a protireformace v předmoderním městě ( Jindřichův Hradec 1590–1630) [Faith and Power. Politics,
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Framing the Difference
269
counter-current-repeated formulation of the idea of concord among religious
and political parties in the town. The idea of the religious (as well as political)
cohesion of the community was reflected in the iconography of objects and in
urban space; e. g., the Classical theme of concordia took on a specific religious tint
in Bohemia and entered the iconographic repertoire of Utraquist hymn books.23
Urban monuments communicating religious affiliation
In the fifteenth and sixteenth centuries, public denominationally loaded images and
symbols are documented in many Bohemian and Moravian towns, among them
Utraquist Prague, Kutná Hora, Tábor, Litoměřice/Leitmeritz, Hradec Králové/
Königgrätz, Slaný/Schlan, Velké Meziříčí/Groß Meseritsch, Louny/Laun, Písek/
Pisek, and Nový Bydžov/Neubidschow, and Catholic Olomouc/Olmütz, Brno/
Brünn, and Jindřichův Hradec/Neuhaus.24 Inscriptions and images expressing
denominational content were not only depicted on the façades of private houses
in Kutná Hora, but also in such diverse towns as Prague, Tábor, Litoměřice, and
Slavonice/Zlabings,25 in spite of legal measures against this loaded form of expression. Other images were used in the interiors of houses and town halls.26 A number
of the Reformation monuments that caused indignation in the Counter-Reformation were funeral memorials, e. g., tombstones of non-Catholic priests and
23
24
25
26
Communication, and Counter-Reformation in a Premodern Town ( Jindřichův Hradec,
1590–1630)] (MH 14), České Budějovice 2013; Id., Public Expressions (as note 4); overview
in Z. Winter, Život církevní v Čechách. Kulturně-historický obraz z XV. a XVI. století [The
Church Life in Bohemia. A Cultural-Historical Depiction from the 16th and 17th Centuries],
vol. 1, Prague 1895, pp. 213 ff.; Zikmund Winter characterises the situation around 1600
pointedly as: ‘[in Bohemia, rem. K. H.] a bloody religious storm was on the brink all the time.
Where the Catholics were in the majority, there they oppressed the Protestants, where the
Protestants were a majority, there the Catholics were put under duress’. Ibid., p. 214.
Cf. M. Šárovcová, Svatopluk varující své tři syny před nesvorností jako obraz konfesní situace v Čechách? [‘Svatopluk Warning his Three Sons Against Discord’ as a Depiction of the
Confessional Situation in Bohemia?], in: K. Horníčková / M. Šroněk (eds.), In puncto
religionis (as note 4), pp. 205–216, esp. pp. 211 ff.
I listed the monuments in the works mentioned in note 4; for more, cf. Z. Winter, Život
církevní, vol. 1 (as note 22); of these images only a few fragments are preserved today, which
makes it difficult to assess the impact of public denominational communication through images.
For Slavonice, cf. Z. Míchalová, Self-Presentation (as note 4), pp. 198, 200.
For Lutheran motifs in the interiors of Slavonice urban houses, cf. ibid., p. 202; for the interior
of the Tábor town hall, cf. K. Horníčková, Insider’s Visions (as note 4), pp. 130 ff.
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270
Kateřina Horníčková
Italian bishops who consecrated Utraquist priests or epitaphs of non-Catholic
noble or burgher families.27
Towns became increasingly fragmented over the course of the sixteenth century.
Besides insisting on a good presentation of the town and houses,28 the lords, and
the urban elite exercised direct influence on their burghers in denominational
matters. In the seigneurial towns, the nobility either tolerated and protected
dissenting groups (the existence of two or more separate religious communities
within the town could be reflected in the territorial delineation in the topography
of the town)29 or intensified pressure to make the burghers comply with the preferred faith, which inevitably grew into open conflict that often had a symbolic
dimension.30 Topography and memory were increasingly used for symbolic territorial gains in the expansion of Catholics around 1600; commissions of artworks
by prominent Catholic figures went to places in order to revive the memory of
their Catholic past.31
As noted above, the symbol of the chalice was the key expression of Utraquist
identity; its essential meaning was established from the theological perspective
as a symbolic reference to communion under both kinds.32 The chalice (sometimes with the host and the inscription weritas vincit that was used by Hus as
early as 1413) belonged to the popular Hussite symbolic repertoire,33 along with
images of John Hus (ca. 1370–1415), Žižka, and other figures of the Bohemian
27 For the confessional controversy over epitaphs, cf. O. Jakubec, Epitaphs (as note 4), pp. 253 ff.
28 Cf. P. Vorel, Rezidenční vrchnostenská města v Čechách a na Moravě v 15.–17. století [Seigneurial Bohemian and Moravian Residential Towns from the 15th to the 17th Centuries],
Pardubice 2001, p. 194.
29 Cf. K. Horníčková / V. Polnická, Symbolická komunikace v poddanském městě za
konfesionalizace. Fundace náboženských památek v Dačicích v 16. až 17. století [Symbolic
Communication in Seigneurial Town in the Confessionalisation Period: On the Patronage
of Religious Monuments in Dačice in the 16th and 17th Centuries], in: Kuděj 19, no. 2 (2018),
pp. 129–156.
30 Examples of such conflicts, cf. in: Z. Míchalová, Self-Presentation (as note 4); J. Hrdlička,
Víra (as note 22); Id., Public Expressions (as note 4).
31 Cf. M. Šroněk, De sacris imaginibus. Patroni, malíři a obrazy předbělohorské Prahy [… Patrons, Painters and Images in Prague before the Battle of White Mountain] (Opera minora
historiae artium 5), Prague 2013.
32 For the constitution of Utraquist identity in public space, cf. first M. Bartlová, Původ
husitského kalicha z ikonografického hlediska [The Origin of the Hussite Chalice: A Study
in its Iconography], in: Umění [Arts] 44 (1996), pp. 167–183; and my works, cf. note 4.
33 These are images of lay instruction rather than veneration; the chalice is not dissimilar to what
Robert W. Scribner (1941–1998) calls “minimale Bildlehre” in German Reformation; R.
W. Scribner, Das Visuelle in der Volksfrömmigkeit, in: Id. (ed.), Bilder und Bildersturm
im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (WF 46), Wiesbaden 1990, pp. 9–20, here p. 11.
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Framing the Difference
271
Reformation. Although it was appropriated from (Catholic) Christian imagery
of the Eucharist, it became a Hussite visual statement by 1432 at the latest, when
it was used on a banner during their embassy to Basel; there are reports of the
indignation this symbol incited in Nurnberg/Nürnberg.34 It is apparent that even
before the political consolidation of the official double faith in 1485, the chalice
was also viewed as a political symbol of Utraquist communities.35 Evidence of
this is, e. g., the representative decorative pavise shield from Kutná Hora, where
the chalice is placed demonstratively above the figure of St. Wenceslas and the
entire unit is lined with the text of a Hussite song.36 (Fig. 1) The chalice was
depicted on gates, façades and interiors of churches, townhalls, fortifications,
microarchitecture, and façades and interiors of private houses (e. g., on stove
tiles).37 As pars pro toto, the front of the Our Lady of Týn church in Prague
displays the enthroned statue of George of Poděbrady (1458–1471) with a sword
and gilded chalice,38 and the inscription weritas vincit. The church’s twin towers,
34 Cf. F. Šmahel, Die Hussitische Revolution, translation from Czech into German by Thomas
Krzenck, 3 vols. (MGH Schriften 43), Hannover 2002, vol. 3, pp. 1561–1563; as early as 1420
it identified Hussite warriors, cf. M. Bartlová, Pravda zvítězila. Výtvarné umění a husitství 1380–1490 [The Truth Prevailed. The Hussite Movement and Visual Arts, 1380–1490],
Prague 2015, p. 103.
35 Cf. the latest overview ibid., p. 101; on chalices on important church fronts (Corpus Christi/
kaple Božího Těla/Fronleichnamskapelle in New Town Prague/Nové Město pražské/Prager
Neustadt, Týn Church/Týnský chrám/Teynkirche in Old Town Prague/Staré Město pražské/
Prager Altstadt): ibid., p. 103; in general on the symbol: ibid., pp. 99–111; cf. also note 30
above.
36 Cf. M. Bartlová, Pavéza města Kutné Hory se sv. Václavem [Pavise Shield of the Town Kutná
Hora with St. Wenceslas], in: K. Horníčková / M. Šroněk (eds.), Umění české reformace
(as note 4), p. 204, Cat. no. VI/9.
37 Utraquist stove tiles motifs are: a priest blessing the chalice, Christ blessing the chalice, a chalice on St. Wenceslas’ flag, a chalice between the angels.
38 Cf. P. Hrachovec, O obrněných vážkách a opilých tyranech. Třicetiletá válka v soudobých
žitavských městských kronikách [On Armoured Dragonflies and Drunken Tyrans. Thirty-Year War in Contemporary Zittau Town Chronicles], in: O. Fejtová / V. Ledvinka / M.
Maříková / Jiří Pešek (eds.), Historiografie s městem spojená. Historiografie o městech
a historiografie ve městech / Historiography connected with cities. Historiography of cities
and in cities (DP 37), Prague 2018, pp. 457–478, here pp. 475 f., fn. 48; P. Hrachovec / J.
Zdichynec, Der Dreißigjährige Krieg im Spiegel der zeitgenössischen Zittauer und Laubaner
Chroniken bis zum Übergang der Oberlausitz von Böhmen an Kursachsen (1618–1635/37),
in: L.-A. Dannenberg / M. Müller (eds.), Studien zur Stadtchronistik (1400–1850).
Bremen und Hamburg, Oberlausitz und Niederlausitz, Brandenburg und Böhmen, Sachsen
und Schlesien (Beihefte zum Neuen Lausitzischen Magazin 20), Hildesheim/Zürich/New
York 2018, pp. 151–272, here pp. 264 f., fn. 208.
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272
Kateřina Horníčková
together with other traditional Gothic forms, became a characteristic feature
of Utraquist church façades.39 With the establishment of the Utraquism in the
mid-fifteenth century (George of Poděbrady seized Prague 1448) the chalice’s
symbolic function took on increased importance, serving to communicate its
religious hegemony in the town. With the chalice the dominant symbol, publicly presented denominational iconography comprised also satirical images – on
the house of Vaněk Valečovský of Kněžmost/Fürstenbruck († 1472) in Prague,
anti-Brethren inscriptions (in Hradec Králové), and memorial objects (in Tábor),
and portraits of Luther (in Slavonice).
The Catholics, too, looked for symbols to bind them together in this divided
society. They lacked strong unifying symbols such as the chalice and John Hus,
however; the symbol of the cross was used, but it was not perceived as exclusively
theirs until the archbishop banned its use by Protestants in 1605.40 Other Catholic
symbols were either too specific or local and had limited impact. Visual reference
to the Virgin Veil, the famous Prague relic, lessened by the mid-fifteenth century,41
the keys of St. Peter referred to papal obedience, and the figure of a camel in the
coats of arms of Catholic Plzeň/Pilsen, commemorating the successful defence
of the town against the Hussites, was tied to this specific event in history of the
town. The symbol of the Eucharist as the host in a monstrance, the Virgin of the
Apocalypse or Immaculata, and St. Michael fighting the devil did not take on
Counter-Reformation meaning in Bohemia until the seventeenth century. Only
the use of the Franciscan Observant (Bernadine) yhs symbol in the Bohemian
towns in the footsteps of John of Capistrano’s (1386–1456) mission can be seen
as an attempt at an adequate visual response to the appropriation of the chalice in
the Hussite and Utraquist environments,42 but it was used only locally in towns
39 Cf. P. Vlček, Bohemian Protestant Church Architecture, in: K. Horníčková / M. Šroněk
(eds.), From Hus to Luther. Visual Culture in the Bohemian Reformation (1380–1620) (MCS
33), Turnhout 2016, pp. 143–164, here p. 145.
40 Cf. Z. Winter, Život církevní, vol. 1 (as note 22), p. 235.
41 Cf. M. Šroněk, The Veil of the Virgin Mary. Relics in the Conflict between Roman Catholics and Utraquists in Bohemia in the 14th and 15th Centuries, in: Umění [Arts] 57 (2009),
pp. 118–139.
42 Cf. I. Hlobil, Bernardinské symboly Jména Ježíš v českých zemích šířené Janem Kapistránem
[The Bernardine Symbols of the Holy Name of Jesus Impetrated by John of Capistrano in the
Bohemian Lands], in: Umění [Arts] 44 (1996), pp. 223–234; A. Kalous / J. Stejskal, The
Image of John of Capistrano in Bohemia and Moravia, in: L. Pellegrini (ed.), The Mission
of John Capestrano and the Process of Europe Making in the 15th Century: State of the Art
in the History and Historiography of Danube and Balkan Europe, Rome (forthcoming); J.
Stejskal, A Catholic City in the Hussite Era, 1400–1450s, in: A. Kalous (ed.), The Transformation of Confessional Cultures in a Central European City: Olomouc, 1400–1750 (Viella
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Framing the Difference
273
Fig. 1: Pavise from Kutná Hora with
St. Wenceslas, tempera on wood and
animal skin, ca. 1480–90 [Národní
museum Praha/The National Museum
Prague, inv. no. H-482, Foto: Národní
muzeum].
with Franciscan Observant foundations. This symbol was displayed on houses
(in Olomouc) and city gates (in Brno) as not only denominational but also an
apotropaic symbol. The Catholics also made use of the traditional pattern of symbolic identification through the figure of a saint, trying to foster specific cults (St.
Wolfgang, St. Leonard the 14 helpers, St. John of Capistrano, monastic saints).
Records even describe the public exhibition of a mocking image of the chalice
that the Catholics used in Counter-Reformation agitation.43
Historical Research 2), Rome 2015, pp. 23–39, esp. p. 38; for the conflict, cf. J. Chlíbec,
The Contest between the Utraquist Chalice and the Bernardino Sun, in: Umění [Arts] 61
(2013), pp. 494–519, esp. pp. 509 f. (with reservations owing to the author’s uncritical handling of the sources). The cult of saints was, however, by no means only Catholic practice. The
Utraquists appropriated for themselves the Virgin Mary, the Bohemian patron saints, and a
selection of other saints and used their images in churches and manuscripts in religious, and
even political contexts.
43 Cf. Historia Profana. Historia o těžkých protivenstvích [… History of the Grievous Tribulations]. Historia persecutionum, in: Dílo Jana Amose Komenského / Johannis Amos Comenii
opera omnia, vol. 9/1, ed. J. Popelová, Prague 1989, p. 401.
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274
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Fig. 2: Altarpiece from St. James Church in Slavětín, tempera/oil tempera on wood and
canvas, silver (washgold), ca. 1450s [Národní museum Praha/The National Museum Prague,
inv. no. H-3.915, Foto: O. Trmalová].
Most of artworks commissioned by the Utraquists were made for churches. In
the Hussite period, manuscripts and accounts of portable images yield information about artistic production in the revolutionary period.44 After the mid-fifteenth century, monumental works were commissioned for churches, including
new church façades, murals, and altarpieces, (Fig. 2) liturgical equipment, hymn
books (graduals), gravestones, and, in the sixteenth century, epitaphs. It should be
noted that some of the most prominent commissions were completed for Utraquist
urban churches during the second half of the fifteenth and early sixteenth century:
44 Cf. P. Kropáček, Malířství doby husitské. Česká desková malba prvé poloviny XV. století
[The Painting of the Hussite Era. The Bohemian Panel Painting in the First Half of the 15th
Century], Prague 1946; M. Bartlová, Poctivé obrazy. Deskové malířství v Čechách a na
Moravě 1400–1460 [Virtuous Images. The Bohemian and Moravian Panel Painting, 1400–
1460], Prague 2001, pp. 56 f., 158 ff.; Ead., Pravda zvítězila (as note 34), p. 103; Iluminované
rukopisy doby husitské [Illuminated Manuscripts of the Hussite Era], eds. K. Stejskal / P.
Voit, Prague 1990.
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Fig. 3: Matěj Rejsek’s (ca. 1445–
1506) carved canopy over the grave
of Bishop Augustin Luciani da
Mirandola (ca. 1450–1493) in Virgin Mary of Týn Church, Prague,
after 1493, inv. č. E2498 [Fototéka
Ústavu dějin umění AVČR/Photo
bank of the Institute of Art History.
The Czech Academy of Sciences,
Foto: Josef Ehm].
e. g., the representative façade and interior of the Týn church in Prague, and the
church of St. Barbara in Kutná Hora. Large construction projects in churches in
Louny, Slaný, or Tábor culminated around 1500, making claims to the past by
referring to Parlerian forms such as net vaulting. (Fig. 3) Similar appropriation
of the past appeared in the use of typological parallelism in the decoration of
Utraquist hymn books.45 Representative buildings such as the town halls in Old
Town Prague and Tábor, as well as the fountain in Hradec Králové and other
secular monuments were also created in this period, when art for the Utraquists
flourished under Jagiellonian rule.
A specific Utraquist hagiographic iconography of St. John Hus and the Bohemian
martyrs had been established by this period (Fig. 4)46 and typical liturgical objects
45 Cf. M. Šárovcová, Ikonografie česky psaných utrakvistických graduálů [Iconography of the
Czech Written Utraquist Graduals], unpublished PhD. Dissertation at the Faculty of Arts,
Charles University Prague 2011, p. 11; full text at https://is.cuni.cz/webapps/zzp/detail/25054
(last accessed: 2020/03/18).
46 The best overview of the ‘manifested difference’ of Utraquism is M. Bartlová, Pravda zvítězila
(as note 34); focusing, however, on the period before Martin Luther (1483–1546); on the cult
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Kateřina Horníčková
Fig. 4: Predela of altarpiece Ascension of Christ from Chrudim, tempera on wood, ca. 1500
[Regionální museum v Chrudimi/Chrudim Regional Museum, inv. no. U-46, Foto: J. Gloc].
were commissioned, among them spoons for children’s communion and large chalices with a spout for serving mass to the community only one of which has been
preserved. (Fig. 5a und 5b) Most of the objects commissioned for the Utraquist
churches, however, bore no distinctive or openly denominational meaning (e. g.,
their preferred motifs of the Last Supper, the Man of Sorrows). There is also nothing
like an exclusive ‘Utraquist formal language’ or ‘type’ in these artworks; Bohemian
late Gothic is the formal style idiom in which these objects are rendered. In some
cases, the iconography of the objects contained a faint indication of their denominational affiliation, e. g., denominationally-tinted details (a newly established iconography of Christ blessing a chalice). The denominational ‘message’ of these works
can only be read in the context of local religious practice and the socio-religious
context of the particular community. The objects often express a complex notion
of urban communal identity in which religion (denomination) represented only
one cohesive (or disruptive) force, but one with strong affective impact.47
Utraquist Eucharist iconography was inherited from the devotional movements of the fourteenth century and the Hussites. Although the issue of remanence (the presence of Christ’s body in the host) in Utraquism had been resolved,
of saints in Utraquism, cf. O. Halama, Otázka svatých v české reformaci. Její proměny od doby
Karla IV. do doby České konfese [The Issue of Saints in the Bohemian Reformation. Its Transformations from the Charles IV Era to the Epoch of “Confessio Bohemica”] (Pontes Pragenses 19),
Brno 2002 (for texts); and K. Horníčková, Martyrs of “Our” Faith: Identity and the Cult of
Saints in Post-Hussite Bohemia, in: N. H. Petersen / A. Mänd / S. Salvadó / T. R. Sands
(eds.), Symbolic Identity and the Cultural Memory of Saints, Newcastle/Tyne 2018, pp. 59–90.
47 For the methodological background I am indebted to the Austrian FWF-SFB project 42
“Visions of Community”, whose methodology is summarised in C. Lutter, Comparative
Approaches to Visions of Community, in: Hist Anthropol 26 (2015), pp. 129–143; for multiplicity of identifications, cf. ibid., p. 136; for affective aspect, cf. ibid., p. 140.
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Framing the Difference
Fig. 5a: Large Communion (?) chalice
with a spout from Kadaň, left lower
register on the historical photo of the
exhibition in 1957, gilded copper,
height 38 cm, ca. 1520 [Archiv Oblast
ního muzea v Litoměřicích/Archive of
Litoměřice Regional Museum, inv. no.
SV 178].
Fig. 5b: Large Communion(?) chalice
with a spout from Kadaň, stolen
from the museum between 1997 and
2004, gilded copper, height 38 cm,
ca. 1520 [Archiv Oblastního muzea
v Litoměřicích/Archive of Litoměřice
Regional Museum, inv. no. SV 178].
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277
278
Kateřina Horníčková
Fig. 6: Gravestone of the Bishop
of the Unity of the Brethen Matouš Konečný (ca. 1569–1622),
New Brethren cemetery, nad
Orlicí, sandstone, ca. 1622 [Mu
seum Mladoboleslavska/Mladá
Boleslav Regional Museum, Foto:
P. Sosnovec].
it was challenged around 1500 and in the first half of the sixteenth century by
the Unity of the Brethren, which infiltrated urban space (visually) since before
1550 with buildings of their congregation houses and sepulchral monuments.48
(Fig. 6) The Unity and other sects threatened the fragile balance of Bohemian
religious coexistence, inheriting the radicalism of the Taborites, among others, in
their strict position on images, the denial of God’s representation, and teaching
of remanence. It is no coincidence that the Utraquists commissioned a growing
number of monumental altarpieces with the Eucharist tabernacle in the period
between around 1500 until the 1540s. This period of the flourishing of Utraquist
monumental art coincided not only with the consolidation of Utraquism in terms
of the visual display of identity, but also with the public emergence of the Unity
of the Brethren, Lutherans, and other dissenting religious groups, and the need
for religious group identification, which affected the royal towns, which were
bastions of Utraquism in particular.
Typical markers of Utraquist religious culture are reredos showing a Eucharistic iconography of the angelic tabernacle, (Fig. 7) inspired by stone tabernacles
48 Cf. P. Vlček, Bohemian Protestant Church Architecture (as note 39), pp. 148 f.
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Framing the Difference
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Fig. 7: Altarpiece from St. James
Church in Libiš, tempera on wood, ca.
1500 [Římskokatolická farnost/Roman
Catholic Parish Neratovice, Foto: J.
Gloc].
in the walls of churches. The last items of this type of altarpiece were commissioned between the 1530s and 1540s (Fig. 8) and represent the last flowering
of monumental Gothic reredos in Bohemia. Their anachronistic form may be
understood as clinging to their own tradition while challenged by the spread
of the German Reformation. The Unity ‘sect’ denied any holy substance in the
consecrated host and thus denied the need to preserve and adore the Host in the
church. The Lutherans were generally less radical and held that transubstantiation happens only in the context of the mass, however, preserving the Host in the
church outside the mass (as the Utraquists did) made no sense to them as well.49
In a way, these reredos with the tabernacle, demonstrating an exposed Eucharist
49 In many Lutheran regions, however, the position on tabernacles as well as other church equipment and material objects of piety was decided by local communities or authorities, which
led to much more diverse attitudes among the religious communities than suggested by their
theological works, as shown in P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen (1300–1600).
Zum Wandel religiöser Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig 2019, pp.
48 f.; for keeping the Host in pyxides after the mass by Zittau Lutherans, cf. ibid., p. 412, fn.
443, p. 632, fn. 270. I am indebted to the author and editor of this volume for pointing out
to me his latest work.
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Kateřina Horníčková
Fig. 8: Altarpiece from Černěves, tempera on wood, ca. 1540 [Oblastní muzeum v Lito
měřicích/Litoměřice Regional Museum, inv. no. 346 (Dop-024), Foto: Pavlína Gutová].
(or implying a true presence of Christ in a tabernacle through a representation of
Man of Sorrows, a clear anti-remanence reference), could be understood as visual
statements of Utraquist orthodoxy threatened by these ‘novelties’.
These objects once communicated the religious self-determination of the
Utraquists. A relatively large number of Utraquist works that survived the cleaning of churches of works of the previous period by the Catholics between 1620
and 1624, however, testifies to the acceptability of these works in Catholic church
interiors after their original denominational background was cloaked with new
meaning. One reason, why this could happen, is that art for the Utraquists was
firmly rooted in the past. The Utraquists saw themselves as a natural continuation of the Bohemian medieval church, which meant that they did not aspire to
invent new forms; the traditional forms were perfectly suitable to their needs.
Conforming to a medieval theory of image and late medieval Eucharistic and
Christocentric traditions,50 insisting on local tradition, and refusing novelties of
50 Church fathers and religious authorities – Pope Gregory the Great (590–604), Gratian (ca.
1100–1160) – quoted in the Articles on the “Keeping of Compactates of 1437”, cf. M. Šroněk,
Artikulové smluvení na držení kompaktát a teorie náboženského obrazu v době pohusitské
[The Articles of the Compactate Accord and the Theory of Religious Images in the Post-Hussite
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Framing the Difference
281
style or foreign inspiration makes Utraquist art appear backward-looking and
conservative.51 From the point of view of style it would be a mistake to label as
‘early modern’ works with a late medieval form that were made for the Utraquists.52
Works for the Utraquists in the first half of the sixteenth century were made to
look back to the Gothic tradition and resisted any effort to render visible any
threshold between medieval and early modern times. As Milena Bartlová has
pointedly noted, the fundamentals of Utraquist religious practice were laid down
before the invention of book printing, still in the spirit of Central European late
medieval idiom.53 This anchored Utraquist religious practice and communication
in the traditional format, keeping images as important media of religious practice
and communication. This appropriation of Bohemian church tradition defined
Czech Utraquism against newly arrived denominations.
Judging by the preserved material, the flourishing of Utraquist commissions in
the first half of the sixteenth century seems to be followed by a sudden hiatus in
monumental forms of altar structures in the second half of the sixteenth century,
the period when Bohemian Utraquism split into lutheranized and conservative
blocks. From the style point of view, the rare preserved works and fragments point
to a radical break with the late medieval tradition prevalent to this point (Fig. 9),
although Utraquist, as well as traditionally Catholic iconography motifs lived on.
(Fig. 10) We observe a change from medieval to the ‘modern’ Renaissance forms
and tendency to narrowing the iconography to a limited number of Christological
Period], in: Umění [Arts] 58 (2010), pp. 384–387. In line with the authorities, the text frames
the acceptable functions for Utraquist religious images: instruction, commemoration, and
emotional effect. The document also states that art should focus on themes related to Christ’s
sacrifice and glory.
51 The problem of anachronism of these works reaches far beyond the extent of this study and
represents a broader problem, epitomized by A. Nagel / C. S. Wood, Anachronic Renaissance, New York 2010; Utraquists were not the only non-Catholic Church that claimed the
tradition of the medieval Church for themselves; in fact conscious references to the ‘their’
past were typical for all new denominations, including the Bohemian Utraquists, Lutherans
and the Unity of the Brethren. As Petr Hrachovec pointed in his comment to this text, my
description of Utraquism applies to the Lutherans as well. In Bohemia, however, when the
Lutherans met with conservative Utraquism, they were pushed towards more radical position
of a ‘modern’ denomination.
52 Cf. M. Bartlová, Renaissance and Reformation in Czech Art History: Issues of Period and
Interpretation, in: Umění [Arts] 59 (2011), pp. 2–19.
53 Cf. Ead., Pravda zvítězila (as note 34). Her medievalist’ perspective is twisted by her Marxist view on the Hussites, projecting Hussite ‘radicalism’ to Utraquism, cf. my critical review
K. Horníčková, [review of ] Milena Bartlová, Pravda zvítězila. Výtvarné umění a husitství
1380–1490, Praha, Academia 2015, in: ibid. 65 (2017), pp. 293 ff.
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Kateřina Horníčková
Fig. 9: Transfiguration altarpiece from St. James Church in Slavětín, (oil?) tempera on
wood, ca. 1571 [Národní museum Praha/The National Museum Prague, inv. no. H2-60802,
Foto: O. Tlapáková].
and dogmatic themes – although it is too early to make clear conclusions from
a very limited number of works. It seems that when Utraquism was profoundly
transformed by influence from the European, in particular Lutheran Reformation, Bohemia finally opened to a new religious vision, accepted new forms,
different compositions, and subjects. The style of these works is a conservative
offshoot of late Renaissance (Mannierist) forms that conserve late Gothic elements in spatial and figural construction or compositions framed in Renaissance
architectural frames. The images often ignore spatial depth, and are smaller in
format, the altarpieces are decorated by small, stiff figures that do not communicate with the viewer. Overwhelmingly decorated Renaissance frames dominate
these works as they would communicate their decorative rather than appellative
or cultic function.54 Later, during the Counter-Reformation, this recognizable
54 It is this emotionally-void art, to which the Catholic commissions reacted after 1600, cf. M.
Šroněk, Proměna vizuality obrazu v době rané protireformace [The Transformation of
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Framing the Difference
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Fig. 10: Burning of St. John Hus, mural painting from Church of St. Wenceslas, Písek,
fresco, after 1560 [Institute of Art History, Czech Academy of Sciences, Foto: M. Mádl].
formal difference led to the identification of this style with Protestantism, this
often leading to the destruction of the works together with the memory of their
commissioners. Medieval systems of decorating graduals slowly declined in this
period and the number of private commissions of sepulchral monuments and
epitaphs increased.55
Some commissions suggest that the religious background of the works was as
complicated as the social context of their patrons. The Prague Lesser Town/Malá
Strana/Kleinseite hymnbook of 1572 was commissioned for the literati religious
confraternity at the church of St. Nicholas (Fig. 11) and funded by the socially
diverse community of burghers, from newly created noble elites down to their less
affluent neighbors. One of the prominent commissioners was the Lutheran Jan
Image’s Visuality during the Early Counter-Reformation], in: O. Jakubec / P. Suchánek
(eds.), Mariánský sloup na Staroměstském náměstí v Praze. Počátky rekatolizace v Čechách
v 17. století [Marian Column in the Old Town Square in Prague. The Beginnings of the Recatholisation in Bohemia in the 17th Century], Prague 2019, pp. 136–165.
55 Cf. O. Jakubec, Kde jest, o smrti, osten tvůj? Renesanční epitafy v kultuře umírání a
vzpomínání raného novověku [Where, oh Death, is Thine Thorn? Renaissance Epitaphs in
the Early Modern culture of Dying and Commemorating], Prague 2015.
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Kateřina Horníčková
Fig. 11: Prague Lesser Town Hymn
book of 1572, illuminated manuscript
on parchment, leather binding, fol. 363r
[Národní knihovna České republiky Praha/
The National Library of the Czech Republic
Prague, sign. XVII A 3, Foto: Národní
knihovna/National Library].
Laštovička († 1579),56 who commissioned the illuminations on fol. 363r depicting
the ‘Reformation succession’ in the margin: John Wycliff (ca. 1328–1384) strikes
sparks, Hus lights a candle, Luther holds a torch and the John Hus is burnt at the
stake.57 This succession breaks from the usual system of decoration elsewhere in
the book towards communicating a ‘historical’ message that should be read as an
attempt to reconcile the two faiths and create a sensible historical construction of
their mutual relationship. Given his position among the burghers, Laštovička may
have been in contact with Václav Vřesovec of/z Vřesovic/Wenzel Wrzesowetz von
Wrzesowitz (1532–1583), a convinced Lutheran scholar and editor of the 1579
56 Cf. J. Doktorová, Malostranský graduál a jeho donátoři. Renesanční iluminovaný rukopis
jako nástroj měšťanské reprezentace [Lesser Town Gradual and its Patrons. Renaissance Illuminated Manuscript as an Instrument of Burghers’ Representation], unpublished Master’s
Thesis at the Faculty of Arts, University of South Bohemia in České Budějovice 2018, p. 94;
full text at https://theses.cz/id/bo15g2/Malostrank_gradul_a_jeho_dontoi_Renesann_iluminovan_rukop.pdf (last accessed: 2020/03/18).
57 In an analogy to the other personal patron name saints in the illuminations of other folios,
John Hus in the lower margin probably represented Laštovička’s patron name saint.
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Framing the Difference
Fig. 12a: Altarpiece from St. Catherine Church in
Chrudim, tempera on wood, ca. 1500 [Římskokatol
ická farnost – arciděkanství Chrudim/ Roman Catho
lic Parish – Archdeanery Chrudim, Foto: J. Gloc].
Fig. 12b: Altarpiece from Nový Bydžov, tempera on
wood, ca. 1531 [Městské muzeum v Novém Bydžově/
Municipal Museum Nový Bydžov, Foto: J. Gloc].
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Kateřina Horníčková
Bohemian Confession, who bequeathed a large sum to the St. Nicholas church
in Lesser Town Prague and was also buried there.58
As this example shows, further detailed studies are needed into the patronage
background of individual works to explain the transformation of artistic production in the non-Catholic environment during the second half of the sixteenth
century and around 1600.59 So far, we can infer that the artworks of this period
were recognizable in their appearance and ‘readable’ as such due to their original
contexts in the Counter-Reformation. This prompted their removal, destruction
or (occasionally) remaking and transfer, which helped re-code their meanings.
In some cases, where the furnishings from the second half of the sixteenth century were eradicated, archaic looking Utraquist works were allowed to remain
in churches and possibly even returned to liturgical function after necessary
changes. (Fig. 12a and 12b) Contemporary Counter-Reformation authorities
have re-interpreted these late medieval stylistically conservative Utraquist works
either as Catholic works pre-dating 1420 – typically as works from the Charles
IV (1346–1378) era – or as harmless works from the Catholic realm that miraculously survived the Reformation period.
Images that once served to identify Utraquist or Protestant communities and
determined their status in the denominational situation of the sixteenth century were clearly seen as dangerous reminders of the non-Catholic past after the
defeat of the Protestants at White Mountain in 1620. They were extracted from
their original religious contexts and their meaning(s) erased. After that, however,
fragments of them were sometimes accepted in new contexts, whilst those works
that were unproblematic in terms of iconography and looked more archaic and
medieval, i. e., prevalently Utraquist works, had better chances to survive. Next
to the explicit non-Catholic iconography, other factors were responsible for the
patchy pattern of survival of Protestant artworks in Bohemia, among them the
general outlook and form, style, and memory of their past contexts.
58 Cf. J. Doktorová, Malostranský graduál (as note 56), p. 41.
59 As a model for such a microstudy could serve P. Hrachovec, Zittauer und ihre Kirchen (as
note 48).
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Kai Wenzel
Zirkulierende Zeichen
Konfessionelle Codierungen im frühneuzeitlichen Kirchenraum
In memoriam Prof. Dr. Michaela Marek (1956–2018)
Die Kunstgeschichte diskutiert seit längerem über die Funktion von Bildwerken
im frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsprozess. Zentrale Fragestellungen
waren und sind dabei, welche Bedeutung Bildern für die Ausdifferenzierung der
verschiedenen Konfessionskulturen zugesprochen werden kann und wie dies sich
wiederum auf ihre Formen und Inhalte auswirkte. Wichtige Anregungen dafür
lieferte das Konfessionalisierungsparadigma, das die Herausbildung der christlichen Bekenntnisse im frühneuzeitlichen Europa als einen Modernisierungsschritt
von großer Reichweite beschreibt.1 Allerdings haben davon motivierte kunsthistorische Untersuchungen zu Bildproduktion und -gebrauch im konfessionellen
Zeitalter auch die Grenzen einer Übertragbarkeit dieses Paradigmas auf Fragestellungen der Kunstgeschichte aufgezeigt, da sich visuelle Zeichen nicht immer
den Intentionen der einzelnen Konfessionen bzw. ihrer meinungsführenden
Akteure entsprechend eindeutig formen ließen.2 Diese Beobachtung eröffnet
für die Kunstgeschichte das weite Arbeitsfeld der konfessionellen Codierungen.
Es wendet sich den Fragen zu, ob und wie visuelle Zeichen eine spezifische konfessionelle Codierung erfahren konnten und welche Folgen sie für die Substanz
1
2
Vgl. H. Schilling, Das Konfessionelle Europa. Die Konfessionalisierung der europäischen
Länder seit Mitte des 16. Jahrhunderts und ihre Folgen für Kirche, Staat, Gesellschaft und
Kultur, in: J. Bahlcke / A. Strohmeyer (Hgg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa.
Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur (FKGÖM 7), Stuttgart 1999, S. 13–62; L. Schorn-Schütte, Konfessionalisierung als
wissenschaftliches Paradigma?, in: ebd., S. 63–77; T. Brockmann / D. J. Weiss (Hgg.), Das
Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen (BHK 18), Münster 2013;
A. Holzem, Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung –
Pluralisierung, 2 Bde., hier Bd. 1, Paderborn 2015; U. Lotz-Heumann: Confessionalization
is Dead. Long Live the Reformation? Reflections on Historiographical Paradigm Shifts on the
Occasion of the 500th Anniversary of the Protestant Reformation, in: J. Stievermann / R.
C. Zachman (Hgg.), Multiple Reformations? The Many Faces and Legacies of the Reformation (CHT 4), Tübingen 2018, S. 127–140.
Vgl. M. Deiters / E. Wetter, Einleitung, in: Diess. (Hgg.), Bild und Konfession im östlichen Mitteleuropa (SJL 11), Ostfildern 2013, S. 11–32.
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Kai Wenzel
eines Bildzeichens zeitige. Führte sie zu formalen Modifikationen oder ließen
sich konfessionelle Codes eher außerhalb des Bildes wirkungsvoll formulieren?
Um die Rolle der Bildkünste im Zeitalter der Konfessionalisierung genauer fassen
zu können, hat die Kunstgeschichte in jüngerer Zeit methodische Anregungen aus
der Semiotik und der Soziologie aufgenommen. Vor allem das sozialkonstruktivistische Modell des relationalen Raumes, wie es von Martina Löw ausgearbeitet
wurde,3 erwies sich dabei als anschlussfähig.4 Es geht davon aus, dass Räume nicht
per se existieren, sondern sich lokal formieren und in einem ständigen Veränderungsprozess befinden. Auf diesem Konzept aufbauend, hat Silke Steets zuletzt
eine Architektursoziologie vorgeschlagen, deren dreistufige Anlage sie auch für eine
Anwendbarkeit auf historische Phänomene überprüft hat und die unter bestimmten Bedingungen auch auf Bildwerke übertragbar zu sein scheint.5 Darüber hinaus
bietet die Medienwirkungsforschung neuere Ansätze, wie jenen des Framings, die
für die kunsthistorische Diskussion um die Wirkung von Bildern als Medien im
inner- und interkonfessionellen Diskurs anregend sein können.6
Die Funktionalisierung von Bildwerken im Prozess der Konfessionalisierung
möchte ich als einen sich ständig neu austarierenden Vorgang betrachten und
habe für dessen Beschreibung im Rahmen meiner Dissertation das Konzept der
konfessionellen Codierung erarbeitet.7 Wesentliche methodische Anregungen
dazu verdanke ich Michaela Marek, der dieser Text in dankbarer Erinnerung
gewidmet ist. Der Begriff der konfessionellen Codierung beschreibt, wie Bildzeichen im inner- und interkonfessionellen Diskurs ein spezifischer, dem jeweiligen
Bekenntnis sowie dessen theologischen und politischen Intentionen entsprechender Sinnhorizont zugeordnet sein kann. Ich analysiere konfessionelle Codierungen als objektivierende Zeichensetzungen, die innerhalb eines sakralen Raumes
auf das jeweilige christliche Bekenntnis verweisen und durch die ein Raum in
seiner Architektur, seiner Ausstattung, durch spezifische Praktiken bzw. auch in
3
4
5
6
7
Vgl. M. Löw, Raumsoziologie (STW 1506), Frankfurt a. M. 2001.
Vgl. z. B. die Beiträge in: S. Wegmann / G. Wimböck (Hgg.), Konfessionen im Kirchenraum.
Dimensionen des Sakralraums in der Frühen Neuzeit (SKGMFN 3), Korb 2007; E. Wetter
(Hg.), Formierungen des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa (FKGÖM 33), Stuttgart
2008.
Vgl. S. Steets, Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt. Eine Architektursoziologie (STW
2139), Berlin 2015.
Vgl. J. Matthes, Framing (Konzepte 10), Baden-Baden 2014; E. Wehling, Politisches
Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht (Edition
Medienpraxis 14), Köln 2016.
Die Arbeit entsteht unter dem Titel „Elemente und Strategien konfessioneller Codierungen
im mitteleuropäischen Kirchenbau der Frühen Neuzeit“.
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Zirkulierende Zeichen
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der Rede über ihn zu einem Medium im inner- und interkonfessionellen Diskurs
werden kann. Den eingangs angesprochenen relationalen Raumbegriff aufgreifend,
verstehe ich dabei unter einem sakralen Raum nicht allein die materielle Hülle
eines Gotteshauses, sondern jenes komplexe Phänomen, das sich aus der Interaktion von Akteuren und den von ihnen gestalteten Entitäten formiert und dabei
immer wieder verändert wird. Konfessionelle Codierungen, die sich in sakralen
Räumen beobachten lassen – das zeigen die bisherigen Untersuchungen, die ich
anhand von Beispielen aus Böhmen und Süddeutschland unternommen habe –,
bleiben jedoch zunächst auf einen eng umrissenen örtlichen und zeitlichen Rahmen beschränkt. Daraus lässt sich allgemein ableiten, dass konfessionelle Codierungen arbiträre und gleichzeitig dynamische Zeichensetzungen sind, bei denen
Empfänger und Sender in einem dichten Verhältnis stehen müssen, um eine erfolgreiche Kommunikation zu gewährleisten. Um dies weiter abzusichern, konnte
durch den Sender zusätzlich ein sprachlicher Bedeutungsrahmen gesetzt werden,
was im Folgenden genauer zu zeigen sein wird. Ausgehend von den Ergebnissen
meiner vor dem Abschluss stehenden Untersuchung möchte ich im Rahmen des
vorliegenden Textes vor allem eine These exemplifizieren, nämlich wie sich durch
konfessionelle Codierungen parallele Ikonologien herausbilden konnten.
Bildwerke im lutherischen Sakralraum
Betrachtet man die Konjunkturen der kunsthistorischen Forschung zu den Bildwerken der lutherischen Konfessionskultur, dann fällt auf, dass zumeist ikonografische Neuschöpfungen aus der Phase der Konfessionsbildung im Zentrum
des Interesses standen. So wurde etwa die in der Werkstatt von Lucas Cranach
d. Ä. (1472–1553) in den 1520er Jahren entwickelte Bildallegorie von Gesetz
und Gnade in großer Tiefe erforscht.8 Auch andere sog. lutherische Bekenntnisgemälde, wie die diversen Darstellungen des Abendmahlsgottesdienstes oder
die Gedächtnisbilder zur Erinnerung an die Übergabe der Confessio Augustana
waren vielfach Untersuchungsgegenstände.9
8
9
Vgl. M. V. Fleck, Ein tröstlich gemelde. Die Glaubensallegorie „Gesetz und Gnade“ in Europa zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit (SKGMFN 5), Korb 2010; H. Reinitzer,
Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und
Wirkungsgeschichte, 2 Bde., Hamburg 2006.
Vgl. vor allem W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts.
Die illustrierte Confessio Augustana (Adiaphora 6), Regensburg 2007; A. Marsch, Bilder
zur Augsburger Konfession und ihren Jubiläen. Mit einem Beitrag von Helmut Baier, Weißenhorn 1980.
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Kai Wenzel
Angesichts dieser Interessenslagen könnte man meinen, ikonografische Neuschöpfungen seien bestimmend für die Bildkünste der lutherischen Konfessionskultur gewesen. Bereits ein oberflächlicher Blick zeigt aber ein bestehendes
Ungleichgewicht zwischen dem fachwissenschaftlichen Interesse und der realen
Objektüberlieferung. Tatsächlich begegnet man ikonografischen Neuschöpfungen
wie Gesetz und Gnade und anderen bekenntnishaften Visualisierungen vergleichsweise selten in lutherischen Sakralräumen. Sie blieben ein exklusives Phänomen,
das zwar in allen Regionen Mitteleuropas, in denen sich die lutherische Lehre
verbreitete, zu finden ist, aber eben nur in einer überschaubaren Anzahl von Beispielen. Ihnen gegenüber steht die große Masse jener alt- und neutestamentlichen
Bildthemen, die gewissermaßen den ikonografischen Standard im lutherischen
Sakralraum der Frühen Neuzeit bildeten: an erster Stelle Themen aus der Passion
Christi, an zweiter Stelle Szenen aus dem Marienleben.10 Beide gelten gemeinhin
als ein interkonfessioneller Bildvorrat bzw. als ein ikonografisches Basismaterial,
das sich Vereinnahmungen durch eine der Konfessionsparteien entzogen habe.
Doch trifft ein solcher Befund zu?
Dieser Frage, die Grundannahmen zur visuellen Kultur der verschiedenen Konfessionen berührt, möchte der vorliegende Text anhand ausgewählter Beispiele
nachgehen. Dabei wird insbesondere das Zirkulieren von Bildzeichen über konfessionelle Grenzen hinweg von Interesse sein sowie daran anknüpfend die Frage,
welche methodischen Schlüsse daraus zu ziehen sind, dass Bildzeichen in der Frühen Neuzeit die konfessionellen Grenzen vermeintlich problemlos überwinden
konnten. Sogar für die Bildallegorie von Gesetz und Gnade, die gewissermaßen
die Quintessenz der lutherischen Heilslehre zu repräsentieren scheint, war eine
Übernahme in die katholische Konfessionskultur möglich.11
Mit Blick auf den hier zur Verfügung stehenden Rahmen werden sich die folgenden Betrachtungen aber nur auf eine Richtung des Zirkulierens von Bildzeichen konzentrieren, nämlich auf die Übernahme von Ikonografien, die der vorreformatorischen bzw. der nachtridentinisch-katholischen Bildkultur entstammten, in den lutherischen Sakralraum. In Erweiterung der Untersuchungsbeispiele
meiner angesprochenen Dissertation sollen hier Befunde anhand von Bildwerken
aus der lutherischen Konfessionskultur in Böhmen und den beiden böhmischen
10 Vgl. dazu grundlegend B. Kreitzer, Reforming Mary. Changing Images of the Virgin Mary
in Lutheran Sermons of the Sixteenth Century (OSHT), Oxford 2004; B. U. Münch, Geteiltes Leid. Die Passion Christi in Bildern und Texten der Konfessionalisierung. Druckgraphik
von der Reformation bis zu den jesuitischen Großprojekten um 1600, Regensburg 2009.
11 Vgl. M. V. Fleck, Ein tröstlich gemelde (wie Anm. 8), S. 401–405, 423–437.
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Kronländern Ober- und Niederlausitz vorgestellt und interpretiert werden, die
zunächst ganz allgemein als Hybridisierungen zu bezeichnen sind.
Zirkulierende Zeichen – Bilder diesseits und jenseits konfessioneller
Grenzen
Manche Bildfindungen des nachtridentinischen Katholizismus erlebten erst in
der lutherischen Konfessionskultur eine breite Rezeption. Das gilt z. B. für eine
Kreuzigungsdarstellung, die der Münchener Hofmaler Christoph Schwartz schuf
und die durch einen Kupferstich von Aegidius Sadeler d. J. (ca. 1570–1629) aus
dem Jahr 1590 Verbreitung fand.12 (Abb. 1) Vermittelt durch das Medium der
Druckgrafik diente die Schwartz’sche Komposition bis ins 18. Jahrhundert hinein
in allen lutherischen Territorien als Vorlage für unzählige Altarbilder und Epitaphgemälde. Allein aus den lutherischen Sakralräumen des früheren Markgraftums
Oberlausitz lassen sich mehr als ein Dutzend Beispiele aufzeigen, die über einen
Zeitraum von etwa 100 Jahren hinweg entstanden.13 (Abb. 2) In der katholischen
Konfessionskultur hingegen, in der die Komposition ursprünglich entstanden war,
ist ihr eine solche Popularität verwehrt geblieben. Es ist daher zu fragen, was ihren
Erfolg in der lutherischen Konfessionskultur bedingte bzw. was sie aus der Masse
ikonografisch gleichgelagerter Vorlagen heraushob und sowohl für Auftraggeber
wie auch für Künstler als Maßstab und Inspirationsquelle attraktiv machte? Diese
Frage lässt sich, da Auftraggeberintentionen trotz der Vielzahl der Rezeptionen,
die dieses Bild erfuhr, nicht überliefert sind, lediglich hypothetisch beantworten.
Vermutlich war es die weitgehend der Heiligen Schrift folgende und damit das
sola scriptura-Prinzip der lutherischen Konfessionskultur einlösende, figurenreiche
12 Vgl. Aegidius Sadeler II, ed. I. van Ramaix (TIB 72/1), New York 1997, S. 86 f.; zu Christoph Schwartz (Schwarz) vgl. H. Geissler, Christoph Schwarz, ca. 1548–1592, Diss. masch.,
Freiburg i. Br. 1960; beispielhaft zur Wirkung seiner Werke im Konfessionalisierungsprozess
vgl. G. Cerkovnik, Christoph Schwarz’s „Last Judgement“ and Counter-Reformation in
Inner Austria, in: I. Unetič / M. Germ / M. Malešič / A. Vrečko / M. Zor (Hgg.),
Art and Its Responses to Changes in Society, Newcastle/Tyne 2016, S. 49–62.
13 Einige Beispiele sind beschrieben bei K. Wenzel, Ausstattungsstücke des 17. Jahrhunderts in
Oberlausitzer Kirchen. Eine Übersicht, in: U. Koch / Ders. (Hgg.), Unsterblicher Ruhm.
Das Epitaph des Gregorius Mättig und die Kunst des 17. Jahrhunderts in der Oberlausitz (Memoria Maettigiana 1), Görlitz/Zittau 2013, S. 129–202, hier S. 134, 141, 144, 153, 164, 169;
vgl. auch R. Bönisch, Die druckgrafischen Vorlagen der biblischen Gemälde auf den Zittauer Epitaphien, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien, Netzwerke, Reformation. Zittau und
die Oberlausitz im konfessionellen Zeitalter, Görlitz/Zittau 2018, S. 329–356, hier S. 341 f.
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Kai Wenzel
Abb. 1: Aegidius Sadeler (nach
Christoph Schwartz), Die Kreuzigung Christi, Kupferstich, 1590
[Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr.
22559/512, Foto: Kai Wenzel].
Schilderung, die das Kreuzigungsgeschehen sowohl didaktisch als auch im verfeinerten Stil der bayerischen Hofkunst ästhetisch anspruchsvoll vortrug – eine
Frage, auf die am Schluss dieses Textes noch einmal zurückzukommen sein wird.
Dass Bilder aus vorreformatorischer Zeit und auch aus dem nachtridentinischen
Katholizismus in lutherische Sakralräume integriert wurden, ist bereits vielfach
Untersuchungsgegenstand der Kunstgeschichtsschreibung gewesen. So verblieben vorreformatorische Ausstattungsstücke häufig in lutherischen Kirchen und
wurden weitergenutzt – ein Phänomen, für das ein vor rund zwei Jahrzehnten
erschienener Sammelband die inzwischen zum stehenden Begriff gewordene Formulierung der bewahrenden Kraft des Luthertums gefunden hat.14 Dieses Bewahren erfolgte freilich nicht im Sinne einer modernen Denkmalpflege, sondern es
wurde vorrangig das bewahrt, was sich im Rahmen der veränderten Liturgie und
Frömmigkeit weiter nutzen ließ bzw. mit prägenden Erinnerungen der jeweiligen
Gemeinde oder einzelner Mitglieder verbunden blieb. Dabei handelte es sich
14 Vgl. J. M. Fritz (Hg.), Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in
evangelischen Kirchen, Regensburg 1997. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Stefan Dornheim.
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Abb. 2: Friedrich Kremsier, Kreuzigung
Christi, Öl auf Holz, 1668/69 [Altarbild in
der Pfarrkirche von Friedersdorf an der Landes
krone, Foto: Kai Wenzel].
zuallererst um die Prinzipalstücke; doch auch bei diesen ist zu konstatieren, dass
sie spezifischen Veränderungen unterzogen werden konnten, die als Neucodierung ihrer Zeichenfunktion innerhalb des konfessionellen Rahmens des jeweiligen Sakralraums verstanden werden müssen. In der Ober- und Niederlausitz
wie auch in allen anderen Kernlandschaften der lutherischen Konfessionskultur
finden sich zahlreiche Beispiele für solche bewahrten und gleichzeitig in ihren
Aussagen modifizierten Bildwerke.
Aus dieser Vielzahl sei das Retabel der Stadtpfarrkirche von Senftenberg in der
Niederlausitz herausgegriffen, das sich seit dem frühen 20. Jahrhundert in der
ehemaligen Klosterkirche von Doberlug befindet.15 (Abb. 3) Im Kern handelt es
sich um ein großformatiges Retabel, das um 1510 vermutlich in einer Oberlausitzer Werkstatt entstand.16 Seine Predella birgt die Figurengruppe der Anbetung
15 Vgl. S. Fink, Die Klosterkirche zu Doberlug, Görlitz/Zittau 2014, S. 88–94.
16 Vgl. P. Knüvener, Die Werkstatt des Senftenberger Hochaltarretabels und andere in den
Lausitzen tätige Künstler um 1515, in: Ders. / W. Ziems (Hgg.), Flügelaltäre um 1515 – Höhepunkte mittelalterlicher Kunst in Brandenburg und in den Nachbarregionen (Arbeitshefte
BLDAM 42), Berlin 2017, S. 201–216.
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Kai Wenzel
Abb. 3: Altarretabel aus der Stadtkirche
von Senftenberg, um 1510 und 1600
[heute in der Klosterkirche zu Doberlug,
Foto: Kai Wenzel].
Christi durch die Heiligen Drei Könige. Darüber stehen im Schrein die überlebensgroßen Skulpturen der Gottesmutter mit dem Christuskind, flankiert von
den Patronen der Senftenberger Kirche, den Aposteln Petrus und Paulus. Dieser
vorreformatorische Objektkern wurde um 1600 modifiziert, wobei der Schrein eine
neue architektonische Einfassung in Formen der Hochrenaissance erhielt und im
oberen Teil mehrere figürliche Szenen hinzugefügt wurden: die Kreuzigung und
Himmelfahrt Christi sowie als Bekrönung die Figur des Auferstandenen. Mit ihnen
wurde die ursprüngliche mariologische Zentrierung christologisch überschrieben
und so die Gesamtaussage des Werkes neu ausgerichtet. Maria bildete nun nicht
mehr den Mittelpunkt der Bilderzählung, sondern trat hinter den Gottessohn
zurück, dessen Leben das Retabel von der Geburt bis zur Auferstehung in einer
sich von unten nach oben entwickelnden narratio visualisierte. Die Neucodierung
des Senftenberger Retabels mittels neu hinzugefügter Bilder entsprach dabei in
mehrfacher Hinsicht den Prämissen der lutherischen Theologie, sowohl in der
Konzentration auf Christus als auch in der Subordination Marias.17
17 Vgl. B. Hamm, Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: ZHF 26 (1999), S. 163–202.
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Abb. 4: Altarretabel in der Zittauer
Frauenkirche, 1619 [Foto: Friedemann
Raatz].
Einen ähnlichen Befund liefert ein Retabel in der ehemals königlich böhmischen
Stadt Zittau, in der die Reformation seit den 1520er Jahren Fuß gefasst hatte.18
Rund 100 Jahre später wurde in der vor den Toren gelegenen Frauenkirche ein
neues Retabel aufgestellt.19 (Abb. 4)
18 Zur Reformation in Zittau grundlegend P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen
(1300–1600). Zum Wandel religiöser Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig 2020, hier S. 317–737.
19 Zu diesem Retabel vgl. bereits K. Zinnow, Maria in der Kunst der Reformationszeit in Schlesien und der Oberlausitz, in: M. Winzeler (Hg.), Lausitzer Madonnen zwischen Mystik und
Reformation (ZG 36), Görlitz/Zittau 2008, S. 30–33, hier S. 32; K. Wenzel, Ausstattungsstücke (wie Anm. 13), S. 167 f.; P. Hrachovec, Maria honoranda, non adoranda. Studie k
poznání role obrazů a umělecké výzdoby v luteránském kostele éry konfesionalizace [… Studie
zur Rolle der Bilder und des Kunstschmucks in der lutherischen Kirche der Konfessionalisierungsära] in: K. Horníčková / M. Šroněk (Hgg.), In puncto religionis. Konfesní dimenze
předbělohorské kultury Čech a Moravy [… Die konfessionellen Dimensionen der Kultur Böhmens und Mährens in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg], Praha 2013, S. 233–251.
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Es entstand als Stiftung der Zittauer Bürgerin Martha Sihrer, die es als Epitaph
für ihren verstorbenen Mann und sich selbst errichten ließ.20 Den Mittelpunkt des
Retabels bildet, dem Patrozinium der Kirche entsprechend, eine Figur der Gottesmutter. Auch bei ihr handelt es sich um ein vorreformatorisches Kunstwerk,
das zusammen mit zwei begleitenden Engeln und einem spätgotischen Schleierbrett aus einem älteren Altarwerk übernommen wurde. Ähnlich wie in Senftenberg erhielt dieser Objektkern eine neue Einfassung in zeitgemäßen Formen und
wurde um mehrere Bilder ergänzt. Auf den Innenseiten der beweglichen Flügel
flankiert die Szene der Verkündigung die Madonnenfigur. Im Auszug findet sich
ein Schnitzrelief mit der Anbetung der Hirten sowie als Bekrönung die Figur des
auferstandenen Christus. Anders als beim Senftenberger Retabel tritt die christologische Zentrierung hier nicht so deutlich in den Vordergrund. Stattdessen liegt
der erzählerische Schwerpunkt in Zittau weiterhin auf der Person Mariens. Zwei
über den Flügelreliefs angebrachte Zitate lassen sie sogar selbst zu Wort kommen
mit ihrem im Lukasevangelium überlieferten Canticum Magnificat anima mea
dominum et exultavit spiritus meus. Diese mariologische Ausrichtung des Zittauer
Retabels ließ es wohl geboten erscheinen, den Gläubigen am Bildwerk selbst das
von der lutherischen Theologie gewünschte Verständnis der Rolle Mariens unmissverständlich und dauerhaft in Erinnerung zu rufen. Und dieser Appell erfolgt
durch die am Gebälk des zentralen Schreins angebrachten, sich allerdings eher
an ein gelehrtes Publikum richtenden Worte Maria honoranda, non adoranda –
Maria solle verehrt, aber nicht angebetet werden.
Die Codierung der Madonnenfigur im Zittauer Retabel verstärkten zusätzlich
die Ausführungen, die der Zittauer Pastor primarius Caspar Tralles (ca. 1580–
1624) in seiner Predigt anlässlich der Weihe des neuen Retabels 1619 wählte und
wenig später auch im Druck erscheinen ließ.21 Schon in der Einleitung charakterisierte er das Stiften von Bildwerken für den Kirchenraum als gottgefälliges
20 Darauf verweist die in der Predella angebrachte Inschrift, zitiert nach C. Gurlitt, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, H. 30:
Zittau (Stadt), Dresden 1907, S. 69.
21 Vgl. C. Tralles, MNHMOΣTNON. Das ist Denckmal Nützlicher erinnerungen / Auffgerichtet Bey Einweyhung einer newen Canczel vnd Altar Taffel […], Zittau 1619, zitiert nach
dem Exemplar in: CWB Zittau, Sign. Zitt. 19/406; zu dieser Predigt vgl. bereits ausführlich
P. Hrachovec, Slavnostní vysvěcení interiéru kostela Panny Marie v Žitavě 8. září 1619.
Příspěvek k poznání raně novověkého luteránského sakrálního prostoru v zemích Koruny
české [Die feierliche Weihe der Ausstattung der Frauenkirche in Zittau am 8. September 1619.
Ein Beitrag zum frühneuzeitlichen lutherischen Sakralraum in den Ländern der Böhmischen
Krone], in: Fontes Nissae 11 (2010), S. 11–46; Ders., Maria honoranda (wie Anm. 19).
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Handeln.22 In den weiteren Ausführungen wird eine ausgesprochen bilderfreundliche Haltung des Geistlichen deutlich, wenn er etwa von den schönen Figuren
aus dem Alten und Neuen Testament spricht, mit denen die Frauenkirche verziert worden sei, und das es in warheit / ohne heucheley zu melden / einem eine
lust giebt solches alles anzuschawen.23 Um aber dieser Lust des Anschauens einen
disziplinierenden Rahmen zu setzen, habe Tralles die Predigt ausgearbeitet, die
den Zuhörern und Lesern vermitteln soll:
Was ihr Christliche Hertzen / bey anschawung des newerbawten […] Taffelwercks auffm Altar […]
für gutte gedancken haben sollet. […] Christen Leute sollen nicht sein wie Roß vnd Mäuler die kei
nen verstand haben / vnd die Gräber / Kirchen / Cantzeln / Altar vnd andere Kirchen geräthe vnd
zierden anschawen / wie die Kuh ein new Thor / ohn alles nachdencken / sondern sollen dabey feine
Christliche gedancken haben. Was sollen sie denn dabey gedencken vnd ihnen zu gemüt führen?24
Diese Frage beantwortete Tralles durch die Ausdeutung der einzelnen Ausstattungsstücke des Kirchenraums, was er auch als zentrale Aufgabe eines Geistlichen
bezeichnete, der seiner Gemeinde durch Predigtworte den Verständnisrahmen
zu Bildern und anderen visualisierenden Teilen des Interieurs vorzugeben habe.
Für das in der Frauenkirche neuaufgestellte Retabel kam er dieser selbstgestellten Aufgabe nach, indem er mehrere Bedeutungen für die ältere Madonnenfigur
formulierte. Zunächst solle bei ihrer Betrachtung nicht der Gedanke entstehen,
dass sie wieder aufgestellt worden sei, um angebetet zu werden bzw. dass mit ihrer
Betrachtung eine Heilserwartung verknüpft werden könne:
Nein / Wir haben mit solchem Götzenwerck nichts zuthun / es ist / Gott lob / vor langst auß
vnserer Kirchen allhier / vnd / ob Gott wil / auch aus aller zuhörer Hertzen explodiret und auß
gemustert / vnd es stehet protestationis loco drüber / Maria honoranda non adoranda, Mariam
sol man Ehren / aber nicht anbeten. Welche Worte aus der Epiphanio genommen sind / der da
saget: Sit in honore Maria, sed Pater, Filius et Spiritus Sanctus adoretur, Mariam nemo adoret.25
Die Neuinszenierung der vorreformatorischen Madonnenfigur sollte die Gläubigen also, so Tralles, zunächst daran erinnern, dass die lutherische Konfession die
Verehrung Mariens als göttliche Mittlerin überwunden habe.
22
23
24
25
Vgl. C. Tralles, MNHMOΣTNON (wie Anm. 21), fol. A4r f.
Ebd., fol. B2v.
Ebd., fol. B3v.
Ebd., fol. D1v.
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Abb. 5: Epitaph des Zittauer Gerichtsnotars Michael Weise, 1615 [Städtische
Museen Zittau, Leihgabe der Ev.-Luth.
Kirchgemeinde St. Johannis, Foto: Jür
gen Matschie].
Dass ihre Betrachtung die Konzentration der Gläubigen stattdessen auf Christus führen müsse, klingt im zweiten Bedeutungsfeld der Predigt an, wenn Tralles
schreibt, dass das Christuskind auf dem Arm Mariens das eigentliche Zentrum des
Bildes sei. Es zeige an, dass der Gottessohn ohne Sünden auf die Welt gekommen
sei, um die Menschheit von ihren Sünden zu befreien, und dass der Apfel in seiner
Hand ihn als Herrscher charakterisiere. Schließlich umriss Tralles noch ein drittes
Bedeutungsfeld für die Marienfigur, indem er auf die Ikonografie des Bildwerks
und deren Ursprung in der Apokalypse des Johannes verwies. Davon ausgehend
sei Maria als Sinnbild der wahren Kirche und Braut Christi zu verstehen. Mit
dieser mehrstufigen Auslegung verstärkte die Predigt des Zittauer Pfarrers die
im Figurenprogramm des Retabels angelegte konfessionelle Codierung der aus
vorreformatorischer Zeit stammenden Madonnenfigur.
Aber nicht nur am jeweiligen Ort vorhandene vorreformatorische Bildwerke ließen sich in den lutherischen Sakralraum mit Hilfe einer konfessionellen Neucodierung integrieren. Auch zirkulierende Druckgrafiken aus vorreformatorischer Zeit
dienten vielfach als Vorlagen für neue Bildwerke in lutherischen Sakralräumen. Ein
bemerkenswertes Beispiel ist wiederum in Zittau zu finden mit dem ebenfalls aus
der dortigen Frauenkirche stammenden Epitaph des Gerichtsnotars Michael Weise
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Abb. 6: Meister E. S., Das Passionswappen, Kupferstich um 1460 [Staat
liche Kunstsammlungen Dresden,
Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. A 370,
Foto: Andreas Diesend].
(1577–1620).26 (Abb. 5) Es entstand 1615 vermutlich in der gleichen Werkstatt,
die vier Jahre später die neuen Teile des eben beschriebenen Marienretabels schuf.
Das Hauptbild des Epitaphs zeigt eine für lutherische Gedächtnismale jener Zeit
ungewöhnliche Ikonografie: einen Wappenschild, der mit den Passionswerkzeugen
gefüllt ist, auf dem Lamm Gottes ruht und von Christus und Maria sowie den vier
Evangelisten und zwei Propheten präsentiert wird. Inschriften wie die unterhalb
des Schildes platzierten Worte PER MORTEM IN VITAM und NOS REDEMPTI SAN
GVINE AGNI verweisen auf die Erlösungshoffnung, die aus dem Tod Christi erwachse.
Ikonografisch handelt es sich bei diesem Motiv um das sog. Passionswappen,
eine Bildschöpfung, deren Wurzeln in der christlichen Mystik des späten Mittelalters zu suchen sind.27 In Zittau existiert dafür mit einem in die erste Hälfte des
15. Jahrhunderts datierten Wandgemälde im Chorraum der Kreuzkirche ein vorreformatorischer Vorläufer, der den Schmerzensmann flankiert vom Passionswappen
26 Vgl. P. Knüvener, Epitaphien (wie Anm. 13), S. 437–441, Kat.-Nr. 26.
27 Vgl. I. von Bredow-Klaus, Heilsrahmen. Spirituelle Wallfahrt und Augentrug in der
flämischen Buchmalerei des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Kunstgeschichte 81),
München 2005, S. 185 f.
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zeigt.28 Für die Darstellung am Epitaph Weises bildete allerdings ein Kupferstich
des oberrheinischen Meisters E. S. aus den 1460er Jahren, der zur persönlichen
Andacht und memoria des Kreuzestodes Christi aufforderte und wesentlich zur
Verbreitung dieses Themas beitrug, die direkte Vorlage.29 (Abb. 6) Der namentlich
nicht bekannte Maler übernahm daraus für das Epitaph Weises alle wesentlichen
Elemente und fügte die bereits erwähnten Inschriften hinzu. Zusätzlich wurde das
Gemälde in ein weiterführendes Bildprogramm mit den vollplastischen Figuren
des Moses und des Aarons eingebunden. Oberhalb der Bildtafel ist zudem ein
Gemälde mit der Darstellung der Aufrichtung der Ehernen Schlange platziert,
während weitere Bilder unterhalb die Anbetung des Gekreuzigten, den Stifter und
seine Familie sowie die Darstellung des Erzengels Michael zeigen. Vor allem die
Trias der Figuren Mose und Aarons sowie der Erzählung von der Ehernen Schlange
generieren einen typologischen Bezugsrahmen für die abstrahierende Schilderung
der Passion Christi. Er reflektiert einen Kerngedanken der lutherischen Theologie,
jene bekannte Gegenüberstellung von Altem und Neuem Bund als Zeitalter des
Gesetzes und der Gnade. Doch anstatt die von Martin Luther (1483–1546) und
Lucas Cranach d. Ä. entworfene Bildallegorie der 1520er Jahre aufzugreifen, ließ
Michael Weise ein vorreformatorisches Bildwerk mit den alttestamentarischen
Präfigurationen kombinieren, was eine entsprechende Bildung des Auftraggebers
vermuten lässt. Das Passionswappen erscheint an seinem Epitaph nicht mehr nur
als ein Bildzeichen zur Memorierung des Kreuzestodes Christi, sondern als gelehrte
Formel für das theologische Konzept von Gesetz und Gnade. Dadurch ließ sich
die kompilierende Komposition des vorreformatorischen Passionswappens in den
lutherischen Sakralraum integrieren und sogar zu einem protestantischen Lehrstück
fortentwickeln, dessen Rezeption freilich wiederum einen gewissen Bildungshorizont voraussetzte. Eine weitere lateinische Inschrift, die das Programm abrundet,
kann vor diesem Bedeutungshorizont dann weniger als Ermahnung denn als eine
Selbstvergewisserung des Auftraggebers verstanden werden: IN POTENTI MANV
DEI FACTA EST NOBIS SALVS PER CRVCEM ET SANGVIS AGNI.
Um einen ähnlich gelagerten, auf den ersten Blick vielleicht mehr noch als das
Zittauer Beispiel irritierenden Fall handelt es sich beim Epitaph des Bürgermeisters Bartholomäus Koßwigk und seiner Familie in der Pfarrkirche von Finsterwalde. (Abb. 7) Das Gotteshaus der grundherrlichen Stadt in der Niederlausitz,
in der 1540 die lutherische Reformation eingeführt wurde, repräsentiert mustergültig einen frühneuzeitlichen protestantischen Sakralraum.30 Denn der in
28 Vgl. P. Knüvener, Epitaphien (wie Anm. 13), S. 440, Kat.-Nr. 26.
29 Vgl. Early German Artists, ed. J. C. Hutchinson (TIB 8), New York 1980, S. 86 f.
30 Vgl. W. Jung / W. Spatz, Die Kunstdenkmäler des Kreises Luckau (KDPB 5/1), Berlin 1917,
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Abb. 7: Epitaph des Bürgermeisters Bartholomäus Koßwigk und seiner Familie in der
Stadtkirche von Finsterwalde, um 1599 [Foto: Kai Wenzel].
der ersten Hälfte der 1580er Jahre in nachgotischen Formen errichtete Neubau
besitzt in seinem Inneren noch eine Fülle an Ausstattungsstücken des 16. und
frühen 17. Jahrhunderts, zu denen auch das hier interessierende Koßwigk-Epitaph
gehört.31 Das um 1599 entstandene Werk hat seinen Standort direkt neben der
Kanzel an der Langhausostwand. Sein Hauptbild zeigt eine für den lutherischen
Kontext zunächst eigenwillig scheinende Ikonografie: Das Zentrum bildet die
Szene der Verkündigung an Maria, die sich im mittleren Bogen einer Arkatur
abspielt. Darüber schweben Gottvater und die Heiliggeisttaube; vor der Arkatur hingegen sind sechs Propheten mit Schrifttafeln platziert, deren Texte mit
S. 145–170; G. Vinken (Bearb.), Georg Dehio Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler.
Brandenburg, Berlin/München 2000, S. 283; A. Beeskow, Finsterwalde und die St. Trinitatis-Kirche (Große Baudenkmäler 485), München/Berlin 1993.
31 Vgl. W. Jung / W. Spatz, Kunstdenkmäler (wie Anm. 30), S. 164.
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Abb. 8: Philipp Galle, Mariä Verkündigung mit sechs Propheten, Kupferstich,
um 1580 [British Museum London,
Inv.-Nr. 1857,0613.450, Foto: British
Museum, CC BY].
Zitaten aus dem Alten Testament auf Präfigurationen Christi als Gottessohn
und Mariens als seiner Mutter rekurrieren. Diese verweisende Symbolik wird in
den seitlichen Bögen der Arkatur erweitert, wo der Blick in Landschaften fällt,
in denen Bauwerke wie der fons vitae oder der hortus conclusus als traditionsreiche
Christus- und Mariensymbole zu finden sind.
Sein direktes Vorbild hat das Finsterwalder Gemälde in einem neuerdings der
Antwerpener Werkstatt Philipp Galles (1537–1612) zugeschriebenen Kupferstich von ca. 1580.32 (Abb. 8) Dieses Blatt wiederum ist die Kompilation eines
nur wenige Jahre älteren Kupferstichs von Cornelis Cort (1533–1578), aus dem
alle wesentlichen Elemente übernommen wurden.33 (Abb. 9) Cort hatte mit sei32 Der nicht signierte Kupferstich galt ehemals als ein Werk des Hendrick Goltzius (1558–1617),
vgl. Netherlandish Artists. Hendrick Goltzius, ed. W. L. Straus (TIB 3/2), New York 1982,
S. 17; zur neuen Zuschreibung vgl. The New Hollstein. Dutch and Flemish Etchings, Engravings
and Woodcuts, 1450–1700, ed. H. Leeflang, Bd. 24, Hendrick Goltzius, T. 4, Ouderkerk
aan den Ijssel 2012, S. 258 f.
33 Zum Kupferstich von Cort vgl. The New Hollstein, ed. H. Leeflang (wie Anm. 32), Bd. 8:
Cornelis Cort, T. 1, Rotterdam 2000, S. 53–65.
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Abb. 9: Cornelis Cort (nach Federico Zuccari), Mariä Verkündigung, Kupferstich, 1571
[Wellcome Collection London, Inv.-Nr. 34405i, Foto: Wellcome Collection, CC BY].
nem Kupferstich das nicht erhaltene Deckenfresko in der ersten Jesuitenkirche
SS . Annunziata in Rom dokumentiert. Geschaffen vom Maler Federico Zuccari
(1539–1609) in den späten 1560er Jahren nach genauen Vorgaben der Patres, war
es das erste öffentliche Lehrbild des noch jungen Jesuitenordens und gleichzeitig
eine Visualisierung der Rechtmäßigkeit des katholischen Glaubens durch Kontinuität und Autorität. Es zeigte das Mysterium der Verkündigung sowie die beiden
Zentralgestalten Maria und Christus im Verständnis der jesuitischen Theologie
und Didaktik.34 Warum nun ausgerechnet ein lutherischer Bürgermeister in der
Niederlausitz bzw. dessen Gemahlin als mögliche Auftraggeber die Kerngedanken
dieses jesuitischen Programmbilds für ihr Epitaph wählten, bedarf weiterer Untersuchungen. Ein Grund könnte darin zu suchen sein, dass sich das vermeintlich
katholische Bildprogramm bei genauerem Betrachten als anschlussfähig für die
lutherische Theologie erweist. Denn seine einzelnen Elemente basieren nicht nur
auf einer Genese der Heiligen Schrift, sondern stellen Altes und Neues Testament
als Glaubensfundamente dar. Die Könige und Propheten des Alten Bundes, die
34 Vgl. R. Baumstark, Verkündigung an Maria, in: Ders. (Hg.), Rom in Bayern. Kunst und
Spiritualität der ersten Jesuiten, München 1997, S. 477 ff., Kat.-Nr. 149.
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sich um Maria eingefunden haben, weisen genauso auf die Geburt des Gottessohns voraus wie die auf das Hohe Lied Salomos zurückgehenden Symbole der
marianischen Lobpreisung. Dabei gibt die Komposition sowohl in der ausführlicheren Fassung Zuccaris als auch in der Kompilation des Kupferstichs von Galle
keine definitiv konfessionell codierte Lesart vor. Vielmehr kann sie entweder als
ein Loblied Mariens oder auch als ein Lehrbild für die Erlösungshoffnung, die der
Menschheit durch die Geburt Christi erwachsen ist, verstanden werden. Letztere
Lesart dürfte es auch gewesen sein, die den Finsterwalder Bartholomäus Koßwigk
und seine Familie dazu veranlasste, dieses Bild für das Epitaph auszuwählen.
Allgemein kann zu den Beispielen aus Zittau und Finsterwalde zunächst festgehalten werden, dass sich Epitaphien aufgrund der vordergründig auf die individuellen Präferenzen ihrer Auftraggeber ausgerichteten Programme als Experimentierfeld für das Bild im lutherischen Sakralraum erweisen und an ihnen
Ikonografien vorgetragen werden konnten, die an den konsensual ausgerichteten
Prinzipalstücken eher nicht vorstellbar gewesen wären. Dass aber auch an einem
solch herausgehobenen Ausstattungsstück, nämlich am Gemälde des Abendmahls
altars einer lutherischen Kirche, Maria die tragende Rolle spielen und gleichzeitig
einer spezifischen Codierung unterzogen werden konnte, soll mit dem letzten
Beispiel verdeutlicht werden.
In den Jahren 1610 bis 1613 entstand auf der Prager Kleinseite der Neubau der
lutherischen Pfarrkirche zur Heiligen Dreifaltigkeit.35 Herzog Heinrich Julius von
Braunschweig-Wolfenbüttel (1589–1613), der als wesentlicher Förderer des Bauprojekts in Erscheinung trat, plante zunächst, ein Retabel für den Abendmahlsaltar
der Kirche zu stiften. Nachdem sich dieses Vorhaben jedoch durch den plötzlichen
Tod des Herzogs 1613 zerschlagen hatte, gelangte einige Jahre später ein anderes
Kunstwerk auf den Altar. Es handelte sich dabei um das Gemälde „Verkündigung
an Maria“ des kaiserlichen Hofmalers Hans von Aachen (1552–1615), das sich
heute in der Prager Nationalgalerie befindet.36 (Abb. 10) Ursprünglich hatte es
35 Ausführlich dazu K. Wenzel, Konfese a chrámová architektura. Dva luteránské kostely v
Praze v předvečer třicetileté války (II. díl) [Konfession und Kirchenbau. Zwei lutherische
Gotteshäuser in Prag am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges (II. Teil)], in: PSH 37 (2009),
S. 7–66.
36 Vgl. Ders., Abgrenzung durch Annäherung. Überlegungen zu Kirchenbau und Malerei in
Prag im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Bohemia 44 (2003), S. 29–66, hier S. 49–65;
Ders., Historisches Exempel oder ereignissteuernde Figur? Divergierende Codierungen
der Gottesmutter in Prag zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, in: A. Gąsior (Hg.) /
S. Samerski (Mitarb.), Maria in der Krise. Kultpraxis zwischen Konfession und Politik in
Ostmitteleuropa (Visuelle Geschichtskultur 10), Köln/Weimar/Wien 2014, S. 197–218, hier
S. 201–205.
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Abb. 10: Hans von Aachen, Mariä
Verkündigung, Öl auf Leinwand,
1613 [Národní galerie Praha/
Nationalgalerie Prag, Inv.-Nr. VO
272, Foto: Národní galerie Praha].
als Stiftung eines kaiserlichen Beamten einen Seitenaltar in der Jesuitenkirche
St. Salvator in der Prager Altstadt, der ersten Jesuitenkirche in den böhmischen
Ländern, geschmückt. Nachdem jedoch die Patres während der Regierungszeit
des reformierten böhmischen Königs Friedrich von der Pfalz (1619/20) aus Prag
und Böhmen vertrieben worden waren, gelangte das Bild in die lutherische Pfarrkirche auf der Kleinseite.
Zur Legitimierung dieser Übernahme des Gemäldes arbeitete der Pfarrer der
Kleinseitner Gemeinde, Caspar Wagner (1582–1651), eine umfangreiche Predigt
aus, in der er den Inhalt des Bildes in die lutherische Konfessionskultur einordnete und der versammelten Gemeinde Empfehlungen gab, was aus der Betrachtung für Schlüsse zu ziehen seien.37 Ausgehend vom Bildinhalt konzentrierte er
37 Vgl. C. Wagner, Das Ave Maria, Geprediget erkläret vnd Schrifftmessig außgelegt Zu Christlicher Einweihung oder Heiligung des newen Altars darauff der Engel Gabriel vnd die heilige
hochgelobte Jungfraw Maria neben andern schönen Biblischen Figuren und Bildern auffs aller
kunstreichest abgemahlet in der Evangelischen Deutschen Kirchen zur heiligen Dreyfaltigkeit der kleinern Stadt Prage, Leipzig 1620 (VD17 39:105308H); hier verwendet das Exemplar in: NK Praha, Sign. H 1227, přív. 4; allgemein zum Medium der lutherischen Festpredigt
der Frühen Neuzeit vgl. V. Isaiasz, Architectonica Sacra. Feier und Semantik städtischer
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Kai Wenzel
sich dabei auf das Ave Maria, das er im lutherischen Sinn auslegte und dessen
Verwendung als Gebet in der katholischen Konfessionskultur er scharf ablehnte.
Mit hermeneutischer Genauigkeit setzte sich Wagner mit der Überlieferung des
Verkündigungsgeschehens auseinander und argumentierte, warum der Englische
Gruß nach dem Lukasevangelium nicht als Gebetstext gemeint sei, womit er
einen zentralen Topos katholischer Frömmigkeit kritisierte. Denn in der katholischen Kirche sei, so Wagner: nichts mehr vnd öffter gehöret […] / als eben das Ave
Maria, vnd wir [müssen, Anm. K. W.] vns / weiß nicht was für einer Impietet, vnd
Vngottseligkeit […] beschuldigen lassen / wann wir die liebe Jungfraw Maria mit
jhnen nicht anbeten.38 Seine Ausführungen resümierte Wagner mit der Feststellung, dass die Visualisierung der Gottesmutter innerhalb der lutherischen Konfessionskultur lediglich als Historiendarstellung verstanden werden dürfe. Eine
solche Marienhistorie solle die Gläubigen ausschließlich zur Verinnerlichung der
göttlichen Gnade und zur Anbetung Gottes führen:
Wir sollen in vnserem Gebet nicht die Mutter Gottes: (viel weniger andere Heiligen) sondern
Gott selbst anruffen, […] nicht die Jungfraw Maria für eine Fürsprecherin auffwerffen / sondern
jhren lieben Sohn / den HERRN Christum / welcher ist zur Rechten Gottes vnd vertritt vns […].
Dahero sagt Johannes der heilige Evangelist vnd Apostel: Meine Kindlein / solches schreibe ich euch
/ auff daß jhr nicht sündiget / vnd ob jemand sündiget / so haben wir einen Fürsprecher (nicht
eine Fürsprecherin) bey dem Vater / Jesum Christ (nicht die Jungfraw Mariam) der Gerecht ist
/ vnd derselbige (nicht sie) ist die versöhnung für vnsere Sünde / nicht allein aber für die vnsere /
sondern auch für der gantzen welt.39
Mit diesem spezifischen Verständnis des ikonologischen Gehalts des Gemäldes,
dass eben nicht Maria, sondern der im Bild gar nicht visualisierte, in der Erzählung aber implizierte Christus sein semantischer Mittelpunkt sei, ließ sich das
aus der Jesuitenkirche translozierte Gemälde offenbar problemlos in den lutherischen Sakralraum integrieren. Diese Beobachtung soll abschließend nochmals
zu der Frage führen, welche Praktiken konfessioneller Codierung im lutherischen
Sakralraum der Frühen Neuzeit sich anhand der angeführten Beispiele feststellen
Kirchweihen im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Dies. / U. Lotz-Heumann /
M. Mommertz / M. Pohlig (Hgg.), Stadt und Religion in der Frühen Neuzeit. Soziale
Ordnungen und ihre Repräsentationen (Eigene und fremde Welten 4), Frankfurt a. M./New
York 2007, S. 125–146.
38 C. Wagner, Ave Maria (wie Anm. 37), fol. 7v.
39 Ebd., fol. 13v.
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lassen und welche Auswirkungen konfessionelle Codierungen auf die Ikonografie
und Ikonologie von Bildern zeitigen konnten.
Konfessionelle Codierungen und parallele Ikonologien
Das Zirkulieren von Bildzeichen von einer Konfessionskultur in eine andere und
ihre damit einhergehende konfessionelle Codierung ist ein noch längst nicht hinreichend erarbeitetes Forschungsfeld, das hier auch nur anhand einer knappen
Auswahl von Beispielen angerissen werden konnte. Dennoch lohnt es sich, an
dieser Stelle einige resümierende Thesen zu den Prinzipien konfessioneller Codierung am Beispiel der beschriebenen zirkulierenden Bildzeichen zu formulieren:
1. Offensichtlich griff die lutherische Konfession neben den eingangs angesprochenen ikonografischen Neuschöpfungen ganz selbstverständlich und wiederholt auf die Bildkultur des Katholizismus zurück – sei es durch die Integration
von Bildern aus vorreformatorischer Zeit, die eine Neucodierung erfuhren, oder
durch Übernahmen aus der zeitgenössischen Bildkultur des nachtridentinischen
Katholizismus. Silke Steets hat ein Modell für die Produktion und Rezeption
von architektonischen Zeichen entworfen, das in drei Schritten – der Externalisierung, der Objektivation und der Internalisierung – aufgebaut ist.40 Es lässt sich
verallgemeinernd auch auf Bilder und deren Codierung mit einem spezifischen
politischen Inhalt übertragen, was anhand der oben vorgestellten Konkretisierungen frühneuzeitlicher Bilddiskurse nochmals verdeutlicht sei. Im ersten Schritt,
der Externalisierung, wird in der Abgrenzung das spezifisch Eigene definiert. Bei
den Retabeln von Senftenberg und Zittau erfolgte dies, indem den aus vorreformatorischer Zeit vorhandenen Bildern neue zur Seite gestellt wurden. Mit ihren
spezifischen Aussagen sorgten sie für eine Abgrenzung von der Omnipräsenz
Mariens und stattdessen für eine Fokussierung allein auf Christus als Zentrum
des lutherischen Glaubensverständnisses. Eine ähnliche Strategie der konfessionellen Codierung durch semantische Überlagerungen lässt sich auch am Zittauer
Epitaph Weises beobachten, bei dem das vorreformatorische Passionswappen,
verstanden als Bildformel für Christus und seinen Kreuzestod, durch Darstellungen aus dem Alten Testament in das theologische Konzept von Gesetz und
Gnade implementiert wurde. Eine spezifische konfessionelle Codierung erfolgte
in den drei genannten Fällen also nicht, indem in die unmittelbare Substanz der
vorhandenen Bilder eingegriffen wurde bzw. ihre Aussagen durch das Entfernen
oder Hinzufügen ikonografischer Elemente verändert worden wären, sondern
40 Vgl. S. Steets, Sinnhafter Aufbau (wie Anm. 5), S. 106–244.
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lediglich durch eine Neugewichtung mit Hilfe von ihnen zur Seite gestellten
Bildern. Diese Strategie der Überlagerung semantischer Felder hatte auch, wie
noch anzusprechen sein wird, Auswirkungen auf das ikonologische Verständnis
der zirkulierenden Bildzeichen.
2. Eine weitere Technik der konfessionellen Codierung von Bildzeichen ist
in den Predigten sichtbar geworden, die die Pfarrer in Zittau und Prag ihren
Gemeinden anlässlich der Einweihung neuer Altäre vortrugen und in denen sie
bekenntnisgerechte Bedeutungshorizonte für diese Bildzeichen aufzeigten. Für
eine weitergehende Interpretation dieser Vorgänge lohnt es sich, aktuelle Methoden der Medienwirkungsforschung in den Blick zu nehmen, die sich allgemein
als anregend für die Diskussion um Bild und Sprache im konfessionellen Diskurs
erweisen. So untersucht die Kommunikationswissenschaft Framing-Prozesse in
aktuellen medialen Diskursen und kommt dabei zu der Erkenntnis, das Frames
bzw. Bedeutungsrahmen „als ‚Sinnhorizonte‘ von Akteuren verstanden“ werden, „die gewisse Informationen und Positionen hervorheben und andere ausblenden“.41 Bedeutungsrahmen sind kommunikative Techniken, mit denen ein
Diskurs erzeugt und konkreten Interessen folgend gesteuert werden soll. Genau
dieses Prinzip wird in den Predigten von Caspar Tralles und Caspar Wagner deutlich. Sie führten den versammelten Gemeindemitgliedern sowie den Lesern der
Druckfassungen ihrer Predigten ihre theologisch fundierte Lesart zu den im Kirchenraum aufgestellten, aus der katholischen Konfessionskultur übernommenen
Bildwerken mit Hilfe strategischer Bedeutungsrahmen vor Augen. Dieser Schritt
kann, um wieder auf das dreistufige Modell von Silke Steets zurückzukommen,
als Objektivierung konfessioneller Codes verstanden werden. Begründet durch
ihre Amtsautorität und getragen von der diese überragenden Autorität der Heiligen Schrift sowie der Schriften der Reformatoren, die Tralles und Wagner in
ihren Predigten als Argumentationsgrundlagen anführten, formulierten sie ihre
Auslegungen zum bekenntnisgerechten Bildverständnis nicht als Möglichkeiten,
sondern als Tatsachen.
3. Den dritten Schritt des Steets’schen Modells, die Internalisierung konfessioneller Codierungen, nachzuvollziehen, scheitert im Fall des frühneuzeitlichen
Sakralraums zumeist an fehlenden Quellen. Es bräuchte Ego-Dokumente von
Rezipienten der exemplarisch angeführten Kunstwerke, aus denen deutlich würde,
ob und wie diese Bilder mit den jeweiligen konfessionellen Codes assoziiert wurden. Weil solche Quellen aber nicht zur Verfügung stehen, ließe sich über diesen
wichtigen Punkt nur spekulieren, was ein grundsätzliches methodisches Problem
für das hier skizzierte Konzept der konfessionellen Codierung darstellt: Da sich
41 J. Matthes, Framing (wie Anm. 6), S. 10.
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nicht nur für die angeführten Beispiele, sondern ganz allgemein für den frühneuzeitlichen Sakralraum nur selten Zeugnisse über die Wahrnehmung von Bildern
finden lassen, erweisen sich jene Kommunikationsvorgänge, die der vorliegende
Text als konfessionelle Codierungen beschreibt, zumeist als nicht in Gänze rekonstruierbar. Fast immer bleibt im Dunkel der Geschichte, ob und wie bestimmte
Setzungen im Umgang mit Bildzeichen tatsächlich verstanden wurden. Auch
das Vorhandensein von normativen Dokumenten wie den Predigten von Caspar
Tralles und Caspar Wagner kann über diese Kluft nicht hinwegtäuschen, da auch
deren Wirkung sich uns letztlich nicht mehr erschließt.
4. Auch wenn sich diese Diskrepanz wohl kaum auflösen lässt, so ist es doch
möglich, aus dem Konzept der konfessionellen Codierungen eine andere Erkenntnis abzuleiten, nämlich dass über die Grenzen der verschiedenen Konfessionskulturen hinweg zirkulierende Zeichen die Kunstgeschichte vor eine weitere methodische Herausforderung stellen: Einer gleichbleibenden Ikonografie muss, wenn
dieser ein anderer Bedeutungshorizont zugewiesen wird, für einen bestimmten
Zeitpunkt letztlich auch eine differierende Ikonologie zugesprochen werden.42
Das klassische Schema von Ikonografie und Ikonologie, wie es maßgeblich von
Erwin Panofsky (1892–1968) entworfen wurde, sah einen solchen Fall kaum
vor, sondern verstand Ikonologie als einem Bild bei seiner Entstehung einmalig
zugeordnetes Bedeutungsfeld, das die kunsthistorische Forschung zu rekonstruieren habe.43 Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman (1906–1998)
hingegen hat in seinem bereits 1978 erstmals erschienenen Werk „Ways of World
making“ gezeigt, wie künstlerische Artefakte parallele Realitäten zu erzeugen
vermögen, je nachdem, mit welchem Symbolsystem man sie erklärt.44 Ernst H.
Gombrich (1909–2001) hat in seiner Kritik der ikonologischen Methode darauf hingewiesen, dass Bildthemen nicht einen einzigen Sinn, sondern mehrere
Bedeutungsschichten bzw. komplexe Sinnreihen aufweisen, die in Abhängigkeit
vom jeweiligen Kontext bzw. Rezipientenwissen mehr oder weniger wirkungsvoll sein können.45
42 Esther Meier hat unlängst auf dieses Phänomen anhand der Hofkunst der Dresdner Wettiner hingewiesen. Vgl. E. Meier, Sakralkunst am Hof zu Dresden. Kontext als Prozess, Berlin
2015.
43 Vgl. E. Panofsky, Ikonographie und Ikonologie, in: E. Kaemmerling (Hg.), Bildende
Kunst als Zeichensystem, Bd. 1: Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme (DTB 83), Köln 1979, S. 207–225.
44 Hier verwendet in der deutschen Übersetzung. Vgl. N. Goodman, Weisen der Welterzeugung (STW 863), Frankfurt/Main 1990.
45 Vgl. E. H. Gombrich, Ziele und Grenzen der Ikonologie, in: E. Kaemmerling (Hg.),
Ikonographie (wie Anm. 43), S. 377–433.
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Kai Wenzel
Für die Frage nach der Wirkung von Bildern im konfessionellen Diskurs ließe
sich daraus ableiten, dass der Vorgang der konfessionellen Codierung identischer Bildzeichen mit differierenden Sinngehalten als ein Weg beschrieben werden kann, parallele Sinnwelten zu erzeugen. Projiziert man diese These auf die
ikonografisch-ikonologische Methode, dann ist zu konstatieren, dass sich durch
konfessionelle Codierungen zur Ikonografie eines Bildes parallele Ikonologien
herausbilden konnten, und zwar ohne dass dafür etwas an der Substanz des Bildwerks selbst verändert werden musste. Exemplarisch lässt sich dafür nochmals
der Bedeutungsrahmen anführen, den Caspar Tralles für die spätmittelalterliche Madonnenfigur im Zittauer Retabel aufgespannt hatte. Obwohl Krone
und Zepter fester Bestandteil der Ikonografie dieser Skulptur sind, identifizierte
der Geistliche sie nicht als jene Himmelskönigin, als die sie in der zeitgleichen
katholischen Marienhymnik glorifiziert wurde. Stattdessen schrieb er der mit
den Attributen einer Herrscherin ausgestatteten Figur lediglich die Rolle einer
Assistentin Christi zu. Ähnlich argumentierte Caspar Wagner in Prag, der in
der Szene der Verkündigung nicht mehr Maria, sondern Christus als zentralen
Sinngehalt ansah. Die Ikonologie der Verkündigungsdarstellung, die der katholischen Reformbewegung zur Legitimation des Dogmas der unbefleckten Empfängnis gegen reformatorische Zweifler diente, lehnte der protestantische Geistliche ab, um dem Werk eine neue, auf den im Bild nicht dargestellten Christus
konzentrierte Bedeutung zuzuordnen. An seinem alten Standort in der Prager
Jesuitenkirche dürfte das Gemälde damit noch eine völlig gegensätzliche ikonologische Interpretation erfahren haben und auch Gegenstand einer anderen
Frömmigkeitspraxis (Rosenkranzgebet) gewesen sein, als sie ihm kurze Zeit später
im lutherischen Sakralraum zugesprochen wurde. In beiden Fällen gingen diese
Bedeutungsverschiebungen aber nicht mit Veränderungen an der Ikonografie
der Bildwerke selbst einher, sondern die ikonologische Aussage wurde lediglich
durch den strategischen Frame eines dominanten Kommunikators verschoben
bzw. – mit Nelson Goodman gesprochen – es wurde ein anderes Symbolsystem
für die Deutung der Ikonografie dieser Bildwerke herangezogen.
Fazit
Mit Blick zurück auf das am Anfang dieses Beitrags angeführte Beispiel der Bildkomposition von Christoph Schwartz und ihre breite Rezeption in der lutherischen Konfessionskultur lässt sich, da hierfür keine derart aufschlussreichen
Schriftquellen zur Verfügung stehen, zumindest hypothetisch annehmen, dass
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auch dieses Bild im katholischen und lutherischen Sakralraum verschiedene,
jeweils den theologischen Prämissen beider Lager entsprechende ikonologische
Bedeutungen besessen haben dürfte. Für die katholische Frömmigkeit des ausgehenden 16. Jahrhunderts wird dabei nicht allein der Kreuzestod Christi die zentrale Nachricht gewesen sein, sondern gleichermaßen die Leiden Mariens unter
dem Kreuz. Christoph Schwartz schilderte diese eindrücklich, in dem er Maria
an prominenter Stelle im unteren rechten Bildteil zusammengesunken zeigt. Ihre
Schmerzen können als emphatische Brücke verstanden werden, die die Gläubigen zur compassio über die Leiden Mariens und damit über die Leiden Christi am
Kreuz führen soll. Für einen lutherischen Sakralraum hätte eine solche Deutung
wohl keine Rolle gespielt, sondern sich die Nachricht des Bildes gänzlich auf den
Kreuzestod Christi und die allein aus ihm erwachsende Hoffnung der Menschheit
auf Erlösung konzentriert. Die zusammengesunkene Gottesmutter hätte dabei
allenfalls als Erzählung aus den Evangelien eine Bedeutung besessen, vermutlich
verbunden mit der Ermahnung, das Leiden Mariens ausdrücklich nicht als emotionale Brücke für den Weg zum Leiden Christi zu verstehen, sondern sich bei
der Betrachtung des Bildes ganz auf den Gekreuzigten zu konzentrieren.
Das Phänomen paralleler Ikonologien, wie sie sich durch das Zirkulieren von
Bildern zwischen den verschiedenen Konfessionen herausbilden konnten, wird
an anderer Stelle auf breiterer Objektbasis weiter zu verifizieren sein. Bereits jetzt
deutet sich jedoch die für zukünftige Diskussionen um Formen und Funktionen
von Bildwerken im konfessionellen Diskurs nicht unerhebliche Erkenntnis an,
dass die Bedeutungsrahmen bzw. Ikonologien von Bildern im konfessionellen
Zeitalter keineswegs auf die Interessen eines Lagers festgelegt gewesen sein müssen,
sondern als dynamische, auf die jeweiligen Deutungshorizonte hin adaptierbare
Felder zu denken sind.
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Marius Winzeler
Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien als Spiegel des
Reformationsprozesses
Oberlausitzer Kunstwerke als Kommunikationsmedien im
konfessionellen Zeitalter
Daß aber gleichwohl die Herren Zittauer ihr Hungertuch über die Zeit behalten, kann ihnen
darum keine Eigensinnigkeit vorgerücket werden, weil sie bisher das Gemälde nur zum Gedächtnis
des Stifters, oder als eine historische Kirchentafel gebrauchet, welches sie mit seinen Bildern geleh
ret, wie ihre alten Vorfahren die heilige Passions-Zeit […] nach Anweisung der alten Kirchen […]
fleißig erwogen und betrachtet haben. Und solcher maßen, als nun von denen Zittauern obsagtes
Hungertuch nur als ein Lehr- und Gedächtnis-Gemälde, insbesonders für die Kinder und Unge
lehrten bis auf unsere Zeiten behalten, und solches, wenn es aufgezogen, für kein Stück des nötigen,
und verdienstlichen Gottesdienstes ausgegeben werden, so muß man sie loben, daß sie des Herrn
Lutheri Sinn und Lehre nach bei solchem […] ihre freie Hand lange genug sehen lassen, zumalen
sie auch damit kein Gewissen verwirret haben.1
Als der evangelische Theologe und Historiker Abraham Frenzel (1656–1740) im
frühen 18. Jahrhundert in seiner bislang nicht edierten Handschrift „Historia
Populi et Rituum Lusatiae Superioris“ die Tatsache beschrieb, dass in Zittau ein
vorreformatisches Fastentuch über die Zeit hinaus behalten und genutzt wurde,
rechtfertigte er dies, indem er das Kunstwerk – das heutige Große Zittauer Fastentuch (Abb. 1) – als ‚historische Kirchentafel‘ und reines Lehr- und Gedächtnisgemälde charakterisierte. Es war ihm aber offensichtlich bewusst, dass die Zittauer
Situation eine besondere war, was umso deutlicher wird, wenn man weiß, dass zum
Zeitpunkt der Abfassung des Geschichtswerkes das besagte Tuch nicht mehr in
Gebrauch war (seit 1672) und Frenzel somit eine bereits vergangene, aber lokal
nach wie vor präsente Situation schilderte. Auf das jüngere und kleinere, nach
der Reformation entstandene und nachweislich bis 1684 in Funktion gebliebene
zweite Zittauer Fastentuch ging der Autor allerdings nicht ein.
1
CWB Zittau, Mscr. A. 33 (A. Frenzel, Historia Populi et Rituum Lusatiae Superioris. Kurz
gefaßte Erzählung von der Oberlausitz Einwohnern und derselben Gewonheiten mit auch
von etlichen Völkern, welche nur eine Zeitlang sich darinnen aufgehalten oder durchgereiset
sind [ca. 1700]), S. 962 f., 965.
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314
Marius Winzeler
Tatsächlich beschrieb der gelehrte Pfarrer der Oberlausitzer Gemeinde Schönau auf dem Eigen damit einen Fall, der seinesgleichen nicht hat.2 Es gibt keinen zweiten Ort, wo wie in Zittau zwei in einem signifikanten historischen
Zusammenhang im 15. und 16. Jahrhundert entstandene Fastentücher erhalten
blieben, eingebettet in eine vielfältige Sakraltopografie und einen bedeutenden
kirchlichen Ausstattungsbestand des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.3
Die Stadt gehörte mit dem umliegenden Zittauer Land seit dem 13. Jahrhundert
zum Bistum und späteren Erzbistum Prag und zur Oberlausitz, die bis 1635 ein
Nebenland der Krone Böhmen war. Während der Hussitenkriege flüchtete ein
Teil des Prager Domkapitels vor den Hussiten hierher, wo bis 1476 ein Weihbischof – Johannes von Grado – seinen Sitz hatte.4 Im Verlauf des 16. Jahrhunderts
erfolgten Annäherungen an die Brüderunität, die Zürcher Reformation sowie
an Martin Luther (1483–1546) und Philipp Melanchthon (1497–1560), wobei
sich der reformatorische Prozess vom ersten reformatorischen Predigtgottesdienst
1521 bis zur vollen Übernahme des Kirchenregiments durch den Rat 1570 rund
50 Jahre hinzog und noch in den 1560er Jahren ernsthafte Überlegungen bestanden, eine langfristige Niederlassung der Jesuiten nicht nur in dem diesem Orden
übergebenen ehemaligen Cölestinerkloster auf dem nahen Berg Oybin, sondern
auch im ehemaligen Franziskanerkloster in der Stadt selbst zu etablieren.5
2
3
4
5
Zu Frenzel vgl. Abrahami Frenzelii Collectaneorum Lusaticorum. Sammlung Lausitzer Sachen
des Abraham Frenzel. Findbuch mit Stichwort-, Personen- und Ortsregister, ed. T. Fröde,
Olbersdorf 1999.
Grundlegend zur Zittauer Kirchengeschichte P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen
(1300–1600). Zum Wandel religiöser Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig
2020; zu den Zittauer Fastentüchern allgemein: Tüchleinmalereien in Zittau und Riggisberg
(Riggisberger Berichte 4), Riggisberg 1996; D. Damzog / V. Dudeck / G. Oettel (Hgg.),
525 Jahre Großes Zittauer Fastentuch – und wie weiter? (MZGMV 27), Zittau/Görlitz 2000;
vgl. auch Die Zittauer Fastentücher (ZG 38), Zittau/Görlitz 2009; P. Knüvener (Hg.), Epitaphien, Netzwerke, Reformation. Zittau und die Oberlausitz im konfessionellen Zeitalter.
Mit einem Bestandskatalog der Zittauer Epitaphien, Zittau 2018.
Zum Exil des Prager Domkapitels vgl. Z. Hledíková, Das Prager Domkapitel und die Diözesanverwaltung im Zittauer Exil, in: M. Winzeler (Hg.), Jan Hus. Wege der Wahrheit. Das
Erbe des böhmischen Reformators in der Oberlausitz und in Nordböhmen (ZG 52), Görlitz/
Zittau 2015, S. 63–75; zum Weih- und angeblichen Titularbischof Johann von Gardar (in
Grönland) vgl. E. A. Seeliger, Der Bischof von Grönland in Zittau, in: ZG 5 (1928), S. 44.
Neuerdings stellte Zdeňka Hledíková (1938–2018) jedoch fest, dass es sich dabei um eine
Fehlinterpretation handelt und das Titularbistum von Grado bei Aquileia gemeint war. Vgl.
Svěcení duchovenstva v církvi podjednou. Edice pramenů z let 1438–1521 / Ordinationes clericorum in ecclesia „sub una specie“. Editio fontium ad Bohemiam Moraviamque spectantium
annis 1438–1521, ed. Z. Hledíkova, Praha 2014.
Vgl. P. Hrachovec, Die Männerklöster in Zittau und im Zittauer Land im Jahrhundert
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Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien
315
Abb. 1: Großes Zittauer
Fastentuch, Tüchleinmalerei
auf Leinen, 1472 [Städtische
Museen Zittau, Inv.-Nr.
2844/510, Foto: Abegg-Stif
tung Riggisberg, Christoph
von Viràg].
Obgleich die zeitgenössische Quellenlage zu den Fastentüchern und übrigen
Kunstwerken dünn und unbefriedigend ist, wie Petr Hrachovec mehrfach
ausgeführt hat, sind die Objekte an sich und der unmittelbar aus dem materiellen
Bestand erschließbare Befund aussagekräftig.6 Eine entsprechende Betrachtung
scheint mir auch deshalb wichtig und erforderlich, da es sich sowohl im Fall beider
Fastentücher als auch des quantitativ heute einzigartigen Zittauer Epitaphienbestandes um Kunstwerke handelt, die lange verloren schienen bzw. vollkommen
unzugänglich waren und erst seit kurzem durch ihre komplexen Restaurierungen
überhaupt wieder materiell wahrnehmbar geworden sind.7 Deshalb gehe ich im
vorliegenden Beitrag hauptsächlich von den Kunstwerken selbst aus und versuche,
6
7
der Reformation, in: P. Knüvener, Epitaphien (wie Anm. 3), S. 31–44, insbesondere
S. 40 ff.
Vgl. Ders., Zittauer und ihre Kirchen (wie Anm. 3), passim; vor allem auch Ders., Die Zittauer Fastentücher im Licht der Kirchenrechnungen der Zittauer Pfarrkirche und Frauenkirche (um 1470–1570), in: Zittauer Fastentücher (wie Anm. 3), S. 24 ff.
Dazu vor allem Tüchleinmalereien (wie Anm. 3); sowie P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie
Anm. 3).
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316
Marius Winzeler
sie aus dem und im historischen Kontext unter den Fragestellungen der diesem
Tagungsband zugrundeliegenden Konferenz zu würdigen: Inwiefern können
Fastentücher und besonders das nachreformatorische Kleine Zittauer Fastentuch
als Kommunikationsmedien gesehen werden? Was sagt das über ihre historische
Bedeutung aus und welche Rolle spielt eine solche Perspektive für die heutige
Wahrnehmung des Kunstwerkes?
Großes und Kleines Fastentuch
Eine wichtige lokale Voraussetzung für das Verständnis des hier besonders interessierenden Kleinen Fastentuches ist sein 101 Jahre davor geschaffener Vorgänger, das Große Zittauer Fastentuch.8 Dieses historisch als Zittauer Hungertuch
bezeichnete Werk war 1472 vom sonst nicht näher bekannten Getreide- und
Gewürzhändler Jakob Gürtler gestiftet worden und stellt mit seiner Größe
von 8,2 mal 6,8 Metern und seinem 90 Szenen umfassenden Zyklus eines der
größten und großartigsten Beispiele für den Vielfelder-Typus der in der Fastenzeit vielerorts verbreiteten vela quadragesimalia dar.9 Das in Tempera auf eine
zusammengenähte monumentale Leinwand gemalte Werk wurde von einer
bisher nicht weiter fassbaren Werkstatt geschaffen, die sowohl mit den gerade
aufkommenden druckgrafischen Vorlagen wie Einblattholzschnitten vertraut
war als auch mit monumentalen Freskenzyklen. Einflüsse aus westlicher Richtung – Niederrhein, Burgund, Niederlande – dürften für die Genese des Werkes ebenso eine Rolle gespielt haben wie Verbindungen zur alpenländischen
Malerei. Im böhmischen bzw. mitteleuropäischen historischen Kontext kann
dem Großen Zittauer Fastentuch jedoch bisher kein konkretes Vergleichswerk
zur Seite gestellt werden.
8
9
Zum Großen Zittauer Fastentuch grundlegend M. Wolfson, Das Zittauer Fastentuch von
1472, in: Tüchleinmalerei (wie Anm. 3), S. 38–69; F. Mennekes (Hg.), Die Zittauer Bibel.
Bilder und Texte zum großen Zittauer Fastentuch von 1472. Mit Fotos von Christoph von
Viràg und einem Nachwort von V. Dudeck, Stuttgart 32012; E. Bünz, Ein Zeugnis spätmittelalterlicher Frömmigkeit aus der Oberlausitz. Neue Forschungen zum Großen Zittauer
Fastentuch von 1472, in: NASG 72 (2001), S. 255–273.
Zur Geschichte der Fastentücher allgemein vgl. R. Sörries, Die alpenländischen Fastentücher. Vergessene Zeugnisse volkstümlicher Frömmigkeit, Klagenfurt 1988; K. Krause, Material, Farbe, Bildprogramm der Fastentücher. Verhüllung des Kirchenraumes des Hoch- und
Spätmittelalters, in: B. Welzel / T. Lentes / H. Schlie (Hgg.), Das „Goldene Wunder“
in der Dortmunder Petrikirche. Bildgebrauch und Bildproduktion im Mittelalter (DMF 2),
Bielefeld 22004, S. 161–181.
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Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien
317
Abb. 2: Johann Daniel de Montalegre, Prospect der Haupt Kirche zu S: Johannis, Kupferstich, 1757 [Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr. 3125,2/32241, Foto: Jürgen Matschie].
Mit hoher erzählerischer Qualität, kompositorisch und auch in den Details
souverän, führt das Tuch die christliche Heilsgeschichte von der Erschaffung
der Welt bis zum Jüngsten Gericht vor Augen. Jeweils 45 Bilder sind dem Alten
und dem Neuen Bund bzw. Testament gewidmet, wobei verschiedene ikonografische Besonderheiten von der Eingebungskraft und Originalität der Maler
zeugen und auch den hohen Anspruch des Auftraggebers verdeutlichen. Auf
dem wie in der spätgotischen Buchmalerei mit Blüten dekorativ gehaltenen
Rahmen fassen Medaillons mit den Evangelistensymbolen und einer Darstellung des Moses als Autorenbilder die biblische Erzählung ein; auf dem unteren
Rand ließ sich der Auftraggeber zudem selber darstellen, dazu die Wappen von
Zittau sowie die Jahreszahl 1472. Helmut Hegewald konnte durch seine
genaue sprachhistorische Analyse der jedem Bildfeld beigegebenen Verszeilen
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Marius Winzeler
Abb. 3: Karl Christian Eschke, Grundriss der
Johanniskirche Zittau vor 1757, Kupferstich,
um 1800 [Städtische Museen Zittau, Inv.-Nr.
175/32241, Repro: Städtische Museen Zittau].
nachweisen, dass das Werk in der näheren Umgebung Zittaus entstanden sein
muss und kein Import war.10
Bestimmungsort des Tuches war die Zittauer Hauptkirche St. Johannis, gleichzeitig auch die Kirche der Zittauer Johanniterkomturei, wobei der Prior des Böhmischen Priorats mit Sitz in Strakonitz/Strakonice das Patronat innehatte.11 (Abb. 2)
Die Kirche war im Verlauf des 15. Jahrhunderts von einer dreischiffigen zu einer
vierschiffigen Halle ausgebaut worden, wobei um 1480 diese Erweiterung vollendet wurde, sich weitere Bauarbeiten aber ins 16. Jahrhundert hinzogen.12 (Abb. 3)
10 Vgl. H. Hegewald, Die Inschriften auf dem Zittauer Hungertuch von 1472. Eine sprachhistorische Analyse, unpubl. Typoskript, Zittau 2015.
11 Vgl. P. Hrachovec, Männerklöster 2018 (wie Anm. 5), S. 31, 35–38.
12 Zu St. Johannis Zittau zusammenfassend G. Grosse (Hg.), Sankt Johannis Zittau. Kirchen,
Kulturstätte, Baudenkmal. Eine kulturhistorische Dokumentation über die Johanniskirche
von den Anfängen bis zur Gegenwart, Zittau 2016; darin für unseren Zusammenhang P.
Hrachovec, Ausgewählte Aspekte aus der Geschichte der Johanniskirche in Spätmittelalter
und Frühneuzeit, S. 9–30; H. Hegewald, Inschriften der alten Johanniskirche, S. 36–46; M.
Winzeler, Die Fastentücher und andere Ausstattungsstücke aus der alten Johanniskirche.
Gerettete und untergegangene Kunstwerke aus fünf Jahrhunderten, S. 47–59.
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Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien
319
Jeweils zwischen Aschermittwoch und Karfreitag schirmte die monumentale textile
Bilderwand den Chorraum von den Blicken der Laien im Langhaus ab: Sie hing
im von Westen vierten Joch, nahm das gesamte Mittelschiff ein und verdeckte
so das Geschehen am Hochaltar, um symbolisch das Fastengebot zum Ausdruck
zu bringen. Mit der Verhüllung des gesamten Presbyteriums erhielt dieser Raumbereich gleichzeitig eine Betonung: Der Vorgang der Verhüllung veränderte den
Raum und akzentuierte dessen sakrale Aufladung. Diesen theatralischen Effekt
lehnten die Reformatoren ab, was zum Verlust der meisten Fastentücher führte.
In Zittau allerdings überdauerte der Brauch, wie bereits gesagt, die Reformation
und erfuhr sogar noch eine Steigerung, als ab Mitte des Jahrhunderts die Ausstattung der Kirche erneuert und in diesem Zusammenhang ein zweites Fastentuch geschaffen wurde, das fortan mit dem bereits vorhandenen gemeinsam in
der Fastenzeit zum Einsatz kam – im Unterschied zum Großen Tuch nicht als
Raumteiler, sondern als Verhüllung des damals eben neu geschaffenen Altars, der
ein älteres Hochaltarretabel ersetzte, das 1489 – mithin 17 Jahre nach Entstehung
des Großen Fastentuches – aufgestellt worden war.
Mit der allmählichen Übernahme der Reformation ging eine umfassende
Neugestaltung der Kirche einher. So erfolgte um 1550/60 eine Neuausmalung
des wahrscheinlich reich figurierten spätgotischen Gewölbes und der Wände
durch zwei aus Pirna nach Zittau gekommene Maler, Jakob Flechtener und Jobst
Dorndorf mit seinem Sohn. Sie hatten zuvor die Deckenbilder der Pirnaer Marienkirche geschaffen, in deren Art man sich also auch die offenbar reiche Ausmalung in Zittau vorstellen darf.13 1557 malte Flechtener in der Johanniskirche einen
(böhmischen?) Löwen, einen Delphin und Lilien, 1559 zudem das Stadtzeichen
Z. 1563 ist überliefert, dass Dorndorf die Apostel, Salvator, ein großes Kruzifix,
Pilatus mit Christus und eine Rose in der Kirche malte. 1564 war es wiederum
Flechtener, der den Chor mit zahlreichen Wappen versah und zudem für Darstellungen der alttestamentlichen Geschichte von Elkana und seinen Söhnen,
des heiligen Christophorus, eines Löwen und des Stadtzeichens Z bezahlt wurde.
Gleichzeitig wurde auch die übrige Ausstattung erneuert, wobei die zeitliche
Abfolge durchaus in Bezug auf die zunächst praktische und dann symbolische Relevanz des entsprechenden Mobiliars bzw. der Bilder zu sehen ist.14 Es erstaunt daher
13 Vgl. M. Kern, Tugend versus Gnade. Protestantische Bildprogramme in Nürnberg, Pirna,
Regensburg und Ulm (BSK 16), Berlin 2002; Dies., Gesetz und Gnade – die reformatorische
Predigt in den Deckenmalereien der Marienkirche, in: A. Sturm (Hg.), Die Stadtkirche St.
Marien zu Pirna, Pirna 2005, S. 47–55.
14 Vgl. K. Wenzel, Transformationen sakraler Räume im Zeitalter der Reformation. Programmatische Ausstattungsstücke in den Stadtkirchen der Oberlausitz, in: L. Bobková / J.
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320
Marius Winzeler
nicht, dass wie andernorts zuerst eine neue Kanzel entstand – in Zittau 1558 ein
Werk des in Breslau geborenen und in Dresden ansässigen Bildhauers Christoph
Walter II (1534–1584), der hier mit dem Steinmetz Hans Schorl zusammenarbeitete. 1560 folgte ein neuer zinnerner Taufstein, ein Gemeinschaftswerk des
Bildhauers Jakob Felsch mit dem Zinngießer Paul Weise und dem Maler Jakob
Flechtener. Dazu gehörten auch ein neuer Deckel und ein Gitter, wofür man
offenbar den Lettner der Franziskanerkirche umgearbeitet hatte. 1566 wurde
schließlich ein großer Renaissancealtar aufgestellt, ein 1572 vollendetes Werk des
Bildschnitzers Jakob Felsch und des Malers Adam aus Jungbunzlau/Mladá Boleslav, das man sich nach erhaltenen Beschreibungen als Retabel mit einem viergeschossigen Mittelteil und zwei Flügeln vorstellen kann, dessen Bildprogramm die
christliche Heilsgeschichte zusammenfasste: Außen auf den Flügeln war in etlichen Bildern die Passionsgeschichte dargestellt. Geöffnet zeigte der Mittelschrein
unten das Abendmahl, darüber Kreuzigung, seitlich die Opferung Isaaks und die
Aufrichtung der ehernen Schlange, im Auszug Auferstehung und Himmelfahrt
Christi. Figuren der vier Evangelisten fassten den Schrein zusammen, der zudem
die Wappen der damaligen Kirchenvorsteher aufwies sowie acht deutsche und
lateinische Bibelverse, dabei an zentraler Stelle das auf Christus bezogene Wort
Johannis: Ego sum Via, Veritas & Vita ( Joh 14, 6).15
Zur Verhüllung dieses Retabels diente das besagte, 1573 datierte zweite, sog.
Kleine Fastentuch (4,3 m Höhe und 3,5 m Breite): (Abb. 4) Inngleichen ward in
der Fasten vor das Altar ein Tuch aufgehänget […]. Dieses Tuch ist a[nn]o. 1573.
Gemacht / und nachdem es a[nn]o. 1684. zu letzt gehangen, abgeschafft worden.16
Das kleinere Format des neuen Fastentuches bedingte eine andere bildliche Darstellungsart, als es beim Großen der Fall ist: In einem Rahmen mit den Arma
Christi (den Instrumenta Passionis, den Marterwerkzeugen), Inschriften und der
Datierung 1573 prangt ein einzelnes Bild, die monumentale Darstellung des
Gekreuzigten.17 Dabei ist das Kreuz seitlich im Bild platziert. Ein Engel fängt das
Konvičná (Hgg.), Náboženský život a církevní poměry v zemích Koruny české ve 14.–17.
století [Religiöses Leben und kirchliche Verhältnisse in den Ländern der böhmischen Krone
im 14.–17. Jahrhundert] (KZ 4), Praha 2009, S. 332–354.
15 J. B. Carpzov, Analecta Fastorum Zittaviensium […] Tle. I–V, Zittau 1716, hier T. I, S. 57;
vgl. auch C. Gurlitt, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des
Königreichs Sachsen, H. 30: Zittau (Stadt), Dresden 1907, S. 5.
16 J. B. Carpzov, Analecta I (wie Anm. 15), S. 65.
17 Zum Kleinen Zittauer Fastentuch vgl. M. Wolfson, Das Zittauer Fastentuch von 1573, in:
Tüchleinmalerei (wie Anm. 3), S. 100–106; V. Dudeck, Das Kleine Zittauer Fastentuch von
1573, in: L.-A. Dannenberg / M. Herrmann / A. Klaffenböck (Hgg.), Böhmen –
Oberlausitz – Tschechien. Aspekte einer Nachbarschaft (NLM Beiheft 4), Görlitz/Zittau
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Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien
321
Abb. 4: Kleines Zittauer
Fastentuch, Tüchleinmalerei
auf Leinen, 1573 [Städtische
Museen Zittau, Inv.-Nr.
2834/510, Foto: Abegg-Stif
tung Riggisberg, Christoph von
Viràg].
Blut auf und umschwebt Jesus. Darüber öffnet sich der Himmel und Gottvater
erscheint in einer Lichtglorie, getragen von Engeln, mit ausgebreiteten Armen,
um den Sohn aufzunehmen – ein Motiv, das auf Michelangelos (1475–1564)
Ausmalung der Sixtinischen Kapelle zurückgeht. Der Spannungsbogen vom
Schädel als Symbol Adams in der linken unteren Ecke über den Gekreuzigten zu
Gottvater fasst das Heilsgeschehen und Erlösungswerk zusammen. Am Fuß des
Kreuzes kniet Maria Magdalena, während rechts vom Kreuz Johannes der Evangelist mit erhobenen Armen die Mitte der Komposition bildet, begleitet von der
trauernden Muttergottes, die die Arme ausbreitet, um Johannes an Sohnes statt
zu sich zu nehmen. Die erzählende Gestik illustriert die letzten Worte Jesu nach
der Überlieferung des Johannes, womit das Bild eine Wortdarstellung geworden
ist. Der bisher namentlich nicht fassbare Künstler, der wohl unter den Malern
zu suchen ist, die im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die Neuausstattung der
Kirche realisierten – Jakob Flechtener, Jobst Dorndorf, Meister Adam, Heinrich
Bocksberger (ca. 1543–1600) –, griff für die ungewöhnliche Darstellung auf eine
2006, S. 109–118; V. Dudeck / M. Winzeler, Das Kleine Zittauer Fastentuch, in: Zittauer
Fastentücher (wie Anm. 3), S. 18–23.
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322
Marius Winzeler
Abb. 5: Hieronymus Cock,
Kreuzigung Christi, Kupferstich nach einer Zeichnung
von Lambert Lombard,
Vorlage für das Kleine Zittauer
Fastentuch, Antwerpen 1563
[Rijksmuseum Amsterdam,
Inv.-Nr. RP-P-2000-6, Foto:
Rijskmuseum Amsterdam].
Komposition des wallonischen Künstlers Lambert Lombard (1505/06–1566)
zurück, die durch einen Kupferstich des Antwerpeners Hieronymus Cock (ca.
1510–1570) von 1563 vermittelt wurde.18 (Abb. 5)
Der besondere Sinn dieser Darstellung erschließt sich, wenn man das Programm
des vom Tuch verdeckten Altars dazu in Beziehung setzt: Während dort in mehreren Darstellungen die Heilsgeschichte erzählt wird, die in Auferstehung und
Himmelfahrt kulminiert, konzentriert sich das Geschehen auf dem Mittelbild
des Tuches auf ein einziges Ereignis: den Moment, in dem Christus stirbt. Alles
Narrative ist auf die Marterwerkzeuge auf dem Rahmen reduziert, anhand derer
das ganze Geschehen meditiert werden konnte. So forderte das Bildprogramm des
Tuches die Gläubigen auf zum Innehalten und Nachdenken über Tod und Opfer
18 Vgl. G. Denhaene, Lambert Lombard. Renaissance et humanisme à Liège, Antwerpen 1990,
S. 21, 100, 315, Nr. 31; I. Lecocq, Lambert Lombard et le voile de Carême de Zittau de 1573, in:
RBAHA 68 (1999), S. 171–175; Dies., Un dessin de la Crucifixion attribué à Lambert Lombard
et le vitrail de la Crucifixion de la cathédrale Saint Paul à Liège, in: H. Verougstraete / J.
Couvert (Hgg.) / R. Van Schoute / A. Dubois (Mitarb.), La peinture ancienne et ses
procédés. Copies, répliques, pastiches (Le dessin sous-jacent et la technologie dans la peinture.
Colloque 15), Leuven/Paris/Dudley 2006, S. 258–265.
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Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien
323
Christi. Und dabei wurden sie in besonderer Weise an den Schutzpatron ihrer
Kirche erinnert, Johannes den Evangelisten, aus dessen biblischer Überlieferung
die Bildszenerie entwickelt wurde.19 Entsprechend stammen auch die Inschriften
auf den Schrifttafeln unten aus dem Johannesevangelium. Sie bezeichnen und
kommentieren den Bildinhalt wie bei einem Emblem, wobei sie überraschenderweise wie schon am Altar in lateinischer Sprache gehalten sind:
IOAN: II / ECCE AGNVS DEI ECCE QUI TOLLIT PECCATA MVNDI. (Siehe, das ist Gottes Lamm,
welches der Welt Sünde trägt – Johannes 1, 29)
SIC DEVS DILEXIT MVNDVM, VT FILIVM SVVM VNIGENITVM / DARET VT OMNIS QUI CRE
DIT IN EVM NON PEREAT SED HA-, / BEAT VITAM AETERNAM. IOAN: II. (Also hat Gott die
Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren
werden, sondern das ewige Leben haben – Johannes 3, 16).
Bild und Wort
Da schon die erwähnte flämische Kupferstichvorlage für das Kleine Zittauer
Fastentuch die gleichen Inschriften aufweist, scheint sich die Frage zu erübrigen,
weshalb man 1573 für ein Fastentuch zur Verhüllung eines dezidiert evangelischen
Altars lateinische Bibelworte verwendete. Man hätte sie, wenn sie denn Auftraggebern und Betrachtern unpassend erschienen wären, problemlos ins Deutsche
übersetzen können, was allerdings nicht erfolgte. Man könnte anfügen, dass die
Liturgie in Zittau bis ins späte 17. Jahrhundert in lateinischer Sprache gehalten
wurde und diese Einsetzungsworte des Abendmahls deshalb selbstverständlich
auch von jenen Gottesdienstteilnehmern verstanden wurden, die sonst des Lateinischen nicht mächtig waren. Trotzdem aber befriedigen diese Aussagen nicht
vollends, weshalb hier ein etwas weiterer Blick auf den Kontext vom Gebrauch
von Bild und Wort bei den Zittauer Fastentüchern und anderen Ausstattungsstücken gerichtet sei.
Dabei ist zunächst nochmals hervorzuheben, dass auf dem Großen Fastentuch
jedes der 90 Bilder von einem erläuternden Vers in deutscher Sprache begleitet
19 Die Zittauer Johanniskirche war ursprünglich sowohl Johannes dem Täufer als auch Johannes dem Evangelisten geweiht; im Verlauf des späten Mittelalters rückte jedoch Johannes der
Evangelist zusehends in den Vordergrund, was sich noch an der bildlichen Ausgestaltung der
heutigen Kirche Karl Friedrich Schinkels (1781–1841) äußert. Vgl. M. Winzeler, Mit so ge
fälliger Bereitwilligkeit und dem völligen Vertrauen auf meinen Entwurf … durchgeführt. Zwei
unbekannte Originalzeichnungen Karl Friedrich Schinkels für die Zittauer Johanniskirche,
in: Macht und Ohnmacht. 250 Jahrestag der Zerstörung Zittaus am 23. Juli 1757 (ZG 34),
Zittau/Görlitz 2007, S. 39 ff.
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324
Marius Winzeler
wird, woraus sich als Ganzes ein großes, bisher anderweitig nicht bekanntes
Gedicht ergibt, das in seiner literarischen Form sehr eingängig die christliche
Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht zusammenfasst. Die in schwarzen gotischen Minuskeln auf hellem Grund gemalten
Buchstaben sind dabei auch aus der Ferne und auch bei reduziertem Raumlicht
deutlich lesbar und waren so den des Lesens mächtigen Betrachtern zweifellos
ebenso leicht zugänglich wie die bei aller künstlerischen Qualität geschickt auf
das Wesentliche reduzierten und klug komponierten Bilder mit ihren gut erkennbaren wiederkehrenden Gestalten. Die didaktische und volkstümliche Funktion
des Tuches als Bilderbibel wird durch die entsprechende Form akzentuiert. Dass
das hier in Volkssprache realisierte Prinzip der vermittelnden und auslegenden
Verbindung von Bild und Wort in Zittau offensichtlich gute Resonanz gefunden
hat, populär war, zeigt sich nicht nur im Umstand der einzigartigen longue durée,
die den Gebrauch des Werkes auszeichnet, sondern auch in den Nachfolgewerken.
Dabei ist insbesondere an die 1561/62 vom Tischler und Schnitzer Bernd
Schneider und dem schon genannten Maler Jobst Dorndorf im Auftrag des Stadtrichters Johann Rodochs († 1566) gelieferte Tafel mit Darstellungen der Zehn
Gebote zu erinnern, die zwischen den Beichtstühlen im Chor der Kirche hing
und schon 1686 entfernt wurde, aber wenigstens in ihrer Inschrift überliefert ist:
In Ergänzung zu den bildlichen Darstellungen der Zehn Gebote, die man sich
vielleicht wie auf der bekannten Tafel Lucas Cranachs d. Ä. (1472–1553) in der
Stadtkirche St. Marien in Wittenberg vorstellen darf, wurde in deutscher Sprache
antithetisch jedem Gebot sein Gegenteil gegenübergestellt – eine recht sarkastische Form, die aber ihre Wirkung nicht verfehlt haben dürfte und sicherlich
wesentlich dazu beitrug, die richtigen Gebote eingängig zu vermitteln.20 Ähnliches bezweckte man zweifellos auch mit dem nunmehr sogar lateinisch-deutschen
Kommentar auf der 1586 datierten und leider ebenfalls verlorenen Bildtafel der
Klugen und Törichten Jungfrauen, die bis 1757 erhalten blieb und mehrfach
dokumentiert wurde.21
Schließlich sei auch auf die 42 Epitaphien der Johanniskirche verwiesen, die
zwar gleichfalls verloren, jedoch in ihren Inschriften überliefert sind – wie bei
diesem Bildtypus mit Bibelzitaten und biografischen Angaben, meist in deutscher
Sprache.22 Sie waren an Pfeilern, an den Emporen und Wänden angebracht und
20 Vgl. die komplette Transkription nach CWB Zittau, Mscr. A 91 (C. Doering, Dies Caniculares) bei H. Hegewald, Inschriften (wie Anm. 12), S. 44.
21 Vgl. CWB Zittau, Mscr. A 91 (C. Doering, Dies Caniculares), S. 39; J. B. Carpzov I (wie
Anm. 15), S. 67; H. Hegewald, Inschriften (wie Anm. 12), S. 45.
22 Helmut Hegewald unterzog sich der Mühe, alle in den handschriftlichen und gedruckten
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Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien
325
Abb. 6: Epitaph für Matthias Schemisch, ehemals in der Frauenkirche
Zittau, 1586 [Städtische Museen
Zittau, Inv.-Nr. 7580/54, Foto: Jürgen
Matschie].
oftmals von beträchtlicher Größe. Da es sich hauptsächlich um Denkmäler für
Vertreter der bürgerlichen Elite – des Rates, wichtiger Geschlechter – handelte,
dürften sie mindestens so prächtig gestaltet gewesen sein wie die herausragenden und größten Beispiele der rund 70 erhaltenen Epitaphien aus der Frauen-,
Kreuz- und Klosterkirche.23 Das älteste Epitaph in St. Johannis war um oder kurz
nach 1520 entstanden, die meisten stammten aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert, während die letzten im frühen 18. Jahrhundert eingebracht wurden (um
1706/1711). Als deutlicher Reflex auf die Wirkmächtigkeit des Großen Fastentuchs und somit als ein Beleg für dessen langanhaltende Popularität ist hier das
1586 datierte Epitaph für den Kürschner Matthias Schemisch zu nennen, in dessen
Quellen nachweisbaren Epitaphien in St. Johannis zu dokumentieren und ihre Inschriften
vergleichend zusammenzustellen. Vgl. H. Hegewald, Zittaus untergegangener Schatz. Anmerkungen zur Geschichte der Zittauer Epitaphien, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien
(wie Anm. 3), S. 249–263.
23 Vgl. M. Winzeler, Der Zittauer Epitaphienschatz und seine Rettung, in: U. Koch / K.
Wenzel (Hgg.), Unsterblicher Ruhm: Das Epitaph des Gregorius Mättig und die Kunst des
17. Jahrhunderts in der Oberlausitz (Memoria Maettigiana 1), Görlitz/Zittau 2013, S. 183–202;
P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3).
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326
Marius Winzeler
unterem Teil sechs der sieben Werke der Barmherzigkeit szenisch wiedergegeben
sind, in quadratischen Feldern und jeweils mit einer erläuternden Inschrift versehen, formal genau wie auf dem Tuch von 1472 gelöst.24 (Abb. 6)
Den Zittauer Fastentüchern, Bekenntnis- und Gleichnistafeln sowie Epitaphien
ist gemein, dass auf ihnen Bild und Wort gleichermaßen wichtig sind, wodurch
ihnen eine herausragende Rolle in der Vermittlung von Inhalten der Glaubenslehre
zukommt – ein didaktischer Aspekt, der ebenso als Ausdruck humanistischer Bildung wie reformatorischer bzw. vorreformatorischer Gesinnung erkannt werden
kann. Schon das deutlich vorreformatorische Große Fastentuch hat – wie schon
Abraham Frenzel im frühen 18. Jahrhundert zu Recht hervorhob – Lehrcharakter,
wobei die hier angewandte Didaktik Bibelexegese, Elemente der Devotio moderna
und der franziskanischen Theologie vereint; Letztere in der obersten Bildreihe
mit der kompositorisch besonders starken, auch auf weite Distanz gut lesbaren
Wiedergabe der Schöpfungsgeschichte. Für eine bewusste Volkstümlichkeit der
Darstellungen schreckte man auch vor kalkulierter Kirchenkritik nicht zurück,
so in der Szene der Versuchung Christi in der Wüste, wo der Teufel in Gestalt
eines Bettelmönches mit Rosenkranz dem Heiland entgegentritt (Bild VII /7).
(Abb. 7) Man ist versucht, darin ein Dokument dezidiert vorreformatorischen
Charakters zu sehen, wie das schon 1894 Franz Krohn25 und nach ihm 1988
Reiner Sörries hervorhoben,26 wobei Letzterer unter anderem daraus allgemein schloss, „daß die Fastentücher nicht nur ‚zufällig‘ reformatorischen Geist
besitzen, sondern daß sie selbst mit dazu beigetragen haben, den Boden für die
Erneuerung der Kirche vorzubereiten“.27
Um aber auf die Frage zurückzukommen, weshalb gerade bei den der Erneuerung des späten 16. Jahrhunderts entstammenden Ausstattungsstücken mehrfach
und offensichtlich sogar mit einer besonderen Vorliebe lateinische Bibelzitate
zur Anwendung kamen, so sehe ich dies im Einklang mit einer gewissen Entwicklung im Zittauer Reformationsprozess, in der die gut ausgebildete, zum Teil
studierte und humanistisch orientierte städtische Elite eine wesentliche Rolle
spielte. Nachdem anfangs die Impulse hauptsächlich von geistlicher Seite kamen
und zwar von Laurentius Heidenreich (ca. 1484/85–1557), der Martin Luther in
24 Vgl. P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 391 ff., Nr. 4.
25 Mit Bezug auf ein aus dem Jahr 1852 stammendes Zitat von Heinrich Wilhelm Schulz
(1808–1855), dem damaligen Vorsitzenden des Sächsischen Altertumsvereins. Vgl. F. Krohn,
Das Hungertuch im städtischen Museum zu Zittau (Mitteilung der Gesellschaft für Geschichte
Zittaus), Zittau 1894, S. 8.
26 Vgl. R. Sörries, Alpenländische Fastentücher (wie Anm. 9), S. 353 f.
27 Ebd.
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Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien
327
Abb. 7: Großes
Zittauer Fastentuch, Bild VII/7:
Versuchung Christi,
Tüchleinmalerei auf
Leinen, 1472 [Städ
tische Museen Zittau,
Inv.-Nr. 2844/510,
Foto: Abegg-Stiftung
Riggisberg, Christoph
von Viràg].
Wittenberg und wahrscheinlich auch während dessen Leipziger Disputationen
mit Johann Mayr von Eck (1486–1543) im Sommer 1519 gehört hatte, spielten
nach 1533 vor allem von Philipp Melanchthon nach Zittau vermittelte Gelehrte
eine wegweisende Rolle im Politik- und Geistesleben der Stadt: Konrad Nesen
(1496–1560), Nicklaus Dornspach (1516–1580), Andreas Mascus und Martin
Tektander (1506–1579). Dabei formten Bildung, Wohlstand und Macht eine
Elite, deren Mitglieder auch als Auftraggeber von Kunstwerken eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung einnahmen.28
Für das ambitionierte Projekt des neuen Altars in der Johanniskirche samt des
für ihn geschaffenen Fastentuches dürfte in diesem Zusammenhang durchaus
entscheidend gewesen sein, dass es dieser humanistisch-protestantisch ausgerichteten Elite zwischen 1566 und 1570 gelang, die Patronatsrechte und -pflichten
und damit das Kirchenregiment vollumfassend von den Johannitern zu erwerben
und damit weltliche sowie kirchliche Macht zu vereinen. Der Rat übte fortan die
28 Zur Reformationsgeschichte Zittaus vgl. C. Stempel, Die Reformationszeit in Zittau, in:
P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 25–30; vor allem aber P. Hrachovec,
Zittauer und ihre Kirchen (wie Anm. 3), S. 317–337.
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328
Marius Winzeler
Abb. 8: Frauenkirche Zittau, Inneres mit Altar und Epitaphien
des 17. Jahrhunderts, anonyme
Fotografie um 1890 [Städtische
Museen Zittau, Inv.-Nr. 34 SG
32244, Foto: Städtische Museen
Zittau].
Patronatsherrschaft aus, weshalb seine Mitglieder nun auch anstelle der Johanniter in deren hervorgehobenem Gestühl im Chorraum der Kirche ihren Platz
einnehmen durften. In der Fastenzeit saßen sie nun allerdings hinter dem großen Hungertuch. Nachdem der neue Altar zweifellos als vornehmstes Zeichen
der neuen Kirchenherrschaft vollendet war, könnte dies ein wesentlicher Grund
dafür gewesen sein, dass zu seiner Verhüllung ein zweites Tuch in Auftrag gegeben
wurde: Die städtische Elite im Chorraum verfügte damit über einen eigenen und
exklusiven Anteil an der bedeutungsvollen theatralischen Verhüllung des Sakralraumes. Entsprechend ist auch die selbstverständliche Anwendung der lateinischen Sprache durchaus konsequent als Ausdruck eines bildungsorientierten
innovativ-elitären bürgerlichen Selbstverständnisses zu werten und keineswegs
als Reminiszenz an die vorreformatorische Zeit.
Ein Beispiel, das auch für die unmittelbare Folgezeit belegt, wie intensiv man
sich damals in Zittau mit Fragen der Wirkmächtigkeit von Bildern und einer entsprechenden Korrektur, Rechtfertigung bzw. Kommentierung durch das Wort –
und dies erneut in lateinischer Sprache – auseinandergesetzt hat, ist der Altar der
Frauenkirche, dem ältesten Gotteshaus der Stadt, das im Lauf des 16. Jahrhunderts
baulich verkleinert zum Erinnerungsort und zur Begräbniskapelle umgestaltet
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Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien
329
Abb. 9: Madonna im Strahlenkranz, um
1510–1520, Schrein des Altars in der
Frauenkirche Zittau von Lorenz Hertwig,
1617 [Foto: Jürgen Matschie].
worden ist.29 (Abb. 8) Anlässlich der Neugestaltung des Innenraumes mit Emporen,
die auch Raum boten für eine schon fast überreiche Fülle von Epitaphien, wurde
eine spätgotische Schreinmadonna aus der Johanniskirche in ein neues Flügelretabel integriert, dessen Ikonographie ganz auf die vorreformatorische Darstellung
ausgerichtet ist, wobei das Programm in der mit großen Majuskeln verfassten
Inschrift MARIA HONORANDA, NON ADORANDA seinen Schlüssel findet.30 (Abb. 9)
29 Vgl. P. Hrachovec, Slavnostní vysvěcení interiéru kostela Panny Marie v Žitavě 8. září 1619.
Příspěvek k poznání raně novověkého luteránského sakrálního prostoru v zemích Koruny české
[Die feierliche Weihe der Ausstattung der Frauenkirche in Zittau am 8. September 1619. Ein
Beitrag zur Kenntnis des frühneuzeitlichen lutherischen Sakralraumes in den Ländern der
Böhmischen Krone], in: Fontes Nissae 11 (2010), S. 11–46.
30 Vgl. K. Zinnow, Maria in der Kunst der Reformationszeit in Schlesien und der Oberlausitz,
in: M. Winzeler (Hg.), Lausitzer Madonnen zwischen Mystik und Reformation (Z G 36),
Zittau/Görlitz 2008, S. 30–33; P. Knüvener, Was bleibt? Was kann weg? Die Umwandlung
mittelalterlicher Kirchenausstattungen nach Einführung der Reformation in Brandenburg
und in den Lausitzen, in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.), Reformationen vor Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im
16. Jahrhundert (SBVL 20), Berlin 2017, S. 362–389, hier S. 377–383.
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330
Marius Winzeler
Der Verzicht auf Fastentücher und Wandlungen im Bildverständnis
Wie eingangs zitiert, hat Abraham Frenzel um 1700 nach Abschaffung der Fastentücher in Zittau deren Gebrauch durchaus legitimiert und retrospektiv hervorgehoben, dass die Zittauer ihre Fastentücher auch nach der Reformation
benutzten. Ihm war aber offensichtlich das Verdikt Martin Luthers bekannt, der
1526 in seiner Schrift „Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes“ gegen
den Fortgebrauch von Fastentüchern und ähnlichem ‚päpstischen Gaukelwerk‘
gewettert hatte:
Die fasten, palmtag und marterwochen lassen wyr bleiben, nicht das wyr yemand zu fasten zwin
gen, sondern das die passion und die Euangelia, so auff die selbige zeyt geordenet sind, bleyben
sollen; doch nicht also, das man das hunger tuch, palmen schiessen, bilde decken und was des gau
ckel wercks mehr ist, halten odder vier passion singen odder acht stunden am karfreytag an der
passion zu predigen haben.31
1530 hatte er zwar in der „Vermahnung an die Geistlichkeit, versammelt auf dem
Reichstag zu Augsburg“ seine Meinung zu den während der Quadragesima in den
Kirchen benutzten Gegenständen wie folgt relativiert:
In der Fasten. […], Hungertuch, Bilder verhüllen […]. Wohl ist’s wahr, dass unter obgezehlten
Stücken etliche sind, die nicht zu verwerfen sind, und derselben etliche sind gefallen, die ich nicht
wollt, dass sie gefallen wären, können aber leichtlich wieder aufkommen […]. Und dass ich kurz
meine Meinung sage, so ist das die Summa davon: Wenn man hätte solche Stücke lassen bleiben ein
Kinderspiel vor die Jugend und junge Schüler, damit sie hätten ein kindlich Bilde gehabt Christli
cher Lehre und Lebens, wie man doch muss Kindern […] Puppen, Pferde, und ander Kinderwerk
fürgeben, […] so wäre es wohl zu leiden, dass man Palmesel, Himmelfahrt und dergleichen viel
ließe gehen, und geschehen; denn da wäre kein Gewissen damit verwirret.32
Im protestantischen Umfeld blieben Fastentücher jedoch fortan die Ausnahme –
außer dem Zittauer Beispiel ist bislang nur als reformatorischer Sonderfall belegt,
dass 1629 der evangelische Adlige Hans Khevenhüller († 1632) für die katholische
31 M. Luther, Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts. 1526, in: WA, Bd. 19, Weimar
1897, S. 44–113, hier S. 112.
32 SLUB Dresden, Mscr. Dresd. A 155 (Einige Schriften Luthers 1528–1540), hier: M. Luther,
Vermanung an die Geistlichen versamlet auff dem Reichstage zu Augsburg Anno 1530, fol.
1r–40r, hier fol. 37r, 38v: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/156496/9/0/
(letzter Zugriff am 16.2.2020).
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Die Zittauer Fastentücher und Epitaphien
331
Pfarrkirche St. Georgen in Sternberg/Kärnten ein heute noch dort in Gebrauch
befindliches Fastentuch stiftete.33
In Zittau schien der kirchlichen Obrigkeit gegen 1670 ein weiterer Gebrauch
des Großen und bald darauf 1684 auch des Kleinen Fastentuches suspekt, wenngleich offensichtlich der Brauch in der Bürgerschaft weiterhin beliebt war. Deshalb
griff man zu einer Notlüge und erklärte den Zustand des Großen Fastentuches
als ungenügend und gefährlich. Der Zittauer Gymnasialrektor und bedeutende
Autor Christian Weise (1642–1708) formulierte es 1672 so: So ist das Hunger=
Tuch zurissen, Und hat die Zeit, so alles frisst, Auch diese Leimbt entzwey gebissen
Daß sie nun voller Löcher ist Und dass man sie so hoch hinan Nicht ohne Schaden
hengen kan.34 1716 übernahm der Historiker Johann Benedikt Carpzov (1675–
1739) diese Erklärung: Nachdem es 200. Jahr gehangen hatte, wurde es anno 1672.
gar abgeschafft, weil es von dem Staube ziemlich verderbet und mürbe worden, daß
zu befürchten war, es möchte einmahl unter dem Gottesdienste herabreißen, und
durch seinen Fall Schaden und Lermen in der Kirchen anrichten.35
War auch das beschriebene Schadensbild tatsächlich mehr Dichtung als Wahrheit, wie der Befund im 19. und 20. Jahrhundert vor 1945 erwies – bis 1945 war
das Tuch in ausgezeichnetem materiellen Zustand –, so ist doch gesichert, dass
seither weder das hier gemeinte heutige Große, noch das Kleine Zittauer Fastentuch ihrer ursprünglichen Bestimmung gemäß in der Fastenzeit aufgehängt
wurden. Sie waren seither nur noch bestaunte Zeugnisse besonderen Brauchtums,
dem sich neben Abraham Frenzel, Christian Weise und Johann Benedikt Carpzov
auch Reisende wie der 1741 in Zittau weilende Orgelbauer Johann Andreas Silbermann (1712–1783) zuwandten.36 Auf Carpzov geht der entsprechende Eintrag unter dem Begriff Hunger=Tuch in Johann Heinrich Zedlers (1706–1751)
Universal-Lexicon zurück.37
Physisch verblieben beide Tücher bis ins 19. bzw. sogar bis ins 20. Jahrhundert
aufgerollt auf lange Holzstangen im feuersicheren Gewölbe der Ratsbibliothek
33 Vgl. R. Sörries, Alpenländische Fastentücher (wie Anm. 9), S. 17, 104–107, Nr. 17.
34 Ein Autograf Christian Weises mit diesem, weitere Strophen umfassenden Gedicht ist nicht
erhalten. Der Text ist überliefert in: CWB Zittau, Mscr. A 240 (C. Doering, Geschichte der
Kirche zu St. Johannes), woher ihn J. B. Carpzov, Analecta I (wie Anm. 15), S. 65, übernahm.
35 Ebd.
36 Vgl. SLUB Dresden, Mscr. Dresd. App. 3091 ( J. A. Silbermann, Anmerckungen derer Auf
meiner Sächsischen Reysse gesehenen Merckwürdigkeiten Wie ich solche an unterschiedenen
Orten meist nur kürtzlich aufgeschrieben), fol. 49r–50r Digitalisat: digital.slub-dresden.de/
id425468852, letzter Zugriff am 16.2.2020).
37 J. H. Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon […], Bd. 13, Leipzig/Halle 1739, Sp.
1233.
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332
Marius Winzeler
im ehemaligen Franziskanerkloster. Sie wurden somit vom kirchlichen Ausstattungsstück nahtlos Altertümer und Sammlungsgegenstände. Dies gilt ähnlich für
weitere Ausstattungsstücke der Zittauer Kirchen wie den quantitativ mit ehemals
173 Stück herausragenden Epitaphienbestand.
Bei allen diesen genannten Werken, die einen wichtigen Platz im öffentlichen
Raum der frühneuzeitlichen Stadt einnahmen, ist in unserem Zusammenhang
das Faktum bemerkenswert, dass es sich um Glaubenszeugnisse mit Bekenntnischarakter handelt, in welchen Bild und Text sich stets ergänzen und gegenseitig bedingen. Stand bei den Epitaphien das individuelle Zeugnis mit Bezug
zur sozialen Gemeinschaft im Sinne einer Vorbildwirkung und zur Erinnerung
im Vordergrund ihrer Entstehung, war es bei den Fastentüchern verstärkt der
kollektive Aspekt von Belehrung, Unterrichtung, ja auch Unterhaltung. Zittau
stellt mit seiner ganz eigenen und komplexen Reformationsgeschichte und dem
einzigartig reichen Bestand an überlieferten Werken und Schriftquellen ein herausragendes Mikrosystem dar, das noch längst nicht erschöpfend erforscht ist.
Zweifellos bieten die vorgestellten Bild- und Schriftzeugnisse für weitere Untersuchungen zum Thema Reformation als Kommunikationsprozess noch zahlreiche
und vielfältige Ansatzpunkte.
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Ondřej Jakubec
Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
Nichtkatholische Grabmäler in den böhmischen Ländern als
konfessionelle Objekte*
Die Aussagekraft von Renaissance-Epitaphien
Kein zur Reformationszeit forschender Historiker oder Kunsthistoriker kommt
an den Sepulkralgemälden oder -skulpturen vorbei. Einige allgemein bekannte
Beispiele, insbesondere aus der Cranach-Werkstatt, sind wohl in jeder Publikation
oder jedem Ausstellungskatalog zu finden. Sie beeindrucken durch ihre eigenwillige visuelle Qualität, haben vor allem aber auch historische Aussagekraft. Welche
Aussagen lassen sich durch ihre Analyse über die Vergangenheit gewinnen? Wie
bei allen Quellen ist auch bei den Epitaphien und Sepulkralmonumenten der
Frühen Neuzeit der Informationsgehalt sowohl nach Umfang als auch Aussage
torsohaft. (Kunst-)Monumente und Bildquellen zugleich, konfrontieren sie den
Historiker mit scheinbar objektiven Nachrichten über Leben, Tod und Glauben
einer konkreten Person sowie über das Gedenken an diese. Gewiss, man kann an
den Inschriften dieser Denkmale persönliche Daten ablesen, heraldische Attribute oder Porträts ausmachen und die Ikonografie studieren. Nach dem Vorbild
Georges Didi-Hubermans muss man sich jedoch vor einer rein instrumentalen Nutzung der Bildmedien hüten: „Es ist übrigens eine sehr häufige, typisch
positivistische Reduktion, in der Bilder schlicht für Dokumente für die Historie
gehalten werden.“1 Sepulkralmonumente sind nicht nur ‚passive‘ und deskriptive
‚Bildquellen‘. Das Grabmal ist vor allem ein ‚Ort‘, der Erinnerungen an Verstorbene generiert oder reaktiviert und stets aufs Neue die Toten in der Kommunität
der Lebenden vergegenwärtigt.2 Dieses fundamentale Gefühl der ‚Erinnerungsintegrität‘ wird gut durch eine Epitaphinschrift vom Ende des 17. Jahrhunderts
*
1
2
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts der GAČR, Reg.-Nr. 18-09415S: „Die Gestaltung des Konvertiten. Sprachliche und visuelle Repräsentation der Konversion in der Frühen
Neuzeit.“
G. Didi-Huberman, Před časem [Vor einiger Zeit/Devant le temps] (Dějiny a teorie umění
[Geschichte und Theorie der Kunst]), Brno 2008, S. 22.
Vgl. R. Wohlfeil / T. Wohlfeil / unter Mitarb. von V. Strobach, Nürnberger Bildepitaphien. Versuch einer Fallstudie zur historischen Bildkunde, in: ZHF 12 (1985), S. 129–180.
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334
Ondřej Jakubec
aus Kuttenberg/Kutná Hora zum Ausdruck gebracht: „Dieses Epitaphium hat
Herr Jiří [Georg, Anm. O. J.] Červený beschlossen und machen lassen […] zum
ewigen Angedenken und ganzer Freundschaft der Lebenden und Verstorbenen.“3
Dieser kulturanthropologische Aspekt stellt die Forschung vor die Problematik
der Konventionen und der Kommunikation im Rahmen der ‚Sterbe- und Erinnerungskultur‘. Er macht es notwendig, die Kategorie ‚Erinnerung‘ als selbstständige
Funktion der Sepulkralien und folglich auch des historischen Forschungsgegenstands zu berücksichtigen. Und nicht zuletzt bietet sich der Aspekt des religiösen
oder konfessionellen Charakters der Sepulkralmonumente in der Nachreformationszeit an. Dieser ist Thema des nachstehenden Textes, der insbesondere auf
Bildepitaphien eingeht.
Die Sprache der Sepulkralien ist einerseits normativ (standardisiert), ebenso
aber elementar konzeptuell und manipulativ. Das Kunstwerk des frühneuzeitlichen Epitaphs ist also gewiss keine ‚Fotografie‘ (übrigens ist nicht einmal die
Fotografie ein sonderlich objektivistisches Medium). Es liefert zwar in seinen
Angaben (Inschriften, Porträts) eine vermeintlich unproblematische Aussage
über wirkliche Menschen; gleichermaßen – wenn nicht noch mehr – informiert
es aber auch über die zeitgenössischen Konventionen von Tod und Gedenken.
Das haben die Epitaphien im Übrigen mit weiteren ‚Quellen‘ der memorialen
Praxis – mit Testamenten und Leichenpredigten – gemein.4 Typisch ist dabei das
Bestreben, eine Erinnerung an die Verstorbenen, aber auch die Rolle der lebenden
Hinterbliebenen zu konstruieren, und zwar häufig in idealisierter Form. Darauf
spielten schon die zeitgenössischen moralisierenden Autoren an, z. B. am Anfang
des 17. Jahrhunderts u. a. der deutsche Jesuit Jeremias Drexel (1581–1638).5 Auch
später verwies diese Kritik, beispielsweise Samuel Johnson (1709–1784) in seinem
Essay „Upon Epitaph“ (1740), gerade auf diesen unglaubwürdig idealisierenden
Gehalt der Grabdenkmäler, die der Autor als ‚konventionelle Fiktion‘ wahrnahm.
3
4
5
Nápisy města Kutné Hory. Kutná Hora, Kaňk, Malín a Sedlec včetně bývalého cisterciáckého
kláštera [Die Inschriften der Stadt Kuttenberg. Kuttenberg, Gang, Malin und Sedletz einschließlich des ehemaligen Zisterzienserklosters], ed. J. Roháček (FHA 3; CIP 1), Praha
1996, S. 142.
Vgl. R. Lenz (Hg.), Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Bd. 4, Stuttgart
2004.
Vgl. J. Drexel, Herolt smrti neb předposel věčnosti k zdravým, nemocným, umírajícím pro
zprávnou k smrti přípravu vyslaný […], Praha 1635 (K02100); Übersetzung aus dem Deutschen von Dems., Der Ewigkeit Vorbott / deß Todts Herold: So gesunden / Krancken und
Sterbenden Menschen / sich wol Zum sterben Zuberaiten / Zugeschickt wirdt […], München
1628 (VD17 12:101457W), vgl. hier Kap. 3.
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Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
335
Für religiöse Moralisten war das Grabdenkmal ein Synonym für Heuchelei und
das Epitaph hatte den Stellenwert einer Lüge.6
Fraglos war es das vorrangige Ziel der Epitaphien, dem Betrachter eine strukturierte Mitteilung vorzulegen, dabei die Ikonografie mit dem Text zu kombinieren, der rhetorisch ein Idealbild des Verstorbenen definierte.7 Gleichwohl
kann man die Sepulkralmonumente nicht als unglaubwürdige Quellen abtun. Sie
sind gerade auch durch das wichtig, was sie nicht offen sagen oder was sie uns auf
andere Weise sagen. Der Umstand, dass diese Denkmale in gewisser Weise ‚lügen‘,
bedeutet nämlich nicht, dass ihre normativ-konventionellen Ausdrucksweisen
nicht Gegenstand der historischen Forschung sein sollen und als ‚Tatsachen‘
genommen werden, mit denen sich die Zeitgenossen in gewissem Maße identifizierten, die sie wahrzunehmen vermochten und mit denen sie arbeiten konnten.
In diesem Sinne kann es nützlich sein, das normative und formalisierte Prinzip
der Epitaphien mit der Leichenpredigt der Frühen Neuzeit zu vergleichen. Ihr
Wesen war nämlich nicht nur memorativ oder biografisch (deskriptiv), sondern
vor allem repräsentativ. Leichenpredigten stellen ähnlich wie Epitaphien ‚konzeptuelle‘ Medien dar, die rhetorisch ein Idealbild von Verstorbenen konstruieren.
Predigten sowie Epitaphien machen sich daher nicht selten auf eine konstruktive, selektive, wenn nicht sogar gezielt täuschende Weise an die Präsentation des
Gedenkens;8 d. h. allerdings nicht, dass wir diesen Adorationsquellen und ihrer
Manipulation mit der Erinnerung primär nur mit Misstrauen begegnen sollten. Es
ist nämlich ein Wesenszug der ‚Erinnerungsarbeit‘, dass das Gedenken organisiert
oder konstruiert wird. Im Fall der Epitaphien betrifft dieser Aspekt nicht allein
die Texte. Auch die scheinbar ewige Sprache der Porträts von verstorbenen (bzw.
zum Zeitpunkt der Errichtung des Epitaphs noch lebenden) Personen enthält in
ihrem Zeichensystem eine vorsätzlich ‚theatralische‘ Kommunikation, dank derer
die Abbildungen nicht nur das physische, sondern vielmehr das soziale Antlitz
der Porträtierten festhalten.9 Die Anziehungskraft der Epitaphien auf Historiker kann also gerade darauf beruhen, dass durch Stilisierung, Normativität und
Manipulation ein konzeptuelles Bild konstruiert wird und die Mentalität einer
6
7
8
9
Vgl. N. Craske, The Silent Rhetoric of the Body. A History of Monumental Sculpture und
Commemorative Art in England, 1720–1770, New Haven/London 2007, S. 1–37.
Vgl. A. Assmann, Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Dies. / D. Harth (Hgg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 13–35.
Vgl. N. Llewellyn, Funeral Monuments in Post-Reformation in England, Cambridge 2000,
S. 40.
Vgl. P. Burke, Reflections on the Frontispiece Portrait in the Renaissance, in: A. Köstler /
E. Seidl (Hgg.), Bildnis und Image. Das Portrait zwischen Intention und Rezeption, Köln/
Weimar/Wien 1998, S. 151–162.
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336
Ondřej Jakubec
Zeit sowie deren Ideologie und Identitätsvorstellungen reflektiert werden.10 Bei
Sepulkralmonumenten und ihrer visuellen Repräsentation ist es also hilfreich,
diese vor dem Hintergrund anthropologischer Muster zu betrachten und danach
zu fragen, welche allgemein verständlichen Topoi die Präsentation und Konstruktion des Gedenkens geformt haben und wie diese in ihrer Zeit wirken konnten.11
Epitaphien kombinieren dabei auf interessante Weise Informationen über das
persönliche Naturell der porträtierten Person (sie thematisieren als Medium eine
konkrete Individualität) mit konventionellen und typisierten Charaktereigenschaften (die sowohl durch gesellschaftliche und religiöse Normen als auch durch
die häufig werkstattgebundene Produktionsstereotypie dieser Objekte vorgegeben waren). Epitaphien sind deshalb als ‚Bilder‘ im Kontext der zeitgenössischen
visuellen Kultur und deren Konventionen kritisch zu analysieren, aber auch im
Rahmen der Sepulkralkultur konsequent zum gedanklichen, sozialen, religiösen
und politischen Milieu in Beziehung zu setzen, in dem sie zu einer konkreten
Zeit und Situation entstanden sind.12
Das Epitaph und seine kommunikative Funktion
Aktuell werden Sepulkralmonumente (nicht nur) der Frühen Neuzeit zu Recht
als Produkt und gleichzeitig als Organisationsprinzip des Sozialen analysiert, in
dem Individuen neben anderen Menschen verschiedene Rollen spielen – individuelle sowie kollektive, eigensinnige sowie konventionelle.13 Berücksichtigt
werden kulturhistorische bzw. anthropologisch-historische Perspektiven, die
auf eine Erforschung von Identität und (sozialer) Erinnerung abzielen (Memoria-Forschung). Das aktuelle „Requiem-Projekt“ (Horst Bredekamp, Arne Karsten) untersucht die Grabmonumente der römischen Päpste und Kardinäle als
„exemplarische kulturhistorische Quelle“ und beruft sich dabei auf Methoden der
10 Vgl. I. Gaskell, History of Images, in: P. Burke (Hg.), New Perspectives on Historical
Writing, Cambridge 1991, S. 168–192.
11 Vgl. J. Elsner, Introduction, in: Ders. / J. Huskinson (Hgg.), Life, Death and Representation. Some New Work on Roman Sarcophagi (MS 29), Berlin/New York 2010, S. 1–20, hier
S. 13 f.
12 Vgl. N. Llewellyn, Funeral Monuments (wie Anm. 8), S. 33–36; P. Sherlock, Monuments
and Memory in Early Modern England, Aldershot/Burlington 2008.
13 Vgl. A. Karsten / P. Zitzlsperger (Hgg.), Tod und Verklärung. Tod und Grabmalskultur
in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2004; C. Behrmann / Diess. (Hgg.), Grab –
Kult – Memoria. Studie zur gesellschaftlichen Funktion von Erinnerung. Horst Bredekamp
zum 70. Geburtstag am 29. April 2007, Köln/Weimar/Wien 2007.
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Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
337
Sozial- oder Kulturanthropologie.14 Der Rahmen für eine Analyse von Sepulkralmonumenten ist also nicht selten die anthropologisch orientierte Perspektive, die
etwa Alfred Gell (1945–1997) formulierte, der die ästhetische Dimension des
Kunstwerks hintanstellt zugunsten seines Verständnisses als Produkt der sozialen
Praxis.15 Dabei stehen dem Kunsthistoriker im Gegensatz zu Anthropologen und
anthropologieorientierten Historikern beim Studium der Todesrituale aussagekräftigere Objekte zur Verfügung, die die symbolischen Verhaltensäußerungen
und Denkweisen in visueller und materieller Form verkörpern. Man kann die
Sepulkralkunst also zusammen mit weiteren Todesritualen (Vorbereitung auf
den Tod, Begräbniszeremonien, Trauerkonventionen und Erinnerungsnormen)
als Äußerung kontrollierter, von der Gesellschaft geteilter Haltungen ansehen.
Die Erinnerungskonstruktion des Sepulkralmonuments wurde zudem Bestandteil des öffentlichen Raums, den sie keineswegs zeitweilig oder schubweise (wie
im Fall der Todesriten oder Memoria), sondern langfristig, im Idealfall ‚ewig‘
ausfüllte. Bilder der Toten hatten so die Macht, unausgesetzt die symbolische
Kommunikation zu reaktivieren, die in der jeweiligen Sozialformation zwischen
den Toten und den Lebenden geführt wurde. Das Epitaph erweiterte die ‚soziale Territorialität von Verstorbenen‘, hielt ihre Bindung zu den Lebenden (durch
weitere Medien wie Seelenmessen und Ähnliches) aufrecht. Es sind Fälle bekannt,
in denen eine Person in ihr Testament die Forderung einsetzte, ‚bei meiner Bank‘
beigesetzt zu werden, auf der sie zu Lebzeiten zu sitzen pflegte. Das verweist auf
die offensichtliche Absicht der Verstorbenen, gemeinsam mit den Lebenden zu
verweilen.16 Das Sepulkralmonument war mit seiner Platzierung, seinem Design,
seinem Ikonografieprogramm, den Inschriften etc. gezielt an Betrachter adressiert,
mit denen es in eine komplizierte ‚Matrix‘ von Rezeption und Durchleben des
‚Bilds des Verstorbenen‘ eintrat.17 Verstorbene haben vermittels ihrer ‚Sepulkralporträts‘ im physischen Sinne des Wortes ihr Wirken erweitert und ihren sozialen
Rezeptionsbereich geschaffen.18 Die posthumen Porträts auf den Sepulkralmonumenten haben unausgesetzt ihr ‚Charisma‘ gemehrt und somit in der örtlichen
14 Requiem. Die römischen Papst- und Kardinalsgrabmäler der frühen Neuzeit. Informationen,
vgl. http://requiem-projekt.de/informationen/ (letzter Zugriff am 20.3.2019).
15 Vgl. M. Rampley, Art History and Cultural Difference: Alfred Gell’s Anthropology of Art,
in: AH 28 (2005), S. 524–551.
16 Vgl. N. Llewellyn, Funeral Monuments (wie Anm. 8), S. 42–48; P. Binski, Medieval Death. Ritual and Representation, London 1996, S. 93.
17 Vgl. G. A. Johnson, Activating the Effigy: Donatello’s Pecci Tomb in Siena Cathedral, in:
E. Valdez del Alamo / C. Stamatis Pendergast (Hgg.), Memory and the Medieval
Tomb, Aldershot/Burlington 2000, S. 99–127.
18 Vgl. R. Chartier, Les arts de mourir, 1450–1600, in: AHSS 31 (1976), S. 51–75, hier S. 75.
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Ondřej Jakubec
Gemeinde ein ewiges Angedenken wachgehalten.19 Durch ihre Vermittlung wurde
die auf einer Gemeinschaft der Lebenden und der Toten begründete vormoderne
Gesellschaftsordnung präsentiert und erneuert.20
Das Epitaph – ein konfessionelles Medium?
Eine der vielen Facetten von Sepulkralien der Nachreformationszeit, in denen sich
‚Sozialpraktiken‘ widerspiegeln, ist zweifellos deren konfessionsbedingter Charakter. Die Frage nach der konfessionellen Prägung frühneuzeitlicher Epitaphien
wird jedoch ganz unterschiedlich beantwortet. Beispielsweise hält der polnische
Kunsthistoriker Jan Harasimowicz die Sepulkralmonumente der Nachreformation im nichtkatholischen Umfeld für „Wort-Bild-Glaubensdeklarationen“.21
In dieser Perspektive nimmt er Sepulkralmonumente als einzigartige Quellen für
die konfessionelle Identität und deren spezifische Ausdrucksformen wahr. Manche
gehen noch einen Schritt weiter und halten Sepulkralkunstwerke und Epitaphien
für Instrumente einer intensiven konfessionellen Rivalität, in der sie die Rolle von
„konfessionellen und dogmatisch-erbaulichen Deklarationen“ spielen.22 Neben
vergleichbaren Ansichten23 sind andere Wissenschaftler allerdings eher misstrauisch gegenüber der Suche nach konfessionellen Bedeutungen in der Ikonographie
oder in den Inschriften von Sepulkralmonumenten. Ihrer Meinung nach war das
‚monument-making‘ in der Frühen Neuzeit eine im Wesentlichen standardisierte
19 Vgl. H. Belting, Image, Medium, Body: A New Approach to Iconology, in: CI 31 (2005),
S. 302–319, hier S. 306.
20 Vgl. L. Symonds, Death as Window to Life. Anthropological Approaches to Early Medieval
Mortuary Ritual, in: RA 38 (2009), S. 48–87, hier S. 48.
21 J. Harasimowicz, Lutherische Bildepitaphien als Ausdruck des ‚Allgemeinen Priestertums
des Gläubigen‘ am Beispiel Schlesiens, in: B. Tolkemitt / R. Wohlfeil (Hgg.), Historische
Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (ZHF Beiheft 12), Berlin 1991, S. 135–164, hier S. 136;
Ders., Sichtbares Wort. Die Kunst als Medium der Konfessionalisierung und Intensivierung
des Glaubens in der Frühen Neuzeit (KKFN 1), Regensburg 2017.
22 K. Tebbe, Epitaphien in der Grafschaft Schaumburg. Die Visualisierung der politischen Ordnung im Kirchenraum (MKKGNWD 18), Marburg 1996, S. 48.
23 Vgl. D. Zerbe, Memorialkunst im Wandel. Die Ausbildung eines lutherischen Typus des Grabund Gedächtnismals im 16. Jahrhundert, in: C. Jäggi / J. Staecker (Hgg.), Archäologie
der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle
Kultur (AKG 104), Berlin/New York 2007, S. 117–163; O. Meys, Memoria und Bekenntnis.
Die Grabdenkmäler evangelischer Landesherren im Heiligen Römischen Reich Deutscher
Nation im Zeitalter der Konfessionalisierung, Regensburg 2009, S. 268, 364–368.
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Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
339
Produktion, was sie in gewissem Maß sicherlich war.24 Inga Brinkmann oder auch
Margit Thøfner bestreiten deshalb, dass sich eine Repräsentation und Visualisierung des lutherischen Bekenntnisses in irgendeiner Form auf die Gestaltung nichtkatholischer Funeraldenkmäler niedergeschlagen habe. Sie heben eher den überkonfessionellen Charakter dieser Monumente und deren kontinuierliche Bindung an
die vorreformatorische Tradition mit einem dominanten und allen Konfessionen
gemeinsamen Wesenszug der Familienrepräsentation der Verstorbenen hervor.25
Wie lassen sich diese gegensätzlichen Positionen versöhnen? In der unlängst vorgenommenen Analyse von Sepulkralmonumenten in Großpolen hat Aleksandra
Lipińska gezeigt, wie man das Prinzip der Konfessionalität wahrnehmen kann.
Einerseits verweist sie darauf, dass diese Monumente in der Tat eher die Prinzipien
der ständischen und politischen Identität der Verstorbenen präsentieren, andererseits ist sie sich allerdings auch des Vorhandenseins von konfessionell distinktiven
Motiven bewusst. Diese manifestieren sich allerdings nicht als offenes Programm –
Lipińska spricht von „nicht direkt geäußerten Inhalten“ –, sondern werden eher
auf einer Meta-Ebene vermittelt, für die die zeitgenössischen, mit dem Entstehungskontext vertrauten Betrachter empfänglich waren;26 mit den Worten von Christian
Hecht: „Der Kontext ist entscheidend, nicht das Einzelthema.“27 Bei den meisten
Sepulkralmonumenten, von denen einige nachstehend vorgestellt werden, wird
die konfessionelle Identität also nicht unbedingt in spezifischen ikonografischen
Motiven oder Inschriften offensichtlich. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht
existierte – allerdings auf andere Weise und vor allem produziert im Prozess der
Rezeption. Die Anwesenheit der Konfessionalität musste dabei überhaupt keinen
polemischen Charakter haben, oft ist sie ein konfliktfreier Ausdruck des religiösen Bekenntnisses oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
oder kann als Fortwirken einer künstlerischen Tradition bzw. von ikonografischen
24 Vgl. N. Saul, English Church Monuments in the Middle Ages. History and Representation,
Oxford/New York 2009, S. 36 f.
25 Vgl. I. Brinkmann, Grabdenkmäler, Grablegen und Begräbniswesen des lutherischen Adels.
Adelige Funeralrepräsentation im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert (KunstWsSt 163), Berlin/München 2010; M. Thøfner, Material
Time. The Art of Mourning in Early Modern Europe, in: R. G. Bogner / J. A. Steiger
(Hgg.), Leichabdankung und Trauerarbeit. Zur Bewältigung von Tod und Vergänglichkeit im
Zeitalter des Barock (Daphnis 38/1,2), Amsterdam/New York 2009, S. 181–215, hier S. 189.
26 A. Lipińska, Novo stylo sepultus? Grabdenkmäler des großpolnischen Adels und hohen
Klerus im Spannungsfeld von ständischer Repräsentation und konfessionellem Ethos, in: M.
Deiters / E. Wetter (Hgg.), Bild und Konfession im östlichen Mitteleuropa (SJL 11),
Ostfildern 2013, S. 105–188, hier S. 162 f.
27 C. Hecht, Katholische Bildertheologie der frühen Neuzeit. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren, Berlin 2012, S. 449.
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Ondřej Jakubec
Stereotypen belegt werden. So führt Jan Harasimowicz an, wie in einem multikonfessionellen Umfeld Protestanten (Kryptocalvinisten) bei der Gestaltung
von Grabdenkmälern Inschriften bevorzugten, während der katholische Klerus
dem traditionellen Bildnisgrabmal den Vorzug gab. Harasimowicz merkt in
diesem Zusammenhang an, dass Kunstwerke (auch Funeralkunstwerke) – sofern
sie Medien der Konfessionalisierung waren – eher Ausdruck der sozial-religiösen
Identitätssuche als der Konfrontation waren; es gelte also, „die kulturbildende
Rolle des interkonfessionellen Dialogs“ zu betonen.28
Ist es somit überhaupt sinnvoll, nach dem konfessionellen Charakter von
Epitaphien zu fragen? War es für den Menschen des 16. oder 17. Jahrhunderts
wichtig, auf seinem Grabmal explizit seine Konfessionszugehörigkeit zu dokumentieren? Und muss man bei der Bejahung dieser Annahme bei nachreformatorischen Sepulkralien ähnliche konfessionsbedingte Konfrontationen suchen, wie
sie die Sterbe- und Erinnerungskultur (Streit um Begräbnisse, Exhumierungen,
Grabmalzerstörung) begleiteten?29 Oder sollte man davon ausgehen, dass die Epitaphienproduktion der Lutheraner wie auch anderer Konfessionen lediglich in
gewissem Maße eine spezifische ‚konfessionsgebundene Bildhaftigkeit‘ reflektiert
hat? Angesichts des Wandels, dem die religiöse Kunst (zu der die Epitaphien ja
fraglos gehören) nach der Reformation unterlagen, sind solche Fragen sicher legitim.30 Daher werden im Kontext der spezifisch konfessionsbedingten Funktion der
protestantischen Kunst auch Epitaphien als eine Ausdrucksweise des ‚sichtbaren
Wortes‘ wahrgenommen.31 Das lutherische Epitaph konnte beispielsweise durch
die Verwendung von Reformatorenporträts als rein lutherisches Bekenntnisbild
auftreten: Bekannte Beispiele sind die Epitaphien von Johannes Bugenhagen
(1485–1558) oder Paul Eber (1511–1569) in Wittenberg, aber auch das Epitaph
(vor 1750) des schlesischen Adeligen Sigismund von Zedlitz (1536–1616), das
28 J. Harasimowicz, Visuelle Strategien der Identitätsbildung im multikonfessionellen Breslau, in: M. Deiters / E. Wetter (Hgg.), Bild und Konfession (wie Anm. 26), S. 32–103,
hier S. 75 f.
29 Vgl. C. Koslofsky, Honour and Violence in German Lutheran Funerals in the Confessional
Age, in: SH 20 (1995), S. 315–337.
30 Vgl. C. C. Christensen, Art and the Reformation in Germany (SR 2), Athens 1979; P. Poscharsky (Hg.), Die Bilder in den lutherischen Kirchen. Ikonographische Studien, München 1998; W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts.
Die illustrierte Confessio Augustana (Adiaphora 6), Regensburg 2007; J. L. Koerner, The
Reformation of the Image, London 2004; B. Heal, Introduction: Art and Religious Reform
in Early Modern Europe, in: AH 40 (2017), S. 246–255.
31 Vgl. M. Lampe, Zwischen Endzeiterwartung und Repräsentation. Das Epitaph des Heinrich
Heideck (1570–1603) aus der Leipziger Universitätskirche St. Pauli, Leipzig 2009, S. 32.
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Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
341
eine Allegorie auf die reformierte Kirche war. Gleichen Charakter haben die Epitaphien oder Epitaphaltäre mit Szenen vom Empfang der Sakramente im Milieu
der lutherischen Glaubensgemeinde, die typologisch häufig biblische Vorbilder
aufgreifen (Letztes Abendmahl, Taufe im Jordan usw.). Diese ‚Bekenntnisbilder‘
drücken sowohl die theologische Spezifik des Luthertums als auch eine lokale,
aber auch überregionale lutherische Identität aus.32 Ähnlich signalisierten auch
explizit lutherische Themen wie ‚Gesetz und Gnade‘ auf nichtkatholischen Epitaphien eine klar konfessionsgebundene Repräsentation.33 Eine lutherisch konfessionelle Bilderwelt begleitete auch vermeintlich neutrale Themen, wie z. B.
das Thema der Kreuzigung Christi, dem eine nicht geringe Bedeutung zukam.
Es behielt teilweise eine (noch spätmittelalterliche) emotionale Wirkung im
Sinne einer Weckung ‚rechter Frömmigkeit‘ bei, diente aber auch als Abgrenzung gegenüber Calvinisten und ‚katholischer Götzendienerei‘ gleichermaßen.
Ein Beispiel dafür ist das Epitaph (1589) der lutherischen Eheleute Georg I. von
Hessen-Darmstadt (1547–1596) und Magdalene von Lippe (1552–1587) in
Darmstadt mit dem Motiv des Gekreuzigten, auf dessen unerwünschte ‚Lesart‘
sich die Inschrift bezieht: Dis Creütz bedeüt kein Götze(n)die(n)st / […] Der Babst
vnd sein geschorner hauff / Die richten stumme Götzen auff / […] Sie beten ahn kein
steinern Bild / Sondern de(n) kern des Creutzes mild.34
Konfessionelle Distinktion bzw. eine konfessionell codierte ‚Bildkonfrontation‘ kam auf Epitaphien auch durch konfrontative oder satirische Motive zum
Ausdruck.35 Das konnte bei Katholiken beispielsweise eine Darstellung Martins Luthers (1483–1546) und von dessen ‚gottloser‘ Ehefrau Katharina von
Bora (1499–1552) sein, die vom Teufel in die Hölle geholt werden, wie es das
unvollendete Epitaph des Vikars Havel/Gallus von Hartunkov/z Hartunkova
(† 1552) in Olmütz/Olomouc zeigt. Lutheraner hingegen konnten auf Epitaphien den apokalyptischen Drachen mit der päpstlichen Tiara zeigen, wie das
auf dem Epitaph des Johann I. von Mansfeld-Hinterort (†1567) in St. Annen in
der Eislebener Neustadt der Fall war, oder sie bildeten Vertreter des katholischen
32 Vgl. W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde (wie Anm 30), S. 61–82; B. Heal, A
Magnificent Faith. Art and Identity in Lutheran Germany, Oxford/New York 2017, S. 187.
33 Vgl. A.-D. Ketelsen-Volkhardt, Schleswig-Holsteinische Epitaphien des 16. und 17.
Jahrhunderts (SSHKG 15), Neumünster 1989.
34 DI, Bd. 49: Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau, Nr. 263 (†), vgl. www.inschriften.
net/zeige/suchergebnis/treffer/set/9500/nr/di049-0263.html (letzter Zugriff am 20.3.2020).
35 Vgl. S. Michalski, Die lutherisch-katholisch-reformierte Rivalität im Bereich der Bildenden
Kunst im Gebiet von Danzig um 1600, in: J. Bahlcke / A. Strohmeyer (Hgg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert
in Staat, Gesellschaft und Kultur (FGKÖM 7), Stuttgart 1999, S. 267–286.
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Ondřej Jakubec
Klerus ab, die in den Schlund des Teufels stürzten.36 (Abb. 1) Das Bewusstsein
einer abweichenden konfessionellen Prägung von Epitaphien (und natürlich
auch von deren Protagonisten) stand auch hinter den Bilderstürmereien gegen
Epitaphien und Sepulkralmonumente, zu denen es in den böhmischen Ländern
um 1600 von katholischer Seite kam.37 In erster Linie sorgten dabei Attribute der
‚anderen Konfession‘ für Irritation. So wie Nichtkatholiken (insbesondere Calvinisten) Kruzifixe oder Heiligenstatuen zerstörten, liquidierten die Katholiken
auf Grabmälern Kelchmotive (Symbol für das Abendmahl sub utraque); davon
betroffen waren nicht nur Renaissancedenkmale, sondern auch ältere utraquistische Objekte (Altäre, Epitaphien) aus dem 15. Jahrhundert. Aussagekräftig ist
ein Bericht aus dem Jahr 1624 in den Memoiren des böhmischen Ritters Mikuláš/
Nikolaus Dačický von Heslov/z Heslova (1555–1626), der in Kuttenberg, dem
einstigen Zentrum der utraquistischen Kirche, die ‚jesuitische Reformation‘ verfolgte: „Sodann haben eben diese Jesuiten in besagter Kirche mehrere Epitaphien,
zum Angedenken an gute verstorbene Menschen schön gemacht, entstellen und
Zeichen nebst Bildern, Texten und Titeln dieser Menschen zerstörend, an diese
Stellen ihre Sinne und Malereien anbringen lassen“.38
Dieser Bericht ist schon allein deshalb interessant, weil er zeigt, wie die Katholiken bemüht waren, manche Denkmale zu erhalten und durch Veränderung der
konfessionellen Attribute zu adaptieren. Manchmal sollte es längere Zeit dauern,
bis die nichtkatholischen Epitaphien endgültig aus den katholischen Kirchen
entfernt waren. Davon berichtet die Instruktion des Olmützer Generalvikars
und Weihbischofs Johann Joseph Breuner (1641–1710) für den Prossnitzer/Prostějov Dechanten aus dem Jahr 1679, die die Beseitigung von drei lutherischen
Epitaphien (tria Lutheranorum epitaphia) aus der Pfarrkirche forderte. Im gleichen Jahr konstatierte die bischöfliche Visitationskommission beunruhigt, dass
in der Pfarrkirche St. Jakobus in Brünn/Brno immer noch an die 40, zum Großteil lutherische Epitaphien vorhanden waren.39 Nicht uninteressant ist in diesem
Zusammenhang, dass davon einige noch bis ins 19. Jahrhundert an Ort und Stelle
verblieben. Hier hat sicher auch die standesgemäße Ehrerbietung gegenüber den
Vorfahren eine Rolle gespielt.40
36 Vgl. O. Jakubec, Kde jest, ó smrti osten tvůj? Renesanční epitafy v kultuře umírání a vzpomínání
raného novověku [Wo ist, oh Tod, dein Stachel? Renaissance-Epitaphien in der frühneuzeitlichen Kultur des Sterbens und des Erinnerns], Praha 2015, S. 295.
37 Vgl. ebd., S. 166–169.
38 Ebd., S. 169.
39 ZOA Olomouc, fond [Bestand]: AKO, Kart. 671, Sign. B 12, Generalvisitation der Olmützer
Diözese (1679–1682), fol. 22v.
40 Vgl. A. Lipińska, Grabdenkmäler (wie Anm. 26), S. 163.
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Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
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Abb. 1: Monogrammist HG, Epitaph einer unbekannten Familie, Öl auf Holz, 1568 [Mo
ravská galerie Brno/Mährische Galerie Brünn, Inv.-Nr. A 375, Foto: Moravská galerie Brno].
Epitaphien in den böhmischen Ländern
Das Studium von epitaphartigen Funeraldenkmälern aus dem lutherischen bzw.
nichtkatholischen Umfeld in den böhmischen Ländern sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass deren Bestand im Vergleich zu Polen oder Deutschland
verschwindend gering ist.41 Die Analyse wird überdies dadurch erschwert, dass
man nur selten Lutheraner als Auftraggeber identifizieren kann. Das ist aber auch
ein indirekter Hinweis darauf, dass Form und Ikonografie der Epitaphskulpturen
sowie -gemälde in den böhmischen Ländern in den allermeisten Fällen keine konfessionell distinktiven Charakteristika aufweisen. Diese fehlende Eindeutigkeit
gilt für alle Elemente, vor allem aber begleitet diese Ambivalenz die Ikonografie,
denn Kreuzigung oder Auferstehung von den Toten stellen an sich überkonfessionelle Themen dar. So wurde beispielsweise die beliebte Komposition des Jüngsten
Gerichts nach Stichen von Johann Sadeler I. (1550–1600), die auf Zeichnungen
41 Vgl. O. Jakubec, Konfesijní charakter sepulkrálních památek raného novověku jako problém s otevřeným koncem: Příklad žerotínských monumentů druhé poloviny 16. století [Der
konfessionelle Charakter der frühneuzeitlichen Sepulkraldenkmäler als ein Problem mit einem offenen Ende. Das Beispiel der Monumente derer von Zierotin aus der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts], in: FHB 33 (2018), S. 47–67.
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Ondřej Jakubec
Abb. 2: Epitaph für den Brünner
lutherischen Bürger Wolf Brunlacher, Öl auf Leinwand, nach
1599 [Muzeum města Brna/Mu
seum der Stadt Brünn, Inv.-Nr.
54.268, Foto: Muzeum města
Brna].
(um 1580) des Münchener Hofmalers Christoph Schwartz (ca. 1548–1592)
beruhte, sowohl von Lutheranern als auch von strenggläubigen Katholiken verwendet,42 wie man beispielsweise am Epitaph des katholischen Jiří/Georg Straka
von Ehrenstein († 1645) aus dem Jahr 1649 erkennt, das sich ursprünglich in
der Friedhofskirche der Heiligen Dreifaltigkeit in Neuhaus/Jindřichův Hradec
befunden hat. Bei derselben Kirche war schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts
die Grabkapelle der Familie der Čech von Kozmáčov/z Kozmáčova entstanden,
über deren großem Altar das gleiche Thema prangte. Und zum Dritten wurde
diese Komposition nach 1599 auch für das Epitaph des Brünner lutherischen
Bürgers Wolf Brunlacher († 1599) gewählt.43 (Abb. 2)
Die angesprochene Ambivalenz findet sich auch bei wesentlich spezifischeren
Themen wie z. B. dem Gesicht des Hesekiel, das vor allem aus dem lutherischen
Milieu bekannt ist, etwa auf dem Epitaph Jakob Heidelbergs (1561) aus Eisleben
42 Vgl. G. Cerkovnik, Christoph Schwarz’s Last Judgement and Counter-Reformation in Inner
Austria, in: I. Unetič / M. Germ / M. Malešič / A. Vrečko / M. Zor (Hgg.), Art and
its Responses to Changes in Society, Newcastle/Tyne 2016, S. 49–62.
43 Vgl. O. Jakubec, Renesanční epitafy (wie Anm. 36), S. 215 ff.
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Abb. 3: Matouš Radouš, Epitaph der Marta
Boleslavská von Kočice, Öl auf Holz, 1610
[Římskokatolické arciděkanství Chrudim,
depozitář/Römisch-katholische Erzdekanei
Chrudim, Depositar, Foto: Zdeněk Sodoma,
Muzeum umění Olomouc/Kunstmuseum
Olmütz].
oder in den böhmischen Ländern auf dem Epitaph der Marta Boleslavská von
Kočice (1610) in Chrudim. (Abb. 3) In repräsentativer Gestalt findet man es aber
auch auf dem Ende des 16. Jahrhunderts, also noch zu seinen Lebzeiten errichteten Grabmal des Bischofs Dietrich IV. von Fürstenberg (1546–1618) im Dom zu
Paderborn, sowie aus der gleichen Entstehungszeit an der Grabkapelle des katholischen Adeligen Zacharias/Zachariáš von Neuhaus/z Hradce (1526/27–1589)
in Schloss Teltsch/Telč.
Ein ähnlich ambivalentes Motiv konnte auch die sog. allegorische Kreuzigung
sein, die als lutherisches Thema par excellence gilt. In der Tat findet man es an
einer Reihe lutherischer Denkmale (Epitaphien sowie Altären), desgleichen in den
böhmischen Ländern (Troppau/Opava, Jägerndorf/Krnov, Chrudim), wobei für
diese Fälle erwähnt werden muss, dass ihre Komposition von eindeutig ‚katholischen‘ Stichen des flämischen Kupferstechers Hieronymus Wierix (1553–1619) –
„Allegorie der menschlichen Erlösung“ – abgeleitet war.44 (Abb. 4) Die Ermittlung der Kategorie ‚Konfessionalität‘ nur aufgrund ikonografischer Spezifika ist
also nahezu unmöglich. Sie wird überdies durch den Umstand erschwert, dass in
44 Vgl. ebd., S. 315–324.
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Ondřej Jakubec
verschiedenen katholischen Regionen in der Sepulkralkunst des 16. Jahrhunderts
eine Abhängigkeit von der protestantischen Ikonografie erkennbar ist. Und Gleiches galt in umgekehrter Richtung.45 Kunstbetrieb, Werkstattpraxis, Standardisierung, Umstände der Auftragslage – all dies waren komplizierte Phänomene, die
sich nicht in übersichtliche Konfessionskategorien zwängen ließen.46
Trotzdem lässt sich nicht abstreiten, dass auch in den böhmischen Ländern
Epitaphien zu finden sind, die ihre nichtkatholische bzw. lutherische Charakteristik nicht verleugnen können. Solche Objekte findet man naturgemäß in den
mehrheitlich lutherischen deutsch-böhmischen Grenzgebieten, wo der Einfluss
der Reformation aus Sachsen spürbar war – nicht nur auf religiöser Ebene, sondern auch im Rahmen der Kunstbeziehungen und aufgrund des Umstands, dass
auf der böhmischen Seite der Grenze eine Reihe deutscher Persönlichkeiten und
Adelsfamilien lebte. Ein Beispiel dafür ist Joachimsthal/Jáchymov, wo die ‚goldene
Ära‘ des 16. Jahrhunderts (unter dem Regiment der lutherischen Familie Schlik)
auch von der Entstehung vieler Epitaphien begleitet wurde.47 Deren Ikonografie,
aber auch die Inschriften bestätigen eindeutig die lutherische Konfession ihrer
Protagonisten. Ein Epitaph aus der Allerheiligen-Friedhofskirche trägt den Vers
aus dem Paulusbrief Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn (Phil 1,21),
den Martin Luther in den Vorreden zu seiner Begräbnisliedersammlung (1542)
für Grabmäler nachgerade als Idealtext empfohlen hatte.48 Ähnliche Monumente
mit der gleichen Inschrift findet man auch in Westböhmen, z. B. auf dem Epitaph Adams von Steindorf (um 1579) in der St. Michaeliskirche von Buchau/
Bochov bei Karlsbad/Karlovy Vary.49 Ein Ausweis der lutherischen Orientierung
können auch Zitate aus Luthers Bibelübersetzung sein, in der gleichen Region
z. B. auf dem Epitaph des Heinrich Uttehofer von Uttenhof (um 1594) in der
Mariä Himmelfahrtskirche von Koslau/Kozlov: Aber ich will sie erlösen aus der
Hölle und vom Tod erretten. Tod, ich will dir ein Gift sein; Hölle, ich will dir eine
45 Vgl. A. Tacke, Der katholische Cranach. Zu zwei Großaufträgen von Lucas Cranach d. Ä.,
Simon Franck und der Cranach-Werkstatt (1520–1540) (BSK 2), Mainz 1992, S. 9–15.
46 Vgl. P. Benedict, Calvinism as a Culture? Preliminary Remarks on Calvinism and the Visual
Arts, in: P. C. Finney (Hg.), Seeing beyond the Word. Visual Arts and the Calvinist Tradition, Grand Rapids/Cambridge 1999, S. 19–45, hier S. 42 f.
47 Vgl. A. Huczmanová, Die Stadt Joachimsthal und ihre Memorialkultur im 16. Jahrhundert.
Ein Beitrag zu Entstehung, Ikonographie und Auftraggebern der Bildepitaphien aus der ‚Spitalskirche‘, in: RHS 42 (2017), S. 93–114.
48 M. Luther, Die Vorrede zu den Begräbnisliedern von 1542, in: WA, Bd. 35, Weimar 1923,
S. 304–308, 478–483.
49 Vgl. G. Träger, Denkmäler im Egerland Kreis Luditz. Eine Topographie, Eichstätt 1993,
S. 23, 31.
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Abb. 4: Matouš Radouš, Epitaph des
Tomáš Lvík von Domažlice/Taus (=
allegorische Kreuzigung Christi), Öl
auf Holz, nach 1619 [Kostel Nane
bevzetí Panny Marie Chrudim/Mariä
Himmelfahrtskirche Chrudim, Foto:
Zdeněk Sodoma, Muzeum umění
Olomouc/Kunstmuseum Olmütz].
Pestilenz sein.50 (Hos 13,14). Diese Beispielreihe ließe sich mit Hinweisen auf
weitere Monumente problemlos fortsetzen.
Zierotiner/Žerotíner Epitaphien: unterschiedliche Bildlichkeit/
Konfessionalität des frühneuzeitlichen Epitaphs
Abschließend werden einige Sepulkralmonumente aus den böhmischen Ländern
vorgestellt, die mit dem prominenten Zierotiner Adelsgeschlecht zusammenhängen. Dessen Bekenntnis war eindeutig nichtkatholisch und oszillierte zwischen
Luthertum und Brüderunität. Die von dieser Adelsfamilie errichteten Grabmäler
verbinden vier Geschwister, nämlich die Söhne des Paul/Pavel von Zierotin/ze
Žerotína und auf Napajedl/Napajedla († 1549), und an ihnen lässt sich exemplifizieren, ob und wie sich an Sepulkral- und Memorialobjekten konfessionell-repräsentative Wesenszüge nachweisen lassen.
50 Ebd.
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Ondřej Jakubec
Die Steinmonumente der beiden Zierotiner Brüder Bedřich/Friedrich († 18.
August 1568) und Bartholomäus/Bartoloměj († 3. November 1568) hatten deren
Brüder Friedrich († 1598) und Hans Dietrich/Jan Jetřich für die Pfarrkirche St.
Bartholomäus im ostmährischen Napajedl errichten lassen. (Abb. 5) Für ihre
gleichzeitige Fertigung spricht ihre einheitliche Gestaltung, die eine standardisierte
Werkstattarbeit andeutet.51 Die Grabmäler folgen einem stereotypen Muster: Das
Mittelfeld zeigt übereinstimmende Figuren der in ihrer Rüstung knienden und das
Kruzifix adorierenden Zierotiner, ohne Andeutung von porträtartigen Zügen. Der
Aufsatz trägt das Familienwappen, die Sterbedaten im Sockel wurden bei beiden
Grabmälern in identischer Weise als Inschrift angebracht, zusammen mit einem
Zitat aus dem alttestamentlichen Buch Ijob (19,25–27). Dieses Bibelwort war
in dem hier zur Rede stehenden Milieu zwar eher unüblich, ist aber sowohl auf
Grabmälern von Lutheranern als auch auf solchen von Katholiken nachweisbar.52
Ein wesentlich interessanteres Denkmal als das zuletzt geschilderte ist das
gemalte Epitaph der Mandalena/Magdalena von/ze Zástřizl († 1566), der ersten
Ehefrau Friedrichs von Zierotin († 1598), des Mitauftraggebers der eben genannten
Grabmäler für seine Brüder. (Abb. 6) Friedrich war als mährischer Landeshauptmann und Mitglied des Kriegsrats eine politisch einflussreiche Persönlichkeit,
zugleich war er auch ein großer Gönner der Brüderunität. Das Epitaph wurde vier
Jahre nach dem Tod der Mandalena für die Friedhofskirche in Groß Seelowitz/
Židlochovice angefertigt, wo es ein älteres Denkmal an ihrem Grab ergänzte.53
Dieses Epitaph wirkt auf den ersten Blick konfessionell indifferent: Mandalena,
dargestellt durch ein standardisiertes Porträt einer Frau und identifizierbar durch
das Familienwappen, kniet in der Nähe des Gekreuzigten und vermittelt ihre
Frömmigkeit durch den starren Blick auf den Betrachter. Bei näherem Hinsehen
kann man dann allerdings zwei wesentliche Details ausmachen: Zwei Gebäude im
rechten Teil und Bäume mit zwei verflochtenen Stämmen zwischen dem gekreuzigten Christus und Mandalena. Erstere könnten ein verdeckter Hinweis auf den
Auftraggeber Friedrich von Zierotin sein, ist doch über dem Eingang des größeren
Gebäudes eine Rittergestalt mit dem Zierotiner Familienwappen gemalt. Der Bau
im Hintergrund wiederum könnte ein Hinweis auf die von Friedrich gegründete
51 Vgl. H. Myslivečková, Mors ultima linea rerum. Pozdně gotické a renesanční figurové
náhrobní monumenty na Moravě a v českém Slezsku [… Die Figuralgrabmonumente der Spätgotik und Renaissance in Mähren und im tschechischen Schlesien] (Memoria artis), Olomouc
2014, S. 181 ff.
52 Vgl. O. Jakubec, Konfesijní charakter (wie Anm 41).
53 Vgl. Ders., Renesanční epitafy (wie Anm. 36), S. 230 f. Heute befindet sich das Gemälde im
Schloss Groß Ullersdorf/Velké Losiny.
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Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
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Abb. 5: Grabdenkmal des Friedrich/Bedřich von
Zierotin/ze Žerotína († 1568), Sandstein, nach 1568
[Kostel sv. Bartoloměje Napajedla/St. Bartholomäus
Kirche Napajedl, Foto: Jaroslav Holáň, Národní památ
kový ústav Brno/Nationales Denkmalpflege-Institut
Brünn].
Brüdergemeinde in Groß Seelowitz sein. Wichtiger ist aber das Motiv der Bäume mit den verflochtenen Ästen, deren Kronen zum Kreuz hin
in grüner Farbe prangen und auf der abgewandten Seite verdorrt sind. Dieses ungewöhnliche
Motiv erinnert an ein Detail des lutherischen
Bildes „Gesetz und Gnade“ von Lucas Cranach
d. Ä. (1472–1553), auf dem als grundlegendes
Kompositions- und Sinnelement ein zur Hälfte
verdorrter und zur anderen Hälfte ausschlagender
Baum erscheint.54 (Abb. 7) Dieser symbolisiert
in Anknüpfung an die lutherische Theologie die
‚Seite des Gesetzes‘ und die erlösende ‚Seite der
Gnade‘. Eine ähnliche Auslegung könnte auch
auf Mandalenas Epitaph zutreffen, auf dem das
grüne Geäst auf das Kreuz Christi als Ursprung von Gnade und Erlösung verweist. Gerade dieses auf den ersten Blick unauffällige Detail könnte ein – den
Zeitgenossen verständliches – Indiz für die nichtkatholischen Konnotationen
des Epitaphs gewesen sein. Ebenso könnte der nichtkatholische Charakter des
Denkmals auch ex negativo durch das Fehlen ‚katholischer Attribute‘ (heilige
Fürsprecher, Jungfrau Maria usw.) definiert werden. Sofern Friedrich von Zierotin dieses Epitaph in Auftrag gegeben hat, wäre diese konfessionelle Orientierung
nicht sonderlich überraschend.
Die Ehe ist das Thema des dritten Epitaphs aus Opotschno/Opočno, das als
Schlüsselmonument der nichtkatholischen (lutherischen) Bildkultur in Böhmen
vor der Schlacht am Weißen Berg (1620) gilt.55 (Abb. 8) Seine Entstehung hängt
mit den einzigartigen Umständen der zwischen dem schon erwähnten Hans
54 Vgl. M. V. Fleck, Ein tröstlich gemelde. Die Glaubensallegorie „Gesetz und Gnade“ in Europa
zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit (SKGMFN 5), Korb 2010, S. 511–531.
55 Vgl. W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde (wie Anm. 30), S. 75–78; O. Jakubec,
Renesanční epitafy (wie Anm. 36), S. 281–285; Ders., Epitaphs in Bohemian Protestant
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Ondřej Jakubec
Abb. 6: Monogrammist HZ, Epitaph der Mandalena (Magdalena) von/ze Zástřizl
(† 1566), Öl auf Holz, 1570 [Zámek Velké Losiny/Schloss Groß Ullersdorf, Sign. VL 81,
Foto: Zdeněk Sodoma, Muzeum umění Olomouc/Kunstmuseum Olmütz].
Dietrich/Jan Jetřich von Zierotin († 1599) mit Barbara von Biberstein/z Bibrštejna († 1585) im Jahr 1570 geschlossenen Ehe zusammen. Etwa 15 Jahre später
übernahmen erneut die Trčka von Leipa/z Lípy die Herrschaft Opotschno, doch
Hans Dietrich/Jan Jetřich engagierte sich weiterhin in der Region. Er wirkte
als Hauptmann des Königgrätzer/Hradec Králové und Chrudimer Kreises, als
kaiserlicher Rat und Kammergerichtsbeisitzer und schließlich als Landvogt in
der Oberlausitz. Sein Bekenntnis war offensichtlich nicht katholisch; bekannt
ist lediglich, dass er die Brüderunität unterstützte. Die deutlichsten Aussagen
über seine religiöse Überzeugung liefert das Gemälde, das als Mitteltafel eines
ursprünglich größeren Epitaphmonuments (eines Altars) fungierte, das sich in der
Schlosskirche der Heiligen Dreifaltigkeit (der ursprünglichen St. Andreaskirche)
zu Opotschno befand. Einen Gesamteindruck von diesem Monument erhält man
dank eines bemerkenswerten malerischen Kunstgriffs, bei dem das Gemälde selbst
im Rahmen dieses Denkmals als ‚Bild im Bilde‘ (‚mise en abyme‘) erscheint.56
Die Zentralszene im Bildvordergrund stellt die Vermählung des Hans Dietrich/Jan Jetřich mit Barbara dar und setzt das Hauptthema in Szene: die Herrschaftsübernahme über die Herrschaft Opotschno durch das Paar. Weitere
Culture, in: K. Horníčková / M. Šroněk (Hgg.), From Hus to Luther. Visual Culture in
the Bohemian Refomation (1380–1620) (MCS 33), Turnhout 2016, S. 247–280.
56 Vgl. S. Wegmann, Der sichtbare Glaube. Das Bild in den lutherischen Kirchen des 16. Jahrhunderts (SMHR 93), Tübingen 2016, S. 77–97.
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Abb. 7: Lucas Cranach d. Ä., Gesetz und Gnade, Öl auf Holz, 88,5 × 87 cm, 1529
[Národní galerie Praha/Nationalgalerie Prag, Inv.-Nr. O 9619, Foto: Národní galerie Praha].
bemerkenswerte Szenen heben nicht nur das Ehepaar, sondern vor allem dessen
Anteil an den gottesdienstlichen Handlungen hervor, bei denen es nicht nur von
adeligen Freunden und Verwandten begleitet wird, sondern vor allem auch vom
nichtkatholischen (lutherischen) Geistlichen Jakub/Jakob Kunvaldský (1528–
1578). Dieser ist mehrfach zu sehen – wie er im Vordergrund das Paar traut, wie er
den Sohn der Vermählten tauft, ferner ist er in der Rolle eines Predigers zu sehen,
der das Abendmahl austeilt und Barbara die Beichte abnimmt. Das Ehepaar war
in der ursprünglichen Konfiguration des Monuments auch auf der Predella in
Form eines halbfiguralen Doppelporträts dargestellt. Die Eheleute traten hier zu
Seiten des Tischs (Mensa) mit Kruzifix und aufgeschlagenem Buch auf – ein übliches nichtkatholisches, auf die Autorität der Heiligen Schrift verweisendes Motiv.
Der nichtkatholische bzw. lutherische Bildcharakter wird auch durch zahlreiche,
manchmal allerdings beträchtlich abgeänderte Bibelzitate in Form lateinischer
Inschriften manifest, die auf die für das Luthertum charakteristische Verehrung des
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Ondřej Jakubec
Abb. 8: Epitaphmonument
(= Mitteltafel des Epitaphaltars) des Hans Dietrich/Jan
Jetřich von Zierotin/ze Žerotína
(† 1599) und der Barbara von
Biberstein/z Bibrštejna († 1585),
Öltempera auf Holz, nach
1570 [Zámek Opočno/Schloss
Opotschno, Inv.-Nr. 4716, Foto:
Národní památkový ústav/Na
tionales Denkmalpflege-Institut
Pardubice].
‚Wortes‘ der Heiligen Schrift verweisen. Auf der Mitteltafel ist – die Zahl der auf
das gesamte Monument verteilten Inschriften war ursprünglich viel größer – nur
die Sockelinschrift zu entziffern; sie ist eine beredte Metapher für die weltliche
wie religiöse Autorität der neuen Obrigkeit: Extructi [!] est super fundamentum
prophetarum et apostolorum summo angulari lapide Jesu Christo (Eph 2,20).
Die einzelnen Schriftzüge im eigentlichen Bildfeld nehmen Bezug auf einzelne religiöse Handlungen und Sakramente, von denen neben der Hochzeit bzw.
Ehe vor allem vier akzentuiert werden: Taufe, Abendmahl, Beichte und Predigt.
Genau diese findet man auch auf dem sog. kleinen Altar aus der Georgenkirche
in Nördlingen.57 Auf der Tafel aus Opotschno werden die religiösen Handlungen und Sakramente von erläuternden Inschriften flankiert, was sich mit Luthers
Auffassung „Bei Beichte, Abendmahl und Taufe kommt das Wort geradewegs zu
uns“ deckt.58 Auf das eucharistische Sakrament des heiligen Abendmahls nimmt
der Schriftzug über dem Chor aus dem Matthäusevangelium Bezug: Accipite,
comedite, hoc est corpus meum, quod pro vobis datur. Bibite ex hoc omnes. Hic calix
57 Vgl. W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde (wie Anm. 30), S. 71 f.
58 Zitiert nach J. L. Koerner, Reformation (wie Anm. 30), S. 333.
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353
de novum testamentum sanguine meo, qui pro vobis effunditur [in] remissione[m]
peccatoru[m] (Mt 26,26–28).
Beim Taufstein wird ein weiteres Sakrament, die Taufe, mit Worten aus dem
Markusevangelium – Quotquot vestru[m] baptizati sunt Christum induerunt (Mk
16,16) – sowie aus dem Brief an die Galater begleitet: Qui crediderit et baptizatus
fuerit, salvus erit (Gal 3,27). Die Beichte wird mit zwei Versen aus dem Johannesevangelium kommentiert: Accipite Spiritum Sanctum, quorum remiseritis peccata,
remittuntur eis: et quorum retinueritis, retenta sunt ( Joh 20,22–23). Von den
weiteren Bibelzitaten sind schließlich noch zwei besonders beachtenswert, die
dem Römerbrief des Paulus entnommen sind und ihre Bindung an die lutherische Ideenwelt nicht verleugnen können. Das erste war der Rückhalt für Luthers
These von der christlichen Rechtfertigung und ist direkt über dem gekreuzigten Christus angebracht: Christus mortuus est propter peccata nostra et resurrexit
propter justificationem nostram (Röm 4,24–25). Über der Kanzel fand dann die
Paraphrase eines weiteren Paulusworts ihren Platz: Evangelium est potentia Dei ad
salute[m] omni credenti. Es handelt sich hier um eine Abwandlung des ursprünglichen Wortlauts – richtig müsste es lauten: Non enim erubesco Evangelium. Vir
tus enim Dei est in salutem omni credenti (Röm 1,16) –, die von grundlegender
Bedeutung ist; die verwendete Variante entstammt nämlich unmittelbar dem
Augsburger Bekenntnis.59
Die Zugehörigkeit der Eheleute Hans Dietrich/Jan Jetřich und Barbara zum
lutherischen Bekenntnis spricht allein schon aus der eigentlichen Werkkomposition, mit der – wie auf vielen zeitgenössischen Darstellungen gottesdienstlicher
Handlungen – die Grundidee der Kirchengemeinde zum Ausdruck gebracht wird,
indem das religiöse Bekenntnis der Protagonisten veranschaulicht wird.60 Zumal
im deutschen Umfeld finden sich weitere Beispiele für solche Bekenntnisbilder
wie z. B. das Epitaph des Pfarrers Peter Strupp in Gelnhausen (1571) oder der
Epitaphaltar Abrahams von Nostitz († 1592) in Görlitz. Der Tafel aus Opotschno
ähnelt auch das Epitaph von Johann von Kötteritz (1534–1609) und seiner Frau
Caritas Distelmeier (1554–1615) aus der Berliner Nikolaikirche (1615), das auch
mit dem Prinzip seiner eigenen Einfügung in den ‚realen‘ Raum der dargestellten
Kirche operiert, in dem sich dieselben kirchlichen Handlungen (Altarsakrament,
Taufe, Vermählung, Predigt) wie auf dem Bild vollziehen. Auch hier werden also
suggestiv der reale Raum und die Bildrepräsentation miteinander verschränkt,
59 Vgl. Confessio Augustana variata secunda 1540 (W40R), in: BSELKQuM, Bd. 1: Von den
altkirchlichen Symbolen bis zu den Katechismen Martin Luthers, ed. I. Dingel, Göttingen/
Bristol, CT, 2014, S. 119–167, hier S. 162.
60 Vgl. W. Brückner, Lutherische Bekenntnisgemälde (wie Anm. 30), S. 61–69.
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354
Ondřej Jakubec
konkrete Einzelpersonen des realen Sakralraums werden im ‚fiktiven‘ Bildfeld
dargestellt. Dieses illusionistische Verfahren ist kein Selbstzweck – es präsentiert die bei gottesdienstlichen Handlungen versammelte Kirchengemeinde. Der
Betrachter konnte also das Kircheninnere in realer sowie auf dem Epitaphienbild
in repräsentierter Form sehen. Ähnlich haben auch die Porträtierten durch ihre
Anwesenheit im ‚realen‘ Kirchenraum ihre ‚ewige‘ Zugehörigkeit zur ‚lebenden‘
Kirchengemeinde betont, die der elementare Wesenszug der lutherischen Ekklesiologie war.61 Auf dem Gemälde ist ferner die Darstellung des Geistlichen Jakub
Kunvaldský wichtig, der den typisch lutherischen Kommunikationsaspekt der gottesdienstlichen Handlungen präsentiert, wie ihn Luther in der Gottesdienstordnung „Deutsche Messe“ (1526) definiert hatte: Beim rechten Gottesdienst wahrer
Christen sollte der Altar nicht dort bleiben, wo er ist und der Priester sollte stets
den Gläubigen zugewandt stehen, wie es Christus beim Letzten Abendmahl tat.62
Das Epitaphienbild aus Opotschno weckt mit seiner illusionistischen ‚mise
en abyme‘-Technik Assoziationen an den Altar in der Marienkirche (1586) in
Mühlberg an der Elbe von Heinrich Göding d. Ä. (1531–1606). Zentralmotiv ist
dort das letzte Abendmahl, das auch auf der Predella erscheint. Festgehalten ist
die Szene vor dem Altar, auf dessen Mensa die betreffende Predella mit derselben
Szene und wieder ad infinitum erscheint. Das Prinzip der auf den Altar gemalten gottesdienstlichen Handlungen ist bereits vom Wittenberger Altar (1547)
Lucas Cranachs d. Ä. bekannt, wo auch die Predella den Eindruck des realen
Raumes der Wittenberger Stadtkirche suggeriert. Laut Joseph Leo Koerner ist
im Fall des Mühlberger Altars dieses Wiederholungsprinzip weder Zufall noch
malerische Spielerei, es ist vielmehr – ähnlich wie in Opotschno – in religiösen
bzw. vielmehr theologischen Kontexten zu sehen. Die Glaubensperspektive ist
die Unsterblichkeit und Auferstehung von den Toten bzw. das ewige Leben in
Christo, eventuell ist das Bild im Bilde auch eine Metapher für Christi Allgegenwärtigkeit.63 Das Bild aus Opotschno ist also ein Beleg dafür, wie im lutherischen
Milieu der Altar, hier ein Epitaphienaltar, originell umgeformt wurde. Mit seiner
Konzeption und Ikonografie verkörperte er vor allem die Prinzipien der neuen
Konfession und Kirche: Vor diesem Altar versammelt sich eine Gemeinde, welche
nach dem Augsburger Glaubensbekenntnis die „heilige christliche Kirche, die eine
Versammlung aller Gläubigen ist, in der das reine Evangelium gepredigt wird und
61 Vgl. M. Deiters, Epitaphs in Dialog with Sacred Space. Post-Reformation Furnishing of St
Nicolai and St Marien in Berlin, in: A. Spicer (Hg.), Lutheran Churches in Early Modern
Europe, Farnham/Burlington 2012, S. 63–96, hier S. 79–96.
62 Zitiert nach J. L. Koerner, Reformation (wie Anm. 30), S. 171.
63 Vgl. ebd., S. 432–438.
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Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
355
fromm die Sakramente gespendet werden“.64 Die Einbeziehung aller Gläubigen
in die Ikonografie der Altäre, vor denen die Gemeinde zusammenkommt, ist eine
der wesentlichen Innovationen der lutherischen religiösen Kunst.65
Das Denkmal aus Opotschno ist bzw. war (in seinem ursprünglichen vollständigen Zustand) ein prunkvolles Monument seiner Protagonisten Hans Dietrich/Jan
Jetřich von Zierotin und dessen Frau Barbara. Es kombinierte dabei elementar die
sepulkral-memorialen mit den konfessionellen Prinzipien. Einerseits manifestierte
der Auftraggeber mit diesem höchst originellen Bekenntnisbild seine Konfession
in einer sehr anschaulichen, narrativen, ja didaktischen Art und Weise. Anderseits
präsentierte der neue Grundherr durch die prunkvolle Installierung des Monuments in der Schlosskirche von Opotschno die Macht über seine Herrschaft. Sein
Porträt wurde im Raum der Schlosskirche zum ‚unverzichtbaren Einrichtungsgegenstand‘ und repräsentierte die sakrale Legitimität seiner Herrschaft und seine
konfessionelle Autorität.66 Diese beiden Aspekte lassen sich nicht voneinander
trennen und das Gemälde aus Opotschno zeigt eindrücklich, wie Hans Dietrich/
Jan Jetřich in seiner neuen Herrschaft weltliche und geistliche Macht visualisierte.67
Schluss
Bridget Heal schließt in ihrem Buch über die lutherische visuelle Kultur ihre
Überlegungen zu Sepulkralmonumenten mit dem Hinweis auf die auch in diesem
Beitrag deutlich gewordene Ambivalenz ab: „Lutheran memorials to the dead were
about both representation and devotion“ und betont dabei den Aspekt des „conjoining of politics and piety“.68 Möglicherweise ist es paradox, dass diese Ambivalenz
auch beim Zierotiner Epitaph aus Opotschno als markantestem Monument der
lutherischen Bildkultur in den böhmischen Ländern ein grundlegender Wesenszug ist. In solchen Fällen ist zweifellos die Frage legitim, in welchem Maß Sepulkralkunst und visuelle Kultur der Nachreformationszeit von der Herausbildung
64 Ebd., S. 80.
65 Vgl. W. A. Dyrness, Reformed Theology and Visual Culture. The Protestant Imagination
from Calvin to Edwards, Cambridge/New York 2004, S. 56 f.
66 Vgl. R. Slenczka, Politische Porträtkultur im Dienst der Konfessionalisierung: Die Zerbster
Taufe Christi (1568) von Lucas Cranach d. J., in: E.-B. Krems / S. Ruby (Hgg.), Das Porträt
als kulturelle Praxis (TV 4), Berlin/München 2016, S. 192–210, hier S. 206.
67 Vgl. M. Wisłocki, Standeskonfessionalismus und Herrscherethos. Retabelstiftungen der
Herzöge von Pommern, in: M. Deiters / E. Wetter (Hgg.), Bild und Konfession (wie
Anm. 26), S. 189–281, hier S. 223.
68 B. Heal, Magnificent Faith (wie Anm. 32), S. 188.
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356
Ondřej Jakubec
einer spezifischen ‚Konfessionskultur‘ geprägt waren. Damit ist es zugleich notwendig, auf das Paradigma der Konfessionalisierung von Heinz Schilling und
Wolfgang Reinhard einzugehen, das mittlerweile ja bereits modifiziert wurde.
Eine solche Modifizierung bzw. Revision verlangt eine Ergänzung der makrohistorischen durch eine historisch-anthropologische und mikrohistorische Perspektive.69 Diese Perspektive hat auch die Kunstgeschichte bei der Erforschung des
komplexen Kunstbetriebs und der Distribution von Kunstwerken einzunehmen,
wo sich Künstler, Auftraggeber und Rezipienten in unterschiedlichen sozialen
und transkonfessionellen Netzwerken bewegten.70
Eine der Leitfragen könnte dabei sein: Gab es in Zeiten der Reformation und
Gegenreformation einen starken individuellen Bedarf, auf Epitaphien die Konfession zur Schau zu stellen? Ja – so könnte die Antwort lauten –, aber nur bis
zu einem gewissen Grad bzw. der Konfessionsaspekt war (bis auf Ausnahmen)
nicht fundamental. Sofern man nur diesem nachginge, könnte man möglicherweise zu einem verzerrten Ergebnis gelangen, denn wir würden diese Konfessionalität gerade aus der Perspektive des modernen Konfessionalisierungskonzepts
‚enthüllen‘. In ihrer Zeit verbanden sepulkral-memoriale Objekte untrennbar die
Prinzipien von Erinnerung und Frömmigkeit, was ziemlich genau dem zeitgenössischen Begriff christliches gedechtnüß entspricht.71 Repräsentation, Frömmigkeit,
eschatologische Hoffnung, gesellschaftliches Wirken sowie private Motivation,
individueller Glaube und die Konventionen von Sterben und Erinnerung – all
das bildete ein unzertrennliches Amalgam von Motivationen bei der Produktion und Perzeption solcher Denkmäler. Im Prinzip musste deren Charakter aus
katholischer sowie nichtkatholischer Sicht nicht so stark divergieren, zumal bei
ihrer Gestaltung die (mentale und künstlerische) Tradition eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte.72 Auch die ‚lutherische‘ Tafel aus Opotschno weist eine
solche Ambivalenz bzw. Bipolarität auf, die insbesondere mit der religiösen und
69 Vgl. W. Reinhard, Abschied von der „Gegenreformation“ und neue Perspektiven der Forschung, in: Zeitsprünge 1 (1997), S. 440–451.
70 Vgl. B. U. Münch, Geteiltes Leid. Die Passion Christi in Bildern und Texten der Konfessionalisierung. Druckgraphik von der Reformation bis zu den jesuitischen Großprojekten um 1600,
Regensburg 2009, S. 259 f.; T. Packeiser, Katholische Kunst angesichts der Reformation.
Notizen zu Konfessionalisierung, konfessioneller Identität und Kontextforschung anläßlich
einer Neuerscheinung, in: RQA 103 (2008), S. 188–214.
71 Christliche gedechtnüß, oder Grabschriefften, weylandt der Christlichen, Erbarn, und tugent
reychen Frawen, Marie Cleophe, Herrn Georgen Voglers, Marggreuischen Raths, [et]c. ehlichen haußfrawen. Erstlich inn Latein beschrieben, und auß dem selben, inn teutsch Re[ue]
men gebracht […], Nürnberg 1543 (VD16 E 1751).
72 Vgl. B. U. Münch, Geteiltes Leid (wie Anm. 70), S. 253 f.
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Lutherische Epitaphien oder Epitaphien von Lutheranern?
357
sakralen Erinnerungskultur adeliger Kreise verknüpft ist.73 Die vorgestellten Zierotiner Monumente wiesen dabei verschiedene Formen der ‚Sprache‘ der nichtkatholischen Epitaphienproduktion auf – von der typisierten (Napajedl) über
die Symbolsprache visueller ‚Codes‘ (Groß Seelowitz) bis zum offensichtlich
manifestartigen Gemälde in Opotschno.
Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit war in konfessioneller Hinsicht gespalten und stand zahlreiche Konflikte durch, lebte aber auch in Koexistenz. Die
Sterbe- und Erinnerungskultur konnte gewiss ein „konfessionell zugespitzter
Raum“ oder geradezu ein „Teil der religiösen Propaganda“ sein, konnte Hass,
Gewalt, Exhumierungen und Zerstörung von Sepulkralmonumenten mit sich
bringen.74 Gleichermaßen, ja offensichtlich überwiegend herrschte aber die Praxis einer überkonfessionellen Toleranz oder pragmatischen Verträglichkeit. Diese
Spannweite findet man auch auf den Epitaphien – und vielleicht auch in den
Absichten ihre Auftraggeber und Schöpfer. Hier haben wir ein breites Spektrum
von universaler und christlich überzeitlicher, dabei nicht sonderlich ideologisierter Ikonografie ebenso vor uns wie eine subkutane Sprache der Anspielung
auf konfessionelle Identität, aber auch – eher als Ausnahme – konfessionell programmatische Monumente, die einen demonstrativen und streitbaren Charakter
hatten. Bei der überwältigenden Mehrzahl der Sepulkralmonumente findet man
allerdings offensichtlich keine dezidierte Konfessionalität, auch wenn es – durchaus nicht unwichtige – Ausnahmen gibt. Sofern man also eindeutig konfessionalisierte Text- oder Bildbeweise erwartet (die es durchaus gibt), dürfte man in
den meisten Fällen enttäuscht sein. Die Abwesenheit von konfessioneller Distinktion oder Konfrontation bedeutet natürlich nicht die Nichtexistenz dieser
Unterschiede, auch lassen sich eigenwillige individuelle Moden nicht leugnen,
die von der jeweiligen Konfessionskultur hervorgebracht wurden. Prinzipiell
wurde aber die Konfessionalität eines Werks nicht nur von Form, Text oder Ikonografie bestimmt, sondern in weit erheblicherem Maße vom Umfeld und von
der Funktion des Objekts. Sofern an diesem etwas geändert wurde oder verloren
ging, veränderten sich auch Bedeutung und Aussagen. Dieser Wandel und der
mehr oder weniger starke Verlust der ‚Lesart‘ sind allerdings unvermeidbar, denn
selbst das wesentlichste Element im Wahrnehmungsprozess von Bedeutungen,
also der Betrachter, wandelt sich, und mit ihm auch die Fähigkeit der visuellen
Perzeption und Kommunikation. An dieser Perzeption haben im Übrigen viele
73 Vgl. M. Deiters / E. Wetter, Einleitung, in: Diess. (Hgg.), Bild und Konfession (wie
Anm. 26), S. 11–32, hier S. 17.
74 R. Pavlíčková, „Da ligt nu alles an der kunst wol zu sterben“. Die Sammlung „Catholische
Leichpredigen“ des Matthias Tympius, in: WBN 36 (2009), S. 65–79, hier S. 78.
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358
Ondřej Jakubec
verschiedenartige Rezipienten teilgenommen: „Number of eyes and minds in a
given place and time might have operated.“75 Diesem Wandel bei der Entschlüsselung der Monumente zum Trotz kann man zusammenfassen, dass Epitaphiendenkmale im katholischen sowie nichtkatholischen Umfeld im Grunde einen
gemeinsamen Nenner hatten: Mehr als die Polarisierung und der Ausdruck der
persönlichen Konfessionsidentität war das die universale „eschatologische Kommemoration“.76 Dieser Befund ist nicht Ausdruck von Resignation, sondern im
Gegenteil ein Aufruf, bei der Entschlüsselung von Denken und Handeln des
Menschen die Relevanz von Bildern nicht außer Acht zu lassen.
(Übersetzung: Jürgen Ostmeyer)
75 S. Lingo, Federigo Barocci. Allure and Devotion in Late Renaissance Painting, New Haven/
London 2008, S. 4.
76 B. Emich, Günstlinge, Gräber, Günstlingsgräber. Versuch einer Bilanz, in: A. Karsten
(Hg.) / A. Ladegast (Mitarb.), Das Grabmal des Günstlings. Studie zur Memorialkultur
frühneuzeitlicher Favoriten (HSKBG 15), Berlin 2011, S. 309–314, hier S. 312.
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DIE VERBREITUNG DER REFORMATION –
RÄUME UND WISSENSTRANSFER
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Martin Rothkegel
Mähren als Gelobtes Land
Migrationserfahrung und Heilsgeschichte bei den Hutterischen
Brüdern
Dem Andenken von Gottfried Seebaß (1937–2008) und
Werner O. Packull (1941–2018) gewidmet.
Religiöse Deutungen von Migrationserfahrungen in der Frühen Neuzeit
Migration und Flucht waren im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 höchst
aktuelle, in der europäischen Öffentlichkeit breit und kontrovers diskutierte Themen. Es lag daher nahe, die Stichworte ‚Reformation‘ und ‚Flucht‘ miteinander
verknüpfend im Zuge des Jubiläumsjahrs 2017 mit der Reformation zusammenhängende Migrationsphänomene in den Blick zu nehmen, was unter Aufnahme
aktueller Forschungsdiskussionen zur Migration in der Frühen Neuzeit1 unter
anderem in Ausstellungen und zahlreichen weiteren Veranstaltungen der von
staatlicher und kirchlicher Seite opulent ausgerichteten deutschen Jubiläumsfeierlichkeiten geschah.2
1
2
Aus der umfangreichen Literatur seien genannt K. J. Bade / P. C. Emmer / L. Lucassen /
J. Oltmer (Hgg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn/München/Wien/Zürich 2007; J. Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge.
Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa
(Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4), Berlin/Münster 2008;
Ders. / R. Bendel (Hgg.), Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive (FQKKGOd 40), Köln/
Weimar/Wien 2008; C. Absmeier / M. Asche / M. Fata / A. Röder / A. Schindling
(Hgg.), Religiös motivierte Migrationen zwischen dem östlichen Europa und dem deutschen
Südwesten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (VKGL B 219), Stuttgart 2018.
Erwähnt seien „Reformation und Flucht. Emden und die Glaubensflüchtlinge im 16. Jahrhundert“, Gemeinsame Ausstellung der Johannes a Lasco Bibliothek und des Ostfriesischen
Landesmuseums Emden, 14.5.–5.11.2017; C. Absmeier / A. Röder (Hgg.), Flucht vor der
Reformation. Täufer, Schwenckfelder und Pietisten zwischen dem deutschen Südwesten und
dem östlichen Europa. Begleitband zur Ausstellung, Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart 2016.
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362
Martin Rothkegel
Angesichts der Diversität der Fluchtbewegungen des Reformationsjahrhunderts wäre es problematisch, eine ‚Reformation der Flüchtlinge‘ als zusammenhängendes Phänomen darstellen zu wollen.3 Es ist aber nicht von der Hand zu
weisen, dass sich die vielfältigen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung in der
theologischen Lehrbildung, der Frömmigkeitspraxis und im Selbstverständnis
religiöser Gruppen widerspiegelten. Bekannt ist die von Heiko Augustinus Oberman (1930–2001) nachdrücklich vertretene These, die Erfahrung von Flucht und
Asyl habe Lehrbildung und Spiritualität Johannes Calvins (1509–1564) und des
Calvinismus maßgeblich geprägt.4
Ähnliche Interpretationsansätze würden sich für die ‚unsichtbare Kirche‘ des
inkognito bei Basel lebenden niederländischen Exulanten David Joris (1501/02–
1556)5 oder für den ortlosen Spiritualismus des seit 1529 an wechselnden
Orten verborgen im süddeutschen Exil lebenden Schlesiers Kaspar Schwenckfeld (1489/90–1561) anbieten.6 Auch ein Beispiel aus dem zeitgenössischen
Judentum sei erwähnt: Die katastrophale Erfahrung der Vertreibung der Juden aus
Spanien stand – laut der Interpretation von Gerschom Scholem (1897–1982) –
im Hintergrund der komplexen Lehre vom Exil Gottes und vom Prozess der Erlösung, zu der Isaak Luria (1534–1572) die esoterischen Traditionen der Kabbala
umgebildet hatte und die im 17. Jahrhundert eine erstaunliche Verbreitung und
Popularisierung in der gesamten jüdischen Diaspora erfuhr.7
Mit den biblischen Motiven des Exodus der Israeliten aus Ägypten, der Wüstenwanderung des Gottesvolkes, des Gelobten Landes und der Landnahme, des
3
4
5
6
7
Einen anspruchsvollen und anregenden Versuch einer solchen Darstellung unternahm N.
Terpstra, Religious Refugees in the Early Modern World. An Alternative History of the
Reformation, New York 2015.
Vgl. H. A. Oberman, Europa afflicta. The Reformation of the Refugees, in: ARG 83 (1992),
S. 91–111; Ders., Zwei Reformationen. Luther und Calvin. Alte und Neue Welt, ed. M.
Schulze, übersetzt von C. Wiese, Berlin 2003, S. 163–169; Ders., John Calvin and the
Reformation of the Refugees, ed. P. A. Dykema (THR 464), Genève 2009.
Zu Joris vgl. R. H. Bainton, David Joris. Wiedertäufer und Kämpfer für Toleranz im 16. Jahrhundert (ARG ErgBd. 6), Leipzig 1937; G. K. Waite, David Joris and Dutch Anabaptism,
1524–1543, Waterloo 1990.
Zu Schwenckfeld vgl. R. E. McLaughlin, Caspar Schwenckfeld, Reluctant Radical. His
Life to 1540 (YHP, Series 3, Miscellany 134), New Haven/London 1986; C. Gritschke, ‚Via
Media‘: Spiritualistische Lebenswelten und Konfessionalisierung. Das süddeutsche Schwenckfeldertum im 16. und 17. Jahrhundert (CA 22), Berlin 2006; H. Weigelt, Von Schlesien nach
Amerika. Die Geschichte des Schwenckfeldertums (NFSG 14), Köln/Weimar/Wien 2007.
Vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, S. 267–314;
kritisch zu Scholems Ansatz M. Idel, Kabbalah. New Perspectives, New Haven/London
1988.
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Mähren als Gelobtes Land
363
Babylonischen Exils, des prophetisch-apokalyptischen Rufs Geht hinaus aus
Babylon! ( Jes 48,20; Jer 50,8 und 51,6.45; 2 Kor 6,17; Offb 18,4), der Rückkehr
aus dem Exil, des Wiederaufbaus des von den Gottlosen zerstörten Tempels, der
Völkerwallfahrt zum Zion und der Vision des Neuen Jerusalem als Ziel der Heilsgeschichte (Offb 21 und 22) war christlichen Gruppen der Frühen Neuzeit ein
gemeinsamer Vorrat an Metaphern und Deutungsmustern zur religiösen Verarbeitung von Flucht- und Migrationserfahrungen vorgegeben.
Nicht selten kam es dabei zu Gleichsetzungen des Migrationsziels mit dem
Gelobten Land oder gar dem Neuen Jerusalem, teils im Sinne einer unverbindlichen rhetorischen Metaphorik, teils aber auch mit recht konkreten Implikationen.
Neben den französischen Glaubensflüchtlingen, die in Calvins Genf ein Neues
Jerusalem sahen, seien die puritanischen Siedler genannt, die in Neuengland theokratische Gemeinwesen gründeten, um dort die Wiederkunft Christi zu erwarten,8
oder auch die niederländisch-reformierten Siedler, die seit dem 17. Jahrhundert
nach Südafrika kamen und ihren Anspruch auf den Besitz des Landes mit einer
aus biblischen Texten hergeleiteten Bundestheologie legitimierten.9
Zu einer vergleichbaren geographischen Konkretisierung – typologisch-ek
klesiologisch verstandener – alttestamentlicher Motive kam es im 16. Jahrhundert bei täuferischen Flüchtlingsgemeinden, die auf adligen Grundherrschaften
in Südmähren Asyl fanden. Zu beachten ist allerdings der entscheidende Unterschied, dass die Täufer, von denen in den folgenden Abschnitten die Rede sein
wird, keinen Anspruch auf den Besitz des Landes, das sie als den ihnen von Gott
angewiesenen Ort ansahen, erhoben.
Die hutterische Kirche in Mähren
Auffällige Analogien zur Theologisierung von Migrationserfahrungen bei den
Neuengland-Puritanern des 17. Jahrhunderts – die durch den Rückgriff auf dieselben biblischen Motivkomplexe zu erklären sind und hier nicht analysiert werden sollen – lassen sich bei den Hutterischen Brüdern beobachten. Diese hatten
8
9
Vgl. S. Bercovitch, The Puritan Origins of the American Self, New Haven/London 21976;
A. Zakhai, Exile and Kingdom. History and Apocalypse in the Puritan Migration to America
(Cambridge Studies in Early Modern British History), Cambridge 1992; N. Bunker, Making
Haste from Babylon. The Mayflower Pilgrims and Their World. A New History, London 2010.
Vgl. J. N. Gerstner, The Thousand Generation Covenant. Dutch Reformed Covenant
Theology and Group Identity in Colonial South Africa, 1652–1814 (SHCT 44), Leiden/New
York/København/Köln 1991.
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364
Martin Rothkegel
sich 1533 als selbstständige Gemeinde konstituiert und waren von den 1540er
Jahren an bis zum Verbot täuferischer Gemeinden in Mähren 1622 die mitgliederstärkste täuferische Glaubensgemeinschaft in der Markgrafschaft.10 Der Anteil
der einheimischen Deutschmährer an der ‚Gemeinde Gottes in Mähren‘ war
gering.11 Vielmehr handelte es sich bei den Mitgliedern der hutterischen Kirche
ganz überwiegend um Migranten der ersten Generation oder deren bereits in
Mähren geborene Nachfahren.
In den Anfangsjahren der Gemeinschaft schlossen sich den Hutterern häufig
Einzelpersonen und Gruppen an, die durch spontane Flucht vor akuter Verfolgung
nach Mähren gelangt waren. Die hutterische Bruderschaft begann aber schon früh
mit der gezielten Aussendung von Emissären in die deutschsprachigen Nachbarländer, die dort in den klandestinen täuferischen Netzwerken für die Emigration
warben. Der Großteil der hutterischen Konvertiten wurde durch systematische
Missionsaktivitäten nach Mähren geführt. Herkunftsländer waren vor allem die
österreichischen Erblande, der gesamte süddeutsche Bereich, Schlesien, die Pfalz
und die Rheinlande. Ab den 1580er Jahren wurden auch regelmäßig hutterische
Missionare zu den bedrängten Täufern in der Schweiz ausgesandt.12 In kleinerem Maße traten täuferische Flüchtlinge aus Norditalien, Slowaken und einzelne
Polen der Gemeinschaft bei, für die eigens italienische und slowakische Prediger
ordiniert wurden.13 Die Vielfalt der in der Gemeinde gesprochenen Dialekte und
10 Zu den Hutterischen Brüdern vgl. A. von Schlachta, Hutterische Konfession und Tradition 1578 bis 1619. Etabliertes Leben zwischen Ordnung und Ambivalenz (VIEG AARG 198),
Mainz 2003; J. Pajer, Studie o novokřtěncích [Studien über die Täufer], Strážnice 2006; R.
Kobe, Täuferische Konfessionskultur in der Frühen Neuzeit. Mennoniten am Niederrhein
(Krefeld) und Hutterische Brüder in Mähren und Ungarn 1550–1750 (SVRKG 185), Bonn
2014, S. 166–318; zur Vielfalt täuferischer Kirchenbildungen in Mähren vgl. M. Rothkegel,
Anabaptism in Moravia and Silesia, in: J. D. Roth / J. M. Stayer (Hgg.), A Companion to
Anabaptism and Spiritualism, 1521–1700 (BCCT 6), Leiden/Boston 2007, S. 163–215.
11 Zu den Beziehungen der Hutterer zur einheimischen deutschmährischen Bevölkerung vgl.
J. K. Zeman, The Anabaptists and the Czech Brethren in Moravia 1526–1628. A Study of
Origins and Contacts (Studies in European History 20), The Hague/Paris 1969, S. 304–307.
12 Vgl. A. von Schlachta, „Searching through the Nations“: Tasks and Problems of Sixteenth-Century Hutterian Mission, in: MQR 74 (2000), S. 27–49; Dies., Hutterische Konfession (wie Anm. 10), S. 340–387; M. Rothkegel, Kollektive Zucht und individuelle Heilsgewißheit. Zur Emigrationswerbung der Hutterischen Brüder, in: J. Bahlcke / R. Bendel
(Hgg.), Migration (wie Anm. 1), S. 133–144; zur hutterischen Mission in der Schweiz vgl. U.
B. Leu / C. Scheidegger (Hgg.), Die Zürcher Täufer 1525–1700, Zürich 2007, S. 131–144.
13 Zu den italienischen Hutterern vgl. A. Stella, Dall’anabattismo veneto al „Sozialevangelismus“ dei Fratelli Hutteriti e all’illuminismo religioso sociniano (Italia Sacra 54), Roma 1996,
S. 106–135; zu den Beziehungen der Hutterer nach Polen zuletzt M. Luszczynska, The
Polish Brethren versus the Hutterites: A Sacred Community?, in: JEMC 4 (2017), S. 21–46;
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Mähren als Gelobtes Land
365
Sprachen (die ‚offizielle‘ Schriftsprache der Gemeinde war ein bairisch-österreichisch gefärbtes Frühneuhochdeutsch)14 trug zu dem Bewusstsein der Hutterer
bei, das aus allen Völkern berufene und versammelte endzeitliche Gottesvolk
(Offb 7,9) zu sein.
Die Hutterischen Brüder verstanden sich als die in der letzten Periode der
Heilsgeschichte wiederaufgerichtete wahre apostolische Kirche. Ihr tendenziell
exklusives Selbstverständnis wird insbesondere in der 1581 kompilierten Gemeindechronik deutlich, die mit der Weltschöpfung beginnt und nach einem knappen Durchgang durch die biblische Geschichte und die Kirchengeschichte die
Erzählung in der Gründung der hutterischen Gemeinde 1533 gipfeln lässt und
von da an deren Geschicke bis zur Gegenwart der Chronisten weiterverfolgt.15
Wie andere separatistische Gruppen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit
griffen die Hutterer die waldensische Verfallstheorie auf,16 wonach die Kirche seit
der Zeit Konstantins des Großen (306–337) unter die Herrschaft des Antichrist
geraten sei. Seither gab es keine wahre Kirche mehr, sondern höchstens einzelne
Personen oder Gruppen, die einen kleinen Schein der Wahrheit hatten.17
Erst mit dem Auftreten Martin Luthers (1483–1546) und Huldrych Zwinglis
(1483–1531) begann das Licht der Wahrheit durch das barmherzige Eingreifen
14
15
16
17
zu den slowakischen Hutterern vgl. Geschicht-Buch der Hutterischen Brüder, ed. R. Wolkan,
Standoff-Colony bei MacLeod/Wien 1923, S. 131, 313, 329, 361, 425, 427.
Vgl. H. Scheer, Sprachliche Untersuchung der „Ältesten Chronik der hutterischen Brüder“,
Masch. Diss. Edmonton (Alberta) 1962.
Die 1581 von Hauprecht Zapff (1545/46–1630) im südmährischen Neumühl/Nové Mlýny,
dem Sitz der hutterischen Kirchenleitung, kompilierte „Große Chronik“ ist in zwei Exemplaren
überliefert, die sich beide im Besitz der Hutterischen Brüder in den USA befinden. Auf einer
der beiden Handschriften beruht die kritische Ausgabe: Die älteste Chronik der Hutterischen
Brüder. Ein Sprachdenkmal aus frühneuhochdeutscher Zeit, ed. A. J. F. Zieglschmid, Ithaca
1943; im Folgenden wird nach der orthografisch modernisierten Ausgabe: Geschicht-Buch,
ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), zitiert. Neben der „Großen Chronik“ existieren zahlreich
kleinere hutterische Chronikhandschriften, in denen teilweise ältere, vor 1581 entstandene
hutterische chronistische Texte, die in der „Großen Chronik“ verarbeitet sind, überliefert sind;
von diesen ‚kleinen‘ Chroniken liegt eine gekürzte, aus mehreren Handschriften kompilierte
Edition vor: Die Geschichts-Bücher der Wiedertäufer in Oesterreich-Ungarn. Betreffend deren
Schicksale in der Schweiz, Salzburg, Ober- und Nieder-Oesterreich, Mähren, Tirol, Böhmen,
Süd-Deutschland, Ungarn, Siebenbürgen und Süd-Russland in der Zeit von 1526–1785, ed. J.
Beck (FRA DA 43), Wien 1883, ND: Nieuwkoop 1967.
Zu dieser vgl. W.-F. Schäufele, „Defecit Ecclesia“. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichte des Mittelalters (VIEG AARG 213), Mainz 2006; G. Dipple, „Just as in the Time
of the Apostles“. Uses of History in the Radical Reformation, Kitchener 2005.
Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 28.
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Martin Rothkegel
Gottes wieder zu scheinen. Den Abschnitt über Luther und Zwingli beginnt der
Chronist mit einem Blick hinter die Kulissen der Weltgeschichte:
Weil aber Gott das menschliche Geschlecht je und allweg geliebet hat und nicht zum Verderben
beschaffen, dem Irrtum, Schaden und Betrug des Teufels für zu kommen, hat er aus großem Mit
leiden den hellen Schein und Glanz der göttlichen Wahrheit, aber doch gar fein gemächlich ange
fangen aufzublasen und mit großer Bescheidenheit das Licht aus der Finsternis herfür getragen.18
Allerdings kam es noch nicht zur Wiederaufrichtung der wahren Kirche. Weder
Luther noch Zwingli wurden ihrem göttlichen Auftrag gerecht, da sie sich zur
Durchsetzung ihrer Lehre der weltlichen Macht bedienten und ihre Anhänger
nicht von Sünde und weltlichem Lebenswandel abhielten, als ob einer einen alten
Kessel flicket, das Loch nur ärger wird, und haben ein ganz frech Volk zu sündigen
erzogen und hinter ihnen gelassen. Gleichnisweis zu reden, dem Papst den Krug aus
der Hand geschlagen, die Scherben selbst darinnen behalten.19
Es bedurfte daher weiterer Interventionen Gottes, damit die Wiederaufrichtung
der wahren Kirche ihren Anfang nehmen konnte. Der erste Schritt dazu waren die
ersten Taufen von erwachsenen Gläubigen Anfang 1525 in Zürich im Kreis um
Konrad Grebel (ca. 1498–1526), Felix Mantz (ca. 1498–1527), Georg Blaurock
(ca. 1492–1529) und Wilhelm Reublin (ca. 1484–nach 1559). Die Schilderung
der Zürcher Taufhandlung beginnt wiederum mit einem ‚Prolog im Himmel‘:
Weil aber Gott ein einigs Volk, abgesündert von allen Völkern, haben wollt, hat er den wahren,
rechten Morgenstern, das Licht seiner Wahrheit, in völligem Schein wieder herfür wollen bringen
im letzten Alter dieser Welt, besonders in deutscher Nation und Landen, dieselben mit seinem
Wort heimzusuchen und den Grund göttlicher Wahrheit zu offenbaren.20
Für die acht Jahre zwischen den Zürcher Anfängen der Täuferbewegung 1525
und der vollständigen Wiederherstellung der wahren Kirche im Jahr 1533 in Auspitz/Hustopeče durch den aus Tirol stammenden Hutmacher und täuferischen
Laienprediger Jakob Hutter (ca. 1500–1536) verlagert sich der Erzählstrang der
Chronik nach Mähren. 1526/27 führte der gelehrte Theologe Balthasar Hubmaier (ca. 1485–1528), der 1528 in Wien auf dem Scheiterhaufen starb, auf der
Grundherrschaft Nikolsburg/Mikulov eine täuferische Lokalreformation durch.21
18
19
20
21
Ebd., S. 31.
Ebd., S. 32.
Ebd., S. 33 f.
Vgl. ebd., S. 36.
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Mähren als Gelobtes Land
367
Die Nikolsburger Täufer bekannten sich aber nicht zum Pazifismus, den die Hutterer als notwendiges Merkmal der wahren Kirche ansahen, sondern behielten das
Schwert, daher sie Schwertler genennt.22 1527 zog der täuferische Wanderprediger
Hans Hut (ca. 1490–1527) durch Nikolsburg und wurde dort auf Hubmaiers
Betreiben vorübergehend verhaftet; laut Darstellung der Chronik, die in diesem
Punkt wahrscheinlich unzutreffend ist, vertrat Hut pazifistische Grundsätze und
war darüber in Konflikt mit der Nikolsburger Obrigkeit geraten.23
Weiter berichtet die Chronik, dass Anhänger Huts, die aus Niederösterreich
nach Mähren geflohen waren und sich dort nicht der Nikolsburger Täuferkirche
anschließen wollten, 1528 eine pazifistische Gemeinde in Austerlitz/Slavkov u Brna
gründeten, aus der die Austerlitzer Brüder, eine der täuferischen Denominationen
in Mähren, hervorgingen.24 Von der Austerlitzer Gemeinde, die – so jedenfalls die
hutterische Darstellung – in ihrer Frühzeit versuchte, die Gütergemeinschaft einzuführen, ohne jedoch konsequent das Privateigentum abzuschaffen, spaltete sich
Anfang 1531 eine streng kommunitäre Gemeinde ab, die sich in Auspitz niederließ.
Die Auspitzer Gemeinde wuchs durch den Zuzug täuferischer Flüchtlinge schnell
und bildete mit anderen täuferischen Flüchtlingsgemeinden in Südmähren einen
Gemeindeverband, dem auch eine Gemeinde in Rossitz/Rosice u Brna unter der
Leitung des aus Nürnberg stammenden Kürschners Gabriel Ascherham († nach
1548) angehörte, von dem unten noch einmal die Rede sein wird.25
1533 kam es jedoch zu Rivalitäten zwischen den Leitern der vereinigten Gemeinden. In dem Machtkonflikt setzte sich Jakob Hutter, der seit 1529 der Austerlitzer und anschließend der Auspitzer Gemeinde angehört hatte, als alleiniger
‚Bischof und Hirt‘ der Auspitzer Gemeinde und der mit dieser verbundenen
22 Ebd., S. 62.
23 Vgl. ebd., S. 37 f.; zu Huts Haltung zum Schwert, d. h. zum Kriegsdienst und zur Ausübung obrigkeitlicher Ämter, vgl. J. M. Stayer, Anabaptists and the Sword, Lawrence, 1972, S. 141–187;
G. Seebass, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut (QFRG 73), Gütersloh
2002, S. 370 f., 488–494.
24 Vgl. Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 61–63; zu den Austerlitzer Brüdern
vgl. M. Rothkegel, Die Austerlitzer Brüder oder Bundesgenossen – Pilgram Marpecks
Gemeinde in Mähren, in: A. Schubert / A. von Schlachta / M. Driedger (Hgg.),
Grenzen des Täufertums / Boundaries of Anabaptism. Neue Forschungen (SVRG 209), Gütersloh 2009, S. 232–270; Ders., Pilgram Marpeck and the Fellows of the Covenant: The
Short and Fragmentary History of the Rise and Decline of an Anabaptist Denominational
Network, in: MQR 85 (2011), S. 7–36.
25 Vgl. Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 67–73; sowie auch die präzise Analyse der in der hutterischen Chronik dargestellten Vorgänge der Jahre 1527 bis 1533 durch W.
O. Packull, Hutterite Beginnings. Communitarian Experiments during the Reformation,
Baltimore/London 1995, S. 133–158.
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368
Martin Rothkegel
Zweiggemeinden durch und erklärte alle Prediger und Gemeindemitglieder, die
sich ihm nicht unterordnen wollten, für exkommuniziert.26 Mit dem Antritt der
alleinigen Gemeindeleitung durch Jakob Hutter, der sich von Gott als Apostel
zur Wiederherstellung der apostolischen Kirche berufen wusste,27 war nach hutterischer Auffassung die seit der Zeit Kaiser Konstantins zerstörte wahre Kirche
nach zwölf Jahrhunderten der geistlichen Finsternis vollständig wiederhergestellt.
Hutter hatte die Gemeindeleitung nur für kurze Zeit inne. Als es in Mähren
1535 zu einer vorübergehenden Verfolgung der Täufer durch König Ferdinand I.
(1526–1564) kam, begab er sich – anscheinend in Erwartung des unmittelbar
bevorstehenden Weltendes – auf eine letzte Missionsreise nach Tirol, wurde dort
verhaftet und starb am 24. Februar 1536 in Innsbruck auf dem Scheiterhaufen.28
Die von Hutter gegründete Kirche überstand die Verfolgung von 1535 ebenso
wie eine weitere Verfolgungswelle in den Jahren 1547 bis 1552. Für das ausgehende 16. Jahrhundert sind 54 Gemeinschaftssiedlungen der Hutterer bezeugt,
die sich teils innerhalb von untertänigen Städten, teils innerhalb von Dörfern
oder auf Meierhöfen und um Mühlen außerhalb geschlossener Ortschaften befanden.29 Von gewählten ‚Dienern des Worts‘ (Predigern) und ‚Dienern der zeitlichen Notdurft‘ (Haushaltern) geleitet, bildete die hutterische Kirche ein von den
Personenverbänden und administrativen Strukturen ihrer kleinstädtischen und
dörflichen Umgebung weitgehend unabhängiges, selbstverwaltetes Gemeinwesen,
das nach außen von einem Vorsteher oder Bischof und seinem Mitarbeiterstab
vertreten wurde. Nach einer Berechnung des Archäologen Jiří Pajer waren die
hutterischen ‚Haushaben‘ oder ‚Bruderhöfe‘ von etwa 20.000 Personen bewohnt;
zeitgenössische Angaben über die Mitgliederzahl der Hutterischen Brüder waren
teilweise sogar wesentlich höher.30 In Hinblick auf Einwohnerzahl und ökonomische Leistungsfähigkeit standen die hutterischen Haushaben der Gesamtheit
der königlichen Städte in Mähren (Olmütz/Olomouc, Znaim/Znojmo, Brünn/
Brno, Iglau/Jihlava, Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště und Mährisch Neustadt/Uničov) anscheinend nicht nach.31
Den Hutterern ging es nicht darum, in Mähren Land zu erwerben, sondern
sie lebten mit einem besonderen, vertraglich geregelten Status gewissermaßen
26
27
28
29
30
31
Vgl. Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 75–87.
Vgl. ebd., S. 100, die Selbstbezeichnung Hutters als ‚Apostel und Knecht Gottes‘.
Vgl. ebd., S. 118 f.
Vgl. J. Pajer, Studie (wie Anm. 10), S. 19–40.
Vgl. ebd., S. 61–68.
Zu Schätzungen der Einwohnerzahlen Böhmens und Mährens im 16. Jahrhundert vgl. J. Janáček, České dějiny [Tschechische Geschichte], Buch 1: Doba předbělohorská [Die vorweißenbergische Zeit], T. 1: 1526–1547, Praha 1968, S. 160–165.
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Mähren als Gelobtes Land
369
als Gäste der Grundherren auf adligen Grundherrschaften. Ökonomische
Grundlagen der hutterischen Niederlassungen waren kapitalintensive Gewerbe
wie die handwerkliche Produktion von Luxusgütern für den Adel32 und qualifizierte Dienstleistungen für die adlige Großgüterwirtschaft, z. B. als Müller, Kellermeister oder Gutsverwalter.33 Die hutterischen Handwerksbetriebe
waren nicht in die Zünfte der mährischen Städte eingebunden und waren durch
Nichtbeachtung der Produktionsbeschränkungen und Preisbindungen des
zünftischen Handwerks konkurrenzfähig: Trotz oder vielmehr gerade wegen
ihrer kommunistischen Produktionsweise waren die Hutterer in der Lage, eine
frühe Sonderform kapitalistischen Wirtschaftens zu praktizieren.34 Die hutterische Konfessionskultur hatte, der Herkunft des Großteils ihrer Konvertiten
aus dem lesefähigen städtischen Handwerkerstand entsprechend, einen genuin
städtischen Charakter.35
Der hutterischen Kirche konnten nur Erwachsene, freiwillig und nach gründlicher Vorbereitung, beitreten. Nicht alle in der Gemeinschaft geborenen Kinder ließen sich, sofern sie das Erwachsenenalter erreichten, taufen. Daher dürfte
die demographische Reproduktivität der Hutterischen Kirche deutlich unter
der der Mehrheitsbevölkerung gelegen haben. Auch durch den rigorosen Ausschluss von Mitgliedern, die gegen die strenge Disziplin verstießen, verlor die
Gemeinschaft ständig Mitglieder. Um ihren Mitgliederstand halten zu können
und wirtschaftlich zu prosperieren, waren die Hutterischen Brüder auf den
32 Zur hutterischen Handwerksproduktion vgl. P. Horváth, Die handwerkliche Erzeugung
auf dem Habanerhof in Soblahov in den Jahren von 1649 bis 1658, in: ZSNM 61, Etnografia
8 (1967), S. 135–166; V. Vokáčová, Habánské příbory ve sbírce UPM [Habaner Bestecke
in der Sammlung des Kunstgewerbemuseums], in: Acta UPM 15, Reihe C: Commentationes
2 (1980), S. 114–123; J. Pajer, Studie (wie Anm. 10), S. 79–224; Ders., Anabaptist Faience
from Moravia 1593–1620. Catalogue of Documents from Institutional and Private Collections, Strážnice 2011; J. E. Horváth / M. H. Krisztinkovich, A Canadian Collection
of Hungarica, Bd. 4: A History of Haban Ceramics. A Private View, Vancouver 2005.
33 Vgl. F. Hrubý, Die Wiedertäufer in Mähren, Leipzig 1935, Sonderdruck aus dem ARG 30–32
(1933–1935), S. 23–36.
34 Vgl. H.-J. Goertz, Religiöser Nonkonformismus und wirtschaftlicher Erfolg. Die Gütergemeinschaft der Täufer in Mähren – eine neue Deutung, in: Ders., Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen (FKDG 93), Göttingen 2007, S. 343–362.
35 Dies zeigt sich insbesondere an der Buchkultur der Gemeinschaft, die am Ziel der Alphabetisierung aller männlichen und weiblichen Mitglieder ausgerichtet war. Vgl. M. Rothkegel,
Zur Buchkultur der Hutterischen Brüder in Mähren und Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert,
in: T. Katona / D. Haberland (Hgg.), Kultur und Literatur der Frühen Neuzeit im Donau-Karpatenraum. Transregionale Bedeutung und eigene Identität (Acta Germanica 14),
Szeged 2014, S. 261–300.
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370
Martin Rothkegel
ständigen Zustrom von Menschen und von Kapital angewiesen – auch dieser
Umstand stand anscheinend im Hintergrund der aufwändigen und riskanten
Missionsaktivitäten der hutterischen Sendboten, die für die Auswanderung ins
‚Gelobte Land‘ Mähren warben.
Nikolsburg als religiös markierter Ort bei Balthasar Hubmaier und
Hans Hut
Bereits vor der Entstehung der Hutterischen Brüder gab die – angesichts der Kriminalisierung der ‚Wiedertaufe‘ in den Nachbarländern – erstaunliche Tatsache,
dass Leonhard I. (1482–1534) und Hans VI . von Liechtenstein (1500–1552)
Hubmaier 1526/27 bei der Einführung der Taufe der Gläubigen in den Kirchen
von Nikolsburg und der umliegenden Grundherrschaft aktiv unterstützten, Anlass
zu Spekulationen über eine besondere Bedeutung dieses Ortes im Kontext der
religiösen Umbrüche der Zeit (so bei Hubmaier selbst) oder gar im Kontext eines
universalen apokalyptischen Szenarios (so bei Hut).
In der Vorrede einer seiner 1526 in Nikolsburg gedruckten Schriften schmeichelte Hubmaier seinen adligen Gönnern, in ihrem Gebiet sei das liecht evange
lischer klarhayt so hell auf den Leuchter gesetzt (Mt 5,15),
dergleych ich noch an kainen ortt wayß noch gesehen auff erden, denn die Liechtensteiner seien
nit allain mit dem außwendigen namen des liechts, sunder auch inwendig an der seel […] ent
zündt und sunderlich begnadt.
Nicht nur mit dem Licht, sondern auch mit dem wort ‚stain‘ in dem namen Liech
tenstein habe es eine besondere Bewandtnis,
wann wie das liecht seinen schein hat in dem wort Gottes [ Joh 1,5, Anm. M. R.], also auch der
stain, wann ye Christus selbs geredt: Wölcher hört mein wort und thut das selb, wirt vergleicht
einem weysen man, der da bawet sein hauß auff ain stayn oder felsen. Ob gleych regen und güssen
kommen und die wind wehen unnd auff das hauß fallen, fellt doch darumb das hauß nit, dann
es ist auff ein festen stain gebawen [Mt 7,24–27, Anm. M. R.], […] wann das hauß ist liecht nnd
auff einem felsigen Stain gebauen, wölcher ist Christus [1 Kor 10,4, Anm. M. R.], derhalb die
anstöß und wellen diser welt jm nit schaden mügen.
Weiter spielte Hubmaier darauf an, dass der prominenteste unter den Nikolsburger Täuferpredigern, der ehemalige Prämonstratenserpropst Martin Göschl
(vor 1480–nach 1533), Titularbischofs von Nikopolis-Emmaus in Palästina war:
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Mähren als Gelobtes Land
371
[…] so ich hin vnnd wider gedenck, kan ich nit anders finden, wann das Nicolspurg Nicopolis ist
[…]. Nun wirdt aber Nicolspurg unnd Nicopolis auch gehaissen Emaus von den cosmographen,
demnach wol zu gedencken, wie Christus den zwayen jungern Luce unnd Cleophe erschinen auff
dem weg, als sy gen Emaus gangen, wölche in gebeten, das er bey jnen bleybe, es werde abent unnd
hab sich der tag genaiget [Lk 24,13–35, Anm. M. R.]. Also sey eben Christus nach der freyden
reychen ursteend seins lebendigen worts newlicher jaren under dem allerchristenlichsten fürsten
und herren, herrn Friderichen, hertzogen in Sachsen etc., durch D. Martinum Luther anfencklich
beschenen, und darnach gen Emaus, das ist Nicolspurg, gewalfartet […].
Und ebenso, wie die beiden Jünger von Emmaus sich aufmachten, um die Botschaft
von der Auferstehung anderen zu verkündigen, sollen sich auch die Liechtensteiner in jrer landtschafft und allenthalb bey fürsten, herrn, regenten und underthanen
dafür einsetzen, dass das wort Christi fridlich unnd freündlich verkündt unnd die
warhayt klar, hell unnd lautter […] an den tag kumme.36
In diesen rhetorischen Wortspielereien drückte sich ein selbstbewusster
Anspruch aus, denn Hubmaier behauptete damit ja nicht weniger, als dass Nikolsburg an die Stelle Wittenbergs als Zentrum der Reformation getreten sei – und
er selbst, Hubmaier, an die Stelle Luthers. Was Hubmaier zu der Deutung des
liechtensteinischen Nikolsburg als weithin leuchtendem Licht und Haus auf dem
Steingrund inspirierte, war wohl nicht nur der Name der Grundherren, sondern
auch die Lage der Stadt, da die direkt neben der Stadt aus der umgebenden Ebene
aufragenden Pollauer Berge/Pálava (die zeitgenössisch ‚der Stein bei Nikolsburg‘
genannt wurden)37 eine weithin sichtbare Landmarke für die Reisenden auf der
Fernstraße zwischen Wien und Brünn darstellten.
Auch der aus Thüringen stammende Wanderprediger Hans Hut, der im Zuge
seiner weitausgedehnten Missionsreisen im Mai 1527 nach Nikolsburg kam, um
dort seine von Thomas Müntzer (ca. 1489–1525) inspirierte mystisch-apokalyptische Botschaft zu verkündigen, war vermutlich vom Anblick der Pollauer
Berge beeindruckt. Er verstand sich und die von ihm ausgesandten Helfer als die
in der Offenbarung des Johannes (Offb 7,3 und 9,4; Hes 9,4.6) angekündigten
‚Engel‘ oder vielmehr Boten, die vor dem Endgericht die Auserwählten, die von
36 B. Hubmaier, Schriften, edd. G. Westin / T. Bergsten, die Einleitung vom Schwedischen
übersetzt von H. Bergsten (QFRG 29; QGT 9), Gütersloh 1962, S. 288 f.
37 So etwa in dem Glaubensbekenntnis der Nikolsburger Täuferkirche von 1535: Bekantnus und
rechenschafft der getauffte in den namen Jesu Cristi, zu Nicolspurg und umb den Stain bey obge
melten Nicolspurg im Margraffthuem zu Merhern; ediert in: M. Rothkegel, Die Sabbater.
Täuferischer Sabbatarismus in Mähren im 16. Jahrhundert, in: A. Schubert (Hg.), Sabbat
und Sabbatobservanz in der Frühen Neuzeit (SVRG 217), Gütersloh 2016, S. 114–166, hier
S. 146–166.
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Martin Rothkegel
den anstehenden Katastrophen verschont werden sollen, mit einem Thau- oder
Kreuzeszeichen ‚versiegeln‘, d. h. durch ein auf die Stirn aufgezeichnetes Wasserkreuz bezeichnen oder taufen.38
Hut, der am 6. Dezember 1527 in Augsburg im Gefängnis starb, erwartete, dass
zwischen Neujahr und Pfingsten 1528 das endzeitliche Strafgericht mit einer türkischen Invasion einsetzen würde. Die Auserwählten sollten sich beim Herannahen
der Türken an bestimmten Orten sammeln und sich in den Bergen, Wäldern und
Höhlen verstecken (Hes 7,16; Mt 24,16). Einer der Sammelpunkte, die Hut seinen engsten Anhängern nannte, war Nikolsburg,39 wobei konkret an die Pollauer
Berge als Zufluchtsort zu denken ist. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass
Johannes Cochlaeus (1479–1552) in seiner als Anhang zur „Cosmographia“ des
Pomponius Mela (1. Jh. n. Chr.) 1512 in Wien erschienenen „Brevis Germaniae
descriptio“ in dem knappen Abschnitt über Mähren berichtete, die Hussiten hätten sich in Mähren an Orten, die von Natur aus befestigt sind, und in den Bergen
in gewaltiger Menge verborgen, so lange, bis ihre Feinde abzogen.40 Möglicherweise
waren Überlieferungen dieser Art Hut bekannt und beflügelten seine Phantasie.
Hubmaier und Hut standen einander theologisch so fern wie himmel unnd hell,
oriennt und occident, Cristus und Belial, wie Hubmaier selbst es ausdrückte.41 Zwar
wurden auch Hubmaiers Schriften von den Hutterern gelesen und überliefert,42
das wortspielerische Lob der Liechtensteiner und des ehemaligen Weihbischofs
Göschl hatte jedoch keinerlei Nachhall in hutterischen Texten. Umso nachhaltiger waren die Hutterer von der Lehre Hans Huts geprägt und führten sich in
ihren Chroniken direkt auf Gruppen von Hut-Anhängern zurück, die seit 1527
nach Mähren einwanderten. Das für 1528 angekündigte apokalyptische Szenario
blieb zwar aus, aber in den täuferischen Flüchtlingsgemeinden, aus denen 1533 die
hutterische Kirche entstand, blieb die Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden osmanischen Invasion angesichts der Feldzüge Süleymans I. des Prächtigen
38 Vgl. G. Seebass, Müntzers Erbe (wie Anm. 23), S. 428–437; W. O. Packull, The Sign of
Thau: The Changing Conception of the Seal of God’s Elect in Early Anabaptist Thought, in:
MQR 61 (1987), S. 363–374.
39 Für die aus Verhöraussagen von Anhängern Huts zusammengestellten Belege für das von Hut
erwartete Endzeitszenario vgl. G. Seebass, Müntzers Erbe (wie Anm. 23), S. 366–372.
40 J. Cochlaeus, Brevis Germaniae descriptio (1512). Mit der Deutschlandkarte des Erhard
Etzlaub von 1501, ed., übersetzt und kommentiert von: K. Langosch (AQDG 1), Darmstadt
31976, S. 115.
41 B. Hubmaier, Schriften, edd. G. Westin / T. Bergsten (wie Anm. 36), S. 487.
42 Vgl. M. H. Rauert / M. Rothkegel (Bearb.), Katalog der hutterischen Handschriften und
der Drucke aus hutterischem Besitz in Europa, ed. G. Seebass (QFRG 85/1-2; QGT 18/1–2),
Gütersloh 2011, S. 1295 (Index unter dem Stichwort: Hubmaier, Balthasar).
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(1520–1566) von 1529 und 1532 lebendig.43 Auch Jakob Hutter ging 1535, als
Ferdinand I. Verfolgungsmaßnahmen gegen die Täufer in Mähren erzwang, davon
aus, dass das Weltende unmittelbar bevorstünde.44
In der Folgezeit bildeten die Hutterer die Geheimlehre Huts von Mähren als
apokalyptischem Zufluchtsort in der Weise um, dass sie Mähren als den von Gott
erwählten Ort zur Wiederaufrichtung der wahren Kirche ansahen. Sie gründeten
daher – abgesehen von einzelnen Außenposten jenseits der Grenze zum Königreich Ungarn (d. h. auf westslowakischem Gebiet) – im 16. Jahrhundert keine
Niederlassungen außerhalb der Markgrafschaft Mähren. Nach der Schlacht am
Weißen Berge richteten sich 1622 die ersten Maßnahmen der Gegenreformation
in Mähren gegen die Täufer. Vor die Wahl gestellt, zum Katholizismus zu konvertieren oder das Land zu verlassen, wanderten zwischen 10.000 und 15.000 Hutterer ins Königreich Ungarn aus, wo sie sich überwiegend in der Westslowakei,
zu einem kleineren Teil auch im Burgenland und in Siebenbürgen niederließen.45
Mähren als Ort der endzeitlichen Kirche bei den Hutterern
Über frühe Missionsaktivitäten der Hutterer in Schlesien berichtete der Breslauer/Wrocław Reformator Ambrosius Moibanus (1494–1554) 1537 in seiner
Schrift „Das herrliche Mandat Jhesu Christi unsers Herrn und Heilandes“, einer
gegen Altgläubige, Wiedertäufer und Schwenckfelder gerichteten Auslegung des
Missionsbefehls Mk 16,15 f. Moibanus klagte, der Teufel sende Sendboten nach
Schlesien aus, die sich als Engel des Lichts ausgeben und aus allen Schichten der
Bevölkerung, von einfältigen Bauern bis zu gelehrten Pfarrern, die Leute bereden und verführen:
Wo füret er sie hin, so er sie nu alles beredt hat? Zum Vater oder inns gelobte land und zu dem
rechten volck Gottes, wie sie sagen. Also hat er jr viel inn Merhern (nicht allein aus der Schlesien,
sondern aus viel andern lendern) gefürt und hat sie heissen ein neue und heilige samlunge anrichten,
43 Vgl. M. Rothkegel, Antihabsburgische Opposition und täuferischer Pazifismus. Die Auslegung von Römer 13 des David Burda aus Schweinitz, 1530/31, in: MGB 69 (2012), S. 7–44.
44 Vgl. W. O. Packull, Hutterite Beginnings (wie Anm. 25), S. 238 f.; M. Rothkegel, Ana
baptism (wie Anm. 10), S. 184 f.
45 Vgl. H. Prickler, Brüderische Handwerker und Bruderhöfe. Zur Geschichte der Wiedertäufer im Burgenland, in: Ders. (Red.), Burgenland in seiner pannonischen Umwelt. FS August
Ernst (BF Sonderbd. 7), Eisenstadt 1984, S. 297–312; T. Winkelbauer, Die Vertreibung der
Hutterer aus Mähren 1622: Massenexodus oder Abzug der letzten Standhaften?, in: J. Bahlcke
(Hg.), Glaubensflüchtlinge (wie Anm. 1), S. 207–233; J. Pajer, Studie (wie Anm. 10), S. 67 f.
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Martin Rothkegel
darin kein böse wort gehort würde, auch da nicht einer unter jnen den kleinsten bösen begir und
gedancken haben solt, wenn gleich Gott noch so scharff merckte und sehe auff jre hertzen, so müste
er nichts böses darin finden, das er tadelte.46
Die nachdrückliche Aufforderung, sich dem ‚wahren Volk Gottes‘ anzuschließen,
das in Mähren ein gottgefälliges Leben führe, stand in der Tat im Mittelpunkt
der hutterischen Emigrationswerbung, soweit diese sich in den sog. Bußbriefen,
die die Hutterer an potenzielle Konvertiten zu verschicken pflegten, schriftlich
niederschlug.47
Nach hutterischer Auffassung war allein in Mähren (und auf einigen Außenposten auf ungarischem Gebiet) die wahre Kirche vorhanden, die den Gläubigen
einen sicheren Weg zum ewigen Seelenheil weisen konnte. Die Hutterer schlossen zwar nicht aus, dass man auch außerhalb ihrer Gemeinschaft errettet werden
könne, tendenziell sahen sie aber die Auswanderung als Vorbedingung zum Heil
an. Vier Hutterer, die 1579 auf polnischem Gebiet verhaftet und verhört wurden,
antworteten auf die Frage, ob Gott denn nur in Mähren wohne:
O nein, er ist nicht allein darinnen; wir lehren das niemand. Gott und sein Wort ist an keinen
Ort gebunden, Gott will bei dem wohnen, der von Sünden absteht. Aber also steht geschrieben
[Ps 18,26 f., Anm. M. R.]: Bei den Heilgen wirst du heilig sein, bei den Reinen wirst du rein sein
und bei den Verkehrten wirst du verkehrt.48
Der geographische Raum Mähren war für die Hutterer heilsgeschichtlich konnotiert als das
Land, welches ihnen Gott sonderlich verordnet und fürgesehen hatte: Es wurden ihnen Flügel
gegeben von dem großen Adler, daß sie allda hinflögen an ihr Ort, so ihnen von Gott bereit war
[Offb. 12,14, Anm. M. R.], ernähret und erbauen wurden daselbst, so lang es Gott gefallet.49
Die biblischen Motive, mit denen die Hutterer die Vorstellung, Mähren sei von
Gott zum Ort der endzeitlichen wahren Kirche bestimmt, ausdrückten, begegnen
in besonderer Dichte in einem Schreiben, in dem die hutterische Kirchenleitung
46 A. Moibanus / M. Luther, Das herrliche Mandat Jhesu Christi vnsers Herrn vnd Heilandes […], Wittenberg: Georg Rhau 1537 (VD16 M 5929), fol. H1v.
47 Vgl. M. Rothkegel, Kollektive Zucht (wie Anm. 12).
48 Geschicht-Buch, ed. R. Wolkan (wie Anm. 13), S. 395.
49 Ebd., S. 332.
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Mähren als Gelobtes Land
375
1556 die Frage rheinländischer Täufer, warum man in das Mährenland ziehen
soll, beantwortete:
Weil Gott durch seinen Geist die Frommen allzeit geführt hat (Num. 9) nach seinem Wort und
Willen an das Ort, da es ihm gefallen hat oder das er ihnen fürgesehen zu wohnen (Genes. 12. Exod.
19. Actor. 11), und noch also führt und absündert (Exod. 12. Actor. 2. 9. 10; 2. Kor. 6), daß er ihr
Herrscher und Regierer sein will (Eccl. 7; 1. Kor. 12) […] und die Seinigen aus allerlei Sprach, die
unter dem Himmel ist (Actor. 2), gesammelt, darinnen sein himmlisches Werk und Regiment,
auf Erden angerichtet (Eph. 2. Psalm 48. Esa. 2), sehen lasse und seiner Braut ihr bestimmt Ort
(Actor. 2. 11. Apok. 12) in der Wüsten, wo es ihm auf Erden wohl gefallet, geordnet hat, daß sie von
dem Drachen ein Zeit ruhen könnt, ihre Kinder zu gebären (Actor 2. Apok. 12), derhalben Gottes
Geist in den Frommen ein herzliche Begierd hat, daselbst zu wohnen (Psalm 26. 42. Actor. 2).50
Das Passa- und Exodusmotiv (Ex 12; Num 9) und der Verweis auf die Verheißung des Gelobten Landes (Gen 12,7) sind nicht in dem Sinne zu verstehen, als
hätten die Hutterer einen Besitzanspruch auf Mähren erhoben. Vielmehr deutet
die Anspielung auf die Sonnenfrau (d. h. die Kirche), der in der Wüste für eine
begrenzte Zeitspanne ein Ruheort angewiesen wird (Offb 12,6), an, dass die
Hutterer Mähren nur als einen zeitweiligen Ort der Sammlung der Gläubigen vor
einer noch ausstehenden letzten großen Verfolgung der Auserwählten ansahen.
Als Ferdinand I. 1545 den Versuch unternahm, die Täufer aus Mähren zu vertreiben, richtete die hutterische Kirchenleitung ein langes Protestschreiben an
den Landeshauptmann und die Stände, in dem sie darlegten,
daß uns Got nit on ursach in dis land gefüeret habe, dem er sunderlichen vil freihaiten den glauben
betreffend für vil anderen landen geben hat, also daß weder künig noch kaiser yetzt macht habe,
dem selbigen regel unnd ordnung zu geben, sunder ein itzlicher seines glaubens leben mag, unnd
wie er waiß auf das treulichest Got zu dienen.
Nur um des Schutzes und der Glaubensfreiheit willen, die die Stände den Hutterern gewähren, habe Gott Mähren bisher vor türkischen Angriffen verschont.
Daher warnten die Hutterer,
daß kainer durch anlegung seiner händen an die frummen jm selbs das urtel Gottes samle unnd auf
sich selbs hauffe. Dan es ye und ye gewesen ist, daß, ye mer die völcker tirannesiert haben, ir straf
genahet hat. Widerumb auch, wo mitleiden mit dem volck Gottes getragen worden ist, da hat Got
derselben orten umb seines volcks willen verschonet, wie auch lange zeit her disem land geschehen
50 Ebd., S. 276 f.
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Martin Rothkegel
ist. Wie dan Gottes straf, nämlich der Thürck, umb und umb gewesen, Österreich durchstreifft, aber
doch in dis land nit kummen ist. Unnd das aber nit darumb, daß dies landt fest füer allen ande
ren landen im hatte widersteen mögen, allain daß Got seines volcks darinen verschonet, und umb
desselbigen willen das land errettet hat, wie auch die statt Zoar allein umb des ainigen frummen
Loths willen, da er Sodoma mit den umbligenden gegenden mit schwebel unnd fheur verderbt hat.51
Im zweiten Teil der 1545 und 1565 gedruckten hutterischen Bekenntnisschrift, der
von Peter Riedemann (ca. 1506–1556) verfassten „Rechenschaft unserer Religion,
Lehre und Glaubens“, wird die separatistisch-exklusive hutterische Ekklesiologie
in Form einer typologischen Auslegung der Esra- und Haggai-Texte über den Bau
des Tempels nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil dargestellt.52 Zwar
wird Mähren von Riedemann nicht ausdrücklich erwähnt, aber es legt sich die
Schlussfolgerung nahe, die hutterische Kirche in Mähren sei die konkrete Erfüllung alttestamentlicher Texte, etwa des von Riedemann zitierten Edikts des Perserkönigs Kyros II. (559–530 v. Chr.) in Esra 1:
Wer nun unter euch seines Volkes ist, mit dem sei der Herr, sein Gott, und ziehe hinauf gen Jerusa
lem in Juda und baue das Haus des Herrn, des Gottes Israels: er ist der Gott, der zu Jerusalem ist.
Wer nun noch übrig ist an allen Orten, da er ein Fremdling ist, dem helfen die Leute seines Ortes
mit Silber, Gold, Gut und auch aus freiem Willen zum Hause Gottes zu Jerusalem. Also zogen
hinauf, denen der Herr, ihr Gott, das Herz traf, zu bauen an seinem Haus.53
Die auch in anderen konfessionellen Kontexten geläufige typologische Deutung
Jerusalems und Zions als Typos der christlichen Kirche – bei der zwischen Verheißung und Erfüllung eigentlich der kategoriale Unterschied besteht, dass die
neutestamentliche Erfüllung im Unterschied zum alttestamentlichen Vorbild
nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist – erfährt bei den Hutterern eine
eigenartige geographische Konkretisierung. Ähnlich wie später die Puritaner
in Neuengland und die niederländischen Siedler in Südafrika entwickelten die
Hutterer einen mit alttestamentlichen Wendungen gesättigten, ausgeprägt ‚zionistischen‘ Sprachcode zur Beschreibung ihrer Migrationserfahrung.
51 AMB, Hab 12, fol. 216v f., 220r f.
52 Vgl. P. Riedemann, Rechenschafft vnserer Religion / Leer vnd Glaubens, o. O. 1545 (VD16
R 2338); der zweite Druck von 1565 ist nicht im VD16 verzeichnet, benutzt ist ein moderner
ND: Ders., Rechenschaft unsrer Religion, Lehre und Glaubens. Von den Brüdern, die man
die Huterischen nennt, Bern 1902; vgl. den oben erwähnte Abschnitt ebd., S. 136–167; sowie
W. O. Packull, The Origins of Peter Riedemann’s Account of Our Faith, in: SCJ 30 (1999),
S. 61–69.
53 P. Riedemann, Rechenschaft (wie Anm. 52), S. 152.
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Mähren als Gelobtes Land
377
Gabriel Ascherhams Kritik der hutterischen Zion-Mähren-Typologie
Auf das Erscheinen der Riedemannschen „Rechenschaft“ 1545 antwortete Jakob
Hutters einstiger Rivale Gabriel Ascherham mit mehreren Traktaten, die er handschriftlich unter seinen inzwischen an mehreren Orten verstreut lebenden Anhängern verbreitete.54 Ascherham hatte sich während der Täuferverfolgung von
1535 aus Mähren nach Schlesien zurückgezogen. Seine Anhänger wies er an, die
Erwachsenen- bzw. Wiedertaufe einzustellen und sich, sofern nötig, äußerlich
konform gegenüber der Mehrheitskonfession zu verhalten: Die Taufe sei weder
heilsnotwendig noch heilswirksam. In kritischer Auseinandersetzung mit dem
Täufertum und insbesondere mit den Hutterischen Brüdern entwickelte Ascherham eine eigenwillige spiritualistische Erlösungslehre und eine chiliastische Theorie der Heilsgeschichte.
In einem umfangreichen Römerbriefkommentar, der in einer Handschrift von
1548 überliefert ist,55 beschrieb Ascherham den mit der Inkarnation Christi anhebenden letzten Teil der Heilsgeschichte als eine Abfolge von drei Reichen, nämlich zweierlei Reichen Christi und einem darauf folgenden dritten, ewigen Reich
Gottes. Nur wer auf eine besondere Weise mit dem prophetischen Geist begabt
sei, könne die Aussagen der heiligen Schrift diesen drei Reichen richtig zuordnen.
Das erste der drei Reiche sei das reich Christi im heiligen Geist vorsamlett hy auff
erden.56 Dieses Reich sei innerlich und geistlich (Lk 17,21), keinesfalls eine äußerliche Kirche (derlei habe Christus nie gegründet), und gehöre den Gläubigen aus
den Heiden. Die rein geistliche, innerliche Gemeinschaft der christusgläubigen
Heiden sei noch der Anfechtung durch den Teufel unterworfen und dauere von
der irdischen Wirksamkeit Jesu bis zu dessen Wiederkunft an.
Das zweite Reich sei das Reich, das Christus nach seiner Wiederkunft zu Jerusalem aufrichten werde. Dieses werde ein irdisches Friedensreich von tausend
Jahren Dauer (Offb 20) sein, das den Gläubigen aus dem Volk Israel gehören und
nicht mehr der Anfechtung durch den Teufel unterliegen werde. Zwar sei Israel
in der Gegenwart noch unter den Unglauben beschlossen, aber die Verheißungen
an Israel gelten weiter und werden sich zukünftig erfüllen. Um am zweiten Reich
54 Zu Ascherham vgl. W. O. Packull, Hutterite Beginnings (wie Anm. 25), S. 289–302; M.
Rothkegel, Himmlische Weisheit, astrale Determination und chiliastische Hoffnung bei
den schlesisch-mährischen Gabrielitern. Eine unbekannte Täuferhandschrift von 1548 in
Wiener Privatbesitz, in: MGB 59 (2002), S. 43–62; Ders., Gabriel Ascherham, in: R. Wood
bridge / S. Looss / Ders., Gerhard Westerburg, Valentin Ickelshamer, Gabriel Ascherham
(BBA 230; BD 27), Baden-Baden/Bouxwiller 2012, S. 139–180.
55 Vgl. Wien, Sammlung Drews, Ascherham-Codex, fol. 5r–111v.
56 Ebd., fol. 39r.
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Martin Rothkegel
teilzuhaben, werden die Gläubigen aus den Heiden in der ersten Auferstehung
auferstehen und die Völker der Erde nach Jerusalem ziehen.57 Als Abschluss der
Heilsgeschichte werde schließlich nach Ablauf der tausend Jahre das ewige Reich
des Vaters anheben, wenn der Son dem Vater das reich uberanttworten wirt, oder
das Gott von hymel khomen wirt und sein wonung bey den menschen auff erden
machen haben, ja das das neu Jerusalem aus dem hymel steyget (Offb 21 und 22; 1
Kor 15,55). Dies alles ist geredt von dem reich des ewigen lebens.58
Eine scharfe Polemik gegen die Hutterer und gegen die in Riedemanns „Rechenschaft“ implizierte Zion-Mähren-Typologie enthält der kurze, hinten unvollständig
überlieferte Traktat „Vom Reich Israel zu Jerusalem“.59 Darin führt Ascherham
seine im Römerbrief-Kommentar skizzierte Lehre vom irdischen Tausendjährigen Reich der Juden in Palästina breiter aus und verteidigt sie gegen – reale oder
fiktive – Einwände. Gegen die Lehre vom Tausendjährigen Reich erhebe sich, so
Ascherham, Widerspruch vonseiten derer, die kein zukünftiges irdisches Friedensreich erwarten. Diese Einwände sind dreierlei: Einige sagen, die Prophezeiungen
des Friedensreiches seien bereits in der Vergangenheit ‚geistlich‘ erfüllt (dies
richtet sich gegen eine typologische Deutung, nach der die Zionsverheißungen
durch Christus bereits erfüllt sind). Andere sagen, sie würden ‚täglich im Geist‘
erfüllt (dies richtet sich gegen ein rein allegorisches Verständnis der Zionsverheißungen). Drittens sagen die Hutterischen Brüder, sie bauen solchs Jerusalem
ym Mehrerland und sind schon auff den berg Syon komen. Gegen diese Einwände
verteidigt Ascherham sein dreistufiges Schema der Heilsgeschichte, nicht als set
zett ich ein gebott der seligkeit oder verdamnus dorein, als der solches glaubt oder
nicht glaubt, sunder zu einem trost und frolichen hoffnung allen, so den Geist sol
cher erkantnus haben.60
Die Einwände derer, die von einer ‚geistlichen Erfüllung‘ reden, sei es – erstens – typologisch in der Vergangenheit, sei es – zweitens – allegorisch ‚täglich im
Geist‘, lohnen laut Ascherham kaum der Widerlegung, denn die Heilige Schrift
rede deutlich von drei verschiedenen Dingen: Von einem unsichtbaren, geistlichen Reich Christi unter den Gläubigen aus den Heiden, das seinen Anfang mit
dem Kommen Christi genommen hat, von einem irdischen, jüdischen, tausend
57 Zu chiliastischen Vorstellungen zeitgenössischer (radikal-)reformatorischer Verfasser von einer
zukünftigen irdischen Heilszeit für die Juden vgl. R. Voss, „Jüdische Irrlehre“ oder exegetisches Experiment? Die Restitution Israels im 16. Jahrhundert, in: FNI 22: Thema Jüdische
Studien (2011), S. 5–22.
58 Wien, Sammlung Drews, Ascherham-Codex, fol. 40v.
59 Vgl. ebd., fol. 139r–161v.
60 Ebd. fol. 140v.
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Mähren als Gelobtes Land
379
Jahre währenden Reich in Jerusalem, das noch zukünftig ist, und vom ewigen
Reich Gottes nach Vollendung der Weltzeit.
Ebenso töricht sind – drittens – die Hutterischen Brüder, die meinen, sie hätten ihr Zion in Mähren gefunden. Laut der Heiligen Schrift sei aber nirgendwo
anders als in Palästina das zukünftige irdische Friedensreich zu erwarten: Nun
merck, in Jerusalem, und nicht im Mererlandt, wie ettliche treumer sagen! Die Verheißungen des Friedensreiches gelten nicht den Gläubigen aus den Heiden, sondern unmissverständlich den Juden, und itzund hott kein Jud solchen frid. Daher
müssen sich die Aussagen über die Rückkehr der Juden ins Gelobte Land, den
Wiederaufbau des Tempels und die Völkerwallfahrt auf die Zukunft beziehen:
Nun sich, wie sicht diese prophetzey diser zeit so enlich, gleich wie schwartz und
weiß […] Und es ist offentliche unworheit, das sich die vermainten Christen und
die vermainten bruder [die Hutterer, Anm. M. R.] itzund ym geist solches reich
annemen [anmaßen, Anm. M. R.].61 Für Ascherham bleibt somit keinerlei biblische Grundlage bestehen, die die eigenmächtige Aufrichtung einer sichtbaren
Gemeinde der Gläubigen in der Gegenwart rechtfertigen könnte.
Ascherhams Schriften illustrieren, wie stark die Vorstellung, Mähren sei der
von Gott erwählte Ort, an dem allein die Aufrichtung der wahren Kirche möglich sei, das Bewusstsein der täuferischen Glaubensflüchtlinge prägte: Aus der
Feststellung, dass Mähren nicht das Gelobte Land sei, die sich ihm aus seinem
intensiven Studium der einschlägigen Bibelstellen ergab, konkludierte Ascherham – dass Kirche überhaupt nicht möglich sei.
61 Ebd., 158v, 149v, 150r f., 154v.
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Gabriela Wąs
Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
Kommunikation und Transfer von Ideen und Personen
Die religiöse Strömung, die nach ihrem Hauptgründer Kaspar Schwenckfeld
(1489/90–1561) Schwenckfeldertum genannt wurde, und das – mit dem religiösen
Gedankengut Sebastian Francks (1499–1543) und einiger Täufer – entwickelte
Phänomen des Spiritualismus als der sich von der Welt absondernden Variante
der Reformation waren kein Massenphänomen. Und abgesehen von den etwa
vier Jahren zwischen 1525 und 1529, als der Herrscher des Fürstentums Liegnitz/
Legnica in Schlesien, Friedrich II. (1499/1505–1547), in seinem Territorium die
Reformation der Kirche im Geiste der Schwenckfeld’schen Ideen anordnete, war
diese Strömung nie wieder eine Basis für eine legale, d. h. durch eine weltliche
Gewalt anerkannte Kirchenreform. Trotzdem ging das Schwenckfeldertum nicht
nur dauerhaft – als religiöser Gedanke und als die Geschichte seiner Befürworter – in die Reformationsgeschichte ein, sondern existiert auch bis heute als die
Schwenckfelder Kirche in den USA weiter.1 Im 16. Jahrhundert kann die Strömung
geographisch hauptsächlich in drei Anhängerkreise, die jeweils soziologische und
kommunikative Besonderheiten aufwiesen, unterteilt werden: Über spezifische
Netzwerke verfügten die Schwenckfelder in Schlesien, wo diese Glaubensrichtung
entstanden war, im Herzogtum Preußen und im Südwesten des Alten Reiches.
Die Gründe für den Stellenwert der Schwenckfelder in der Reformation selbst,
aber auch in der Reformationshistoriografie können mit dem Kommunikationsparadigma ermittelt werden. Angesprochen ist damit die intensive Nutzung
nahezu sämtlicher traditionellen und neuen Kommunikationsmittel, die in der
Epoche der Reformation für die Übermittlung des Schwenckfeld’schen Gedankenguts sowohl nach außen als auch innerhalb der eigenen Gruppen verfügbar
waren. Es gelang den Schwenckfeldern, die von ihnen vertretene religiöse Option
schriftlich und mündlich in die Kommunikationsabläufe der reformatorischen
Kreise einzubringen. Unabhängig davon, wie groß diese Strömung war und wie
diese in bestimmten Reformationsmilieus wahrgenommen wurde, forderten die
abgesendeten Informationen von anderen Teilnehmern am reformatorischen
Kommunikationsprozess eine Stellungnahme.
1
Vgl. H. Weigelt, The Emigration of the Schwenkfelders from Silesia to America, in: P. C.
Erb (Hg.), Schwenkfelders in America, Pennsburg 1987, S. 5–19.
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382
Gabriela Wąs
Um eine Vorstellung vom Umfang der Kommunikationsaktivitäten der Schwenckfelder zu geben, ist es erwähnenswert, dass alleine der schriftliche Nachlass
gedruckter und ungedruckter Werke Schwenckfelds, der im 20. Jahrhundert unter
dem Titel „Corpus Schwenckfeldianorum“ – als eine Nachahmung der „Weimarer Ausgabe“ der Werke Martin Luthers (1483–1546) und gleichzeitig als eine
gewisse Konkurrenz zu dieser gedacht – veröffentlicht wurde, 19 Foliobände
zählt; jeder Band umfasst ca. 1.000 Seiten).2 Unter Schwenckfelds Schriften gibt
es ein paar Dutzend (60), meistens mehrere hundert Seiten umfassende Traktate,
Hunderte von Notizen und kleine Schriften, zudem etwa 630 Briefe, die Schwenckfeld für seine Anhänger verfasste und an alle Personen, die für die Reformation
von Bedeutung waren, richtete.
Ebenso verfassten andere Schwenckfelder der ersten Generation in Schlesien
und im Herzogtum Preußen Traktate, Erbauungsschriften, Bekenntnisschriften,
auch in Form eines Katechismus – einem der ersten in der Reformation – oder
einer Postille, sowie Briefe mit religiöser Thematik. Von ihnen sollten zumindest
Valentin Krautwald (ca. 1465/90–1545), Fabian Eckel († 1546), Peter Zenker
(† ca. 1535), Bernhard Egetius (ca. 1475–1537) oder Johann Sigismund Werner (1491–1561) genannt werden. Manche ihrer Schriften wurden publiziert
und waren somit ein Teil der öffentlichen Kommunikation, manche waren als
Abschriften im Umlauf und dienten daher hauptsächlich der Kommunikation
unter der Anhängerschaft. Krautwald – jener Theologe, der eine schriftliche Exegese des Schwenckfeld’schen Abendmahls anfertigte – verfasste z. B. elf Traktate,
die als Drucke veröffentlicht wurden, und dazu 32 umfangreichere Schriften, die
als Handschriften kursierten.3
Auch Personen, die sich nach der Herauskristallisierung der Schwenckfeld’schen
Reformationsströmung dieser anschlossen, hatten ihren Anteil an der Vermehrung
der im Umlauf befindlichen schriftlichen Informationen über Schwenckfelds Ideen,
da sie untereinander in regem Briefwechsel standen. Somit kann gesagt werden,
dass die Initiatoren und Anhänger dieser spiritualistischen Reformationsbewegung in erheblichem Maße mit dem geschriebenen Wort vertraut waren. Es ist
zwar schwer, eine exakte statistische Vergleichsanalyse zum Verhältnis zwischen
der Anzahl der Schriften und der Zahl der Anhänger der verschiedenen Reformationsrichtungen vorzunehmen. Zweifelsohne kann jedoch festgestellt werden,
2
3
Vgl. CS, edd. C. D. Hartranft / E. E. Schultz Johnson / S. G. Schultz / A. S. Berky,
19 Bde., Norristown/Pennsburg/Leipzig 1907–1961.
Vgl. P. C. Erb, Valentin Crautwald, in: Ders. / W. Urban / I. Backus, Valentin Crautwald, Andreas Fischer, Jan Kalenec, Sigmund Salminger (BBA 100; BD 6), Baden-Baden 1985,
S. 9–70.
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Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
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dass im Vergleich zu anderen Reformationsströmungen bei den Schwenckfeldern
die Textproduktion und die schriftliche Mitteilung ihrer religiösen Gedankenwelt
deutlich über dem Durchschnitt lagen. Das Schwenckfeldertum kann als eine
durch die Kultur der Schriftlichkeit geprägte Reformationsrichtung gesehen werden, die regional wie überregional mittels ‚schriftlicher Wortverkündigung‘ kommuniziert wurde und sich damit in die reformatorische Öffentlichkeit einfügte.4
Alle namentlich genannten Schwenckfelder nahmen auch an der mündlichen
Verkündigung der reformatorischen Lehre und dem Meinungsaustausch mittels
Predigten und religiöser Vorlesungen teil oder waren an religiösen Gesprächen
beteiligt – Aktivitäten, die heute jedoch meistens schwer nachgewiesen oder
schriftlich belegt werden können.
Stützt man sich bei der historischen Erforschung der Schwenckfelder auf eine
„kulturalistische Auffassung der Kommunikation“, so ist es nicht ausreichend,5
den sozialen und historischen Rahmen der Kommunikationsbedingungen zu
eruieren und die Kommunikation nur im Transmissionssinne zu betrachten.6
Es sollte also nicht nur nach der Rezeption der übertragenen Kulturideen gefragt
werden.7 Schrifterzeugnisse, die im Kommunikationsverlauf entstanden, hatten
auch für die Schwenckfelder selbst eine identitätsstiftende Funktion,8 die Korrespondenz diente als ein Surrogat für die nicht-existierende institutionelle Kirche
4
5
6
7
8
Vgl. R. Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München
1982, S. 123–133.
M. Wendland, Historia idei komunikacji. przesłanki do badań nad przekształceniami zbiorowych wyobrażeń o komunikacji [Die Geschichte der Kommunikationsidee. Voraussetzungen
der Forschung über den Wandel der kollektiven Vorstellungen über die Kommunikation], in:
Lingua ac Communitas 23 (2013), S. 41–68, hier S. 46 f.
Zur Transmission von ‚Strukturen‘ und ‚Kulturen‘ vgl. W. Schmale, Einleitung: Das Konzept
„Kulturtransfer“ und das 16. Jahrhundert. Einige theoretische Grundlagen, in: Ders. (Hg.),
Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert (WSGN 2), Innsbruck/Wien/München/
Bozen 2003, S. 41–61, hier S. 45.
Vgl. H. Mitterbauer, Kulturtransfer – ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht, in: Newsletter Moderne 2 (1999), H. 1, S. 23–25; T. Fuchs / S. Trakulhun, Kulturtransfer in der
Frühen Neuzeit. Europa und die Welt, in: Diess. (Hgg.), Das eine Europa und die Vielfalt
der Kulturen. Kulturtransfer in Europa 1500–1850 (Aufklärung und Europa 12), Berlin 2003,
S. 7–24.
Vgl. B. Moeller, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: H. Boockmann
(Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts
(AAWG 3. Folge, Nr. 206), Göttingen 1994, S. 148–164, hier S. 149; M. Arnold, Die Rolle
der Korrespondenz bei Kommunikation und Transfer. Zu einer evangelischen Identität in der
Frühen Neuzeit, in: I. Dingel / W.-F. Schäufele (Hgg.), Kommunikation und Transfer
im Christentum der frühen Neuzeit (VIEG AARG Beiheft 74), Mainz 2007, S. 33–47.
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384
Gabriela Wąs
und hatte so einen gemeinschaftsbildenden Charakter.9 In diesem Sinne waren
auch Kommunikationsaktivitäten wie Dispute und Verhöre von Wichtigkeit,
weil für die Schwenckfelder die Darlegung ihrer religiösen Überzeugungen die
evangelische Legitimität ihrer Lehre untermauerte.
Die Präsenz im medialen Raum versorgte das intellektuell-religiöse Phänomen
der Schwenckfelder mit Merkmalen des ‚Seins‘ und befreite es außerdem – auf
jeden Fall in hohem Maße – von sozialen und politischen Rahmenbedingungen.
Die ungemein hohe Intensität der Kommunikation und deren Ausweitung, machte
aus den Schwenckfeldern ein ‚mediales Phänomen‘, d. h. ein solches, dessen Existenz auf der Auskunft über dieses, und erst in zweiter Instanz auf seiner realen
Dimension gründete. Unabhängig von der tatsächlichen Größe ihrer Gruppierungen konnten sie dank intensiver Inanspruchnahme von Kommunikationsmitteln und -praktiken eine bedeutende Rolle im virtuellen Medienraum und einen
Platz in den intellektuellen Gemeinschaftsvorstellungen über das Phänomen
der Reformation einnehmen, sowohl in der Reformationsepoche als auch in der
Reformationshistoriografie.
Allein diese generellen Bemerkungen bezüglich des Charakters der Strömung
zeigen, dass die Geschichte der Schwenckfelder und ihrer religiösen Gedankenwelt
in besonderer Weise für Analysen im Kontext der Kommunikationsgeschichte
geeignet ist. Andererseits stellt das Schwenckfeldertum einen Forschungsfall dar,
der auch Skepsis gegenüber dem Paradigma der Reformation als Kommunikationsprozess hervorruft.
Ein solcher Forschungsansatz könnte – angesichts der aus der Epoche stammenden und von den Schwenckfeldern hergestellten Informationsmenge – leicht
deren Wichtigkeit für die Reformation überbewerten. Dies gilt umso mehr, als
seit den 1540er Jahren die Schriften der Schwenckfelder mehr und mehr aus
der reformatorischen Öffentlichkeit – und das bedeutet, aus der öffentlichen
Kommunikation der reformatorischen Kreise – herausgenommen wurden.
Umgekehrt aber kann die Nichtbeachtung des schriftlichen Erbes der Schwenckfelder zu einer Unterschätzung ihres realen Einflusses und der religiös-geistigen Auswirkungen ihrer Gedanken auf viele wichtige protestantische Religionsdenker bis ins 20. Jahrhundert führen. Gleiches gilt für den Beitrag, den
diese Ideen für die Entstehung unterschiedlicher religiöser Erneuerungsbewegungen im Protestantismus, wie z. B. den Pietismus, leisteten.10 Dies alles waren
wichtige Auswirkungen der spezifischen intellektuellen Kommunikationsform
9 Vgl. C. Gritschke, ‚Via Media‘: Spiritualistische Lebenswelten und Konfessionalisierung. Das
süddeutsche Schwenckfeldertum im 16. und 17. Jahrhundert (CA 22), Berlin 2006, S. 139–144.
10 Vgl. G. Maron, Individualismus und Gemeinschaft bei Caspar von Schwenckfeld. Seine
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Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
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der Schwenckfelder, die fast ausschließlich durch Schriften erfolgte und einen
elitären Charakter hatte.
Eine weitere Überlegung bezüglich des Paradigmas ‚Reformation als Kommunikationsprozess‘ betrifft das Faktum, dass im Konzept des Kulturtransfers, das
aus methodischer Sicht für das Kommunikationsparadigma von Wichtigkeit ist,
der Akzent meistens auf der Kulturmitteilung des Absenders liegt. Dementsprechend ist der Fokus dann auf die Untersuchung der Auswirkung gerichtet, welche
die Originalmitteilung im neuen kulturellen Milieu hatte. Bei den Forschungen
zum Schwenckfeldertum ist als ein weiterer Aspekt der Kommunikationsprozesse aber eine integral mit dem Kulturtransfer verbundene, jedoch selten als
neuer, gesonderter Wert gesehene ‚Transformation der Mitteilung‘ hervorzuheben, die in einer anderen kulturellen Umgebung im Prozess der Assimilation
der ursprünglichen Ideen erfolgte. Im Fall der Schwenckfelder wurde die Mitteilung – summarisch als ‚Ideen der Reformation Luthers‘ zu verstehen – nicht nur
selektiv und spezifisch aufgenommen, wie das häufig vorkam, sondern sie führte,
entgegen der Absicht des Absenders, d. h. Luthers, zur Entstehung einer neuen,
gegenüber Luther als oppositionell wahrgenommenen religiös-kulturellen Formation des Schwenckfeldertums.
Religiöse Ideen dieser Strömung, bereits von lutherischen Kreisen als antagonistisch empfunden, wurden dann öffentlich verbreitet und in Kommunikationsprozessen auf andere Kulturgebiete übertragen. Mit einem Wort, sie wurden
selbst zum Objekt des Kulturtransfers und wurden – um die Hauptrichtungen
dieser Übertragung zu nennen – zum einen ab 1525 aus Schlesien ins Herzogtum Preußen transferiert, in dessen Kirche seit einigen Jahren eine Adaption der
Grundsätze der lutherischen Reformation im Gange war. Zum anderen erfolgte
dieser Transfer sporadisch seit 1527, konsequent seit 1529, nach Kaspar Schwenckfelds Auswanderung in den Süden des Heiligen Römischen Reiches, in das sog.
Oberdeutschland, wobei der Schwerpunkt auf wichtigen städtischen Reformations- und Kulturzentren wie Straßburg/Strasbourg, Augsburg und Ulm sowie
einigen Adelslandschaften lag. In die Zeit dieses intensiven Transfers der Schwenckfeld’schen Gedanken fällt in den Kirchen dieser Regionen auch der Prozess
der Hinwendung zum Luthertum und der Trennung von außerlutherischen
Einflüssen wie insbesondere der Reformation Huldrych Zwinglis (1484–1531)
und der Täufer.11
Theologie dargestellt mit besonderer Ausrichtung auf seinen Kirchenbegriff (KiO Beiheft 2),
Stuttgart 1961, S. 16–22.
11 Vgl. M. Brecht, Bucer und Luther, in: C. Krieger / M. Lienhard (Hgg.), Martin Bucer
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Gabriela Wąs
Der unter solchen Bedingungen in beiden Regionen erfolgte Transfer Schwenckfeld’scher Gedanken ermöglicht es, noch einen diese Kommunikationsphänomene begleitenden Aspekt zu beobachten, der als ‚ungewollter Kulturtransfer‘
bezeichnet werden kann – ‚ungewollt‘ deshalb, weil das Empfängermilieu die
Ziele der Botschaft nicht teilte und ihre Inhalte als fremd wahrnahm. Preußische und süddeutsche kirchliche Oberhäupter schätzten nämlich die zu ihnen
vordringenden Schwenckfeld’schen Ideen nicht nur als kulturelle und religiöse
Antagonismen gegenüber den bereits als wertvoll empfundenen lutherischen
Ideen ein. Sie wurden zudem vor die Aufgabe gestellt, ihre eigenen kirchlichen
Gemeinschaften vor dem Transfer der Schwenckfeld’schen Gedanken zu schützen und Mittel zur Abwehr der fremden Kommunikationsbotschaft zu ersinnen. Die Kommunikationsaktivitäten der Schwenckfelder waren somit einer der
wesentlichen Gründe für die Ausarbeitung neuer Präventivmaßnahmen durch
die reformatorisch gesinnten weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten gegen die
unerwünschte Übermittlung der religiös fremden Botschaften.
Solche Zensurmaßnahmen riefen aufgrund der Beschränkung des ‚medialen
Raums‘ auf obrigkeitlich tolerierte Inhalte und Ideen Gegenreaktionen der inkriminierten religiösen Gruppen hervor. Als Antwort auf die Zensur entwickelten
die Schwenckfelder Praktiken wie z. B. den Druck ohne Ortsangabe und/oder
ohne Namen der Drucker und Verleger. Anonyme oder unter Pseudonym erschienene Ausgaben sowie die Verbreitung der Schriften mittels eines Netzwerks von
Vertrauensleuten sorgten für die Entstehung des bis heute bekannten Phänomens
eines zweiten (heimlichen) Umlaufs der Informationen (Schriften), der sich der
Kontrolle der öffentlichen Gewalten zu entziehen versuchte und trotzdem auf
breitere gesellschaftliche Schichten abzielte. Nach 1517 war dieses Phänomen
durch Luthers Schriften ausgelöst worden. Jetzt standen die lutherischen Obrigkeiten selbst vor der Aufgabe, einen Operationsmodus gegen die Verbreitung
heterogener und unerwünschter Religionsansichten ausarbeiten zu müssen.
Gleichzeitig befassten sich die Schwenckfelder in ihren Schriften auch intensiv
mit der Unzulässigkeit der Unterdrückung des religiösen Meinungsaustausches.
Ihrer Meinung nach waren die Bibelforschung und Gespräche der Christen über
Unstimmigkeiten bei der Interpretation der Bibel der einzige richtige Weg zu der
von ihnen ersehnten Erkenntnis Gottes. Die Reformationskommunikation war
somit nicht nur der Beginn von Auseinandersetzungen um die Freiheit der Verkündung des Wortes Gottes, sondern auch der Anfang des für die europäische
Kultur bedeutenden Diskurses über die Freiheit des Meinungsaustausches in der
and Sixteenth Century Europe (SMRT 52/53), 2 Bde., Leiden/New York/Köln 1993, hier
Bd. 1, S. 351–367.
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Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
387
öffentlichen Kommunikation. Die religiös motivierte Argumentation der Schwenckfelder zugunsten der Freiheit trug auch zu deren Genese als kulturellem Wert bei.
Um die Übertragung unerwünschter Informationen zu verhindern, setzten die
Behörden verschiedene Mittel gegen die Schwenckfelder ein, die für die Epoche
typisch waren und von Bücherverbrennungen, Beschlagnahmungen von Auflagen
bzw. Druckereiwerkstätten bis hin zu Verhaftungen und Verbannungen von Personen reichten. Es ist für die politisch-kirchlichen Verhältnisse der Zeit signifikant,
dass zu Beginn der 1530er Jahre die Umsetzung der prohibitiven Maßnahmen
in erster Linie auf die Initiative der kirchlichen Gewalten zurückzuführen war,
die weltlichen hingegen eher zurückhaltend agierten. Am Beispiel der Schwenckfelder kann beobachtet werden, dass die kirchliche Obrigkeit die Einführung
einer Kommunikationsaufsicht (im Herzogtum Preußen sowie in süddeutschen
Gebieten) anstrebte und versuchte, solche Praktiken bei der Übermittlung ihres
eigenen Standpunkts anzuwenden, die unerwünschte Kommunikationsinhalte
in den Hintergrund rückten.12 Gleichzeitig hatten diese Praktiken – z. B. Verhöre
vor kirchlichen Synoden und innerprotestantische Religionsgespräche – den
Reformationsstandards zu entsprechen. Bei beiden Formen wurden Reformationsgrundsätze angewendet: Die Falschheit der kontroversen Ansichten musste
anhand der Heiligen Schrift nachgewiesen und dem eigenen Milieu als Besiegung
des Gegners mithilfe des Evangeliums mitgeteilt werden. Diese performativen
Akte waren auch eine Art symbolischer und visueller Kommunikation der Obergewalten, die auf die eigenen Kreise abzielte, um zu veranschaulichen, welche religiösen Meinungen als gottgewollt und legal, d. h. obrigkeitlich gebilligt, galten.
Aus der Sicht der in den beiden erwähnten Regionen dominierenden lutherischen Gewalten hatten diese Formen der Abwehr der Schwenckfeld’schen Ideen
nur teilweise Erfolg. Gespräche und Verhöre endeten nicht mit dem Beweis ihres
aufrührerischen und schriftwidrigen Charakters, sondern mit eher gütlichen oder
unentschiedenen Resultaten, die sich nicht wirklich als effiziente Instrumente
für die Verlautbarung der negativen Haltung der Obrigkeiten gegenüber den
Schwenckfeldern eigneten.
Aus der Geschichte der vorbeugenden Maßnahmen, die eine Verbreitung von
Schwenckfeld’schen Ideen verhindern sollten, können Ereignisse angeführt werden wie das Verhör von Kaspar Schwenckfeld durch die Straßburger Synode im
12 Vgl. T. Fuchs, Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in
der Reformationszeit (NuS 4), Köln/Weimar/Wien 1995, S. 9; I. Dingel, Streitkultur und
Kontroversschrifttum im späten 16. Jahrhundert. Versuch einer methodischen Standortbestimmung, in: Dies. / W.-F. Schäufele (Hgg.), Kommunikation und Transfer (wie Anm.
8), S. 95–111, hier S. 105.
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388
Gabriela Wąs
Jahr 1533 oder die Vorladung spiritualistischer Geistlicher durch die Synode der
Preußischen Kirche im Juni 1531.13 Als Beispiele für Religionsgespräche können
genannt werden das Tübinger Kolloquium von 1535 zwischen Schwenckfeld
und Martin Frecht (1494–1556), Martin Bucer (1491–1551) und Ambrosius
Blarer (1492–1564)14 oder das Kolloquium vom Dezember 1531 in Rastenburg/
Kętrzyn im Herzogtum Preußen, das auf Anordnung Albrechts I. von Hohenzollern (1511/23–1568) den Charakter irenischer Gespräche haben sollte.15
Das – unerfüllte – Ziel des letztgenannten Treffens war die Beilegung des Streites zwischen Lutheranern und Schwenckfeldern im Herzogtum Preußen. Die
Konsequenzen der Rastenburger Gespräche von 1531, an denen alle lutherischen
Bischöfe des Herzogtums Preußen und weitere wichtige Geistliche des Landes
teilnahmen, reichten gleichzeitig weit über die Grenzen des Herzogtums hinaus: Martin Luther, Philipp Melanchthon (1497–1560) und Heinrich Bullinger
(1504–1575) wurden auch zur Stellungnahme veranlasst, was eine allgemeinreformatorische Dimension dieser Gespräche – an denen die Schwenckfelder als
eine der Parteien mitgewirkt hatten – offenkundig macht. Die Bedeutung der
Ulmer Gespräche liegt dagegen darin, dass sie in Verbindung mit dem fünf Jahre
späteren Urteil von 1540 zu sehen sind, in dem die in Schmalkalden versammelten lutherischen Theologen, unter anderem Melanchthon und Bucer, die Lehre
Schwenckfelds definitiv verurteilten und ihre Vereinbarkeit mit der Reformation
öffentlich ausschlossen.16
Die Kreise der Schwenckfelder im Südwesten des Alten Reichs waren unter
Berücksichtigung ihrer Kommunikationsnetzwerke und -mittel vor nicht allzu
langer Zeit Gegenstand der Untersuchung von Caroline Gritschke.17 Diese
13 Vgl. G. Wąs, Rozmowy chrześcijańskie w nurcie reformacji. Legniccy i pruscy ewangelicy
wobec wczesnoreformacyjnych problemów [Die christlichen Gespräche im Laufe der Reformation. Die Liegnitzer und die preußischen Protestanten angesichts frühreformatorischer
Probleme] (AUWr. 3286; Historia 181), Wrocław 2011, S. 155–185, hier die ältere Literatur
und ein Bericht über ältere Forschungen.
14 Vgl. J. Endriss, Kaspar Schwenckfelds Ulmer Kämpfe, Ulm 1936, S. 19 f.
15 Vgl. G. Wąs, Rozmowy chrześcijańskie (wie Anm. 13), S. 186–240.
16 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, praefationes, consilia, iudicia, schedae academicae […],
in: Philippi Melanthonis opera, quae supersunt omnia, ed. C. G. Bretschneider (CR 3),
Halle 1836, Sp. 983–986, Nr. 1945.
17 Vgl. C. Gritschke, Via Media (wie Anm. 9); vgl. auch die Forschungen – obwohl mit anderen methodologischen Prämissen – von H.-P. Mielke, Kirche im Geheimen. Orthodoxes und
liberales Schwenckfeldertum in Süddeutschland und seine Auswirkung auf Geistesgeschichte
und politisches Handeln in der Spätrenaissance, Bd. 1: Abhandlung und Studie, Nordhausen
2012; R. Gouldbourne, The Flesh and the Feminine. Gender and Theology in the Writings
of Caspar Schwenckfeld (SCHT), Milton Keynes 2006.
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Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
389
hat dabei nicht nur das Phänomen der Schwenckfeld’schen Briefkultur analysiert, sondern auch festgestellt, dass reger Briefaustausch unter den Anhängern
ein Substitut für die institutionelle Kirche war und damit eine große Bedeutung
für die Binnenstruktur der Schwenckfeld’schen Gemeinschaft hatte. Da diese auf
modernen Ansätzen beruhende Forschung über die Schwenckfelder im Südwesten des Alten Reichs leicht zugänglich ist, wird an dieser Stelle näher über den
Transfer der Schwenckfeld’schen Ideen ins Herzogtum Preußen und von den
dabei eingesetzten Kommunikationsmedien die Rede sein.
Der Meinungsaustausch zwischen den Schwenckfeldern und preußischen
Lutheranern dauerte von 1525 bis 1544, d. h. etwa 20 Jahre, innerhalb derer sich
hinsichtlich der Kommunikationsmittel und -formen verschiedene Etappen unterscheiden lassen. Die Verbindung zwischen den zwei reformatorischen Kreisen des
schlesischen Liegnitzer Fürstentums auf der einen, des Herzogtums Preußen auf
der anderen Seite wurde durch persönliche Treffen und Gespräche Friedrichs
II., Fürst von Liegnitz, und Albrechts von Hohenzollern, noch als Hochmeister
in Preußen, in den Jahren 1524/25 hergestellt. Albrecht, der während der Verhandlungen über die Säkularisation des Ordensstaats und die Ablegung seines
Lehneids als weltlicher Herzog gegenüber dem polnischen König Sigismund I.
(1506–1548) einige Monate im Liegnitzer Fürstentum weilte, hatte die Gelegenheit, mit Personen aus dem Umfeld Friedrichs Kontakt aufzunehmen. Durch
Quellen konnte belegt werden, dass er Predigten Schwenckfelds hörte und von
dessen Überlegungen zu Glaubensfragen tief beeindruckt war.18 Wichtig ist in
diesem Zusammenhang, dass Schwenckfeld zu diesem Zeitpunkt noch fest auf
dem Boden des Luthertums stand. Aller Wahrscheinlichkeit nach sah Albrecht
in Schwenckfeld den wichtigsten Helfer Herzog Friedrichs II. bei der Umsetzung
der Reformation, die im Liegnitzer Fürstentum seit 1520 allmählich erfolgte.
Die Jahre 1525 bis 1528 markieren die erste Etappe der Kontakte zwischen
den preußischen und schlesischen Anhängern der Reformation. Wahrscheinlich informierte Albrecht nach seiner Rückkehr nach Preußen im Jahr 1525 eine
Gruppe eigens versammelter lutherischer Geistlicher über Schwenckfelds Aktivitäten. Ohne zu wissen, dass Schwenckfeld ab Mitte 1525 eine spiritualistische
Position zu vertreten begann, nahm Paul Speratus (1484–1551), damals noch
18 Vgl. C. Krämer, Beziehungen zwischen Albrecht von Brandenburg-Ansbach und Friedrich II.
von Liegnitz. Ein Fürstenbriefwechsel 1514–1547: Darstellungen und Quellen (VAPK 8), Köln/
Berlin 1977, S. 83–90; CS, Bd. 1: A Study of the Earliest Letters of Caspar Schwenckfeld von
Ossig, ed. C. D. Hartranft, Norristown/Leipzig 1907, S. 97–103, Nr. 164, S. 105, Nr. 165;
CS, Bd. 14: Letters and Treatises of Caspar Schwenckfeld von Ossig (1554–1556), ed. E. E.
Schultz Johnson, Pennsburg/Leipzig 1936, S. 287–296, Nr. 922.
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390
Gabriela Wąs
Pfarrer in der Königsberger Altstadt/Kaliningrad, mit ihm eine Korrespondenz auf, indem er versuchte, vor dem Hintergrund des aufgedeckten Konfliktes
Luthers mit Andreas Karlstadt (1486–1541) und Huldrych Zwingli zum Thema
des Letzten Abendmahls ein Bündnis lutherischer Kräfte zu schmieden.19 Der
Wendepunkt der Kommunikation in dieser Periode waren die Briefe von 1526.
Auf den sog. Rundbrief vom Frühjahr 1526 über die Aufhebung des Letzten
Abendmahlrituals in Liegnitz zusammen mit einer spiritualistischen Auslegung
der Eucharistie, den ihm Schwenckfeld mit Unterschriften anderer Liegnitzer
Spiritualisten zuschickte,20 folgte die Antwort preußischer Geistlicher, Judicium
genannt, vom 13. November 1526, die eine solche Interpretation ablehnte.21
Schwenckfeld wandte sich in diesem Stadium des Briefgesprächs direkt an Herzog Albrecht und schickte ihm 1527 einen weiteren Brief mit Erklärungen und
Traktaten, darunter der Traktat Contra Schwermeros über Luthers zwölf Fehler.
Albrecht, Schwenckfeld grundsätzlich wohlwollend gesonnen, schloss sich jedoch
dieser Auseinandersetzung persönlich nicht an. Er ließ seine Theologen dessen
Schriften bewerten. Im theologischen Bereich hielt er ihre Antworten für verbindlich und schlug Schwenckfeld vor, sich mit solch komplizierten Problemen
an Luther zu wenden.
Die Kontakte von 1525 bis 1528 hatten somit den Charakter einer Korrespondenzdiskussion, in der der Briefaustausch mit angehängten Traktaten, Sendbriefen
und an breitere Schichten gerichteten offenen Briefen die Rolle eines Kommunikationsmediums spielte. Der Briefwechsel mit den preußischen Geistlichen
erfolgte parallel zum Briefwechsel mit Albrecht und wurde von der schlesischen
Seite hauptsächlich von Schwenckfeld geführt. Die Korrespondenzsammlung, die
die Zeiten überlebt hat, besteht heute aus 13 Briefen unterschiedlichen Umfangs
und Charakters. Gleichzeitig liefen die Kontakte zwischen den schlesischen
Schwenckfeldern und Preußen auch über Personen, die mit Schwenckfeld persönlich verbunden waren: Am Hofe Albrechts diente sein Neffe, der Sohn seines
Bruders Hans, zu nennen ist ferner der fürstliche Rat und damalige Bischof von
Pomesanien/Pomezania (bis 1529), Erhard von Queis (1490–1529). Letzterer
hatte mit Schwenckfeld in Frankfurt an der Oder studiert und später von 1521
19 Der erste bis heute erhaltene Brief Schwenckfelds ist eine Antwort auf den Brief von Speratus.
Vgl. CS, Bd. 2: Letters and Treatises of Caspar Schwenckfeld von Ossig ( June 11, 1524–1527),
ed. C. D. Hartranft, Norristown/Leipzig 1911, S. 120–125, Nr. 10; UBRGHP, Bd. 2: Urkunden, T. 1.: 1523 bis 1541, ed. P. Tschackert (PPrStA 44), Leipzig 1890, S. 124, Nr. 366.
20 Vgl. CS, Bd. 2, ed. C. D. Hartranft (wie Anm. 19), S. 327–333, Nr. 28.
21 Vgl. GStAPK Berlin, XX. HA, StA Königsberg, HBA, Kasten 1393, Nachlass Speratus, Sign. IV.
22. 13; UBRGHP, Bd. 2, T. 1, ed. P. Tschackert (wie Anm. 19), S. 178 f., Nr. 522a.
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Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
391
bis 1523 wie Schwenckfeld als Höfling Herzog Friedrichs II. zur Einführung der
Reformation im Fürstentum beigetragen.22 Die Ankunft dieser Personen im
Herzogtum Preußen war jedoch nicht direkt mit der Absicht verbunden, dort
die Schwenckfeld’schen Ansichten zu verbreiten.
Auf die Jahre 1530/31 folgte die nächste Etappe der Kontakte, die durch die
Missionstätigkeit Friedrich von Heydecks († 1536), des engsten politischen Beraters Herzog Albrechts, der sich zum Schwenckfeldertum bekehrte, im Herzogtum
Preußen gekennzeichnet war.23 Die Bekehrung hatte während Heydecks Aufenthalts in Schlesien in den Jahren 1529/30 stattgefunden, als er zeitweise als Diplomat für Herzog Friedrich II. tätig war und Kontakt zur Gruppe der Liegnitzer
Schwenckfelder aufgenommen hatte.24 Nach seiner Rückkehr nach Preußen im
Jahr 1530 begann er, Schwenckfeld’sche Geistliche auf seine Güter kommen zu
lassen und diese als Pfarrer einzusetzen. Die Quellen belegen, dass er mindestens
zwei Geistliche, Peter Zenker (ursprünglich in Danzig tätig) und Sebastian Schubart, aus Schlesien nach Preußen holte, die dort dann spiritualistische Ansichten
vertraten. Heydeck engagierte sich zudem bei der Gewinnung des lokalen Adels
für die Schwenckfeld’schen Ideen, indem er nicht nur persönliche Gespräche mit
diesem führte, sondern unter den Adeligen auch spiritualistische Schriften, die
er aus Schlesien bezog, verbreitete. Proselytische Aktivitäten entfaltete er ferner
gegenüber den preußischen Bischöfen von Pomesanien und Samland sowie Herzog Albrecht selbst. Er übermittelte den Bischöfen Schwenckfeld’sche Traktate
und schickte zudem den erwähnten Sebastian Schubart zu ihnen, der die Theologie Schwenckfelds mündlich erläutern sollte.25 Dies alles führte 1531 zu der
spektakulären Konfrontation der lutherischen und Schwenckfeld’schen Glaubensrichtungen, die die nächste Etappe der schlesisch-preußischen Kontakte und
zugleich eine neue Kommunikationsmethode einläutete.
Paul Speratus, der damals bereits von Herzog Albrecht zum Bischof von Pomesanien (1530–1551) ernannt worden war, erreichten nicht nur Informationen über
Heydecks Wirken. Auch Krautwalds und Schwenckfelds Traktate, die in Preußen
22 Vgl. A. Clos, Persönliche und literarische Beziehungen zwischen der preußischen und der
Liegnitzer Reformation. Eine Untersuchung zum Eindringen der schweckfeldschen Lehre in
Preußen, in: JOPKG 6 (1940), S. 23–63.
23 Vgl. T. Besch, Friedrich von Heydeck, ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und Säkularisation Preußens, Königsberg 1897, S. 9–36.
24 Die Entsendung Heydecks nach Liegnitz war wahrscheinlich eine Gegenleistung Albrechts
für die Zustimmung Friedrichs zum Übertritt Erhards von Queis in seinen Dienst. Vgl. G.
Wąs, Rozmowy chrześcijańskie (wie Anm. 13), S. 121.
25 Vgl. Die Chronik des Johannes Freiberg, in: Die Königsberger Chroniken aus der Zeit des
Herzogs Albrecht, ed. F. A. Meckelburg, Königsberg 1865, S. 1–286, hier S. 225 ff.
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392
Gabriela Wąs
kursierten, geriten in seine Hände. Zwecks Disziplinierung der Pfarrgeistlichkeit
berief Speratus für Juni 1531 eine Synode ein.26 Er forderte all jene, die er im
Verdacht hatte, Schwenckfeld’sche Positionen zu vertreten, zur Ablegung eines
schriftlichen Glaubensbekenntnisses und zum persönlichen Erscheinen auf der
Synode auf. Eine persönliche Einbestellung erhielten unter anderem Peter Zenker, Pfarrer in Johannisburg/Pisz, Melchior Kranich, Pfarrer in Lyck/Ełk, Georg
Landmesser, Pfarrer von Bialla/Biała, Martin, Pfarrer von Passenheim/Pasym und
Jakob Knothe († ca. 1564), Pfarrer in Neidenburg/Nidzica. Es wurde von ihnen
verlangt, Erläuterungen zu vier Fragen schriftlich zu überreichen: de verbo externo,
de Eucharistia, de lavacro regenerationis und de peccato originali.27 Einige Schwenckfelder präsentierten ihre spiritualistischen Glaubensbekenntnisse. Von diesen
Schriften sind die von Peter Zenker und Georg Landmesser bis heute erhalten.
Mit der Überreichung von Bekenntnisschriften an die Synode versuchten die preußischen Schwenckfelder, eine innenkirchliche Diskussion anzustoßen. Das stieß
bei Speratus auf Ablehnung. Stattdessen wollte er diese Geistlichen aus Preußen
verbannen oder wenigstens von ihren Ämtern suspendieren. Ziel der Synode war
es somit, die Integrität der Landeskirche zu verteidigen. Für seine Disziplinarmaßnahmen bekam Speratus jedoch nicht die Zustimmung von Herzog Albrecht.
Als Verteidigungsmaßnahme der Schwenckfelder gegenüber diesem Druck
der lutherischen Obergewalt war die auf Heydeck zurückgehende Idee eines
Treffens beider Parteien zu direkten Gesprächen gedacht. Ein solches für Dezember 1531 einberufenes Religionsgespräch war letztendlich dem Herzog zu verdanken, der dieses zu organisieren befahl. Nach dem Willen des Herzogs sollte
das Treffen keine streitbare Diskussion, sondern ein moderates Kolloquium
sein; gemäß dem von Speratus selbst nach dem Kolloquium verfassten Bericht
verordnete der Herzog eine freundliche, stille, bruderliche, christliche unndterre
dung.28 Der Herzog erlaubte es auch nicht, ein offizielles, zur Veröffentlichung
vorgesehenes Protokoll der Gespräche zu erstellen. Zur Teilnahme lud er beide
26 Vgl. P. Tschackert, Einleitung, in: UBRGHP, ed. Ders., Bd. 1, Leipzig 1890, S. 191 f.; C.
J. Cosack, Paulus Speratus, Leben und Lieder. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte, besonders zur Preußischen, wie zur Hymnologie, Braunschweig 1861, S. 127–134.
27 C. J. Cosack, Paulus Speratus (wie Anm. 26), S. 374–382; vgl. auch G. Wąs, Rozmowy chrześcijańskie (wie Anm. 13), S. 157. Im Lichte dieser Forschungen stimmt die in der Literatur oft
wiederholte Bewertung des preußischen Schwenckfeldertums grundsätzlich als Laienbewegung
nicht. Vgl. W. Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490–1568 (SGP 8), Heidelberg 1960, S. 170.
28 Die unterredung mit Fabian Eckeln gehalten zu Rastenburg am freitag penulima Decembris
und sonnabend darnach anno [15]31; GStAPK Berlin, XX. HA, StA Königsberg, HBA, Nachlass Speratus, Kasten 1394, Sign. IV.22. 9 (II), 63I, alte Sign.: Schrank IV, 22.77, 1531, fol. 47;
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Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
393
Bischöfe – Speratus und Georg von Polentz (1478–1550), Bischof von Samland
(1518/23–1550) –, sowie die drei Königsberger Pfarrer bzw. Prediger Johannes
Poliander (1487–1541), Johannes Briesmann (1488–1549) und Michael Meurer
(† 1537) ein. Zum festgesetzten Termin am 29. Dezember 1531 kam er in Begleitung wichtiger Politiker Preußens persönlich nach Rastenburg und war während
der Gespräche anwesend.
Seitens der Schwenckfelder beteiligten sich Friedrich von Heydeck, Peter
Zenker und Fabian Eckel, der eigens für das Kolloquium aus Liegnitz gekommen
war.29 Die Gespräche wurden hauptsächlich zwischen Eckel auf der einen Seite,
Speratus und Poliander auf der anderen Seite geführt. Während des Treffens
in Rastenburg wurde zwei Hauptthemen verhandelt: Zum einen die Art und
Weise, in der der Leib und das Blut Jesu während des Sakraments des Letzten
Abendmahls anwesend sind, zum anderen ging es darum, ob das ‚äußere‘, d. h. in
Predigten verkündete Wort Gottes Wort ist. Zu beiden Fragen äußerten sich die
Schwenckfelder im spiritualistischen Sinn.30
Ein formelles Urteil über den Sieg einer Partei blieb – gemäß dem vermittelnden
Charakter des Kolloquiums und dem Wunsch des Herzogs – aus. Es wurde weder
ein Sieger ausgerufen noch wurde verkündet, wessen Argumente mehr Gewicht
hatten. Dies bestätigt den ‚synodalen‘ Charakter des Treffens, das nicht als eine
kontroverse Diskussion ausgerichtet war.31 Zudem stellte Herzog Albrecht zum
Fragmente dieser unterredung mit Fabian Eckeln sind veröffentlicht in: C. J. Cosack, Paul
Speratus (wie Anm. 26), S. 383–404.
29 Dank Schwenckfeld wirkte er seit 1521 als evangelischer Geistlicher in Liegnitz. Er gehörte
zu den aktivsten Schwenckfeld’schen Geistlichen. Vgl. A. Clos, Persönliche und literarische
Beziehungen (wie Anm. 22), S. 31; C. A. Salig, Vollständige Historie der Augsburgischen
Confeßion und derselben Apologie […], 3 Bde., Halle/Saale 1730–1745, Bd. 3, S. 1102, 1108.
30 In der Antwort der Schwenckfelder auf die erste Frage waren drei Komponenten wichtig:
Erstens, im Sakrament bekomme der Gläubige das Blut und den Leib Christi, aber nicht auf
reale und materielle Art, sondern spirituell. Zweitens, wichtig für die Exegese des Abendmahls
sei – außer den Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas – auch das sechste Kapitel des
Johannesevangeliums. Drittens, alle vier Stellen in den Evangelien, wo über Christi letztes
Abendmahl berichtet wird, sollen metaphorisch verstanden werden. Zur zweiten Frage hätten
sie behauptet, dass Gottes Wort nur in einer Weise zu verstehen sei, d. h. als Christus selbst, wie
es am Anfang der Heiligen Schrift steht. Christus könne nur sich selbst verkünden. Er spreche
sein Wort direkt in das Herz des Menschen. Das Wort Christi sei mit der Gnade des Glaubens
gleichzusetzen. Die Diener der Kirche predigen nur den Inhalt der Botschaft Christi, also die
Worte, die in der Heiligen Schrift aufgeschrieben wurden. Sie können kein Wort Christi und
so auch keinen Glauben vermitteln.
31 Vgl. M. Hollerbach, Das Religionsgespräch als Mittel der konfessionellen und politischen
Auseinandersetzung im Deutschland des 16. Jahrhunderts (EHS.G 165) Frankfurt a. M./Bern
1982, S. 1–7, 82–107; T. Fuchs, Konfession und Gespräch (wie Anm. 12), S. 16–34.
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Ende der Unterredungen in Rastenburg fest, dass die religiösen Angelegenheiten
nicht endgültig geklärt werden konnten, und forderte beide Parteien zur schriftlichen Fortsetzung des Meinungsaustausches auf.
Albrechts Haltung war also eindeutig vermittelnd und versöhnend und
bezweckte eine Abmilderung der theologischen Auseinandersetzung. Er rechnete vermutlich damit, dass eine schriftliche Weiterführung der Diskussion dieser zunehmend eine intellektuelle Dimension verleihen würde, die zugleich den
Kreis der Rezipienten einschränken würde. Gleichzeitig sollte keine Verschärfung
der Positionen provoziert werden, was sowohl auf Seiten der Lutheraner als auch
der Schwenckfelder hätte der Fall sein können, falls eine Partei öffentlich als
‚siegreich‘ ausgerufen oder des Irrtums bezichtigt worden wäre. Da ein abschließendes Urteil von Anfang an nicht vorgesehen war, hatte der Herzog auch kein
Protokoll erstellen lassen.
Anscheinend wollte der Herzog keiner der Parteien Gründe zur Radikalisierung
liefern. Falls eine der Parteien – höchstwahrscheinlich die Schwenckfelder – als
‚geschlagen‘ befunden worden wäre, wollte er nicht in die Situation geraten, sich
mit Forderungen nach Zwangsmaßnahmen und Restriktionen gegen die Unterlegenen konfrontiert zu sehen. Es gibt jedoch keinen Grund für den Vorwurf der
preußischen Lutheraner, dass er die Schwenckfelder stützte. In gewissem Maße
ging die vermittelnde Haltung des Herzogs auf seine Loyalität gegenüber Heydeck
zurück, der zu jenem engen Personenkreis gehörte, der für Albrecht in Preußen
die Erblichkeit im Herzogtum vorbereitete. Gewiss bewog ihn aber auch die Solidarität gegenüber Herzog Friedrich II., mit dem er damals gemeinsame politische
Ziele verfolgte und der zu dieser Zeit noch die Schwenckfeld’sche Reformation
in seinem Fürstentum implementierte, zur zurückhaltenden Haltung gegenüber
den Schwenckfeldern in Preußen. Auf der anderen Seite hatte Albrecht stets Interesse an Glaubensfragen, wie es für denkende, intellektuell und geistig sensible
Menschen dieser Epoche kennzeichnend war.32
Nach dem Treffen schrieb Speratus seinen Bericht über die Gespräche in Rastenburg nieder, um damit der angeblichen Verbreitung falscher Gerüchte durch
die Schwenckfelder über ihren Rastenburger Sieg entgegenzutreten. Er sammelte
dafür die Unterschriften der anderen lutherischen Teilnehmer und ersuchte den
Herzog um die Veröffentlichung seines Berichts, d. h. um die öffentliche Bekanntmachung der Auseinandersetzung sowie um eine Bestätigung des Herzogs, dass das
Urteil zugunsten der Lutheraner ausfiel. Nach der Absage des Herzogs versuchte
32 Vgl. M. Leckner, Geistfrömmigkeit und Enderwartung. Studien zum preußischen und
schlesischen Spiritualismus, dargestellt an Christoph Barthut und Quirin Kuhlmann (KiO
Beiheft 1), Stuttgart 1959, S. 25.
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Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
395
Speratus, auf diesen durch die Einschaltung Luthers als theologischer Autorität
Druck auszuüben.
Speratus’ Handlungen hatten ausdrücklich zum Ziel, den Glauben zu vereinheitlichen, die Kirche, den Staat, die Geistlichkeit und die Glaubensgemeinschaft
zu homogenisieren und alle Untertanen des Herzogs auf eine Konfessionsvariante
zu verpflichten – durch kirchliche Maßnahmen ebenso wie durch Beschlüsse der
weltlichen Obrigkeit. Die ersten Impulse für eine Konfessionalisierungspolitik
gingen demzufolge im Herzogtum Preußen auf die Initiative der kirchlichen
Machthaber zurück, während die weltliche Macht mit dem Modell eines Herzogtums mit unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften der antirömischen Opposition klarkam. Nach Rastenburg erlaubte der Herzog zwar eine Suspendierung
der Schwenckfelder Geistlichen von einigen Ämtern, ließ aber zu, dass sie in der
Pfarrei Johannisburg, der Residenz von Heydeck, weilten und wirkten. Speratus
hielt er vor radikalen Auftritten gegenüber Andersgläubigen zurück.
Nach Rastenburg entwickelte sich die Situation in zwei Richtungen. Gemäß
dem beim Abschluss der Unterredungen in Rastenburg geäußerten herzoglichen
Wunsch dauerte in der nächsten Konfliktphase, d. h. in den Jahren 1532 bis 1537,
der Austausch von Traktaten zwischen Lutheranern und Schwenckfeldern an.
Seitens der Schwenckfelder traten dabei Krautwald, Schwenckfeld und Eckel
als Verfasser von Briefen und Traktaten hervor, die sie nach Preußen schickten.33
Gleichzeitig wurden auf Initiative der preußischen Lutheraner, vor allem Speratus’, Luther und Melanchthon für die Bekämpfung Schwenckfeld’scher Einflüsse
in Preußen eingeschaltet.
Nach dem nach Wittenberg geschickten Bericht von Speratus über das Rastenburger Religionsgespräch und nachdem Krautwald 1533 oder Anfang 1534
einen weiteren Traktat an Speratus geschickt hatte, schaltete sich Melanchthon
direkt in die Diskussion ein und verfasste eine umfangreiche Antwort auf Krautwalds Traktat.34 Luther dagegen schrieb einen Brief an Herzog Albrecht, den er
in gedruckter Form unter dem Titel „An den Durchleuchtigen Hochgeborenen
Fürsten und Herrn, Herrn Albrecht“ herausgab, womit die Angelegenheit gleich
publik wurde.35
Luthers Deutung des Streits zwischen Lutheranern und Schwenckfeldern im Herzogtum Preußen wurde somit ein Teil des öffentlichen,
33 Vgl. G. Wąs, Rozmowy chrześcijańskie (wie Anm. 13), S. 249–257.
34 Vgl. ebd., S. 254–257.
35 Vgl. M. Luther, Sendschreiben an Herzog Albrecht von Preußen. 1532, in: WA, Bd. 30/3,
Weimar 1910, S. 541–553, hier S. 547–553; UBRGHP, Bd. 2, T. 1, ed. P. Tschackert (wie
Anm. 19), S. 281, Nr. 847.
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396
Gabriela Wąs
allgemeinreformatorischen Diskurses. Zum Ersten tadelte er im Brief von 1532
die spiritualistische Interpretation des Abendmahls und die Hinzufügung des
sechsten Kapitels aus dem Johannesevangelium für dessen Exegese. Dabei berief
er sich hauptsächlich auf die Autorität der Kirche, d. h. auf die Tradition, indem
er schrieb, dass die Kirche sich unmöglich 1500 Jahre lang irren konnte, wenn
sie die Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi verkündete. Folglich wurde
der Brief als Ausdruck „der konservativsten“ Ansichten Luthers seit 1517 empfunden.36 Zum Zweiten tadelte Luther auch die Aufnahme des Disputs mit
Nichtlutheranern durch Albrecht. Zum Dritten verurteilte er sehr deutlich Albrechts Religionspolitik, also das Tolerieren der Nichtlutheraner im politischen
Leben des Herzogtums sowie seine Genehmigung der Ansiedlung nichtlutherischer Gruppen in Preußen, hatte er doch Flüchtlingen aus den Niederlanden
die Errichtung von Siedlungen genehmigt. Der Weg, den Luther für Albrechts
Verhalten gegenüber religiösen Dissidenten vorsah, bestand in der Ablehnung
jeglicher Gespräche mit diesen. Herzog Albrecht sollte seine weltliche Macht
nutzen, Andersgläubige aufzufordern, die ihm unterstehenden Gebiete zu verlassen, und brachte sogar die Suggestion von ‚Gottes Rache‘ für den Fall religiöser
Zweifel ins Spiel. Die Hauptkritik Luthers galt dabei nicht den Schwenckfeldern,
auch nicht den Gesprächen in Rastenburg – in der Historiografie wird deshalb
dieser Brief Luthers oft nicht mit den Rastenburger Ereignissen verknüpft –,
sondern der Theologie und der Religionsauffassung Zwinglis. Er sah in diesem
die Bündelung sämtlicher nichtlutherischen Theorien. Luther machte diesen,
in deutlicher Anlehnung an die Marburger Gespräche von 1529, sowie auch
Karlstadt und Thomas Müntzer (ca. 1489–1525) für die Spaltung der reformatorischen Bewegung verantwortlich. Schließlich beinhaltete der Brief noch eine
rachsüchtige Aussage Luthers über die Bestrafung Zürichs durch Gottes Hand.
Er meinte damit den Tod Zwinglis, der kurz zuvor 1531 im zweiten Kappeler
Krieg, den die Zwinglianer provoziert hatten, umgekommen war. Der Brieftraktat Luthers an Herzog Albrecht war eine weitere Gelegenheit zur öffentlichen
Ablehnung der Theologie Zwinglis und ein Beleg dafür, dass die Diskrepanzen
zwischen Luthertum und Zwinglianismus weiterbestanden – allen Gerüchten
über ein 1529 in Marburg geschlossenes Konkordat zum Trotz.
Der durch Luthers Brief hervorgerufene Eindruck, das Herzogtum Preußen
sei ein Territorium, in das Häretiker und Unruhestifter freien Zugang hätten, traf
Herzog Albrecht in politischer Hinsicht deutlich. Der Brief wurde drei Monate
nach der am 19. Januar 1532 erfolgten Verhängung der Reichsacht wegen der
Beschlagnahmung der Güter des Deutschen Ordens und der Verletzung des
36 P. Tschackert, Einleitung (wie Anm. 26), S. 197.
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Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
397
Ordensgelübdes veröffentlicht.37 Luthers Aktion nahm auf diese heikle politische Lage Albrechts keine Rücksicht. Der Druck des Briefes von 1532 diente vor
allem dem Zweck einer Konfrontation mit dem theologischen Konzept Zwinglis und provozierte eine Reaktion der Züricher Geistlichen. Heinrich Bullinger,
aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Verfasser, redigierte im Juni 1532 deren
Antwort in einem Brief an Herzog Albrecht, in dem er sämtliche Argumente für
die Ablehnung von Luthers Thesen anführte.38 Er schrieb diesen Brief quasi im
Namen aller nichtlutherischen Strömungen und schützte dadurch z. B. die niederländischen Siedler in Preußen, über die bekannt war, dass sie keine Zwinglianer,
sondern sog. Sakramentierer waren. Ähnlich wie Luther erwähnte Bullinger die
Schwenckfelder nicht namentlich, obwohl er im Brief deren spirituelle Theologie unterstützte, und bezog sich auch nicht auf die Unterredung in Rastenburg.
Beide Parteien, sowohl Zwinglianer als auch Lutheraner, nutzten also den in
Preußen ausgetragenen Konflikt für ihre eigenen Absichten und als Instrument
zur Darlegung ihrer Position im Abendmahlsstreit. Die Kommunikationsmittel
der Korrespondenz und der gedruckten Briefe dienten in diesem Fall nicht der
Erwiderung auf Speratus und auch nicht dem spezifischen Dialog mit dem Absender über das meritum des Problems. Sie wurden vielmehr dafür genutzt, eigene
Ansichten mitzuteilen und in die Öffentlichkeit zu tragen. Der geschilderte Umlauf
von Informationen zwischen Preußen, Wittenberg und Zürich kann als ein Beispiel für unterschiedliche Auslegungen einer Nachricht durch deren Adressaten
(Luther, Bullinger) dienen – Auslegungen, die mit den Intentionen der Urheber
dieser Botschaften nur mehr wenig gemein hatten. Dies ist auch ein Beleg dafür,
dass ein stark intentional geprägtes Verständnis von Informationen kein Spezifikum der heutigen Medienlandschaft ist, sondern zu allen Zeiten öffentlichen
Mitteilungen inhärent war.
Luthers öffentlicher Brief an Herzog Albrecht hatte für die Schwenckfelder
ernsthafte Folgen. Er war einer der entscheidenden Faktoren, die Martin Bucer
in Straßburg – dort weilte Schwenckfeld seit 1529 in der Emigration – zu einer
Politik im Sinne von Luthers Empfehlungen veranlassten. 1533 wurde eine Synode einberufen, auf der Straßburger Dissidenten, u. a. Schwenckfeld, ihre religiösen Auffassungen nicht mehr nur vorzustellen und zu diskutieren, sondern den
Nachweis zu führen hatten, dass die von ihnen verkündeten Lehren keine schädlichen, den öffentlichen Frieden in der Stadt störende Inhalte verbreiteten.39 Es
37 Vgl. A. Bues, Die Apologien Herzog Albrechts (DHIWQS 20), Wiesbaden 2009, S. 15–18.
38 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 2: Briefe des Jahres 1532, ed. U. Gäbler, Zürich 1982, S. 138–148,
Nr. 106; UBRGHP, Bd. 2, T. 1, ed. P. Tschackert (wie Anm. 19), S. 284, Nr. 861.
39 Vgl. R. E. McLaughlin, The Politics of Dissent: Martin Bucer, Caspar Schwenckfeld, and
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398
Gabriela Wąs
handelte sich also nicht um erläuternde Gespräche, sondern um den Ausschluss
heterodoxer Meinungen aus der Straßburger Kirchengemeinde. Dass Schwenckfelds religiöse Auffassungen die öffentliche Ordnung zersetzten, wurde zwar nicht
offiziell bewiesen. Auf Druck Bucers bat ihn der Stadtrat 1534 jedoch insgeheim,
die Stadt zu verlassen; dies würde, so die Begründung, die öffentliche Stimmung
beruhigen. Indirekt wurde also suggeriert, dass Schwenckfelds Ideen in der Stadt
Unruhe verbreitet hätten. Auch in Schlesien begann Herzog Friedrich von 1532
bis 1534 auf die Schwenckfeld’schen Geistlichen massiven Druck auszuüben.
Manche verließen deshalb von sich aus sein Territorium. Am häufigsten wichen
sie dabei in die benachbarte Grafschaft Glatz/Kłodzko aus, die zwar nicht zu
Schlesien gehörte, diesem jedoch in soziokultureller Hinsicht ähnlich war.40 Dort
errichteten die schwenckfeldisch gesinnten Geistlichen nun in einigen Städten
und Regionen für mehrere Jahrzehnte neue Gemeinschaften. Der Transfer von
Personen war in diesem Fall für den Transfer religiöser Ideen entscheidend. Der
bedeutende Beitrag von Menschen mit Expertenwissen bei der Verbreitung religiöser Ideen in der Frühen Neuzeit lässt sich auch daran erkennen, dass es nach
dem Aussterben dieser Emigrantengeneration von Geistlichen im Glatzer Gebiet
zu einer deutlichen Reduzierung des Schwenckfeldertums kam.
Die Nachwirkungen der Auseinandersetzung der preußischen Lutheraner mit
den Schwenckfeldern reichten im Herzogtum Preußen bis ins Jahr 1544. Zu diesem Zeitpunkt entstand das letzte Schreiben von intellektueller Bedeutung in der
Diskussion zwischen beiden Religionsparteien. Es wurde von Johannes Dötschel,
dem damaligen Königsberger Schlossprediger (seit 1541), als Antwort auf die
Frage Herzog Albrechts bezüglich der Auffassung Schwenckfelds über die zwei
Naturen Christi verfasst. Dötschel gelangte dabei zu einer völligen Verurteilung
Schwenckfelds. Das ist der letzte Beleg, dass Informationen über Schwenckfelds
Ansichten direkt an den preußischen Herzog gelangten.
Die Schwenckfeld’schen Ideen wurden durch fast alle in der Epoche der
Reformation typischen Kommunikationsmedien nach Preußen übertragen.
Wie erläutert, wurden im Bereich der schriftlichen Medien religiöse Ideen in
privaten Briefen an eine Person bzw. an Personengruppen sowie in sog. offenen Briefen, Sendbriefen, Brieftraktaten oder – zumeist unveröffentlicht
the Schwenckfelders of Strasbourg, in: Ders., The Freedom of Spirit, Social Privilege, and Religious Dissent (BDSS 6), Baden-Baden/Bouxwiller 1996, S. 233–254; über die Politik Bucers
gegenüber den Schwenckfeldern vgl. Ders., Martin Bucer and the Schwenckfelders, in: C.
Krieger / M. Lienhard (Hgg.), Martin Bucer (wie Anm. 11), S. 615–626.
40 Vgl. H. Weigelt, Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien (AKG 43), Berlin/New York 1973, S. 181–194.
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Die Schwenckfelder in Schlesien und im Herzogtum Preußen
399
gebliebenen – Korrespondenztraktaten vermittelt. Dazu kam der Austausch
von gedruckten Traktaten, die den Briefen hinzugefügt waren oder gesondert an
Personen, die ‚missioniert‘ werden sollten, bzw. an Anhänger verschickt wurden.
Der Transfer des Schwenckfeld’schen Gedankenguts erfolgte aber auch durch
Personen, vor allem Geistliche, durch mündliche Verkündigung von den Kirchenkanzeln sowie durch persönliche Treffen mit lutherischen Opponenten. Diese
Treffen hatten sowohl privaten als auch öffentlichen Charakter. Von besonderer
Wichtigkeit waren dabei direkte öffentliche Diskussionen wie die Anhörungen
der Schwenckfelder durch den lutherischen Bischof auf der Synode in Rastenburg vom Mai/Juni 1531 sowie Gespräche während des Kolloquiums in Rastenburg im Dezember 1531. Eines der wichtigsten Mittel, das die Übertragung von
Ideen und Nachrichten förderte, war die Protektion durch weltliche Personen mit
einer gewissen politischen Macht, die für die Schwenckfeld’sche Lehre gewonnen
wurden. In dieser Hinsicht sollten besonders die Aktivitäten Friedrich von Heydecks hervorgehoben werden, mit dessen Tod 1536 das Schwenckfeldertum im
Herzogtum Preußen einer seiner wichtigsten Stützen beraubt wurde und rascher
zum Erliegen kam.
Etwas früher, einige Monate vor dem Tod Heydecks, veränderte sich auch die
Glaubenspolitik Herzog Albrechts. Am 1. August 1535 gab er ein an die Landesbischöfe gerichtetes Mandat aus, mit dem er die Einführung einer einheitlichen
Lehre und Konfession im Herzogtum forderte.41 Im gleichen Jahr stimmte er auch
einige Male der Ausweisung von Personen aus seinem Territorium zu, darunter
auch Schwenckfelder, die sich der Konfession der Landeskirche nicht unterordnen
wollten. In der Literatur wurde auf einen Grund für diese Änderung der Religionspolitik Albrechts hingewiesen: die Nachrichten über die Täuferherrschaft in
Münster.42 Der Herzog soll seither ein starkes Misstrauen gegenüber radikalen
religiösen Strömungen entwickelt und diese verdächtigt haben, gesellschaftlich
umstürzlerisch zu sein und die Landeskirche vernichten zu wollen. Aber auch eine
andere Erklärung ist möglich: Die infolge der politischen und wirtschaftlichen
Stabilisierung reicher und mächtiger gewordenen Stände im Herzogtum Preußen
gewannen mehr und mehr Einfluss auf verschiedene Bereiche, auch auf die Kirche,
denn Religionsangelegenheiten waren von Anfang an Verhandlungsgegenstand
auf den Ständeversammlungen. Diese Entwicklung ging zu Lasten der politischen
Macht Herzog Albrechts. Er war bei der Realisierung seiner Innen- und Außenpolitik immer stärker auf die Kooperation der Stände angewiesen.43 Die Bischöfe,
41 Vgl. UBRGHP, Bd. 2, T. 1, ed. P. Tschackert (wie Anm. 19), S. 317, Nr. 975.
42 Vgl. W. Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach (wie Anm. 27), S. 166.
43 Vgl. J. Małłek, Ustawa o rządzie (Regimentsnottel) Prus Książęcych z roku 1542. Studium
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Gabriela Wąs
die einer der Hauptstände waren, nutzten aller Wahrscheinlichkeit nach diese
neue Machtkonstellation aus und strebten in Zusammenarbeit mit den übrigen
Ständen die konfessionelle Homogenität im Sinne einer eindeutigen lutherischen
Glaubenspolitik in Preußen an.
Trotz der Nutzung aller zur Verfügung stehenden Mittel für den Transfer von
Ideen und trotz des Wirkens von Personen mit Wissen und Macht schlug die
Schwenckfeld’sche Lehre im Herzogtum Preußen keine Wurzeln. Dies zeigt die
Grenzen der Kommunikation bei der Übertragung soziokultureller Phänomene.
Der Fehlschlag bei der dauerhaften Durchsetzung des Schwenckfeldertums in Preußen ist umso auffälliger, wenn man die Assimilierungsprozesse in Süddeutschland
betrachtet; dort existierten in der Frühen Neuzeit durchwegs kleine Gruppen und
schwach verbundene Netzwerke von Individuen, die die religiös-intellektuelle
Gedankenwelt Schwenckfelds tradierten. Kommunikation nicht nur im Sinne
der Vermittlung von Informationen, sondern auch des Transfers kulturell-geistiger
Werte von einer Personengruppe an eine andere ist nicht als autonomer Prozess
anzusehen. Sie ist von vielen, für eine bestimmte soziale Umgebung temporären und einmaligen Faktoren abhängig, die von der Einstellung der politischen
Machthaber bis zu zeitbedingten Reaktionen der Empfängerkreise reichen, und
führt zur Verflechtung mit vielen dort bestehenden soziostrukturellen wie auch
kulturellen und geistigen Phänomenen.
z dziejów przemian społecznych i politycznych w lennie pruskim [Das sog. Regimentsnottel des
Herzogtums Preußen vom Jahr 1542. Eine Studie aus der Geschichte des gesellschaftlichen und
politischen Wandels im preußischen Lehen] (RTNT 72 (1967), H. 2), Toruń 1967, S. 81–114.
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Martin Wernisch
Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
Ein Beitrag zum Verständnis des spezifischen Verlaufs der böhmischen
Reformation
1. Einführung in die Problematik
Aus dem Blickwinkel der allgemeinen Reformationsgeschichte stellt die böhmische Reformation einen echten Sonderfall dar, was ihr auch besondere Attraktivität verleihen kann. Sie ist schon darin außergewöhnlich, dass der Lutherimpuls, der für die Reformation als europäisches und weltgeschichtliches Ereignis
grundlegend ist, in Böhmen nicht das erste Stadium inländischer Bestrebungen
um die Erneuerung des Christentums einleitet, die bereits früher den Rahmen
des ‚Reformkatholischen‘ sprengten und mit der Papstkirche in einen heftigen
Konflikt gerieten.
Völlig ohne Parallelen ist diese Ausnahme freilich nicht. Es gab bekanntlich
auch andere mittelalterliche Bewegungen, die aus der Sicht des römischen Lehramtes Häresien repräsentierten und deshalb verfolgt wurden, die aber trotzdem
bis in die Ära der europäischen Reformation überdauerten, diese förderten und
sich in protestantische Gruppierungen umgestalteten. Beispiele dieser Art liefern
die Waldenser, vor allem im Piemont, oder die englischen Lollarden.1 In diesen
beiden Fällen ging es allerdings um Gemeinschaften, die sogar in ihren heimatlichen Standorten im Verborgenen eine Minoritätsexistenz fristeten. Und in dieser
Hinsicht unterschied sich das böhmische Hussitentum auf entscheidende Weise.
Wirklich unikat ist es darin, dass es imstande war, sich bereits in der vorreforma
torischen Phase in einer Landeskirche und an einer Universität fest zu etablieren,
womit es manche der Veränderungen im kulturellen, sozialen und verfassungsrechtlichen Bereich stiftete, die für die europäische Reformation kennzeichnend sind.
Das Hussitentum bereitete also in Böhmen den Boden für die Reformation.
Doch aus einem anderen Blickwinkel verkomplizierte es auch deren Ansatz.
Spezifische inländische Traditionen, die sich während eines ganzen Jahrhunderts herausgebildet hatten und verwurzelt waren, konnten nicht umgehend den
Einflüssen unterliegen, die von den reformatorischen Zentren in Sachsen und
1
Alle genannten Phänomene behandelt auf vergleichende Weise M. Lambert, Medieval Heresy. Popular Movements from the Gregorian Reform to Reformation, Oxford 21992.
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402
Martin Wernisch
anderen Ländern ausgingen. Auch dort, wo diese begeistert empfangen wurden,
und zwar als eine Bereicherung und Vervollkommnung dessen, was man im hussitischen Anlauf erreicht hatte, wurden sie dennoch sozusagen auf einheimische
Jungpflanzen gepfropft. Und die Zurückhaltenderen konnten sie immerhin an
den bestehenden heimatlichen Mustern messen.
Der Ansatz der europäischen Reformation verstärkte in der Tat gewissermaßen
ältere innere Streitigkeiten unter den Utraquisten, die nie restlos ausgeräumt und
wiederholt aufgelebt waren. Sie hingen eng mit der Tatsache zusammen, dass die
verschiedenen Schulen und Parteien des Hussitismus nicht nur ein tragfähiges
Übereinkommen untereinander suchen, sondern – vollständig umgeben von der
römisch-katholischen Welt – mit dieser zumindest einen Kompromiss schließen
mussten. Die Kirche sub utraque fand eine gesetzliche Legitimation ihrer Existenz
in den Kompaktaten, die man seinerzeit mit dem Basler Konzil ausgehandelt hatte
und die von den böhmischen Königen in ihren Wahlkapitulationen angenommen worden waren. Doch auch diese Kompaktaten unterlagen unterschiedlichen
Deutungen. Sofern sie von der römischen Seite überhaupt anerkannt waren, dann
gemeinhin lediglich im Hinblick auf die rituelle Konzession des Laienkelches –
und es ist zuzugestehen, dass der Wortlaut der weitschweifigen und zugleich
inhaltlich abgeschwächten Urkunde, der nur den Wenigsten bekannt war, dieser
Interpretation entgegenkam.2 Dagegen gingen die Utraquisten von Anfang an
vielmehr von der bloßen Realität des Friedensabkommens aus, das sie dann als
Garantie ihrer Autonomie verstanden – wiewohl sie zugleich stolz waren, dass
die Kompaktaten die Kirche sub utraque als Teil der allgemeinen Kirche anerkannten, was eine wirkliche Entspannung mit sich brachte. Einerseits sprachen
die Utraquisten also der römischen Kurie ab, Jurisdiktion über sie auszuüben,
doch andererseits akzeptierten sie in der Regel, dass sie eine römisch garantierte
Priesterweihe brauchten, bis sie einen eigenen Bischof bekommen würden.
Doch die Kurie war aus naheliegenden Gründen klug genug, nie einen utraquistischen Bischof zu approbieren, der befugt wäre, Priester zu weihen; somit
behielt sie ein starkes Mittel, etwa um die Selbstverwaltung der Kirche sub utraque,
ja sogar deren inneres Leben einzuschränken. Derselbe Kompromiss, der dieser
Kirche anfangs zum Überleben half, beschränkte sie mit der Zeit immer mehr. Ein
2
Eine vollständige kritische Ausgabe des Textes fehlte bis vor Kurzem. Vgl. die neueste kritische
Edition in: Die Basler Kompaktaten mit den Hussiten (1436). Untersuchung und Edition, ed.
F. Šmahel (MGH SuT 65), Wiesbaden 2019; zu ihren Voraussetzungen monografisch auch
die ältere tschechische Teilfassung des neuesten Buches von Dems., Basilejská kompaktáta.
Příběh deseti listin [Die Basler Kompaktaten. Eine Geschichte von zehn Urkunden] (Knižnice
ĎaS [Bücherei der ĎaS] 45), Praha 2011.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
403
Teil der Utraquisten – und die Mehrheit der Brüderunität, die sich aus besagten
Gründen noch im 15. Jahrhundert aus der Gemeinschaft der Kirche sub utraque
faktisch ausgegliedert hatte – hieß also die europäische Reformation als Gelegenheit willkommen, um sich aus der einengenden Situation zu befreien; doch
stießen diese Anhänger der neuen reformatorischen Bewegung zugleich auf eine
innerkirchliche Opposition, die eher einen Status quo bevorzugte.
Zahlenmäßig wurden solche Opponenten zwar immer schwächer, nichtsdestoweniger hatten sie einen ausgesprochen starken Unterstützer auf ihrer Seite: Das
Kompaktatengesetz hatte einen Garanten in den römisch-katholischen Königen.
Besonders Ferdinand I. von Habsburg beharrte während seiner langen Regierungszeit (1526–1564) programmatisch und konsequent auf der ‚althergebrachten Ordnung‘. Dieser Druck bremste die Protestantisierung der Kirche wesentlich stärker
als ein Konservativismus des Volkes, geschweige denn der Theologen. Zugleich
trug dies in beträchtlichem Maße zur Erhaltung etlicher der überkommenen äußeren Formen auf Seiten der Evangelischen bei, die durch die Zugeständnisse im
Bereich der Adiaphora für sich einen einigermaßen legalen Status bewahrten. Der
Begriff ist hier umso eher am Platz, als dass sich die Evangelischen in Böhmen die
reformatorische Adiaphora-Lehre tatsächlich aneigneten und diese für inländische
Verhältnisse adaptierten. Wohlgemerkt geschah dies, bevor sie durch den Interimistischen Streit diskreditiert wurde. In der Melanchthon’schen Form brachte
man die Lehre auf ähnliche Weise und in einem analogen Zusammenhang zur
Geltung wie die Strategie der „Invocavit-Predigten“ Martin Luthers (1483–1546),
die ihren Widerhall bereits 1524 in den Lichtmessartikeln fand – dem Beschluss
der ersten utraquistischen Synode, die auf Anregungen der Wittenberger Reformation reagiert hatte.3 Diese beiden Denkmuster in den Invocavit-Predigten sowie
die Adiaphora-Lehre knüpften organisch aneinander an, denn im böhmischen
Kontext ging es eben um eine allmähliche und nicht überstürzte Aufklärung, die
zu einem freieren Gebrauch und schließlich vielfach auch zu einer Abschaffung
des zeremoniellen Überbaus führen sollte. Auch hier arbeitete man demnach mit
einem Konzept der Vorläufigkeit, doch in einer gegensätzlichen Ausrichtung als
beim Augsburger Interim.
Dennoch diente die Adiaphora-Lehre auch in Böhmen manchmal ebenso als
Mittel eines taktischen Rückzuges und es lässt sich natürlich darüber streiten, wie
3
Vgl. die tschechische Originalfassung der sog. Lichtmessartikel in: Kronika pražská Bartoše písaře [Die Prager Chronik des Schreibers Bartoš], ed. J. V. Šimák (FRB 6) Praha 1907,
S. 1–296, hier S. 21–25; eine spätere lateinische Übersetzung in: Des Bartholomäus von Sct.
Aegidius Chronik von Prag im Reformationszeitalter. Chronica de seditione et tumultu Pragensi 1524–1531, ed. C. Höfler, Prag 11859, S. 21–26.
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404
Martin Wernisch
harmlos oder gefährlich dieser war. Auf alle Fälle wäre dabei mit zu bedenken,
dass man das Ausmaß der eventuellen Verluste vor allem daran messen sollte, was
inzwischen in Böhmen selbst erreicht wurde und nicht so sehr an den Standards
jener evangelischen Landeskirchen, die sich als solche in Eintracht mit ihren Magistraten und unter deren Schutz entwickelten. Der spezifische böhmische Kontext
spielte bei der Adaption der Adiaphora-Lehre immer die Hauptrolle, stärker als
ein Interesse an der Verwirklichung einer abstrakten Theorie.
Das spiegelt sich allerdings auch in der Tatsache wider, dass dieses Phänomen
in den Quellen zwar wiederholt auftaucht, doch unter verschiedenen Bezeichnungen und häufig ohne eine direkte Berufung auf die Reformatoren oder eine
verbale Übereinstimmung mit ihnen. Die Zustände im Land, wo zwar nicht die
ganze Universität, aber immerhin eine reguläre theologische Fakultät ausfiel und
sich die Zensuraufsicht gegen jede auffällige reformatorische Ausprägung richtete, trafen auch die Buchproduktion. Letztere war zwar unter diesen Umständen
sogar verhältnismäßig reich und spiegelte die relative Überlegenheit evangelischer
Richtungen wider, nichtsdestoweniger überwog jedoch die allgemein geprägte
christliche erbauliche Literatur die konfessionell eindeutig profilierten dogmatischen Traktate. Über die adiaphoristische Strategie und Taktik belehren uns
mithin viel weniger systematische Abhandlungen als Amtsakten – und zwar größtenteils aufgrund von Klage- und Verteidigungsschriften. Bei solchen Anlässen
konnten böhmische Evangelische sich zwar auf die lutherisch-melanchthonische
Lehre stützen, aber in der Regel war es nicht angebracht, dies allzu explizit zu tun,
weil sie nicht so sehr ihre Übereinstimmung mit dieser Lehre beweisen brauchten,
sondern vor der Forderung bestehen mussten, sich angesichts der ketzerischen
Neuerungen an die althergebrachte Religion zu halten.
Doch allein die Tatsache, dass diese Forderung immer wieder und vorwiegend
gerade auf diese Weise formuliert wurde, öffnete gewisse Verteidigungsmöglichkeiten. Das grundsätzliche Bewusstsein, dass die Evangelischen in der Tat das alte,
ursprüngliche und lediglich aktuell erneuerte Christentum verfechten, war in der
Reformation allgemein verbreitet. Aber der Umstand, dass in Böhmen eben die
Religion sub utraque gleich wie die sub una als eine solche althergebrachte Religion gesetzlich anerkannt wurde, war wiederum ein besonderer Glücksfall, den
die einheimischen Evangelischen nicht ungenutzt ließen. 1562 bekannten sie
während eines Gerichtsverfahrens – worauf später noch einmal zurückzukommen
sein wird – förmlich und feierlich Antiquam et Constantem Confessionem Fidei.
Um bei solchen oder ähnlichen Fällen kein Missverständnis aufkommen zu lassen,
muss nochmals betont werden: Die Evangelischen konnten dies aus Überzeugung
und nicht nur aus Opportunismus tun. Dass die Beibehaltung der althussitischen
Gebräuche teilweise der Notwendigkeit entsprang, die durch Regierungsdruck
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
405
vorgegeben wurde, lässt sich allein schon durch einen Vergleich der böhmischen
Verhältnisse mit den mährischen nachweisen, denn der gegenreformatorische
Druck wirkte sich in Mähren aus verschiedenen Gründen schwächer aus, und folglich ließen sich dortige Evangelische umso schneller und einfacher als Protestanten
erkennen. Es ist aber ebenso gut belegt, dass ihre böhmischen Glaubensgenossen
im Großen und Ganzen die feste Meinung artikulierten, wonach sie tatsächlich
an das hussitische Programm anknüpften. In dieser Ansicht wurden sie übrigens
durch Luther unterstützt, denn er selbst sah den Zusammenhang zwischen seiner
und der Sache Hussens (ca. 1371–1415) und rief in seinen Schriften die Böhmen
zum Befolgen beider Vorbilder auf.4 Natürlich war dabei das Ausgangsprogramm
gemeint, das einer weiteren Erfüllung und einer breiteren Entfaltung bedurfte,
doch der Rückgriff auf das Arsenal älterer heimatlicher Autoritäten, der sich daraus ergab, war unübersehbar.
Diese Quellen vermengten sich dann mit den Anregungen der europäischen
Reformation des 16. Jahrhunderts zu einer bemerkenswerten Mischung. Doch
kam beiden Komponenten dasselbe Gewicht zu? Oder wurde eine von ihnen faktisch zum entscheidenden Substrat und die andere vielmehr zu einem Zierrat oder
Beiwerk? Und welche der beiden konnte die Oberhand gewinnen? Oder verlief
es bei unterschiedlichen Gruppen gegensätzlich? Wie änderte sich die Lage im
Laufe der Zeit? Antworten auf diese Fragen sind gewiss nicht einfach, was sich
auch im aktuellen disparaten Meinungsbild widerspiegelt. Hinsichtlich der Identität der Spätutraquisten gehen die Ansichten auf verwirrende Weise auseinander,
nicht zuletzt im Hinblick auf die Terminologie. Dabei verwende ich die Bezeichnung Spätutraquisten, weil sie den Vorzug hat, dass sie eine ungefähre zeitliche
Abgrenzung vornimmt, aber auch auf verschiedene kirchliche Flügel anwendbar
ist. Nicht unbegründet ist auch die gängigere Einteilung in Alt- und Neuutraquisten, breit kommuniziert durch Ferdinand Hrejsa (1867–1953) und Kamil
Krofta (1876–1945). Dabei legte Hrejsa Nachdruck auf das einheimische
Substrat, wiewohl in einem Bündnis mit der europäischen Reformation,5 worin
er seinen entschiedenen Opponenten in František Hrubý (1887–1943) fand,
der die Akzente umgekehrt setzte.6 Aber im Umgang mit diesen Terminologien
4
5
6
Zu einem komprimierten Gesamtbild vom Verhältnis zwischen dem Reformator und den
Böhmen vgl. M. Wernisch, Luther and Medieval Reform Movements, Particularly the
Hussites, in: R. Kolb / I. Dingel / Ľ. Batka (Hgg.), The Oxford Handbook of Martin
Luther’s Theology, Oxford/New York 2014, S. 62–66.
Grundlegend dazu F. Hrejsa, Česká konfesse, její vznik, podstata a dějiny [Die Confessio
Bohemica, ihre Entstehung, ihr Wesen und ihre Geschichte] (Rozpravy [Abhandlungen]
ČAVU I/46), Praha 1912.
F. Hrubý, Luterství a kalvinismus na Moravě před Bílou Horou [Luthertum und Calvinismus
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406
Martin Wernisch
sollten wir stets im Blick behalten, dass die beiden Lager eben für eine lange Zeit
koexistierten und die Übergänge zwischen ihnen häufig so fließend waren, dass es
kaum möglich ist, sie lediglich in zwei Blöcke einzuteilen, ohne eine von beiden
Seiten durchdrungene und stark besetzte Mitte mitzubedenken.
Die Komplexität eines solchen Befundes kann zwar verwirrend sein, aber Bestrebungen, sie zu vereinfachen, wären irreführend. Ein Beispiel dafür bietet Ilja
Burian (1919–1990), indem er die beiden Flügel als bereits im 15. Jahrhundert
mehr oder weniger klar profiliert schilderte, wobei er die Evangelischen des 16. Jahrhunderts vereinfacht für direkte Nachfolger der Taboriten hielt.7 Noch deutlicher
zeigt sich dies bei Zdeněk V. David (* 1931), der die Existenz zweier Flügel innerhalb der Kirche sub utraque überhaupt bestreitet und die ‚Radikalen‘ wie einen
Fremdkörper daraus ausschließt, um dadurch jegliche bedeutsame und nicht bloß
äußerliche Verbindungen zwischem dem ‚eigentlichen‘ Utraquismus und dem
Protestantismus zu leugnen.8 Damit übt der Autor einen suggestiven Einfluss auf
jene aus, die kaum über genauere Quellenkenntnisse verfügen, wobei diese Ideen
über weiten Strecken methodische Mängel ausweisen. Vor allem vermisst man eine
theologische Kompetenz, die bei Verarbeitung dieses Stoffes erforderlich wäre.
Eine Alternative dazu bietet Winfried Eberhard (* 1941),9 der von Links(und damit implizit auch von Rechts-)Utraquisten gesprochen hat. Das deutet
eine bestimmte Kräfteverteilung an, deren strukturelle Elemente bei aller Entwicklungsdynamik eine beträchtliche Stabilität aufweisen und die es ermöglichen,
die Kontinuität wahrzunehmen. Zugleich verweist dies auf eine Relativität der
Abgrenzung von Gruppierungen und geht nicht von unüberschreitbaren Schranken zwischen ihnen aus. Überdies erlaubt dieses Herangehen, Meinungsänderungen im Laufe der Zeit zuzulassen, vornehmlich zum beweglicheren linken Flügel.
Für die Jahre bis 1547, die Winfried Eberhard eingehend behandelt hat, zeigt
er auf, wie die ursprünglichen hussitischen und taboritisch-brüderischen Inhalte
zuerst von einer eher allgemeinen Sympathie für die lutherische Reformation
begleitet waren, die dann allerdings neue und allmählich auch dominierende
Komponenten lieferte.
7
8
9
in Mähren vor der Schlacht am Weißen Berg], in: ČČH 40 (1934), S. 265–309; 41 (1935),
S. 1–40 und 237–268.
Vgl. I. Burian, Philipp Melanchthon, die Confessio Augustana und die tschechischen Länder, in: ARG 73 (1982), S. 255–284.
Vgl. Z. V. David, Finding the Middle Way. The Utraquists’ Liberal Challenge to Rome and
Luther, Washington/Baltimore/London 2003.
Vgl. W. Eberhard, Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530 (VCC 38), München/Wien 1981; Ders., Monarchie und Widerstand. Zur ständischen Oppositionsbildung
im Herrschaftssystem Ferdinands I. in Böhmen (VCC 54), München 1985.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
407
Eigene Beiträge zu einer Erklärung dieser Sachverhalte wurden bereits an verschiedenen Stellen publiziert.10 Die vorliegende Studie soll sich erneut einem
entscheidenden Moment zuwenden:11 Für ein adäquates Verständnis der böhmischen Reformation ist es unerlässlich, präzise Ergebnisse sowohl zur europäischen Reformationsgeschichte als auch zur hussitischen Vorgeschichte (und der
böhmischen Landes- und Kulturgeschichte) herauszustellen. Die Tendenz, die
sich in der bisherigen Forschung allzu oft durchsetzt, sich nur auf einen der beiden genannten großen Sinnzusammenhänge zu konzentrieren und sich bei dem
anderen auf eher allgemeinere Vorstellungen zu beschränken, führt mitunter zu
schweren Verzerrungen des Geschichtsbildes.
2. Das Fallbeispiel des Viktorin Anxiginus
Zur Illustration sei hier die Geschichte eines utraquistischen Priesters gewählt,
die sich in der spätreformatorischen Zeit ereignet hat, in einer Periode der Verunsicherung und der Orientierungskämpfe nach dem Tod Martin Luthers. Die
Informationen zu dieser Lebensgeschichte sind spärlich, wie es übrigens sogar
bei den literarisch tätigen Gestalten des Zeitalters zu beobachten ist. Im Fall
des Viktorin Anxiginus fehlen selbst die grundlegenden biografischen Daten
zum Geburts- und Todesjahr. Alles, was wir über das Leben von Anxiginus wissen, umspannt einige wenige Jahre, die einen kurzen Abschnitt zwischen seinen
zwei erhaltenen Druckwerken markieren. Gleichwohl sind diese Angaben nicht
so dürftig, um bloße disiecta membra zu bleiben. Mindestens für die Jahre, die
Anxiginus aus dem Dunkel der Geschichte geholt haben, ergibt sich immerhin
ein recht abgerundetes Bild, das weder uninteressant noch alltäglich wirkt. Um
einen echten Aussagewert zu gewinnen, muss man die direkten Zeugnisse in einen
breiteren Kontext einfügen.
10 Auf deutsch vgl. zuletzt M. Wernisch, Zur Orientierung in der böhmischen Reformationsgeschichte. Einleitende Problemhinweise, in: J. B. Lášek / P. Kónya (Hgg.), Reformation
in Mitteleuropa. Beiträge zur Reformationsgeschichte in den Ländern der Donaumonarchie,
Prešov 2017, S. 9–17; eine anschließende Studie von Dems., Konfessionelle Verhältnisse in
Böhmen und Mähren um 1580 im Spiegel zeitgenössischer Berichte, wird zum Druck für den
Tagungsband zum Jahrestag des Dreißigjährigen Krieges in Preschau/Prešov vorbereitet.
11 Auf eine andere Weise habe ich diese Fragen bereits früher verfolgt. Vgl. Ders., „Ein glimpflich sich benehmender Nachbar und Untertan“. Johannes Mathesius als deutscher evangelisch-lutherischer Pfarrer und Theologe in Böhmen, in: A. Kohnle / I. Dingel (Hgg.), Johannes Mathesius (1504–1565). Rezeption und Verbreitung der Wittenberger Reformation
durch Predigt und Exegese (LStRLO 30), Leipzig 2017, S. 105–143.
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408
Martin Wernisch
2.1 Die Vorgeschichte
2.1.1 Die 1530er Jahre
Viktorin Anxigin(us) unterzeichnete seine Werke auch mit einem dritten Namen:
Skutečský, eventuell Schuthius – ein Herkunftsname, der auf die Untertanenstadt
Skutsch/Skuteč in Ostböhmen, unweit der mährischen Grenze, hinweist. Aus
kirchengeschichtlicher Sicht ist dieser Ort als Wirkungsstätte des Pfarrers Václav
Řezník/Wenzel Fleischer von Bedeutung. Sofern Anxiginus hier aufwuchs, hätte
er in den 1530er Jahren eine Katechese bei Řezník durchlaufen können. Doch
dieser Zusammenhang wäre auch dann erwähnenswert, falls Anxiginus kein
direkter Schüler Řezníks gewesen war; die genaueren Verbindungen zwischen
den beiden werden wir nach und nach kennenlernen.
Seinerzeit gehörte Řezník zu den führenden Persönlichkeiten der evangelischen Bewegung, die in Böhmen dank der Reformation hervortraten. Dabei ist
es nicht ohne Interesse, dass er allem Anschein nach nicht zu denjenigen gehörte,
die aufgrund einer persönlichen Nähe zu den Reformatoren auf ausländischen
Schulen ausgebildet worden waren. Er stellte übrigens auch keinen ausgeprägt
akademischen Typ dar, sondern war vielmehr einer jener Vertreter der kirchlichen Praxis, die die neuen Anregungen zwar begierig aufsogen, aber dies durch
eigene Lektüre und fremde Vermittlung. 1535 gestand er selbst vor dem Prager
Konsistorium sub utraque, er habe aus ‚Lesen von Büchern und Gesprächen mit
Leuten verschiedener Sekten und mit den Pikarden‘ geschöpft, was ihn zugleich
auch verwirrt hätte.12
Etwas konkreter informiert uns in dieser Hinsicht eine Polemik, die gerade
die sog. Pikarden, genauer genommen die Böhmischen Brüder, gegen Řezník
führten. Damit gerät schlagartig ein weiterer Faktor der böhmischen Reformationsgeschichte ins Blickfeld: Die beiderseitige Beeinflussung durch die europäische Reformation eröffnete eine Gelegenheit, die Utraquisten und die Brüder
näherzubringen; doch es gelang recht lange Zeit nicht, das Schisma zu beseitigen,
und im Bestreben um eine weitere Erneuerung der Kirche konnten die beiden
Gruppierungen zu erbitterten Rivalen werden. Für die wiederholt aufflammende
Kontroverse zwischen den Brüdern und Řezník ist es bezeichnend, dass sich beide
Seiten auf dieselben Autoritäten beriefen, allen voran auf Martin Luther und
12 Vgl. Jednání a dopisy konsistoře katolické i utrakvistické [Verhandlungen und Briefe des katholischen sowie utraquistischen Konsistoriums], 2 Bde., Praha 1869/69, ed. K. Borový (MHB),
Bd. 1, Akta konsistoře utrakvistické [Akten des utraquistischen Konsistoriums], Praha 1868,
S. 107 f., Nr. 167.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
409
Philipp Melanchthon (1497–1560). Dies tat jedoch jeder von ihnen mit einem
anderen Schwerpunkt und deshalb mit Bezug auf jeweils unterschiedliche Aussagen dieser Autoritäten. Namentlich in ekklesiologischen Fragen gingen die Meinungen so weit auseinander, dass die Beteiligten sie gegenseitig als unverträglich
und unannehmbar wahrnahmen.
Řezník störte sich an der eigenwilligen Absonderung von „Rotten und Sekten“;13 er bestand auf einer universalen (Volks-)Kirche, um welche im Inneren
gerungen werden sollte. Die Betonung einer ‚vorbildlichen‘ organisatorischen
Ordnung und eines disziplinarischen Systems, die für die Unität bezeichnend
war, kam ihm auch unter einem ganz wesentlichen Gesichtspunkt bedenklich vor:
Weise die Brüderunität – so Řezník – nicht eine gefährliche Neigung auf, sich
selbst ‚durch Ketten menschlicher Erfindungen‘ binden zu lassen, wobei sie das
Heil dort sucht, ‚wo es Christus nicht bestimmt und die [Heilige] Schrift nicht
verkündigt hat?‘.14 Gegen eine solche „tyrannische Religion“15 verteidigte Řezník folglich eine christliche Freiheit, die es vermag, ohne Ängstlichkeit um der
Liebe und der Einheit willen mancherlei Zeremonien zu ertragen und sie bona
fide evangelica zu bewahren.
Die Brüder hingegen sahen eine Befreiung in der Möglichkeit, fragwürdige
Zeremonien als fremde Bürde abzulegen und lieber das „süße Joch der Zucht“ auf
sich zu nehmen. Sie erinnerten daran, dass es Luther ebenso gelehrt hatte, zwischen
der vermeintlich falschen und der wahren Kirche, die voneinander getrennt werden müsse, zu unterscheiden. Und mit besonderem Nachdruck riefen sie in Erinnerung, dass der Reformator die Böhmen eindringlich vor der päpstlichen Weihe
13 Vgl. S. Martinius z Dražova, Obrana M. Samuela Martinyusa z Dražova. Proti Ohlášení
starších kněží bratrských, na ten čas v Lešně polském se zdržujících […] [Die Verteidigung
des M. Samuel Martinius von Dražov. Gegen die Meldung der Priestersenioren der Brüder,
die sich im polnischen Lissa aufhalten …], Pirna: Jan Ctibor Kbelský, dědicové [Erben] 1636
(K05380), S. 151.
14 Vgl. V. Řezník, Listové a psání kněze Václava [Řezníka, Anm. M. W.], pana děkana nyní na
Horách Kutnách, a Kašpara Soukeníka, měštěnína litomyšlského, kterážto tehdy [1532] se
mezi nimi zběhla, když byl farářem v Litomyšli [Briefe und Schreiben des Priesters Václav
(Řezník / Wenzel Fleischer), des jetzigen Kuttenberger Dekans, und des Kaspar Soukeník
(Tuchmacher), des Leitomischler Bürgers, die zwischen ihnen damals (1532) gewechselt wurden, als er Pfarrer in Leitomischl war], Olomouc [?]: Jan Olivetský z Olivetu starší [?] [ Jan/
Johann Olivetský von Olivet d. Ä.] 1542 (K15187), fol. 1r.
15 J. Černý, Paměti jednoty bratrské z let 1530–1547. Poznamenání některých skutků Božích
obzvláštních etc. [Denkwürdigkeiten der Brüderunität von 1530 bis 1547. Aufzeichnung einiger merkwürdiger Werke Gottes etc.], in: NK Praha, Sign. XVII C 3 (Handschrift), fol. 196r:
tyranské náboženství.
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Martin Wernisch
gewarnt hatte, nämlich in seiner Schrift „De instituendis ministris ecclesiae“,16
wo er ihnen bereits 1523 empfohlen hatte, einen Bischof oder Superintendenten ohne römische Vormundschaft zu wählen; denn Luther hatte ja genauso wie
schon Hus im Papst den Antichristen erkannt.17
Řezník wandte wiederum ein, dass den Böhmen in dieser Hinsicht aufgrund
des Drucks der Umstände bisher nicht das Gleiche wie den Sachsen gelungen
war; nichtsdestoweniger steht die Ordination in der apostolischen Sukzession
an sich in keinem Widerspruch zum Evangelium und gehört mithin nicht zu
den wesentlichen Sachen, derentwegen eine Teilung der Kirche nötig gewesen
wäre. Ihre Erneuerer hatten die Priesterweihe angenommen – und sie erfüllten
sie mit bestem Gewissen. Die rechtmäßige Weihe ist also eine Sache, die andere
ist die Tatsache, wie der Ordinand mit ihr umging: ob angemessen als Prediger
des Evangeliums oder wie ein Antichrist. Řezník ließ sich dabei auch nicht durch
die Erwiderung überzeugen, die Römer beauftragten ja keine Prediger des Evangeliums, sondern nur Opferpriester und falls er selbst sein Amt anders auffasste,
erfülle er den ergriffenen Beruf nicht, sondern verletze ihn.18 Schließlich konnte
er aus eigener Erfahrung die Vorstellungen der Brüder zurückweisen, „dass die
utraquistischen Priester bei ihrer Weihe dem Papst Gehorsam geloben und das
Abendmahl sub una empfangen müßten“.19
Mit dieser Einstellung stand Řezník nicht allein. Mit seinen Entgegnungen,
die er Anfang der 1540er Jahre schrieb, durfte er bereits als Sprecher eines ganzen
Flügels des Utraquismus gelten. Zu einem solchen Sprecher wurde er zwar eher
informell, doch auch wiederum nicht ganz inoffiziell, als es 1536 nach einiger
16 Vgl. M. Luther, De instituendis ministris ecclesiae. 1523, in: WA, Bd. 12, Weimar 1891,
S. 160–196, hier S. 170–178, namentlich im Kapitel Dehortatio a suscipiendis ordinibus papi
sticis; vgl. auch Ders., De instituendis ministris ecclesiae, ad clarissimum senatum Pragensem
Bohemiae/Wie man Diener der Kirchen einsetzen soll, an den hochangesehenen städtischen
Rat zu Prag in Böhmen (1523), in: Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd.
3: Die Kirchen und ihre Ämter, edd. G. Wartenberg / M. Beyer, Leipzig 2009, S. 575–647,
hier S. 578–599.
17 Vgl. V. Řezník, Listové (wie Anm. 14), fol. 13r f.; und A. Šturm z Hranic, Dialog, to jest
Dvou formanů rozmlouvání, Peterky a Valoucha, přepotřebné: o učení a víře kněze Václava,
děkana na Horách Gutnách […] [Dialog, das ist die sehr notwendige Unterhaltung der beiden Fuhrleute Peterka und Valouch über die Lehre und den Glauben des Priesters Wenzel,
des Kuttenberger Dekans …], Prostějov: Jan/Johann Olivetský z Olivetu starší [ Jan Olivetský
von Olivet d. Ä.] 1543 (K16003), fol. F1v.
18 Vgl. V. Řezník, Listové (wie Anm. 14), fol. 14v f.
19 W. Eberhard, Monarchie (wie Anm. 9), S. 255.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
411
Mühe gelang, ihn ins Amt des Erzdekans an der ‚hohen Kirche‘ St. Jakob in Kuttenberg/Kutná Hora einzusetzen.20
Diese königliche Bergstadt war sowohl politisch als auch kirchlich von großer
Bedeutung. Seit Anfang des 16. Jahrhunderts verfügte sie sogar über ein eigenes
Konsistorium. Der Erzdekan bzw. das Kollegium der örtlichen Pfarrer agierte
demnach gewissermaßen als eine eigenständige Macht – nicht ganz souverän, doch
immerhin förmlich anerkannt. Es versteht sich, dass die Praxis dieser organisatorischen Struktur für die Festigung der Reformation in der Stadt von erheblichem
Belang war. Doch dies allein hätte nicht ausgereicht. Um Řezník einzusetzen und
ihn in dieser Stelle zu halten, trug die gemeinsame und beharrliche Unterstützung
seitens der Stadtgemeinde und ihrer Selbstverwaltungsorgane wohl entscheidend
mit bei – freilich zugleich eingedenk der Tatsache, dass die königliche Kammer
von dieser Gemeinde wirtschaftlich überaus abhängig war.21 Das heißt allerdings
nicht, dass der König nicht versucht hätte, Řezník ähnlich wie andere evangelische Exponenten auf gewisse Weise unschädlich zu machen. Der Fortgang der
Reformation beunruhigte Ferdinand I. generell sehr und daher bemühte er sich,
cura religionis auszuüben, sowohl persönlich als auch durch seine Beamten – mit
taktischen oder sogar strategischen Überlegungen, wobei er sich nicht vor Aktionen scheute, die in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht in einem Widerspruch mit Landesgesetzen und Rechtsgewohnheiten standen, zumal er seine
diesbezüglichen Möglichkeiten für viel zu gering erachtete und daher nach ihrer
Erweiterung strebte.
Sobald also die Regierung feststellte, dass die Stadt Kuttenberg unter geistlicher
Führung Řezníks zum Brennpunkt der Reformation wurde, die immer breiter in
die Umgebung ausstrahlte, begann eine ganze Serie wiederholter Schikanen, unter
Einschluss von Versuchen, den Erzdekan vor Gericht zu stellen, und von Predigtverboten. Řezník fand jedoch nicht nur bei den Kuttenberger Bürgern Rückhalt,
20 Vgl. Náboženské poměry při kutnohorské konsistoři r. 1464–1547 (Z kutnohorského archivu)
[Die religiösen Verhältnisse im Kuttenberger Konsistorium von 1464 bis 1547 (Aus dem
Kuttenberger Archiv)], ed. F. Trnka (VKČSN TFHJ), 4 Bde., Praha 1931–1934, Bd. 2, Praha
1932, hier bes. S. 38–122; weitere Archivbelege vermittelt auch W. Eberhard, Monarchie
(wie Anm. 9), S. 57; diese beiden Quellen sind ebenso für die unten folgenden Peripetien der
Kontroversen um Řezník ergiebig, keine von ihnen reicht jedoch bis in die letzten Jahren seiner Tätigkeit in Kuttenberg.
21 Es ist nicht rein zufällig, dass die herausragende Gestalt des deutschböhmischen Protestantismus, Johannes Mathesius (1504–1565), die Regierung Ferdinands I. gleichfalls in einer
Bergstadt ersten Ranges (St. Joachimsthal/Jáchymov) überstand. Er war sich dessen übrigens
auch bewusst. Vgl. M. Wernisch, Johannes Mathesius (wie Anm. 11), S. 135 (mit einem
Quellenbeleg).
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Martin Wernisch
sondern ebenso bei den Landständen – und sogar beim Prager Konsistorium,
obwohl dieses außerstande war, dem König auf so direkte und energische Weise
entgegenzutreten, wie es den utraquistischen Ständen möglich war. Die Stände
standen damals unter der Führung eines dezidierten Förderers der evangelischen
Bewegung, den mährischen Landeshauptmann Johann von Pernstein/Jan z Pernštejna (1487–1547), der unter den „Gravamina“ von 1538 auch eine Beschwerde
gegen die „Einmischung in geistliche Lehrfragen“ einbrachte.22
Das geschilderte Zusammenwirken ist nicht nur im konkreten Fall Řezníks,
sondern ebenso in einer allgemeineren Dimension von Belang. Dahinter stand,
dass die evangelische Strömung, die nach ihrem ersten Aufschwung während der
1520er Jahre jäh unterdrückt und in den ‚Untergrund‘ getrieben oder in die Provinz
versprengt wurde, in der zweiten Hälfte der 1530er Jahre wieder spürbar erstarkte.
Nicht zuletzt setzte sie sich fast unbemerkt erneut in der Hauptstadt durch, wo
sie vordem im offenen Konflikt beträchtliche Verluste erlitten hatte. Unter solchen Umständen war sie nicht nur in der Lage, sich defensiv zusammenzuschließen, sondern sie bemühte sich nunmehr, auch auf Landesebene die Initiative zu
ergreifen. Das Pernstein’sche Memorandum deutet die Bestrebung an, die Linie
zu festigen. Es berührt nämlich auch das Haupthindernis, das man überwinden
musste: den Unwillen des Herrschers, unter dessen Kuratel auch die kirchliche
Organisation der Utraquisten gestellt wurde, denen er eine geistliche Selbstbestimmung abstritt, indem er versuchte, sie mit allen Mitteln an Rom zu binden. Dabei
erreichte die Partei der sub utraque eine selbstständige Wahl des Administrators
des Konsistoriums als Verwaltungsoberhaupt dieser Kirche, und zwar in eigenen
Zusammenkünften, ohne jegliche Mitwirkung der Kurie. Von hier aus fehlte nur
noch ein letzter Schritt, der allerdings ausblieb: Gemeint ist die Wahl des Bischofs,
der die utraquistischen Geistlichen ordinieren durfte. Luther hatte bekanntlich
bereits 1523 empfohlen, dies umzusetzen, und es ist offenbar, dass die meisten
Utraquisten in der Tat nur nach einer passenden Gelegenheit Ausschau hielten.
Eine theologische Vorarbeit leistete namentlich eine 1539 abgehaltene Synode
sub utraque.23 Dort beschlossene Richtlinien „De ordine bono“24 tragen begreiflicherweise Züge eines allgemein akzeptablen Kompromisses, doch bei näherem
Hinsehen ist zu erkennen, dass es vor allem die Evangelischen waren, welche die
22 W. Eberhard, Monarchie (wie Anm. 9), S. 286; zur Datierung und der Quellenlage vgl.
ebd., S. 284–289.
23 Vgl. SČ, ed. Královský český archiv zemský [Königlich-böhmisches Landesarchiv], Praha 1877,
Bd. 1: 1526–1545, S. 463–469, Nr. 274 f., hier bes. S. 464, Nr. 274.
24 Lateinische Fassung in: Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 130–
135, Nr. 227.
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Richtung vorgaben. Obwohl der Text nämlich auf den ersten Blick den Status
quo bestätigt, scheint darin doch vielmehr ein Ausgangspunkt auf, der Umwandlungen im reformatorischen Sinne notwendig machte, so wie es seinerzeit bereits
die Lichtmessartikel gezeigt hatten. Die Priester wurden darin verpflichtet, den
Unterschied ‚zwischen den wesentlichen und zufälligen Sachen in der christlichen Religion‘25 zu erkennen und zu lehren, wobei es der von Christus gegebene
Glaube sowie die Lehre nach dem Gotteswort und den Beschlüssen der alten
Kirche sind, die für das Wesentliche erklärt wurden. Die herkömmlichen Zeremonien, die damals noch immer als gültig bestätigt wurden (insoweit sie „nicht
gegen das Gesetz und gegen den christlichen Glauben sind“),26 fielen demnach
grundsätzlich unter die Kategorie der Dinge, ‚die zusätzlich und behelfsmäßig
sind und ohne Sünde gehalten oder unterlassen werden können‘27 (d. h. der Adiaphora).28 Damit wurde fortan immerhin eine gewisse Freiheit postuliert, pro con
ditione locorum, temporum, personarum.29 Überdies beschloss man aber ausdrücklich, dass in Zukunft über diese sekundären Angelegenheiten erneut entschieden
werde, und zwar so, um sie noch besser mit der Heiligen Schrift abzugleichen.30
2.1.2 Die 1540er Jahre
1541 erstarkte die Stellung der Reformationsanhänger im Prager Konsistorium
weiter. Als Administrator wurde Jan Mystopol († 1568) gewählt, als dessen rechte
Hand Wenzel/Václav Mitmánek (ca. 1510–vor 1564) fungierte, der genauso wie
25 SČ, Bd. 1 (wie Anm. 23), S. 465, Nr. 275: mezi věcmi podstatnými a případnými v náboženství
křesťanském; Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 131, Nr. 227:
essentialium et accidentalium rerum.
26 SČ, Bd. 1 (wie Anm. 23), S. 464, Nr. 274: nejsou proti zákonu a víře křesťanské; vgl. auch das
Priestergelübde in: Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 136, Nr.
228: In sacramentis vero aliis ac ceremoniis consuetis, at verbo Dei non repugnantibus ritum
nostrae religionis observet.
27 SČ, Bd. 1 (wie Anm. 23), S. 465, Nr. 275: za přidané a zadní a za ty, kteréž se držeti neb zan
echati bez hříchu mohou.
28 Vgl. Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 131, Nr. 227: Accidentalia
vero aut intermedia pro additis et posterioribus rebus habeat. In diesem Zusammenhang macht
W. Eberhard, Monarchie (wie Anm. 9), S. 307 f., auf eine auffällige Nähe aufmerksam, in
der die genutzten Formulierungen zu den Melanchthons „Loci communes secundae aetatis“
(1535) stehen.
29 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 133, Nr. 227.
30 Vgl. SČ, Bd. 1 (wie Anm. 23), S. 465, Nr. 275; und Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 130, Nr. 227: ad futuram synodum ac aliam et quidem meliorem se
cundum scripturam sacram institutionem.
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Martin Wernisch
sein Vorgesetzter ein Prager Pfarrer, aber zugleich ein ehemaliges Mitglied der Brüderunität war, der es nach seinen Studien in Wittenberg vorgezogen hatte, dem
Evangelium zum Durchbruch in der Landeskirche zu verhelfen. Beide spielten
1543 zusammen mit Johann von Pernstein die Hauptrolle bei einem Versuch, in
allen wichtigen Punkten voranzukommen.
Im Frühling dieses Jahres fand eine neue Synode statt, wo eine Mehrheit der
Anwesenden die neue Betonung des Gotteswortes sowie die Aufhebung oder
‚Verminderung‘31 einer Reihe von Zeremonien vereinbarte – für die nachfolgende
Geschichte ist von Belang, dass unter anderem die Sakramentsausstellung abgeschafft werden sollte, sofern sie noch mancherorts praktiziert wurde.32 Und mehr
noch: Es wurden deutliche Konturen einer vereinigten evangelischen Landeskirche
entworfen. Konkret lud man die Brüderunität zu Gesprächen über Beseitigung
der Spaltung ein und zugleich fand jetzt das Vorhaben, einen eigenen Bischof zu
wählen, wie es ‚die Pikarden bereits vorher und nach ihnen die Lutheraner getan
haben‘, eine offene Zustimmung.33
Die Bekundung des Mehrheitswillens reichte jedoch nicht aus, vielmehr war
es die autokratische Gewalt, die entscheiden sollte. Der König forderte unnachgiebig, ‚alle althergebrachten Zeremonien zu halten und zu bewahren, die früher gehalten wurden‘ (explizit einschließlich der Sakramentsausstellung).34 Die
Bestrebungen für eine institutionelle Reformation der Kirche sub utraque waren
in eine Sackgasse geraten und die Evangelischen mussten schließlich individuell
entscheiden, welche der möglichen Taktiken einer ‚Überwinterung‘ mit Blick auf
bessere Zeiten sie wählen würden.
Johann von Pernstein zog sich weitgehend in die Abgeschiedenheit zurück.
Mystopol bemühte sich gemeinsam mit Mitmánek noch eine Weile, die Stimmung allgemeiner Entschlossenheit und Mobilisierung wachzuhalten und griff
dazu zum traditionellen Mittel aufrüttelnder Predigten. Aber der König reagierte
abermals schnell und hart. Dem Administrator erlegte er für einige Zeit ein Predigtverbot auf. Noch schlimmer erging es Mitmánek, der auf Dauer aus allen
31 J. Černý, Poznamenání (wie Anm. 15), fol. 222v: umenšiti.
32 Vgl. ebd., fol. 226r. Schon in den Lichtmessartikeln von 1524 hatte man ausdrücklich die
Freiheit deklariert, von der Ausstellung abzulassen. Nur dort, wo das Volk auf ihr bestand,
sollte es „durch Christi Lektion allmählich und in aller Liebe“ (čtením Kristovým povlovně a
v lásce) davon abgeführt werden; Kronika pražská Bartoše písaře, ed. J. V. Šimák (wie Anm.
3), S. 24; vgl. auch Des Bartholomäus von Sct. Aegidius Chronik, ed. C. Höfler (wie Anm.
3), S. 25: donec per lectionem piam successive in omni charitate abinde avertantur.
33 J. Černý, Poznamenání (wie Anm. 15), fol. 226r: sou tak učinili již prvé pikharté a po nich
luteryáni.
34 Ebd., fol. 235v: aby všecky starodávní ceremonye držali a zachovávali, kteréž prvé držali.
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habsburgischen Ländern ausgewiesen wurde – als Strafe dafür, dass er es gewagt
hatte, dem König entgegenzuhalten: ‚Dazu belieben sie nicht von Gott berufen zu werden, die geistlichen Sachen zu verwalten.‘35 Das Schicksal Mitmáneks
schüchterte den weniger selbstständigen Mystopol endgültig ein und sein Verhalten veränderte sich auffällig. Manche zeitgenössische Beobachter urteilten
sogar, er hätte seine vorige Überzeugung schlichtweg aufgegeben. Das bestätigen die Quellen nicht, aber es ist offensichtlich, dass er ein Opportunist wurde,
der künftig möglichst jeden offenen Widerstand und direkte Zusammenstöße
mied. In der Kirche wollte er nunmehr eher die Strömung der Mitte vertreten
und eine integrative Stellung einnehmen. Auch über die entschiedeneren Evangelischen hielt er immer noch eine schützende Hand – falls sie imstande waren,
sich wenigstens minimal anzupassen –, eine Anforderung, der selbst Wenzel
Řezník gerecht wurde. Inzwischen hatte dieser mit gefährlichen Konflikten wiederholte Erfahrungen gemacht und sich die Kunst angeeignet, nur so weit zu
gehen, wie man es noch hatte dulden können. Unmittelbar nach der unglücklichen Synode war er nicht so kämpferisch wie die Prager Konsistorialräte. Das
beweist ein Zwischenfall unter der Kuttenberger Geistlichkeit, der sich auf die
Sakramentsausstellung bezog. Damals hatte der Pfarrer an der Bergmannskirche
St. Barbara, Matthäus/Matouš Hradecký, einigen Unmut auf sich gezogen, da
er die Sakramente nicht ausstellen wollte. Vorwürfe und Ermahnungen kamen
von allen Seiten. Für das Verständnis der Situation muss man feststellen, dass
die örtlichen Kollegen und der Stadtrat Hradecký weniger mangelnde Ehrfurcht
vor dem Sakrament vorhielten als vielmehr Undiszipliniertheit und riskantes
Benehmen zu falscher Zeit. Die Linie, die er überschritten hatte, wurde klar
beschrieben: ‚Herr Dekan möchte dies, in Ansehung der Obrigkeit, vorläufig
halten“ und nicht „so eilig abschaffen‘.36
Aus den Entgegnungen Hradeckýs ergibt sich übrigens, dass er ‚die Ausstellung des Abendmahls des Herrn mit dem Kelch‘ eher stillschweigend gemieden
hatte, als sich gegen sie ostentativ aufzulehnen.37 Schließlich war er seinerzeit von
Königgrätz/Hradec Králové (von daher der Beiname Hradecký) nach Kuttenberg
übergewechselt, und zwar auf Einladung Řezníks, um nicht unter papistischen
Irrgläubigen verweilen zu müssen.38 In der neuen Wirkungsstätte hatte er dann
umgehend gebeten, sich von Prozessionen fernhalten zu dürfen, nichtsdestoweniger
35 Ebd., fol. 251r: k tomu od Boha povoláni neráčíte býti, abyšte duchovní věci zpravovali.
36 Vgl. Náboženské poměry, ed. F. Trnka (wie Anm. 20), Bd. 3, Praha 1933, S. 84, Nr. 433: pan
děkan, šetře vrchnosti, do času chtěl by toho podržeti / tak kvapně složiti.
37 Ebd., S. 85, Nr. 433: vystavení s kalichem večeře Páně.
38 Vgl. ebd., S. 80 f., Nr. 428.
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‚die Ausstellung tut er und hebt sie nicht auf ‘.39 Dies zu vergessen sei allerdings
umso leichter, da sowieso ‚mitunter keiner komme‘.40 Etwas später gestand er
zwar, er wolle sich damit wahrlich nicht verhindern und am liebsten möchte er
es seinem Kaplan überlassen.41 Aber man kann wohl voraussetzen, dass tatsächlich bereits damals die Unlust der Pfarrer mit einem nur geringen Interesse des
Kirchenvolks korrespondierte. Die Festlegung auf die Predigt des Evangeliums
war also in Kuttenberg im Prinzip beschlossene Sache. Doch die landesweite adiaphoristische Strategie erforderte noch einen längeren Atem.
Einen dramatischen Wendepunkt brachte vor allem der Schmalkaldische
Krieg (1546/47). Dieser spitzte den Widerspruch zwischen den ständischen und
königlichen konfessionspolitischen Interessen so weit zu, dass es zu einem Aufruhr kam. Wäre dieser erfolgreich gewesen, hätte das entscheidende Hindernis
der reformatorischen Bestrebungen mit einem Mal beseitigt werden können.
Der Krieg endete jedoch mit der Niederlage der protestantischen Allianz und
der Aufstand brach zusammen, was die Stellung der böhmischen Evangelischen
natürlich noch verschlechterte.
Der König nutzte die allgemeine Verunsicherung und Angst, um Pläne zu
entwickeln, die in vielen Punkten analog, wenn nicht gar koordiniert, mit der
‚interimistischen‘ Politik Karls V. (1519–1558) waren. Er brauchte dazu allerdings einen längeren zusammenhängenden Aufenthalt in Böhmen, welchen er
erst 1549 verwirklichen konnte.42 Zum Kreis seiner Mitarbeiter gehörte etwa der
berühmte gegenreformatorische Polemiker Johannes Cochläus (1479–1552), aber
zeitweise auch der utraquistische Prager Pfarrer Paul/Pavel Smetana Bydžovský
(1496–1559). Letzterer erwies sich bereits 1543 als Denunziant, und jetzt erneut.
Auf seine Anzeige hin musste sich Wenzel Řezník noch vor dem Abschluss der
Verhandlungen wegen Übertretung gewohnter Ordnungen verantworten – allerdings vor dem Prager Konsistorium, wobei ihm der Administrator Mystopol als
gültige Norm immer noch die Artikel von 1539 vorlegte. Zu diesen nahm der
Beklagte gern seine Zuflucht. Er unterschrieb sogar einen Revers: ‚Ich will mich
nach den Artikeln halten‘43 – eine Formulierung, die an sich bezeichnend ist,
Ebd., S. 85, Nr. 433: vystavování činí a neskládá.
Ebd.: někdy žádný nepřijde.
Vgl. ebd., S. 92, Nr. 438.
Vgl. die wichtigste Quellensammlung zu diesen Ereignissen: SČ, ed. Královský český archiv
zemský [Königlich-böhmisches Landesarchiv], Bd. 2: 1546–1557, Praha 1880; vgl. auch: Nuntiatur des Bischofs Pietro Bertano von Fano. 1548–1549, ed. W. Friedensburg (NBD I/11),
Berlin 1910.
43 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 251, Nr. 430: chci držeti podle
týchž artykulův.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
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weil die Frage lautete, ‚ob ich die Artikel halte und bei ihnen stehe oder ob ich
bei ihnen stehen will‘.44
Man kann dem entnehmen, dass der Dekan keine genaue Befolgung des einstigen Wortlauts beteuerte und insgeheim immerhin so manches erlaubt haben mag,
und zwar nicht nur dem Pfarrer Hradecký, sondern auch anderen, einschließlich
sich selbst. Am Schluss des Textes schrieb er ausdrücklich, er bekenne sich zu den
Artikeln ‚besonders deswegen, weil sie die Lehren des Heiligen Evangeliums und
der Schrift des Testamentes des Herrn wie auch der Heiligen Doktoren gewähren
und bestätigen‘.45 An diesen Artikeln gefiel ihm demnach, dass sie die Adiaphora
als Schutzschild für die evangelische Lehre nutzten – was freilich eine Deutung
war, die nicht alle teilten und zuallerletzt der Ankläger Smetana. In dem Moment
musste allerdings auch er sich mit der genannten Antwort abfinden.
Die vorläufigen Verhandlungen über die künftige Ordnung führten der König
und sein Gefolge jedoch ausschließlich mit der Prager Geistlichkeit (samt den
Konsistorialräten), die unter direkter und strengster Kontrolle der Behörden stand
und damit auch die schwächste Stelle der Gegenpartei darstellte. Und tatsächlich
traten ihre Repräsentanten nun äußerst nachgiebig auf. Von Anfang an baten sie
um nichts mehr, als dass sie bei den alten Gewohnheiten, wie sie der König bisher verfochten hatte, nichts an dem ändern müssten, was sie seit hundert Jahren
bewahrt hatten. Doch mit diesem Ansatz war es nur folgerichtig, dass gerade die
herkömmlichen Abweichungen der Kalixtiner von Rom zum Gegenstand der Verhandlung wurden. Die zwölf Artikel, die der Administrator in der Konvokation
der sub utraque im Dezember 1549 präsentierte, stellte eine weitgehende Kapitulation dar, und zwar nicht nur aus der Sicht der streng Evangelischen.
Gerade diese Maßlosigkeit erweckte jedoch neuen, unerwartet starken Widerspruch. Als erste äußerte ihn die Universität (ein Hort der Evangelischen in
Prag) ebenso wie die Vertreter der adligen Laien.46 Dadurch ermutigt, traten nun
auch Pfarrer hervor, die sich durch die vorgebliche Stellungnahme der gesamten
Geistlichkeit nicht repräsentiert fühlten. Wenzel Řezník gehörte wieder einmal
zu den wichtigsten Wortführern, und zwar erneut Seite an Seite mit Matthäus
Hradecký. Ebenso beriefen sich Vertreter der Prager und Kuttenberger Stadtbürger auf Christus als Haupt der Kirche, wie auch auf die Lehre Hussens, Luthers
und Melanchthons.
44 Ebd., S. 250, Nr. 430: držím-li a stojím-li nebo chci-li státi při těch artikulích.
45 Ebd., S. 251, Nr. 430: zvláště proto, poněvadž se v nich propůjčují a potvrzují učení sv. Evangelia
a písma zákona Páně i doktorův svatých.
46 Akten zu der Konvokation sind versammelt in: SČ, Bd. 2 (wie Anm. 42), S. 604–618, Nr.
218–222.
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Martin Wernisch
Der Kuttenberger Erzdekan äußerte sich vor der Versammlung sogar mit bemerkenswerten und belehrenden Worten, zu denen Mystopol bei seinem Versuch
gegriffen hatte, die geistlichen Abgesandten aus der Provinz zum Schweigen zu
bringen. Mystopol hatte sie folgendermaßen zu überzeugen versucht:
‚Wenn wir in die Artikel nicht einwilligen, würden wir keinen Bischof haben können, wobei
wir doch nicht so predigen werden, wie diese Artikel formuliert sind, allein nach dem Wort
Gottes und aus der Heiligen Schrift, wie bisher, lediglich des Friedens und der einfacheren
Bestellung eines Bischofs halber sollten wir auf sie eingehen, sodass die auf ihre Weise verfassten Artikel nur dann verwendet werden, falls es nötig wäre, einen Streit zu führen und zur
Abwehr zu greifen; doch dem Volk in den Gemeinden sollte man über sie nicht predigen und
wir werden es nicht tun.‘47
Kurzum: ‚Dass sie sich jetzt nur dazu bequemen, denn alsdann können sie auf diese
Weise weder glauben, noch lehren, allein dass sie den Willen des Königs und sein
Ersuchen erfüllen.‘48 Es sei ja weiterhin möglich, die Artikel in Übereinstimmung
mit den Richtlinien vom Jahr 1539 auszulegen, erklärte der Administrator den
Laienvertretern, doch sollte das Abkommen scheitern, ‚werden wir weder Bischof,
noch Priester haben und in was für eine Gefahr die Scholaren geraten, die für die
Priesterweihe ins Welschland gehen‘.49
So weit ging also der böhmische ‚Interimismus‘ – sein Taktieren war kaum mehr
von einem Opportunismus zu unterscheiden. Er erlitt allerdings eine Niederlage:
Sobald der König feststellte, dass eine Bewilligung der Propositionen, die er selbst
formuliert hatte, en bloc ausgeschlossen wurde, vertagte er lieber alle weiteren Verhandlungen darüber ad infinitum und kehrte zur Forderung der Beachtung von
bestehenden Gewohnheiten zurück. Auch daraus geht jedoch hervor, wer diesen
ersten Teilsieg nach dem Schmalkaldischen Krieg erlangte, nämlich einmal mehr
vor allem die böhmischen ‚Adiaphoristen‘, die zwar eine prinzipienfestere Einstellung als die ‚Interimisten‘ bewahrten, aber nach wie vor hinter dem Schutz der
47 Ebd., S. 616, Nr. 222: jestliže těm artikulům nesvolíme, že biskupa nebudem moci míti a že ne
budem kázati, tak jak sou ti artikulové sepsáni, než podle slova božího a z písma svatého, jako i
prvé, toliko abychom pro samý pokoj a snadnější zjednání biskupa k nim přistoupili, a tak toho
artikule tak sepsaného, že toliko tehdaž užíváno bude, kdyžby toho k jakým hádkám a odporům
potřeba kázala; než lidu obecnímu, že o tom tak kázati nemáme a nebudem.
48 NA Praha, Bestand Nr. 106, Ochranov [Herrnhut], AUF, Bd. 8, fol. 13r; vgl. auch ebd., fol. 17r:
aby jedné tak nyní povolili, že potom mohou tak nevěřiti, ani neučiti toliko aby vuoli královskou,
a žádost jeho v tom naplnili.
49 SČ, Bd. 2 (wie Anm. 42), S. 615, Nr. 222: biskupa ani kněží míti nebudem, žáci v jakém nebez
pečenství budou, kteříž pro kněžstvo do Vlach půjdou.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
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Artikel von 1539 bessere Zeiten abwarten wollten. Es ist nötig, diese Tatsache im
Gedächtnis zu behalten, um die folgende Geschichte zu verstehen.
2.2 Die eigentliche Geschichte
2.2.1 Unterwegs zum geistlichen Amt (1550/51)
Anxiginus erschien nun in der oben geschilderten Situation auf dem geschichtlichen Parkett. Genauer gesagt, erschien 1550 in Wien sein erstes heute bekanntes
Buch, das wahrscheinlich auch sein Erstlingswerk war. Der Druck umfasst zwei
lateinische Elegien über die verdorbene Menschennatur und den Triumph von
Christus dem Heiland.50
Auf welchem Wege der Verfasser in die österreichische Metropole gekommen
war, deutet eine der Widmungen des Buches an: Mecaenati & patrono suo, Petro
Pisnensi (so im gedruckten Text, richtig aber Pilsnensis/Petr Plzeňský), damals
Pfarrer im südmährischen Strassnitz/Strážnice.51 Von Böhmen aus nahm er den
Weg über Mähren. Aus seinen Versen ergibt sich allerdings nicht, ob Anxiginus in
Strassnitz nur kurz verweilte oder ob er sich dort über eine längere Zeit aufhielt.
Dagegen geht daraus ein weiterer bedeutsamer Umstand hervor: Die charakteristische Bezeichnung des Pfarrers als Evangelii Christi Fidelis Praeco zeigt diskret, aber
deutlich an, dass Plzeňský ein Evangelischer war – und damit zugleich, dass wir
Anxiginus selbst bereits damals zu einem Anhänger dieser Richtung zählen dürfen.
Dass er sein Werk in Wien veröffentlichte, spricht nicht gegen diese Orientierung, zumal auch die österreichische Residenz Ferdinands I. damals durch den
Protestantismus weitgehend durchsetzt war, nicht zuletzt in ihren Bildungsinstitutionen. Die örtlichen Evangelischen mussten zwar eine gewisse Zurückhaltung
bewahren und in der Öffentlichkeit ihre Orthodoxie und Katholizität anstatt
ihre Zuneigung zu den Reformatoren betonen, aber umso eher konnte sich hier
ein Utraquist geradezu heimisch fühlen.
Eine Bevorzugung allgemein christlicher Motive ist auch in den Gedichten von
Anxiginus unverkennbar. Bezeichnend ist übrigens allein schon die gewählte literarische Form, die sich vor allem auf Ovid’sche Vorbildern stützt. Anxiginus trat also
in Wien als Träger der humanistischen Bildung auf – ein wichtiger gemeinsamer
50 Vgl. V. Anxiginus, Triumphus Salvatoris Nostri Iesu Christi Scriptus Carmine Elegiaco à
Victorino Anxigino Schuthio. Addita Est Declamatio Invectiva De Homine Et eius corrupta
natura eiusdem Autoris […], Wien: Johann Singriener d. J. 1550 (VD16 A 3012 f.).
51 Ebd., fol. A4r.
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Martin Wernisch
Nenner, der Grenzen in der konfessionell geteilten Gesellschaft zu überschreiten
half. Unter den schwierigen böhmischen Verhältnissen war dies bereits erprobt
worden und eröffnete zugleich einen Zugang zu ausländischen Kreisen. Dies gilt
in erster Linie für Vertreter aus dem akademischen Milieu, wie im Buch eine in
Versform gesetzte Empfehlung von Georg Mitkreuch († 1566) bestätigt, der später eine Professur des römischen Rechts innehatte. Anxiginus war demnach auf
gewisse Weise auch mit der Wiener Universität verbunden.
Es ist allerdings nicht klar, ob er am ‚Erzgymnasium‘ seine Studien fortsetzte, zumal er nicht einmal in der Matrikel der zuständigen (‚ungarischen‘)
Nation eingeschrieben worden war.52 Daraus kann man noch nichts Bestimmtes schlussfolgern, doch es ist wahrscheinlich, dass Anxiginus vielmehr zu jener
Zeit schon danach strebte, die erworbene Bildung anzuwenden. Und in dieser
Hinsicht ist der Name des Adressaten seiner Hauptwidmung von einiger Bedeutung, gemeint ist der damalige Wiener Bischof Friedrich Nausea (1541–1552).53
Dies kann jedoch auch verwirren, denn es passt nicht so einfach in das Profil
des Verfassers.
Nausea gehörte zu den reformgesinnten Repräsentanten des römischen Katholizismus, was allerdings noch keine Offenheit dem Protestantismus gegenüber
implizierte. Unter den gegebenen Verhältnissen in seiner Diözese ging er zwar
verhältnismäßig vorsichtig vor, doch enthielt er sich nicht einer Polemik, und
eventuelle Zugeständnisse (namentlich zum Laienkelch und zur Priesterehe)
wollte er sich vom Papst bewilligen lassen. In diesem Sinne war er 1549 auch
im Umfeld von Ferdinand I. tätig, als einer der Haupturheber des ‚böhmischen
Interims‘. Zugleich war er jedoch bemüht, Utraquisten und Protestanten durch
einen umgänglichen persönlichen Umgang zu gewinnen – als Beispiel dafür sei
sein einstiger Versuch zur ‚Bekehrung‘ Melanchthons genannt.54 Daher setzten
diejenigen Utraquisten, die in einem wenigstens äußerlich und formal durch
Kurie abgesegneten Abkommen einen Ausweg aus der aktuellen Notlage sahen,
ihre Hoffnung zeitweise auf den Wiener Bischof. Wenn die Priesterkandidaten
nicht direkt auf heimatlichem Boden geweiht werden konnten, wäre es dann nicht
wenigstens im näher gelegenen Wien möglich?
52 Vgl. Die Matrikel der ungarischen Nation an der Wiener Universität 1453–1630, ed. K.
Schrauf, Wien 1902.
53 V. Anxiginus, Triumphus (wie Anm. 50), fol. A2r–A3v; zu seiner Person monografisch H.
M. Gollob, Bischof Friedrich Nausea (1496–1552). Probleme der Gegenreformation, Nieuwkoop 21967.
54 Vgl. G. Kawerau, Die Versuche, Melanchthon zur katholischen Kirche zurückzuführen
(SVRG 73), Halle 1902.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
421
Bekanntlich lag gerade hier der wunde Punkt der utraquistischen Existenz.
Und weil es bereits vor dem Krieg nicht gelungen war, mit diesem Problem voranzukommen, half nun auch nicht die Bannung der Gefahr des ‚böhmischen
Interims‘. Obwohl die Anzahl der Pfarrer, die im protestantischen Ausland ordiniert wurden, in den böhmischen Pfarrgemeinden zumindest allmählich wuchs,
waren diese aus der Sicht der Regierung unordentliche ‚Winkelpriester‘; um 1550
mussten sie sich im Land und in Grenzgebieten unmittelbar bedroht fühlen. Wer
als Träger eines geistlichen Amtes in bedeutenderen Städten wirken und Einfluss
auf die Gesamtentwicklung nehmen wollte, konnte der gesetzlich geforderten
Weihe nicht ausweichen. Auch Wenzel Mitmánek und andere Anführer der
evangelischen Bewegung, welche die Lenkung der Kirche nicht den Gegnern
der Reformation überlassen wollten, mussten sich in Italien weihen lassen. Nur
dort konnte eine Zeit lang ein Kompromiss realisiert werden, der für beide Seiten gerade noch annehmbar war: auf der Basis des Uniatismus (auf der Grundlage einer Abmachung von 1439 auf dem Konzil von Florenz), der die Einheit in
der Lehre forderte (und freilich auch die Anerkennung des päpstlichen Primats)
und zugleich Abweichungen im Ritus erlaubte, einschließlich der Darreichung
des Laienkelchs beim Heiligen Abendmahl. Darauf stützte sich etwa in Venedig
eine griechische Gemeinschaft, die sogar über eigene Bischöfe verfügte – und
gerade sie weihten auch den Großteil der utraquistischen Geistlichen jener Zeit.
Diese Lösung konnte jedoch die meisten Utraquisten lediglich als Notlösung
zufrieden stellen. Immer wieder findet man in zeitgenössischen Urkunden – wie
zuvor auch schon in der Rede Mystopols festgestellt – Klagen über Beschwerlichkeit, Gefährlichkeit und Kostspieligkeit dieses Weges, wodurch die Zahl der
Anwärter für den geistlichen Dienst rigoros reduziert wurde.55 Dass dabei auch
ethische Dilemmata mit im Spiel waren, konnte man zunächst nicht offen ansprechen, umso schärfer wurden sie aber von Außenstehenden geäußert, namentlich
aus den Reihen der Brüderunität.
Von daher rühren die Versuche, eine Abhilfe beim Wiener Bischof zu finden,
der fortwährend die böhmischen Priesterkandidaten sub una weihte; eine Fürsprache in dieser Sache kam übrigens gelegentlich sogar vom König. Überlieferte
offizielle Gesuche des Konsistoriums sub utraque an Nausea stammen von 1548,
aber selbst ihr Ton verrät, dass sie kaum Gehör fanden.56 Dabei verlangten die
Konsistorialräte nicht mehr als von den Venezianern, lediglich ne adolescentes,
55 Vgl. z. B. Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 333 f., Nr. 520.
56 Vgl. ebd., S. 224 ff., Nr. 385, S. 238 f., Nr. 407; vgl. auch F. Nausea, Epistolarum miscellanearum ad Fridericum Nauseam Blancicampianum, episcopum Viennensem, etc. singularium
personarum, Libri X, Basel: Johann Oporinus 1550 (VD16 E 1736, VD16 N 251), S. 449 ff.
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Martin Wernisch
qui aliquando a nobis mitterentur, ad communionem unius speciei teneantur aut
obligentur, donec de hac re a tota Ecclesia certo aliquid conclusum aut consentum
fuerit.57 Hätten sie sogar diesen Vorbehalt fallengelassen, dann würden sie jede
noch so enge Begriffsbestimmung ihrer Kirchengemeinschaft untergraben. Trotzdem ist es mehr als zweifelhaft, ob Nausea ihnen in dieser Sache je entgegenkam.
Für ihn wäre wohl erst eine Entscheidung von gesamtkirchlicher Verbindlichkeit
die Grundvoraussetzung für eine solche vertragsmäßige Vereinbarung gewesen.
Dennoch weihte er in den nachfolgenden Jahren Utraquisten; aber die Art
und Weise, auf welche sie dann vom Konsistorium sub utraque in den Dienst
angenommen wurden, zeigt, dass diese Kandidaten auf eigene Faust handelten
und wahrscheinlich auch zu größeren Konzessionen gezwungen wurden als es
für die Kirchenleitung bei all ihrer Gefügigkeit annehmbar war. In Prag musste
ein Kandidat nämlich nicht nur obedientiam Deo et consistorio („und dies durch
Handschlag“) versprechen – nach einer Formel, die ebenso bei den in Venedig
Geweihten geläufig war –, sondern ‚desgleichen, dass er die übrigen christlichen Kirchenordnungen der Partei unter beiderlei Gestalt halten wird‘, was im
Gegenteil für die Prozedur des förmlichen Übertritts jener Priester typisch war,
die ursprünglich zur Obödienz gegenüber dem Konsistorum sub una verbunden waren.58
Es scheint also, dass Nausea konsequent genug war, um einzuhalten, was er
selbst in seinem 1551 gedruckten Leitfaden zur Ordination vorschrieb. Das dort
enthaltene Formular gab sich keineswegs nur mit allgemeinen Formulierungen
zufrieden, sondern es untersuchte streng, ob die Kandidaten häretische Bücher
verwendeten usw.59 Inwieweit wir gerade Anxiginus verdächtigen sollten, dass er
nur sondierte, ob er selbst durch so ein ‚Nadelöhr gehe‘, ist recht fraglich. Auch
wenn dies geschehen wäre, dann müssten wir feststellen, dass es ihm nicht gelungen
war bzw. dass er selbst die gestellten Bedingungen für nicht akzeptabel befunden
hatte. Denn auf jeden Fall steht fest, dass er tatsächlich in Venedig geweiht wurde.
Sein Gedicht für Nausea lässt sich noch auf eine andere Weise erklären: Er
konnte sich an den Bischof lediglich als Humanist wenden, der in einem reifen
Gelehrten den Musarum vere patronum schätzte oder suchte.60 Dementsprechend
57 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 239, Nr. 407.
58 Ebd., S. 302, Nr. 485: a to ruky dáním, též že jiné pořádky církevní a křesťanské strany pod obojí
zachovávati bude.
59 Vgl. F. Nausea, De Clericis in Ecclesia ordinandis Isagoges Libri V. Additus est sub finem Lib.
I. Inquisitionum Pastoralium, unà cum Ecclesiasticae ordinationis Decreto, eiusdem Episcopi
Viennensis, Wien: Aegidius Adler 1551 (VD16 N 220, VD16 W 2634), fol. 79r.
60 V. Anxiginus, Triumphus (wie Anm. 50), fol. A3r.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
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hatten tatsächlich auch einige böhmische Evangelische Erfolg, welche die Gunst
des Bischofs erwarben. Sie galten bei ihm lediglich als Mitglieder der societas lit
terarum, wobei er ihre Sympathien für protestantische Reformatoren überhaupt
nicht erkennen musste, zumal sie diese auch eher in ihren privaten Aufzeichnungen
und Korrespondenzen denn in gedruckten Versen äußerten. Ein gutes Beispiel
liefert für den gleichen Zeitraum vor allem Simon Ennius Klatovský (1520–1561).
Dabei ging es zwar vorrangig um größere Handlungsspielräume, aber auch um
finanzielle Unterstützungen. Und Anxiginus brauchte für die Reise nach Venedig
Geld, genauso wie dimissorium vom Prager Konsistorium. Ein Beitrag von Nausea wäre denkbar, er ist jedoch auf keine Weise nachgewiesen. Bei denjenigen, die
in geordneten Gruppen den rechtlich legitimsten Weg gingen, waren vielmehr
Spenden von den Gemeinden die Regel, denen die zukünftigen Priester dienen
sollten; vielfach wurden sie von mehreren Sponsoren erbeten. Althergebrachte
Beziehungen spielten anscheinend öfters auch eine Rolle bei der Ortswahl, wohin
die Neugeweihten als Kapläne oder Diakone gesandt wurden. Sogar dort, wo
keine solche Beziehungen sicher nachweisbar sind, lässt sich oft eine ähnliche
Anschauung zwischen den Kaplänen und ihren Pfarrern beobachten; die Mentoren durften vermutlich im Voraus ihr Interesse an konkreten Helfern äußern.
Nicht ganz zufällig mutet auch die Unterbrigung von Anxiginus an, der am
19. Juni 1551 in Prag obedientiam Deo et consistorio gelobte, zusammen mit drei
Reisekameraden, die wahrscheinlich auch mehr oder weniger evangelisch orientiert waren. An erster Stelle wurde hier Victorinus Skutečenus genannt, der
damals für drei Jahre Saaz/Žatec, einer alten königlichen Stadt im Nordwesten
Böhmens, zugewiesen war.61
2.2.2 Stärkende Impulse (1551–1554)
Wenn sich auch eine gegenseitige Affinität bereits vor der Ankunft von Anxiginus
in Saaz ahnen lässt, ist es immerhin nahe liegend, dass der Aufenthalt im dortigen
Pfarrhaus einen erheblichen Einfluss auf ihn ausüben musste und stark zu Schärfung seines Profils beitrug, das später weitaus eindeutiger als zuvor hervortrat. Eine
Rolle spielte dabei sowohl der allgemeine genius loci als auch konkrete Personen –
in beiderlei Hinsicht überragte die Stadt den damaligen Durchschnitt. Bereits im
15. Jahrhundert gehörte sie zu den Bollwerken des Hussitismus. Und weil dort
die Zonen der beiden Landessprachen einander durchdrangen, entwickelte Saaz
ebenso eine internationale Ausstrahlung. Amedeo Molnár vermutete in der
61 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 300, Nr. 482.
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Martin Wernisch
Stadt den Sitz einer ganzen hussitisch-waldensischen Schule.62 Noch deutlicher
sind Belege aus der Zeit der lutherischen Reformation, als Saaz wieder zu einem
wichtigen Vermittlungsort zwischen dem tschechischen Binnenland und dem vorwiegend deutschsprachigen Grenzgebiet wurde, das durch die sächsische Kultur
stark mitgeprägt war. Daraus entstand mit Saaz einer der Hauptmittelpunkte der
Evangelischen in der Kirche sub utraque, direkt verbunden sowohl mit Prag als auch
mit Wittenberg, wobei es Wittenberg war, das den theologischen Kompass bot.
Unter den Personen mit Führungsqualitäten verdient chronologisch gesehen
an erster Stelle Nikolaus Artemisius/Mikuláš Černobýl (1495–1556) Erwähnung, ein Kind der Stadt aus der Generation Melanchthons und ein Wittenberger magister artium, der in seiner Heimat sukzessive als Schulrektor, Ratschreiber,
Stadtrat und Bürgermeister tätig war und der ähnlich Gesinnte in die Stadt zog,
und diese wiederum andere. Einer von ihnen, Matěj Lounský/Matthias von Laun,
wurde in der Mitte der 1530er Jahre örtlicher Dekan. In Wittenberg war er ein
Mitschüler Mitmáneks und zählte seit der Wende von den 1530er zu den 1540er
Jahren selbst schon zu den anerkannten Führern der Evangelischen im ganzen
Land, auch wurde er öfters zusammen mit Řezník genannt. Neben der Predigt –
er war Verfasser einer umfangreichen Postille – widmete er sich vor allem dem
Vorankommen der Stadtschule. Diese erreichte besonders nach 1542 ihr höchstes
Niveau, als Lounský für ihre Leitung Wenzel/Václav Arpinus (ca. 1515–1582)
gewann, der sich nach seinen Studien in Wittenberg mit Melanchthons Empfehlung ursprünglich um eine Stelle an der Prager Universität beworben hatte,
der dann aber dem Ort den Vorzug gab, wo er sich der Aufsicht der weiter entfernten Zentralorgane einfacher entziehen konnte und wo er freie Hand für die
Umsetzung der Melanchthon’schen Gymnasialordnung bekam.
Arpinus, seit 1546 Schwiegersohn von Artemisius, wirkte zur Zeit der Ankunft
von Anxiginus noch in Saaz, doch war der Vorgesetzte des neuen Kaplans nicht
mehr Lounský. Dieser hatte nämlich inzwischen das Dekansamt in einer anderen
bedeutenden Königsstadt übernommen, im mittelböhmischen Nimburg/Nymburk. Zum Mentor von Anxiginus wurde Jakob Camenicenus/Jakub Kamenický
(† 1574), der jünger und kämpferischer als Lounský war. Sein Wesen hatte er schon
1544 gezeigt, als er noch Dekan in Jungbunzlau/Mladá Boleslav war. Damals
sollte er sich vor dem Prager Konsistorium dafür verantworten, dass er sich in
administratione sacramentorum mit Bunzlauer ‚Pikarden‘ verbündete […] das
62 Vgl. die wiederholten Erwähnungen bei A. Molnár, Die Waldenser. Geschichte und europäisches Ausmaß einer Ketzerbewegung, aus dem Tschechischen und Italienischen übersetzt
von Erich Emmerling / Harald Schreiber, Göttingen 1980, namentlich im Kapitel „Die Treuen
Brüder“. Vgl. ebd., S. 280–299.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
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Messgewand ablegte […] keine Elevation machte‘.63 Wie bereits die angeführten Delikte zeigen, verfuhr Camenicenus mit der adiaphoristischen Problematik
wesentlich mutiger als andere. Darüber hinaus erwies sich auch seine Verteidigung
anders geartet als jene, die sein Kuttenberger Kollege Řezník zur gleichen Zeit
und in ähnlicher Lage angewandt hatte.64 Eine Anpassung an die Brüderunität
gestand Camenicenus freimütig ein und erklärte sie damit, dass er so ‚guten Frieden‘ in der Stadtgemeinde erhalte, die unter einer brüderischen Obrigkeit lebte
(was zugleich ein bedeutender Schutzfaktor war), und rechtfertigte sein Handeln,
das in Einklang mit der Schrift stünde.65 Er widerrief nichts und er nahm auch
keine Zuflucht zu doppeldeutigen Formeln, ‚immer eine Nachsicht ersuchend‘.66
Möglicherweise sah er sich letztendlich trotzdem zu einer Geste der Unterwerfung gezwungen, denn das Konsistorium schloss das Verhör mit dem Urteil ab,
auf solche Weise wäre es nicht möglich, die Übertretung des königlichen Dekrets
zu entschuldigen, so dass der Beklagte so lange in Gewahrsam belassen bleiben
müsse, bis er eine Garantie gewähren würde.
Auf jeden Fall ist bemerkenswert, wie sehr Camenicenus bestrebt war, sowohl
Ausreden als auch Zugeständnisse zu vermeiden. Es verwundert nicht, dass er in
der dramatischen Konvokation des Jahres 1549 bereits in den vorderen Reihen
zu finden war, neben den alten Vorkämpfern. In einem Triumvirat mit Wenzel
Řezník und Matthias Lounský verfasste Camenicenus damals eine Denkschrift,
in welcher Beweisgründe aufgeführt wurden, warum es nicht möglich war, die
königlichen Artikel mit gutem Gewissen anzunehmen. Und eine besondere
Bedeutung kann man der Tatsache beimessen, dass gerade Camenicenus den
Text auch Melanchthon zur Begutachtung vorlegte. Camenicenus hatte durch
eine Vermittlung von Laurentius Span von Spanow/Vavřinec Špán ze Španova
(ca. 1530–1576) persönliche Kontakte mit Meister Philipp geknüpft, der ein
Schüler von Arpinus war und von 1545 bis 1550 in Wittenberg studierte, wo er
eine Professorentochter heiratete.67
Melanchthon war über den Inhalt der Artikel durch böhmische Kontakte gut
informiert und darüber beunruhigt, dass sie die Schranken des Leipziger Interims
weit überschritten hatten, weshalb er sie für inakzeptabel hielt.68 Allerdings wurde
63 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 191, Nr. 332: in administratione
sacramentorum s Pikharty Boleslavskými se spolčil […] roucho mešné jest složil […] elevací nečinil.
64 Vgl. ebd., S. 192, Nr. 334.
65 Ebd., S. 192, Nr. 332: dobrý pokoj.
66 Ebd.: žádaje hojemství vždy.
67 Vgl. PM Bw, edd. M. Dall’Asta / C. Mundhenk / H. Hein, Bd. 14: Texte 3780–4109
(1545), Stuttgart/Bad Cannstatt 2013, S. 591, Nr. 4108a.
68 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, praefationes, consilia, iudicia, schedae academicae […],
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er nun durch die zugesandte Gegenschrift zufriedengestellt69 und bekundete seinen
Beistand für Camenicenus sogar öffentlich. Als nämlich Span, inzwischen Arzt in
Kuttenberg, im Frühling 1551 seine lateinische Übersetzung der Summarien von
Veit Dietrich (1506–1549) zum Johannesevangelium herausgab, stellte Melanchthon dem Buch eine ermutigende Widmung Pastori Ecclesiae Dei in oppido Bohe
miae Saza voran.70 Im Text mied er begreiflicherweise provokative Details, so dass
es bei recht allgemeinen Formulierungen blieb. Dennoch könnte man fragen, ob
der Wittenberger Meister seinen Günstling gerade durch diese Äußerung seiner
Zuneigung nicht eher belastet hatte. In jedem Fall ist es offenkundig, dass sich
Camenicenus durch sein öffentliches Bekenntnis in Gefahr brachte. War doch die
Stellung der Evangelischen politisch vorübergehend geschwächt, zudem wurde die
Stadt Saaz für ihre Teilnahme am Aufstand bestraft und verfügte über kein eigenes
Konsistorium. Im Sommer desselben Jahres benötigte Camenicenus Melanchthons
Trost, zumal nun als Angeklagter wegen ‚Neuerungssucht‘.71 Im Advent 1551 wurde
Camenicenus außer Dienst gestellt und eingesperrt – und dies wohl auch stellvertretend für andere, die der königlichen Strafgewalt immer wieder entronnen waren.
Trotzdem nahm die Sache des abgesetzten Dekans nicht den schlechtesten
Ausgang. Bei seinen Freunden, einschließlich Melanchthon, genoss er Rückhalt,
was ihm diesmal tatsächlich half. Zwar konnte er nicht in sein Amt zurückkehren,
doch wurde er schon bald aus dem Gefängnis entlassen und fand nicht zuletzt
in: Philippi Melanthonis opera, quae supersunt omnia, ed. C. G. Bretschneider (CR 7),
Halle 1840, Sp. 659, Nr. 4791; PM Bw, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6: Regesten 5708–6690 (1550–1552), Stuttgart/Bad Cannstatt 1988, S. 62, Nr. 5825; PM Bw, edd. M.
Dall’Asta / H. Hein / C. Mundhenk, Bd. 20: Texte 5643–5969 (Okt. 1549–Dez. 1550),
Stuttgart/Bad Cannstatt 2019, S. 275, Nr. 5825.
69 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 610, Nr.
4738; PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6 (wie Anm. 68), S. 62,
Nr. 5827; PM Bw Texte, edd. M. Dall’Asta / H. Hein / C. Mundhenk, Bd. 20 (wie Anm.
68), S. 278, Nr. 5827.
70 V. Dietrich / V. Špán / P. Melanchthon, Simplex et perspicua explicatio insignium
et iucundissimarum sententiarum ex Joanne Evangelista collectarum a Vito Theodoro, paulo
antequam e vita discederet, cum quasi valedicturus amicis eas interpretaretur […], Leipzig:
Wolfgang Günther 1551 (VD16 D 1554, VD16 S 7452), fol. A2r–A3v, hier fol. A2r; bzw. Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 785 f., Nr. 4892;
PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6 (wie Anm. 68), S. 155, Nr. 6067.
71 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 811 f.,
Nr. 4929; PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6 (wie Anm. 68),
S. 186, Nr. 6143; vgl. auch Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie
Anm. 68), Sp. 812, Nr. 4930; PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6
(wie Anm. 68), S. 186, Nr. 6144.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
427
aufgrund eigener Fähigkeiten eine neue Existenz. Er setzte in Wittenberg seine
Studien fort, wurde am 11. Januar 1552 immatrikuliert und promovierte bereits
am 28. Juni zum magister artium, wofür Melanchthon am 1. Juli ein testimonium
publicum doctrinae beisteuerte. Er trat dann in die Fußstapfen von Span und
studierte schließlich Medizin.72 Damit erwarb er sich eine alternative berufliche
Lebensgrundlage für den Fall, dass er mit seinem nicht konformen Verhalten
keine neue Möglichkeit einer geistlichen Amtstätigkeit finden sollte. In dem Fall
hätte er für die Kirche Christi nach seinen Kräften als Laie wirken können. Diese
Unbeugsamkeit hat zweifellos beeindruckt. In Melanchthons Zeugnis für seine
Rechtgläubigkeit klingt sogar eine leise Reminiszenz an das Erbe der Hus’schen
Standfestigkeit an.73 Die Einstellung von Camenicenus beeindruckte zweifellos
auch Anxiginus – und der Verlauf der Affäre konnte ebenso seine Hoffnung fördern, dass Gott seine Getreuen in läuternden Prüfungen beschützt.
Aus der Chronologie der Ereignisse geht zwar hervor, dass Camenicenus eigentlich nur während einer kurzen Zeitspanne von einigen Monaten der offizielle Vorgesetzte des Kaplans war, dennoch hatte Anxiginus das Vorbild von Camenicenus
weiterhin lebendig vor Augen. Muss man doch beachten, dass in den ersten Jahren nach der Suspension nichts über einen Nachfolger im Dekanat zu hören war.
Camenicenus wirkte auch während seines Studiums in Wittenberg weiterhin in
Saaz; in den erhaltenen Urkunden tritt er als faktisches Haupt des dortigen geistlichen Kreises auf.74 Noch 1554 beteiligte er sich an der Wittenberger Ausgabe
eines Gesangbuchs, das von dem Saazer Lehrer und Stadtschreiber Wenzeslaus/
Václav Nicolaides Vodňanský z Radkova (1512–1582) verfasst worden war und das
auch im Hinblick auf die Lieder im Rahmen des utraquistischen Gottesdienstes
den christozentrischen Akzent verstärken sollte, der für die evangelischen Predigten prägend war.75 Doch im Laufe desselben Jahres zog Camenicenus aus Saaz
72 Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 1018 f.,
Nr. 5141; vgl. auch PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer (wie Anm. 68),
Bd. 6, S. 318, Nr. 6482.
73 Vgl. Philippi Melanthonis epistolae, ed. C. G. Bretschneider (wie Anm. 68), Sp. 1019, Nr.
5141: Ego eo etiam libentius semper Boiemos complexus sum, quia iudico, singularem in ea gente
gravitatem esse, quam quidem olim in veritatis confessione declaravit.
74 Vgl. Dopisy M. Matouše Kollína z Chotěřiny a jeho přátel ke Kašparovi z Nydbrucka, tajnému
radovi krále Maxmiliána II. [Die Briefe des M. Matthäus Collinus von Chotěřina und seiner
Freunde an Kaspar von Niedbruck, den Geheimrat des Königs Maximilian II.], ed. F. Menčík
(Sborník pramenův ku poznání literárního života v Čechách, na Moravě a v Slezsku [Quellensammlung zur Erkenntnis des literarischen Lebens in Böhmen, Mähren und Schlesien] 20),
Praha 1914, S. 16, Nr. 4.
75 Vgl. W. Nicolaides, Cantiones Evangelicae ad usitatas harmonias, quae in Ecclesiis Bohemicis
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428
Martin Wernisch
weg und ließ sich als praktizierender Arzt in Prag nieder. Nichtsdestoweniger lief
damals die vom Konsistorium auferlegte Frist zur Einarbeitung von Anxiginus
ab und er konnte ebenso seine Stelle wechseln und sich selbstständiger betätigen.
2.2.3 Eigene Initiative im Frühjahr 1554
Anxiginus’ neue Wirkungsstätte ist bezeichnend, denn er taucht an der ‚hohen
Kirche‘ in Kuttenberg auf. Somit wurde er Nachfolger Wenzel Řezníks, der 1552
nach den langen Kämpfen die anspruchsvolle Stellung aufgegeben hatte und mit
seinem Weggang einem eventuellen Sturz auf ‚Saazer‘ Art zuvorkam. Es ist allerdings wichtig zu präzisieren, dass Anxiginus Řezník nicht im Dekansamt ablöste.
Diese Rolle war einem älteren und erfahreneren Mitglied des Kuttenberger Konsistoriums zugefallen, und zwar niemand anderem als Matthäus Hradecký. Von
daher kommt wahrscheinlich auch eine kleinere Unklarheit in der Titulatur, als
man Anxiginus gelegentlich – aber nicht konsequent – weiterhin als Kaplan
bezeichnete, wiewohl er die Dekanatkirche anscheinend verwaltete und dies wohl
als Stellvertreter Hradeckýs, der an der Kirche St. Barbara verblieben war.76 Ganz
offenkundig ist allerdings, dass Anxiginus seine Rolle sehr energisch ausfüllte und
damit beim Dekan Anstoß erregte.
Anxiginus war mit viel jugendlichem Elan nach Kuttenberg gekommen, auch
ermutigt durch den Widerstandsgeist, den er in Saaz erlebt hatte, was wohl nicht
zuletzt auch aus dem engen Kontakt zum deutschen Milieu resultierte. Angesichts
der Berichte aus dem Reich musste die Lage nach dem Fürstenaufstand von 1552
aussichtsvoll erscheinen – und dies gerade für diejenigen, die bereit waren, sich
Prüfungen zu unterziehen. Hatten die Magdeburger, die das Interim nie angenommen und es im Gegenteil a limine zurückgewiesen hatten, schließlich doch
nicht gesiegt?
Obgleich wir wissen, dass die Saazer vornehmlich mit Wittenberg als dem
Zentrum der deutschen Reformation kommunizierten,77 werden wir noch sehen,
dass sie auch mit Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) in Verbindung standen.
per totius anni circulum canuntur, accomodatae, praecipua Christi beneficia breviter complectentes […], Wittenberg: Georg Rhau, Erben 1554 (VD16 N 1498).
76 Vgl. Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 323, Nr. 509; anders
unten.
77 Melanchthon erwähnte in seiner Korrespodenz mit Camenicenus die Kämpfe um Magdeburg (bellum Saxonicum) spätestens im Herbst 1550, auf zurückhaltende Weise, doch offenbar als Antwort auf Fragen des Adressaten; PM Bw Texte, edd. M. Dall’Asta / H. Hein /
C. Mundhenk, Bd. 20 (wie Anm. 68), S. 411, Nr. 5928; vgl. auch PM Bw Regesten, edd. H.
Scheible / W. Thüringer, Bd. 6 (wie Anm. 68), S. 104, Nr. 5928.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
429
Gerade Anxiginus liefert einen zwar indirekten, dennoch aber hinreichenden
Beweis dafür, dass in Saaz die Geschichte der unbeugsamen Stadt gespannt verfolgt wurde und damit in Böhmen Vorbildwirkung hatte. Anxiginus wollte offensichtlich den mutigen Kampf gegen eine Übermacht ebenso in das böhmische
Binnenland hineintragen. Es lag ihm daran, dass man in Kuttenberg in diesen
Anstrengungen nach dem Weggang Řezníks nicht nachließ, sondern weiter voranschritt und letztlich die ‚adiaphoristischen Schutzschilde‘ ablegte, welche die
gnesiolutherischen Kämpfer dank der Gnade Gottes nicht nötig hätten.
In den 1540er Jahren durfte der junge Geistliche von Hradecký, der Řezník
stets einen Schritt vorauseilte, vielleicht Verständnis erwarten – dies umso eher,
da er wieder einmal die Ausstellung der Sakramente als vornehmliches Angriffsziel wählte. Doch Hradecký mochte damals die Reminiszenz auf die eigene Vergangenheit als ausgesprochen unangenehm wahrgenommen haben. Mittlerweile
war er selber mit der Verantwortung als Dekan belastet, zumal er noch dazu in
diesem Amt eigentlich nur auf Bewährung bestätigt worden war. Das Prager Konsistorium hatte sich zunächst geweigert, in die Wahl einzuwilligen, aus Besorgnis,
dass der Kandidat nicht imstande wäre, sich – wie erforderlich – an die äußeren
konservativen liturgischen Rituale zu halten. Es ging das Gerücht um, er sei ‚mehr
der lutherischen als der christlichen Lehre verwandt‘ (eine bemerkenswerte Formulierung), wobei er ‚allerlei Spott und Hohngelächter über die Religion, mit
welcher die Prager Priesterschaft umgeht, in Lehre und Gesprächen äußert‘.78
Zugleich nahm Hradecký möglicherweise empfindsamer als Anxiginus wahr,
dass sich die Angelegenheiten in Böhmen und im Reich zu jener Zeit vielmehr
asynchron entwickelten und die Lage in der Heimat hochexplosiv war. Ferdinand I. vermochte es zwar, 1552 notgedrungen den Passauer Vertrag abzuschließen
und auf eine Gegenreformation in den sowieso verlorenen Gebieten zu verzichten, aber umso resoluter kämpfte er zumindest um die Stützpunkte seiner Macht.
Nicht unerwähnt soll hier bleiben, dass die religionspolitische Lage sogar in den
Territorien unter direkter habsburgischer Herrschaft, einschließlich der einzelnen
Länder der Böhmischen Krone, unterschiedlich war. Nichtsdestoweniger rang
der Regent um das eigentliche Königreich Böhmen auf besonders unerbittliche
Weise. Gerade im Jahr 1554 bekam er Gelegenheit, die Landesregierung mehr nach
seinem Geschmack umzugestalten. Zudem riss er die Ernennung der ständischen
78 P. M. Veselský, O konsistoří Kutnohorské v šestnáctém století [Über das Kuttenberger Konsistorium im 16. Jahrhundert], in: Lumír 12 (1862), S. 15–18, 39–42, 62–67, 87–91, 111–114,
136 f., 160, 185 f., 207–211, 233–237, hier S. 113: více k učení lutherianskému jest podobný nežli
křesťanskému, a při tom rozličné smíchy a potupy v učení a rozmlouvání činí tomu náboženství,
kteréž Pražské kněžstvo užívá.
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430
Martin Wernisch
Defensoren der Kirche sub utraque an sich, wobei es sich von selbst versteht, dass
er dazu gefügigere Partner als die Stände wählte. Mit diesem Rückhalt konnte
er dann eine neue Offensive entfalten. Diesmal aber ziemlich eindeutig durch
Repression, die anders als bisher flächenhafter und weniger individuell ausgerichtet
werden sollte. Was vor Kurzem Camenicenus ereilte, betraf nun viele und vielfach
mit härteren Folgen. Die Verfolgungswelle, die zu Beginn des Jahres vorbereitet,
aber hauptsächlich zwischen Herbst 1554 und Sommer 1555 verwirklicht wurde,
vertrieb einige Hundert evangelische Geistliche aus den Pfarrgemeinden und
zumindest einige Dutzend von ihnen ebenso aus dem Land.79
Auch diesmal wandte Ferdinand I. die Politik der Belohnung und Strafe an: Er
berief sich auf Beschwerden der Prager Konsistorien beider Kirchenrichtungen
über wachsende Unordnung und interpretierte seine Aktion in dem Sinne, dass
er zugunsten der legitimen geistlichen Autoritäten gegen fremde Sekten eingreife.
Die entsprechenden Denkschriften waren in der Tat vorhanden. Nach den Würdenträgern sub una hatten sie auch jene sub utraque geliefert und es ist ziemlich
sicher, dass manche von ihnen (nicht zuletzt der utraquistische Administrator, wie
wir noch sehen werden) auf diese Weise wenigstens sich selbst schützen wollten,
die unter dem Druck von Denunzianten wie Paul Smetana standen.
Vordringlich wurden tatsächlich gerade diejenigen verfolgt, die sich aus der adiaphoristischen Deckung wagten und namentlich gegen zwei klar definierte Kriterien
verstießen: gegen die Forderungen der römisch approbierten Priesterweihe und des
Zölibats. Die Mehrzahl der utraquistischen Geistlichen hielt damals – vor allem aus
Angst vor Eingriffen des Königs – an beiden dieser Traditionen fest. Für Anxiginus
spielten die beiden genannten Kriterien nur eine untergeordnete Rolle, zumal er
selbst – wie die meisten seiner utraquistischen Berufsgenossen – in Venedig von
einem griechisch-katholischen Bischof geweiht worden und zudem unverheiratet
war. Mit seinem Aktivismus zog er jedoch erhöhte Aufmerksamkeit auf sich, und
dies nach Meinung vieler Amtsbrüder unnötigerweise. Ganz allein stand Anxiginus mit seinem leichtsinnigen Verhalten damals allerdings nicht da. Dies zeigt
ein Blick auf die Schule von Camenicenus, die wiederum die Aufmerksamkeit der
geistlichen und weltlichen Behörden in Prag erregte; unter anderem untersagte
man den Gebrauch des gerade veröffentlichten Gesangbuchs von Nicolaides, quod
invocationes, quae ad divos et divas fiebant in templis, convertit ad filium Dei.80 Zu
79 Vgl. Jednání a dopisy konsistoře katolické i utrakvistické [Verhandlungen und Briefe des katholischen sowie utraquistischen Konsistoriums], 2 Bde., Praha 1869/69, ed. K. Borový
(MHB), Bd. 2: Akta konsistoře katolické [Akten des katholischen Konsistoriums], Praha 1869,
S. 155 ff., Nr. 707 ff. (eine ganze Reihe der Mandate zum Stoff, teilweise in deutscher Sprache).
80 Dopisy M. Matouše Kollína, ed. F. Menčík (wie Anm. 74), S. 39, Nr. 14. Hier ist aber eine
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
431
den Zöglingen der Schule gehörte auch Simon Fischer-Haliaeus, der in Saaz kurz
vor Anxiginus als Kaplan gedient hatte und in den Jahren der Verfolgung bereits
Dekan im benachbarten Kaaden/Kadaň gewesen war. Selbst in der damaligen Situation polemisierte Fischer-Haliaeus gegen das Konsistorium mit Blick auf eine fehlende biblische Begründung mancher utraquistischen Gebräuche,81 was ihm eine
Gefängnisstrafe und Ausweisung einbrachte.
Das Verhalten von Anxiginus musste also nicht unbedingt und vordergründig einer Verkennung des Ernstes der Lage entspringen. Die Situation mochte
im Gegenteil für den Kuttenberger Prediger und seine Gleichgesinnten geradezu
eine Herausforderung zu einem umso zäheren Widerstand gewesen sein, der auch
andere mitreißen konnte, um die momentan ungünstige Entwicklung umzukehren. Dies hätte allerdings zahlreiche Anhänger erfordert. Es ermutigte Anxiginus
sicherlich, dass er auch in Kuttenberg seinen ersten festen Verbündeten fand, und
zwar im Pfarrer an der ‚Unteren‘ Kirche, der Mutter-Gottes-Kirche Na Náměti,
Briccius Tajovinus/Brikcí Tajovský. Ein Ortschronist berichtete über eine gemeinsame Aktion, die diese beiden am 23. März 1554 unternahmen:
‚Am Karfreitag wurde die Monstranz cum sacramento weder ins Grab gelegt noch am Altar
ausgestellt, in der hohen Kirche wie auch in der Kirche Na Náměti. Lediglich in der Barbarakirche hielt sich Priester Matthäus an den früheren Brauch. Aber Priester Viktorin bei der
hohen Kirche und Priester Briccius Na Náměti redeten den Leuten eindringlich zu, die Grablegung und die Ausstellung sei nicht aus der Schrift, sondern eine menschliche Satzung gegen
das Gottesgebot und die Heilige Schrift etc.‘82
Dieses Auftreten erregte Aufsehen, wenngleich die Resonanz darauf nicht gerade
groß war. Zweifellos auch deshalb, da die inländischen Verhältnisse in einer
Textkorrektur zu berücksichtigen, die K. Hrdina, in: LF 43 (1916), S. 63, in seiner Rezension durchgeführt hat.
81 Ein zeitgenössisches Zeugnis zitiert I. J. Hanuš, Kněz Jan Štelcar Želetavský z Želetavy co
literát český. Obraz literatury české 16. století [Der Priester Jan Štelcar Želetavský aus Schelletau als tschechischer Literat. Ein Bild der tschechischen Literatur des 16. Jahrhunderts], in:
ČMKČ 38 (1864), S. 262–287 und 343–352, hier S. 285 f.
82 Mikuláš Dačický z Heslova. Prostopravda. Paměti [Nikolaus Dačický von Heslov. Pure Wahrheit. Erinnerungen], edd. E. Petrů / E. Pražák (Živá díla minulosti [Lebendige Werke
der Vergangenheit] 9), Praha 1955, hier [Teil] Paměti, S. 101–644, hier S. 225 f.: U Veliký
pátek monstrancí cum sacramento není do hrobu položena, ani na oltář vystavena v Vysokém a
Námětském kostele. Toliko v kostele Barborském vedle prvnějšího obyčeje kněz Matouš se zacho
val. Ale kněz Viktorin u Vysokého kostela a kněz Brikcí u Námětského tuze o tom lidem mluvili,
že to do hrobu kladení a vystavování z Písma svatého není, nežli lidské ustanovení proti božímu
přikázání a Písmuom svatým etc.
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432
Martin Wernisch
entscheidenden Hinsicht nicht mit jenen in Magdeburg vergleichbar waren: In
Böhmen forderte der König nicht so deutlich, dasjenige aufzugeben, was inzwischen in sämtlichen regionalen Kirchen üblich geworden war, und zwar unter
Einschluss von Geistlichkeit und Volk sowie gar einer ganzen Generation, die
damit aufgewachsen war. Somit fehlte hier der soziale Hintergrund für einen
gnesiolutherischen Widerstand.
Der Adiaphorismus konnte sicher eine Kompromissbereitschaft fördern, was
bisweilen auch einen Rückzug ermöglichte und unter dem ständigen gegenreformatorischen Druck bei wankelmütigeren Charakteren letztlich zu einer Demoralisierung führte. In der Regel jedoch diente der Adiaphorismus immerhin als
Instrument einer allmählichen Protestantisierung, das eben den inländischen
Bedingungen angepasst war. Anxiginus und der genannte Pfarrer Tajovinus wollten nun weiter gehen; vielleicht nicht weiter, als man es inzwischen in Saaz getan
hatte, dennoch aber weiter, als es sogar die ebenso nicht typische ‚nonkonforme‘
Kuttenberger Gemeinde bisher gewagt hatte – selbst für die letztere waren diese
Forderungen damals zu radikal. Dekan Hradecký war von der Auflehnung allem
Anschein nach umso mehr verärgert, weil sie von doppelter Seite kam. Da er die
Situation nicht befrieden konnte, verwies er den Fall an das Prager Konsistorium.
2.2.4 Der Rechtsstreit
Man kann wohl nicht davon ausgehen, dass der Dekan seine Untergebenen dem
Verderben preisgeben wollte. Nicht nur, dass er ähnliche Konflikte selbst aus
umgekehrter Perspektive erlebt hatte, sondern er blieb auch evangelisch genug
orientiert, um später die Stelle des Dekans in Saaz zu erlangen und diese für
lange Jahre innezuhaben – unter anderem wird er diese Zeit nutzen, um einen
Auszug aus der tschechischen Übersetzung von Luthers „Heerpredigt wider den
Türken“ für den Druck vorzubereiten. In der zugespitzten Lage des Jahres 1554
aber wollte er sich selbst vor den Folgen eines Verhaltens schützen, das ihm nicht
sinnvoll dünkte, in der Hoffnung, dass die Konsistorialräte die beiden Hitzköpfe
zur Vernunft bringen würden.
Tatsächlich ist gut belegt, dass Mystopol und seine Gefährten auch in dieser
kritischen Zeit weiterhin jeden mit Nachsicht behandelten und gegenüber strengeren Beisitzern verteidigten, der eine Bereitschaft zur Reue zeigte und Besserung
versprach. Gallus/Havel Gelastus Vodňanský (1520–1577), damaliger Exponent
des Königs im Konsistorium, beschwerte sich noch 1561 beim Herrscher über
dieses Vorgehen in Disziplinarsachen. Dabei führte er etliche konkreten Beispiele
an, wobei Briccius et Victorinus, tunc parochi Guthembergenses nicht ausgelassen
wurden. Anxiginus ist hier zwar – gemäß dem offiziellen Rang – an zweiter Stelle
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
433
genannt, doch Gelastus hat sogleich hinzugefügt: quorum alter, nempe Victorinus,
sediciosum scriptum publicavit.83 Damit erscheint der junge Prediger auch laut dieser
Quelle als die führende Gestalt und als Hauptsprecher des rebellischen Gespanns,
der seine Einstellung öffentlich und grundsätzlich darlegte.
Nach den gnesiolutherischen Vorbildern wollten sich die beiden Angeklagten
auch vor dem Konsistorium als unbeugsam erweisen und keine Hilfe annehmen.
Beim Verhör am 30. März 1554 verhielten sie sich prinzipienfest, unbestechlich
und keineswegs nachgebend. Auf die adiaphoristischen Richtlinien der Kirche
bezogen sie sich höchstens in dem Sinne, dass diese ja ein Provisorium hinsichtlich der überflüssigen Zeremonien darstellten, wobei das Kuttenberger Volk sich
inzwischen an die Änderung ‚gewöhnte und nichts mehr einwendet‘.84 Hauptsächlich beriefen sie sich jedoch auf das Wort Gottes und auf das eigene Gewissen: ‚Deshalb wollen sie das so lassen und gedenken nicht, es wieder in die Kirche
einzuführen, ersuchend, dass sie dabei belassen werden mögen.‘85
Dies erachteten allerdings nicht einmal die nachsichtigsten Konsistorialräte
für möglich. Sie waren sich dessen bewusst, dass sie aufmerksam beobachtet wurden und wollten sie nicht selbst gestürzt werden, mussten sie ihre Überzeugungskünste nachweisen. Als die Vorgeladenen ‚nicht wollten, solches annehmen und
tun, die expositionem sacramenti wieder aufzurichten und in Kuttenberg einzuführen, sind sie unter Strafe und ins Gefängnis im Rathaus der Prager Altstadt
genommen‘ worden.86 Der Kuttenberger Chronist fügte hinzu: ‚Man verlangte
von ihnen, entweder die Monstranz auszustellen oder auf den Vollzug ihres Priesteramtes in Böhmen und Mähren zu verzichten. Und sie gingen darauf ein, dass
sie ihr Priestertum in Böhmen und Mähren aufgeben mögen.‘87
Der sachliche Ton dieses Zeugen, der in seinem Bericht weder zugestimmt noch
getadelt hat, wird sogleich aussagekräftiger, wenn wir das konfessionspolitische
83 V. Chaloupecký, Pře kněžská z r. 1562. Příspěvky k náboženské politice Ferdinanda I.
v Čechách [Der Rechtsstreit der Priester von 1562. Beiträge zur Religionspolitik Ferdinands I.
in Böhmen], in: VKČSN TFHJ 4 (1925), S. 1–207, hier S. 52, Nr. 9; vgl. auch Akta konsistoře
utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 374, Nr. 538.
84 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 323, Nr. 509: obvykl a již nic
neříká.
85 Ebd.: Protož oni také toho zanechati chtějí a uvozovati zase v tu církev nemíní, žádajíce, aby při
tom tak zůstaveni byli.
86 Ebd.: toho přijíti nechtěli a učiniti, aby tu expositionem sacramenti zase vyzdvihli a tam u Hory
uvedli, jsou vzati do trestání úřadu a do vězení na rathouz starého města Pražského.
87 Mikuláš Dačický z Heslova. Paměti, edd. E. Petrů / E. Pražák (wie Anm. 82), S. 226: toho
na ně podáno, aby monstrancí vystavovali, anebo aby kněžství v Čechách ani v Moravě neužívali.
A oni přistoupili k tomu, že kněžství v Čechách a Moravě zanechají.
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434
Martin Wernisch
Profil des Verfassers betrachten. Andreas/Ondřej Dačický-Křivoláček (1510–
1571) gehörte zu den mutigsten Sprechern aus den Reihen der Stadtbürger in
der Konvokation des Jahres 1549, indem er höchstpersönlich dem König entgegenhielt, dass ‚nicht der Papst, sondern Herr Christus, der Gottessohn, selbst
das Haupt der Weltkirche ist‘.88 Den Reformator Luther bezeichnete er in seinen
Aufzeichnungen als ‚hervorragenden Prediger und Lehrer der Heiligen göttlichen
Schrift‘,89 den Dekan Wenzel Řezník als ‚ausgezeichneten Prediger des Gotteswortes‘.90 Es lässt sich also voraussetzen, dass er durchaus Sympathie für den Mut und
die Opferbereitschaft der beiden Pfarrer hegte, aber andererseits war er Mitglied
einer Gemeinde, die gleichwohl nicht bereit war, mit den radikalen Geistlichen
ins Exil zu gehen.
Weitere Zusammenhänge und Tatsachen lassen sich ebenso den Protokollen
eines Rechtsstreits entnehmen, wiewohl dieser die suspendierten Geistlichen aus
Kuttenberg nur indirekt betraf und ganze acht Jahre später stattfand. 1562 war es
Mystopol selbst, der sich aufgrund von Gelastus’ Klagen zusammen mit anderen
Gefährten vor dem Kammergericht verantworten musste. Die Stellung des Administrators war übrigens bereits während der kritischen Zeit in der Mitte der 1550er
Jahre so geschwächt worden, dass er schon 1555 wegen seiner Unzuverlässigkeit,
die vor dem Hintergrund der Massensäuberungen deutlicher als früher zutage
getreten war, des hohen Amtes enthoben wurde.91 1562 wurden die Angeklagten jedoch nicht mehr nur einer Nachlässigkeit und Deckung fremder Verstöße
bezichtigt, sondern auch eigener Delikte teilweise doktrinärer Art.
Anxiginus und Tajovinus wurden hier aber ebenso durch schärfere und deutlichere Formulierungen inkriminiert als zuvor in den Konsistorialakten. Bereits
aus diesen lässt sich zwar herauslesen, dass die Beschwerden gegen sie nicht ausschließlich die unterlassene Sakramentsaustellung betraf, sondern allgemeiner
‚manche Zeremonien, die in den Kuttenberger Kirchen von alters her eingehalten wurden‘, aber die beiden Pfarrer ‚haben sie jetzt verändert und aufgehoben‘.92
Doch während es Dekan Hradecký hinderlich war, dass seine Untergebenen den
Schild der Adiaphora zur Unzeit aufgaben, nahmen die Feinde der Evangelischen
verständlicherweise am Kernpunkt Anstoß, der durch diesen Schild verdeckt
Ebd., S. 177: ne papež, ale sám Kristus Pán, syn boží, jest hlava církve světské.
Ebd., S. 220: vejborný kazatel a učitel Písma svatého božského.
Ebd., S. 225: kazatel slova božího vejborný.
Vgl. K. Krofta, Boj o konsistoř pod obojí v letech 1562–1575 a jeho historický základ [Der
Kampf um das Konsistorium sub utraque in den Jahren 1562 bis 1575 und seine historische
Grundlage], in: ČČH 17 (1911), S. 28–57, 178–199, 283–303, 383–420, hier S. 193–196.
92 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 323, Nr. 509: některé ceremo
nie u Hory v kostelích zachovávané od starodávna, nyní oni změnili a složili.
88
89
90
91
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
435
werden sollte. Mystopol wurde deshalb aus gegenreformatorischer Perspektive
eine ‚unterlassene Fahndung der Unbill‘ zur Last gelegt, ‚die in Kuttenberg der
heiligen Messe, Christus und den Heiligen widerfuhr, von den Pfarrern, welche
[die Seelen, Anm. M. W.] vom Heil abführen und morden‘.93
In diesem Kontext erscheint die (zeitweilige?) Sakramentsausstellung klar als
hauptsächliches symbolisches Streitobjekt, wozu das Konsistorium als minimales
Zugeständnis bereit gewesen war, das eine Untersuchung von wichtigeren Fragen
hatte abwenden sollen, nämlich den inneren Zustand der Gemeinde und den im
Wesentlichen evangelischen Charakter des Gottesdienstes in Kuttenberg. Die
widerspenstigen Prediger, die sogar diese Konzession abgelehnt hatten, boten
allerdings später ein willkommenes Argument für die Verteidigung Mystopols:
Während er in den allermeisten Fällen die Gründe für seine Nachsicht erklären musste, hatte er, als es nun tatsächlich ernst wurde, seine Disziplinarpflicht
erfüllt!94 Bemerkenswert sind ebenso die Unterschiede zwischen drei konkreten
Fällen, die er in diesem Zusammenhang angab. Zwei davon machen deutlich, dass
sogar dort, wo das Konsistorium die Gefängnisstrafe verhängte, dies als Mittel
gedacht war, den Verstoß zu sühnen und dann möglichst wieder in den geistlichen Dienst zurückkehren zu können! Und einer dieser Fälle betraf immerhin
selbst Tajovinus, der in Mystopols Darlegung ‚ein Priester guten Gewissens und
Umgangs war, lediglich über die häufige Ausstellung des Leibes des Herrn sich
beschwerend. Deswegen wurde er auch bestraft, doch bald darauf auf Initiative
von Johann von Pernstein freigelassen.‘95
Dagegen blieb Anxiginus eine Ausnahme von der Ausnahme und fand keine
so gütige Beurteilung. Im Unterschied zu Tajovinus war er nämlich auf eine
Weise aus der Haft entkommen, die Mystopol als unehrenhaft geschildert hat:
‚Auf Ansuchen und Fürsprache einiger Freunde [wohl Verwandte, Anm. M. W.]
gegen eine Bürgschaft aus dem Gefängnis entlassen, lief er davon und betrog seine
93 V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 78, Nr. 29: nestižení křivdy svaté mše a Pána Krista
i svatých, kteráž se u Hory děla od farářův, jenž od spasení odvozují a mordují (mit einer irrtümlichen Identifizierung des betreffenden Falls in der Fußnote 17).
94 Ebd., S. 82 f., Nr. 29; vgl. zu dieser Abwehrtaktik Mystopols: Akta konsistoře utrakvistické,
ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 380 f., Nr. 540.
95 V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 82, Nr. 29: kněz dobrého svědomí a obcování byl, toliko
častá vystavování těla Páně sobě stěžujíc. Pročež také trestán a odtud někdy P. Janem z Pernšte
jna vymožen jest. Johann (IV.) von Pernstein starb jedoch bereits 1548. Im Fall von Tajovinus
ging es also wahrscheinlich um Adalbert/Vojtěch (d. J.) von Pernstein (1532–1561), einen
der bedeutendsten utraquistischen mährischen Adligen, der im Unterschied zu seinen beiden
älteren zur römischen Kirche konvertierten Brüdern Jaroslav (1528–1569) und Vratislav II.
(1530–1582) im utraquistischen Glauben seines Vaters ( Johann IV.) verharrte.
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436
Martin Wernisch
Bürgen.‘96 Und dabei hatte er zuvor offenbar eine zweite Chance bekommen, ohne
aber von seinen Provokationen abzulassen.
2.2.5 Die Magdeburger Mission im Herbst 1554
Die erwähnte Gewähr bezog sich nämlich allem Anschein nach nicht auf seine erste,
sondern auf seine zweite Haftzeit: ‚Als der Priester Viktorin wegen eines irrigen
Traktats, der nach Kuttenberg und hierauf zum Priester Jan [Mystopol, Anm. M.
W.] gelangt war, vorgeladen wurde.‘97 Dieses Detail ist bisher der Aufmerksamkeit
entgangen. Der oben zitierte Bericht von Gelastus kann den Anschein erwecken,
sediciosum scriptum habe den Ostereklat begleitet und sämtliche Aussagen über
das Verfahren gegen den Kuttenberger Prediger würden sich demnach auf diesen
beziehen. Deshalb gilt die betreffende Schrift von Anxiginus in der Fachliteratur
als verschollen.98 Beim Prozess im Jahr 1562 wurde jedoch ausdrücklich ‚ein Vorwort des Priesters Viktorin Anxiginus zu zwei Predigten des Meisters Jan Hus‘
als Beweisstück vorgelegt99 – und dies ist erhalten und bekannt.100 Zugleich ist
es allerdings ‚am Montag vor St. Gallus des Jahres M.D.LIIII.‘ (d. h. am 15. Oktober) datiert101 und mit vollem Namen des ‚Priester[s] Viktorin Anxigin Skutečský,
Diener[s] Jesu Christi‘ versehen,102 der auf dem Titelblat desselben Druckes als
‚ehemals der Prediger des Evangeliums Christi in Kuttenberg‘ bezeichnet worden
ist.103 Das Vorwort bezieht sich somit nicht nur auf ein zeitlich weiter fortgeschrittenes Stadium des Streites, sondern auch auf eine inhaltlich höhere Stufe.
96 Ebd.: jsúc na prosbu a přímluvu některých přátel na rukojmě z toho vězení dán, pryč ušel a ruko
jmě své zavedl.
97 Ebd.: když ten kněz Viktorin pro bludný traktát, kterýž do Hory Guthny a potom k němu Janovi
se dostal, obeslán byl.
98 Vgl. A. Truhlář / K. Hrdina / J. Hejnic / J. Martínek, Rukověť humanistického básnictví v Čechách a na Moravě/Enchiridion renatae poesis Latinae in Bohemia et Moravia
cultae, 6 Bde., Praha 1966–2011, Bd. 1: A–C, Praha 1966, S. 91. Es ist übrigens keineswegs die
einzige Stelle in diesem Biogramm, die mit unseren Feststellungen nicht ganz übereinstimmt,
trotz der insgesamt hohen Qualität des Handbuches.
99 V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 81, Nr. 29: prefací kněze Viktorina Anxigina na dvoje
kázání mistra Jana Husi učiněná.
100 Vgl. V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje o Antikristu a Šelmě, která bojuje
proti svatým […] [Zwei Predigten M. Johannes Hus’ über den Antichrist und das Tier, das
gegen die Heiligen kämpft …], Magdeburg: (unbekannter Drucker) 1554 (K03255, VD16 ZV
31833); Näheres zum Druckjahr und -ort noch unten.
101 Ebd., fol. A6v: w pondielij przed S. Hawlem Leta. M. D. LIIII.
102 Ebd., fol. A2r: Kniez Wiktorin Anxigin Skuteczky sluziebnik Gezisse Krysta.
103 Ebd., fol. A1r: Niekdy kazatele Ewangelium Krystowa na Horach Kutnach.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
437
Der Aussagewert des Werkes ist enorm. Es beweist mehr als bloß den Widerwillen, mit welchem Anxiginus die Duckmäuserei seiner Vorgesetzten wahrnahm –
einschließlich aller Argumente, die ihn überzeugen sollten, was er indes nicht
akzeptierte. Im Text, an ‚alle Gläubige Jesu Christi und Liebhaber seines Evangeliums‘ gerichtet, ‚die im böhmischen Land sind‘, ließ er freilich seiner Abneigung
freien Lauf.104 Mit scharfen Worten wandte er sich gegen ‚weibische Weichlinge‘,
die fragen: ‚Was schadet es, wenn man denn etwas auch aus den päpstlichen Zeremonien um des Friedens willen annimmt, und um größere Sachen geringerer halber nicht zu verderben, warum sollte es nicht möglich sein, dabei doch das Wort
Gottes zu predigen?‘ So spreche zwar ‚sicher ein gesunder Verstand‘ dafür,105 doch
der Verfasser konnte dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Nichtsdestoweniger vermied Anxiginus persönliche Auseinandersetzungen und Angriffe. Er
war bestrebt, die Streitfrage, die ihn beschäftigte, prinzipiell zu lösen. Vor allem
wollte er den Blick nach vorn richten, wenngleich unter einem apokalyptischen
Horizont. Unter das Eingangsmotto des Buches (wohlgemerkt: „über den Antichrist und das Tier, das gegen die Heiligen kämpft“) hat er die Worte gesetzt:
Haec est Ecclesiae senescenti facies istis temporibus postremis.106 Bei Anxiginus heißt
es weiter: Ein verwahrlostes Gesicht, das für Sterbende wohl natürlich ist, aber
sich für die Kirche Christi nicht geziemt; den neugeborenen Christen gebietet
die verkürzte zeitliche Perspektive angesichts des nahenden Jüngsten Gerichts
hingegen dringend, sich aufzulehnen, mit dem Taktieren aufzuhören und den
elementaren Verpflichtungen nachzukommen, an welche die vorangestellten
biblischen Zitate ermahnen: Keine falschen Lehrer zu sein, die eine Verdammnis
herbeiführen, und nicht das Tier anbeten.
Mit solcher Anschaulichkeit hat Anxiginus seine Botschaft gleich am Anfang
eingeleitet und im Vorwort breiter ausgeführt. Solange es noch Zeit war, mochte
er weiterhin eine möglichst große Begeisterung in seiner Heimat entfachen – im
Volk, in welchem ‚viele die rechte und reine Predigt des Wortes Gottes kaltherzig
empfangen‘107 und
104 Ebd., fol. A2r: Wssem wierziczym w Gezisse Krysta a geho Ewangelium milugiczym / kterzi w
Czieske zemi sau.
105 Ebd., fol. A4r: zienkeylowe […] Czo / prawij / to sskodij / kdyby se pak nieczo y z Ceremony Pa
pezskeych przigalo pro pokog / a aby wieczij wieczy nebyly pro menssi zkazieny / zdaliz przitom
nemuz se przedse slowo Božij kazati? Zdraweg gistie rozum.
106 Ebd., fol. A1v; zum Begriff ecclesia senescens; WA TR, Bd. 2: Tischreden aus den dreißiger
Jahren, Weimar 1913, S. 64,26, Nr. 1351; doch derselbe Ausdruck wiederholt sich ebenso in
Melanchthons Briefwechsel.
107 V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje (wie Anm. 100), fol. A2v: mnozy stude
nie prawe a cziste kazanij slowa Boziho przigimgij.
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438
Martin Wernisch
‚viele, angesichts von Drohungen der Heuchler unter seltsamen Gedanken schwankend, um
das elende Leben und andere zeitliche Dinge zu erhalten, sehr erlahmen. Wegen einer geringen
Gefahr lassen sie sofort vom Glauben ab und suchen dabei sonderbare Auswege, die sie finden
könnten, um bei dem Volk nicht in den Verdacht zu geraten, sie würden in etwas nachgeben.
Sie machen es, um sich einfach vor dem Kreuz wie der Hase vor der Trommel zu verbergen,
aber da sie nicht wollen, dass die Menschen es bei ihnen sofort erkennen, legen sie merkwürdige
Gründe vor, warum sie sich mitunter mit den Götzendienern vergleichen.‘108
In diesem schrillen Licht erschien Anxiginus der Adiaphorismus völlig anders als
seinen Fürsprechern: Die reinen Heuchler, die nicht einmal an einen Abgott glauben, aber die ihm trotzdem dienen, sind kein Randproblem, sondern sie dirigieren die Menge der schwankenden, nicht fest gläubigen Christen erfolgreich zum
Vorteil der schlechten Sache – und der Teufel, der ‚viele dem Willen Gottes widrigen Dinge, welche ihren offensichtlichen Ursprung in der Lehre des Antichrists
haben, hinzufügt‘109 (unter anderem auch die ‚Ausstellung des Brots im silber[nen
Gefäß]‘),110 verdirbt ‚umso sicherer den eigentlichen Sinn der Heiligen Schrift‘.111
Für Anxiginus war nun gerade die Erduldung ‚allerlei Feindseligkeiten um des
Glaubensbekenntnisses willen‘ das einzige bleibende Heilsmittel gegen die Gefahr
des falschen Christentums112 – was alle erkennen sollten, die ‚ein Wachstum des
rechten Glaubens in ihren Herzen spürten‘.113 Darum führte er weiter aus: Hüte
man sich vor jeder anderen als der apostolischen Lehre und vor einer Übereinstimmung zwischen Christus und Belial! Denn die beständigen Kämpfer gegen
das apokalyptische Tier sollen doch nicht einmal das Geringste für die Heuchler tun; seht nur die Märtyrer, heißt es, die makkabäischen und die hussitischen.
Das wortgewaltige Finale lässt deutlich erkennen, dass Anxiginus sich in der Tat
danach sehnte, in seiner geprüften Heimat einen Widerstand zu entfesseln, der
vergleichbar wäre mit dem der Magdeburger Pfarrer und Bürger.
108 Ebd., fol. A3r f.: mnozy pro zachowanij tohoto bidneho ziwota / a gineych wieczy cziasneych /
proti pohruzkam pokrytczuw se klaticze sebau diwneym mysslenim / welmi mdlegij / a od wiry
pro sspatne nebezpeczienstwij hned odstupugij / a przitom diwneych pruchodu / kudyby mohli
proniknauti / hledagij / aby lidu w podezrzenij (zie nieczemu powolugij) neupadli / a zhola to
czinij / aby se przed krziziem / yako zagicz przed bubnem / skryli / a te newiery aby lide przi nich
tak pogednau neseznali / diwne przicziny / procz niekdy s modlarzi se srownaw agi [sic!].
109 Ebd., fol. A3v: mnohe wieczy wuli Bozske odporne / ktere patrney puwod z vczienij Antikrystowa
magij / przidawa.
110 Ebd.: wystawowanij chleba w strzibrze.
111 Ebd.: tim bezpeczniegij wlastnij smysl pisma Swateho porussuge.
112 Ebd., fol. A3r: wsselika protiwenstwij pro wyznani wiry.
113 Ebd., fol. A3v: wzrostu prawe wiry w swych srdczych poczytili.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
439
Dabei ist der Verweis auf den Hauptort der gnesiolutherischen Rebellion hier
keineswegs bloß als entfernter, allgemeiner Vergleich gemeint. Der Text von
Anxiginus ist nicht nur in seinem Inhalt und Ton programmatischer Art, sondern
genauso in Details wie seinem Datum. Der Verfasser hat nämlich ausdrücklich
angegeben, dass er seinen Aufruf gerade in jenem Epizentrum, also ‚in Magdeburg‘,
geschrieben hat.114 Einen Hinweis auf diesen Ort konnte man zwar bekanntlich
sogar in solchen Fällen anwenden, wo es sich um keine reale Herkunftsangabe,
sondern lediglich um eine Deklaration symbolischer Zusammenhänge handelte –
namentlich in der berühmten ‚Magdeburger‘ Schrift des Genfer Theologen Theodor Beza (1519–1605). Im Fall von Anxiginus gibt es jedoch keinen triftigen
Grund, warum man seine Anwesenheit in der Stadt bezweifeln sollte.
Auch die Buchwissenschaft geht von der Authentitizät des Impressums aus:
‚Gedruckt in Magdeburg. 1554.‘115 Aus buchkundlicher Sicht ist auf jeden Fall auffällig, dass man sich behelfsmäßig solcher Drucktypen bedient hat, die ursprünglich nicht für tschechische Texte bestimmt waren: Das Buch ist mit ‚schwäbischen Lettern ohne Akzente‘ gedruckt worden116 oder genauer ‚mit fünf verschiedenen Stufen von Rotunda, Schwabacher und Fraktur‘ ohne diakritische
Zeichen.117 Somit ist das Werk weder in böhmischen Landen (was nur äußerst
schwierig durchführbar gewesen wäre) noch in Nürnberg hergestellt worden, wo
man Aufträge aus Böhmen gewöhnlich erledigte. Der Verleger ist im Buch zwar
nicht genannt, es fehlt auch sein Signet, doch es bietet sich an, logischerweise an
Michael Lotter d. J. († 1554/55) zu denken, der unter anderem auch die bekannte
„Confessio et Apologia pastorum & reliquorum ministrorum Ecclesiae Magdeburgensis“ gedruckt hat.118
Sogar bei den Kerntexten des Buches ist es zweifelsfrei, dass Anxiginus diese
aus deutschen Quellen schöpfte, wobei die reichen Bestände der Magdeburger
Zenturiatoren wieder mit hoher Wahrscheinlichkeit in Erwägung zu ziehen sind.
114 Ebd., fol. A6v: W Magdeburcze.
115 Ebd., fol. C8r: Tlaczieno w Magdeburcze.
116 J. Jireček, Dějiny literatury české [Geschichte der tschechischen Literatur], 1. Teil, Praha
1875/76, Rukověť k dějinám literatury české do konce XVIII. věku, ve spůsobě slovníka životopisného a knihoslovného [Handbuch zur Geschichte der tschechischen Literatur bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts, als biografisches Wörterbuch und Lexikon der Bücherlehre], Bd.
1: A–L, Praha 1875, S. 18: „literami švábskými bez akcentův“.
117 P. Voit, Český knihtisk mezi pozdní gotikou a renesancí II. Tiskaři pro víru i tiskaři pro
obrození národa 1498–1547 [Der böhmische Buchdruck zwischen der Spätgotik und der
Renaissance II. Die Drucker für den Glauben sowie die Drucker für die Wiedergeburt des
Volkes 1498–1547], Praha 2017, S. 516: „pěti různými stupni rotundy, švabachu a fraktury“.
118 Vgl. ebd.
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440
Martin Wernisch
Sie sind nämlich nicht aufgrund von unbekannten tschechischen Handschriften
oder Drucken übersetzt worden, sondern nachweislich aufgrund der Sammlung,
die Otto Brunfels (1488–1534) 1524 unter dem Titel „Anatomia Antichristi“ in
Straßburg herausgab. Am deutlichsten lässt sich diese Tatsache durch eine Stelle
belegen, die man durch Vergleich mit einer vollständig erhaltenen Vorlage eruieren
kann, wo Brunfels nur Fragmente des authentischen Wortlauts bekannt waren.119
Zu den sekundären Indizien gehört eine gemeinsame irrtümliche Zuschreibung
der Autorschaft: Die beiden vermeintlichen Predigten (wie auch die beigefügte
‚Ermahnung an die Priesterschaft, die menschliche Lehre und Erfindungen fallen
zu lassen und sich selbst wie auch das Volk nach dem Wort Gottes zu richten‘)120
von Jan Hus stammen in Wirklichkeit alle aus „Regulae Veteris et Novi Testamenti“, dem umfangreichen Hauptwerk des Matthias von Janov/Matěj z Janova
(ca. 1350–1393).121 Als Editor vollbrachte Anxiginus also keine eigenständige
Leistung, sondern er übersetzte die Texte lediglich (inhaltlich treu und sprachlich gediegen) für seine höchst aktuellen praktischen Zwecke.
Die Tatsache, dass das Buch mit böhmischen Beispielen operierte, sowohl
in der Textauswahl wie auch im Vorwort, ist einsichtig, da es eben für Böhmen
bestimmt war. Das Landeskolorit korrespondierte mit der hier genutzten Sprache.
Wenn man so will, lässt sich darin auch das einzige taktische Element des gewählten Vorgehens sehen: Anxiginus betonte nicht so sehr fremde und für viele von
vornherein verrufene Vorbilder, sondern begründete eher ein altes Heimatrecht
der Lehre, die er vertrat. Aber es wäre mitzubedenken, dass selbst die deutschen
Reformatoren (mit Luther beginnend) ähnlich verfuhren, als sie böhmische
Adressaten ansprachen. Dieses Verhalten steht in keinem Widerspruch etwa zur
Gesinnung von Flacius, der ein intensives Interesse für die böhmischen vorreformatorischen Zeugen der Wahrheit zeigte und unbefangen von nos Lutheranos et
Hussitas sprach.122 Aus dieser Perspektive werden die beiden verbündeten Seiten
119 Vgl. V. Kybal, M. Matěj z Janova. Jeho život, spisy a učení [M. Matthias von Janov. Sein Leben, seine Schriften und Lehre] (Spisy poctěné jubilejní cenou Královské české společnosti
nauk v Praze [Die durch den Jubiläumspreis der Königlich-böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften geehrten Schriften] 17), Praha 1905, S. 67.
120 V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje (wie Anm. 100), fol. C3v: napomenu
tij / ktere czinij k kniezstwu / aby zanechagicze vczienij a nalezkuw lidskych / sebe a lid slowem
Bozim zprawowali.
121 Aus den Traktaten „De unitate et universitate ecclesie“, „De testibus veritatis“, „De Antichristo“
und „De abhominacione in loco sancto“; genaue Identifizierung bei V. Kybal, Matěj z Janova
(wie Anm. 119), S. 59–70.
122 Vgl. sein Werk „Consultatio de conscribenda accurata historia ecclesiae“ (aus demselben Jahr
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
441
nur noch durch äußerliche Zeichen (samt den Titeln) getrennt und ihre Verwendung ändert nichts am Wesen der Sache.
Hinzu kommt: Anxiginus schwächte Verweise auf gnesiolutherische Mustern
zwar einigermaßen ab, wenn er diese eigentlich nur indirekt erwähnte, aber er ließ
sie keineswegs völlig weg. Im Gegenteil animierte er seine Landsleute durch einen
vorwurfsvollen Vergleich (der allerdings in den innerutraquistischen Auseinandersetzungen recht bald nach dem reformatorischen Auftreten Luthers auftauchte,
sodass sogar dieser inzwischen bereits als traditionelles Argument gelten durfte):
‚Seid eingedenk, dass eure Vorfahren anderen Völkern mit der heilsamen Lehre
und dem rechten Gottesdienst dienlich waren. Und wo ist es unterdessen hingekommen? Jetzt habt ihr vonnöten, dass sie es wiederum mit euch teilen. Oder
wo ist die Lehre des Meisters Jan Hus heiligen Gedächtnisses? Diese wird nicht
mehr von euch genossen, sondern von den neubekehrten Heiden.‘123
Aus der Sicht des Verfassers war das hussitische Erbe in Böhmen durch langes
Verbergen und verzagtes Taktieren – wie es hieß – verwest und schlammig geworden und die utraquistische Kirche ließ seine treuen Anhänger im Stich, sodass
diese einen Anschub von außen brauchten. Einen solchen versuchte er aus Magdeburg zu übermitteln. Zieht man folglich den Inhalt des Vorworts in Betracht,
muss man feststellen, dass es kaum nötig war, das Programm zur Verbreitung der
gnesiolutherischen Unnachgiebigkeit in Böhmen noch viel deutlicher kundzutun.
An der Übereinstimmung der Anliegen des Anxiginus und seiner Magdeburger
Gastgeber muss niemand zweifeln, wer seine Ausführungen liest und zugleich
die Urkunden des Adiaphoristischen Streites unter den lutherischen Theologen
kennt.124
2.2.6 Gegenwärtige Fehlinterpretation und ihre Ursachen
Dennoch war es noch in jüngster Zeit möglich, dass der starke gedankliche Zusammenhang des Werks mit dem des Kreises um Flacius sogar einem evangelischen
Kirchenhistoriker entgangen ist. Getäuscht durch das ‚altböhmische‘ Gewand
1554!) bei K. Schottenloher, Pfalzgraf Ottheinrich und das Buch. Ein Beitrag zur Geschichte der evangelischen Publizistik (RGST 50/51), Münster 1927, S. 156.
123 V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje (wie Anm. 100), fol. A5v f.: Pamatugte
nato / zie przedkowe wassi gineym narodum vczienim spasytedlneym a prawau pocztau Bozij
posluhowali. A kam se giz to dielo / zie wy zase od nich toho / aby se s wami zdielowali potrze
bugete? Neb kde gest Swate pamieti Mistra Jana Husy vczienij? ktereho giz ne wy / ale pohane
wnowie na wiru obraczeni vziwagij.
124 Nunmehr leicht greifbar in der kritischen Auswahledition in: Der Adiaphoristische Streit
(1548–1560), ed. I. Dingel (C&C 2), Göttingen 2012.
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442
Martin Wernisch
des Textes, kam es hier zur Schlussfolgerung, das Vorwort sei ‚zwar gewissermaßen ein indirektes Bekenntnis zur Reformation, mehr noch äußert es jedoch die
Stellungnahmen der radikalen vorreformatorischen Utraquisten‘, d. h. aus einer
Zeit vor dem Auftreten Luthers (1517).125 Es stimmt freilich, dass die Utraquisten
ebenso gegen menschliche Erfindungen eiferten und insofern in einen größeren
gemeinsamen Zusammenhang gehören, was auch die historische Beweisführung
der ‚lutherischen Hussiten‘ legitimiert hat. Aber die Kritik an ‚der Messe mit
merkwürdigen Gaukelsäcken‘ usw. stellt eben nicht die spezifische Bedeutungsebene der Abhandlung von Anxiginus dar126 – im Unterschied zur Problematik
des Adiaphorismus. Da dies unbemerkt blieb, hat man das Werk von Anxiginus
zu stark in Bezug auf die Tradition aus der Zeit vor der deutschen Reformation
interpretiert, sodass die zeitgenössische Verankerung seines Traktats missverstanden wurde, was bedauernswerte Fehlinterpretationen zu Folge haben kann.
Es gibt jedoch Umstände, die das Versehen verständlich machen. Die Auffälligkeit des Konsenses zwischen Anxiginus und den Magdeburger Theologen in Fragen der Adiaphora und des status confessionis wäre zweifellos größer, wenn Anxiginus in seinem Text auch andere loci der Glaubenslehre thematisiert hätte, und
da er dies nicht tat, ließ er Fragen unbeantwortet, die es hätten einfacher machen
können, Unterschiede zum älteren ‚Linksutraquismus‘ wahrzunehmen. Doch
die Hauptursache, warum eine engere Konvergenz zwischen dem utraquistischen
Verfasser und den Predigern aus Magdeburg nicht erkannt worden ist, mag die
schlichte Tatsache sein, dass eine solche keineswegs geläufig war. Das Interessanteste am Fall von Anxiginus ist im Gegenteil seine Einmaligkeit. Flacianer traten
nämlich in Böhmen (im Unterschied zum benachbarten Österreich) recht selten
in Erscheinung. Wenn die böhmischen Evangelischen eines der verfeindeten Lager
des deutschen Luthertums bevorzugten, dann war dies der philippistische Flügel.
Diese Wahl hatte eine Reihe von Gründen und es ist hervorzuheben, dass die Auseinandersetzung um das Augsburger und Leipziger Interim dabei nur eine untergeordnete Rolle spielte, denn für die Böhmen war dies ja kein unmittelbares und als
ein eigenes empfundenes Problem. Damit hängt allerdings die wichtige Tatsache
zusammen, dass diese Hinwendung zum Philippismus, die von der böhmischen
125 O. Halama, Svatý Jan Hus. Stručný přehled projevů domácí úcty k českému mučedníku
v letech 1415–1620 [Der heilige Jan Hus. Eine kurze Übersicht der Äußerungen der heimischen Ehre dem böhmischen Märtyrer gegenüber von 1415 bis 1620], Praha 2015, S. 70: „[…]
je sice do jisté míry nepřímou přihláškou k reformaci, mnohem více však vyjadřuje postoje
radikálních utrakvistů předreformačních“.
126 V. Anxiginus (Hg.), Mistra Jana Husi kázání dvoje (wie Anm. 100), fol. A3v: Msse s diw
neymi keyklzoky; vgl. auch O. Halama, Svatý Jan Hus (wie Anm. 125).
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
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und nicht von der deutschen Situation ausging, meistens von keiner bewussten
Entscheidung gegen das Gnesioluthertum begleitet war. Die Zerrissenheit des Protestantismus im Allgemeinen und in der unmittelbaren Nachbarschaft im Besonderen verfolgten die böhmischen Evangelischen tatsächlich tief beunruhigt, weil
sie die Abwehrkraft des Protestantismus gegenüber dem gegenreformatorischen
Druck wesentlich schwächte. Den Philippismus bevorzugte man somit nicht so
sehr aufgrund seiner parteilichen konfessionellen Streitlust, sondern wegen seiner
relativen Mäßigkeit, die einer Inklusion sowie einem Irenismus und Konkordismus
förderlich war – selbst den Flacianern gegenüber.127
Mit der eigenwilligen Persönlichkeit von Flacius machten zwar auch einige
Böhmen zwiespältige Erfahrungen, nichtsdestoweniger traten sie ihm ohne Voreingenommenheit entgegen. Man mochte ihn entgegenkommender oder reservierter wahrnehmen, auch hütete man sich in der Regel vor seinen (aber bei
weitem nicht nur seinen) Sonderlehren, doch insgesamt betrachtete man ihn als
eine bedeutende Gestalt der europäischen Reformation, die es trotz ihres schwierigen menschlichen Umgangs verdiente, gehört zu werden. Dies umso mehr, als
gerade er (und eben in den 1550er Jahren) sich Böhmen (und zwar sowohl den
Utraquisten als auch den Brüdern) mit einem außergewöhnlichen Interesse an
der inländischen Überlieferung zuwandte, ja geradezu mit dem Plan, ut omnino
Hussitarum scripta in ordine redigantur.128 Eine beiderseitige Zusammenarbeit
war also möglich und sie kam auch relativ erfolgreich zustande. Sie beschränkte
sich allerdings weitgehend auf die Sammlung von historischen Quellen. Wenn
sich Flacius in den böhmischen Ländern in ein breiteres Bewusstsein einschrieb,
dann war es in dieser Rolle – auch das hilft das fast reflexhafte Vorgehen zu erklären, das Augenmerk im Zusammenhang mit Anxiginus fast ausschließlich auf
die ältere Geschichte des Hussitentums zu richten. In seinem Fall ist dies jedoch
keineswegs angebracht.
Gut möglich ist es zwar, dass Anxiginus in der Tat gerade das Netz von Kontakten, das im Vorfeld der historischen Arbeiten entstanden war, nutzen konnte,
127 Einen eindeutigen Beleg bietet der Prager Professor Matthäus Collinus von Chotěřina/
Matouš Collinus z Chotěřiny (1516–1566), Schüler und Freund Melanchthons und eine der
bedeutendsten Gestalten des böhmischen Protestantismus seiner Zeit. Eigene vermittelnde
Einstellungen und Ziele schilderte er, eine Zusammenarbeit in dieser Richtung erbittend, am
20.10.1556 in seinem Brief an den Wiener Hofrat Kaspar von Niedbruck (ca. 1525–1557),
den wichtigsten Verbindungsmann zwischen den Utraquisten und Flacius. Im lateinischen
Original ediert in: Dopisy M. Matouše Kollína, ed. F. Menčík (wie Anm. 74), S. 92, Nr. 44;
eine unmittelbare Reaktion erfolgt ebd., S. 96 f., Nr. 45.
128 V. Bibl, Der Briefwechsel zwischen Flacius und Nidbruck, in: JGPÖ 17 (1896), S. 1–24; 18
(1897), S. 201–238; 19 (1898), S. 96–110; 20 (1899), S. 83–116; hier 17 (1896), S. 11, Nr. 3.
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Martin Wernisch
um in Magdeburg aufgenommen zu werden, aber es gibt keine Anzeichen dafür,
dass gerade in seinem Fall das historiografische Interesse trotz seiner humanistischen Qualifikation primär war. Im Gegenteil fällt auf, dass sein Name in der
erhaltenen Korrespondenz im Hinblick auf das Sammeln von Quellenmaterial
überhaupt nicht vorkommt, im Unterschied zu etlichen anderen Personen aus
dem Saazer Kreis um Camenicenus oder zu dem Nimburger Dekan Matthias
Lounský und anderen. Hätte er sich also während seiner Tätigkeit in Böhmen
doch am genannten Werk beteiligt, dann wohl eher am Rande. Der betreffende
Briefwechsel deutet übrigens an, dass die zeitgenössischen Experten auf dem
Gebiet der böhmischen Geschichte einen ausreichenden Kenntnisstand besessen
haben mögen, um die Antichrist-Texte des Matthias von Janov von jenen des Jan
Hus unterscheiden zu können, was jedoch Anxiginus nicht vermochte.129 Daraus
wird offensichtlich, dass er die Schriften der hussitischen Klassiker als Mittel dafür
nutzte, um seine böhmischen Zeitgenossen – aus aktuellem Anlass – zur Folge
der Magdeburger Theologie und Kirchenpolitik anzuspornen.
2.2.7 Das Ende der Geschichte
In diesem Streben war Anxiginus jedoch nicht erfolgreich. Der flacianische
Triumph war ihm nicht einmal im Geringsten vergönnt und das Ende seiner
Geschichte wirkt ausgesprochen tragisch. Der oben zitierten Aussage Mystopols
kann man entnehmen, dass Anxiginus seine gedruckte Übersetzung der Werke
von Jan Hus persönlich mit in die Heimat brachte und bereit war, darüber auch
vor den Behörden Rechenschaft abzulegen. Aber es ist niemand bekannt, den er
nachweislich auf seine Seite gezogen hätte.
Gelastus klagte zwar vor dem Gericht, dass ‚sich ebenso Priester Briccius [Tajovinus, Anm. M. W.] und Priester Daniel [aus Mies/Stříbro, Anm. M. W.], seine
Gesellen, im Konsistorium zu dem Vorwort [in der Magdeburger Edition der
angeblichen Werke von Jan Hus aus der Feder von Anxiginus, Anm. M. W.]
bekannten‘.130 Mystopol, der Gelastus ein erneutes Aufgreifen bereits erledigter
Sachen vorwarf, behauptete jedoch, ein diesbezüglicher Verdacht wäre entkräftet.
129 Vgl. Dopisy M. Matouše Kollína, ed. F. Menčík (wie Anm. 74), S. 32 (im Haupttext wie auch
in einer editorischen Fußnote); man kann Flacius’ Abhängigkeit von den ihm durch den Kreis
um Collinus zugesandten Unterlagen im Zusammenhang mit den erwähnten Antichrist-Texten
nachweisen, eindeutig in seinem „Catalogus“ am Ende des Kapitels über M. Matthias Parisi
ensis; M. Flacius, Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamarunt Papae
[…], Basel: Michael Martin Stella / Johann Oporinus 1556 (VD16 F 1293), S. 910.
130 V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 81, Nr. 29: kteréžto prefací také kněz Brikcí a kněz
Daniel [z Stříbra], tovaryši jeho, v konsistoři se přiznali.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
445
Vielleicht hatten sich die beiden Genannten für den offen Bekennenden eingesetzt, aber eher halbherzig; und angesichts des klaren Misserfolgs seines Unternehmens wichen sie letztlich zurück. Sonst hätte Mystopol wohl nicht öffentlich
bezeugen können: ‚Im Fall des Priesters Briccius stellte sich nicht heraus, dass er
im Einklang mit dem Traktat gewesen wäre.‘131
Demnach sieht es so aus, dass Anxiginus zum zweiten Mal sogar jenen einzigen
Verbündeten verlor, den er zuvor gewonnen hatte. Entmutigt durch seine Vereinzelung verlor Anxiginus anscheinend seine Entschlusskraft. Statt bis zum Ende
durchzuhalten, womit er eine Märtyrerkrone hätte erlangen können, auf welche
er in seiner Proklamation angespielt hatte, floh er doch noch von dem Posten,
der plötzlich mehr selbstgewählt als durch Gottes Ruf bestimmt erschien. Dann
musste er jedoch einsehen, dass er seinen Kampf auch moralisch verloren hatte.
Das Vorwort zu den Texten über den Antichrist ist seine letzte Wortmeldung
geblieben, die Erzählung Mystopols über seine Flucht stellt das letzte Zeugnis
über ihn dar. Im Rahmen der böhmischen Kirchengeschichte war Anxiginus
folglich nur eine kurze Schaffenszeit vergönnt.
2.3 Schlussbemerkung
Den Zeitgenossen hatte Anxiginus kaum einen gangbaren, vorbildhaften Weg
aufgezeigt. Sogar in Bezug auf den Vorfall, der den Zündstoff für die Kuttenberger Affäre geliefert hatte, mutete seine Aufopferung vergeblich an. Der oben
erwähnte Streit um die Aussetzung der Eucharistie stellte allein einen „Auslöser“
der Affäre dar, doch berührte er nicht deren Kern. Während sich Anxiginus
selbst durch seine offene Streitlust ruinierte, setzten die ‚Adiaphoristen‘ auf einen
„stillen“ Erfolg, was ihnen auch gelungen ist. Anxiginus polemisierte öffentlich
gegen die Aussetzung der Eucharistie, wofür er bestraft wurde, hingegen gelang
dies den ‚Adiaphoristen‘ geräuschloser, indem sie einfach eine günstige Gelegenheit abwarteten. Nur einige Jahre später konnte man 1561 wie selbstverständlich
versichern: ‚In Kuttenberg fand bereits früher keine Ausstellung des Sakramentes
in der Monstranz statt und sie wird auch jetzt nicht praktiziert‘.132
131 Ebd., S. 82, Nr. 29: Kněz Brikcí pak aby sjednotilý podle toho traktátu býti měl, toho jest se nenašlo.
132 Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 349, Nr. 532: na Horách
Kuttnách vystavování svátosti v monstrancí nebylo tehdáž žádného i nyní není. Wieder einmal
handelt es sich hierbei um eine Aussage im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung
zwischen örtlichen Pfarrern. Diese ist aber besonders interessant durch eine größere Überlieferung an schriftlich aufgezeichneter (und erhaltener) theologischer Beweisführung, die sich
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446
Martin Wernisch
Zugleich ist festzuhalten, dass es auch in dieser Stadt der Philippismus war,
der sich dort gegen ein (vorhandenes!) kompromissloseres Luthertum durchsetzte. Und von der flacianischen Überspitzung hielt man sich ebenso in den
Kreisen fern, denen Anxiginus am nächsten gestanden hatte. Wie wir im Fall
von Camenicenus gesehen haben, konsultierten die böhmischen Evangelischen
sogar in Fragen des Exils weiterhin vorzugsweise die Wittenberger, bei denen sie
Zuflucht und Unterstützung suchten. Diesen Weg ging auch Simon Fischer-Haliaeus, in dessen mutigem und offenem Handeln wir eine gewisse Parallele zu
Anxiginus finden können.
Als die Verfolgungswelle abebbte, kehrten einige unauffällig zurück, auch nach
Böhmen: Fischer-Haliaeus etwa übernahm 1560 das Pfarramt in Dallwitz/Dalovice
bei Karlsbad/Karlovy Vary. Die Protestantisierung der Kirchengemeinden ging
also voran – doch eben vielmehr auf lokaler Ebene. Im utraquistischen Konsistorium wurde dieser Prozess auch weiterhin gebremst. In diesen Kontext gehört
auch das wiederholt erwähnte Gerichtsverfahren gegen Mystopol und andere – wie
z. B. Martin Mělnický, der den suspendierten Priester Camenicenus in Prag traute
oder Matthias Lounský. Den Letztgenannten kennzeichnete Gelastus geradezu als
einen Erzketzer, allerdings erwies sich der erfahrene, nunmehr alte Geistliche vor
Gericht als Meister des Lavierens.133 Die Anklage scheiterte schließlich in nahezu
allen Fällen und aus der Verteidigung erwuchs die Antiqua et Constans Confessio
Fidei, sozusagen eine Grundlage und Vorstufe der späteren Böhmischen Konfession. Nachdem Ferdinand I. den Prozess ad acta legte, schlugen die utraquistischen
Stände Lounský für das Amt des Administrators vor. Der König wollte dies auf alle
Fälle verhindern und besetzte die Stelle eigenmächtig, doch immerhin mit einem
Kompromisskandidaten, der ebenso zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses
gehörte: Dies war einmal mehr der erfahrene Jan Mystopol.
überdies verhältnismäßig klar in den Kontext der inneren Debatten des europäischen Protestantismus einordnen lässt. Nicht uninteressant ist ebenso der Umstand, dass diese Dimension
den bisherigen Interpreten der Kontroverse weitgehend entgangen ist. Sie verdient ebenso eine
eingehendere Erörterung, was jedoch an einer anderen Stelle erfolgen soll.
133 Vgl. V. Chaloupecký, Pře (wie Anm. 83), S. 116–121, Nr. 29. Für eine Einordnung Lounskýs
in den internationalen Kontext ist ein Zeugnis von Belang, das etwas später erschien bei P.
Lupacius, Rerum Boemicarum Ephemeris, sive Kalendarium Historicum […], Prag: Jiří
Černý z Černého Mostu [Georgius Nigrinus de Nigro Ponte] 1584 (BCBT31159), fol. F6v f.:
Illustri Georgio Duci Ascaniae non ignotus: quod ex ipsius Principis libris expressis cognoscere est.
Georg III. von Anhalt-Plötzkau (1507–1553), genannt ‚der Gottselige‘, 1545 durch Luther als
Bischof von Merseburg (1545–1547) ordiniert, gehörte zu den Mitverfassern des Leipziger
Interims. Zu seiner Beliebtheit in Böhmen vgl. auch M. Wernisch, Johannes Mathesius (wie
Anm. 11), S. 138.
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Der Adiaphoristische Streit in Böhmen
447
Dieses Ringen, von wechselndem Erfolg begleitet, dauerte allerdings noch lange
an und es hemmte einen Aufschwung des sonst immer stärker um sich greifenden
Protestantismus, was auch im Vergleich mit den Nebenländern der Böhmischen
Krone augenfällig wird. Unter diesen Umständen gewann folglich besonders Mähren an Bedeutung. Da es in vielen mährischen Regionen ohne Weiteres möglich
war, den Gottesdienst in tschechischer Sprache zu halten, während sie sich dem
Einfluss des Prager Konsistoriums im Laufe der Zeit fast gänzlich entzogen und
die Landstände bereits 1550 nach einer Auseinandersetzung ungehinderte Religionsfreiheit behauptet hatten, wurde die aus Sicht der utraquistischen Kirche
‚entlegene Provinz‘ Mähren nunmehr zu einem beliebten Zufluchtsort für eine
Reihe markanter evangelischer Persönlichkeiten. Etliche von ihnen kamen aus
dem Kuttenberger und Saazer Kreis. Selbst Jakob Camenicenus kehrte in Mähren
doch noch in ein geistliches Amt zurück, ohne etwas von seiner Überzeugung
aufgeben zu müssen. Für die letzten Jahre vor seinem Tod 1574 wurde er Dekan
in Groß Meseritsch/Velké Meziříčí.134 Dort schaffte er es noch, das Augsburger
Bekenntnis in die tschechische Sprache zu übersetzen. Sein Kaplan und Nachfolger, niemand anderes als einmal mehr Simon Fischer-Haliaeus, krönte dann
das Lebenswerk, als er 1576 die Konfession durch eine Kirchenordnung ergänzte,
die die evangelischen Gemeinden der ‚oberen‘ Bezirke des Brünner/Brno Kreises
(im Südwesten Mährens) vereinte.135
Auch diese kirchliche Organisation war jedoch merklich stärker von einem
philippistischen als von einem flacianischen Geist erfüllt – wenn auch wiederum nicht so sehr im Sinne einer parteilichen Gruppenbildung als vielmehr im
134 Es ist strittig, ob dies „unweit von seinem Geburtsort“ war, wie R. Říčan, Melanchthon und
die böhmischen Länder, in: Philipp Melanchthon 1497–1560, Bd. 1: Philipp Melanchthon.
Humanist, Reformator, Praeceptor Germaniae, hrsg. vom Melanchthon-Komitee der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1963, S. 237–260, hier S. 247, behauptet. Hinsichtlich des Geburtsortes schwankte die bisherige Literatur zwischen Kamenitz/Kamenice bei
Iglau/Jihlava und Böhmisch Kamnitz/Česká Kamenice in Nordböhmen. Aber es erscheint
m. E. am wahrscheinlichsten, dass Camenicenus mit „Jakub aus Kamenice Liskovcova [d. h.
Leskovcova, Anm. M. W.]“ identisch ist, dessen Vorbereitung zur Priesterweihe 1538 belegt
ist. Vgl. Akta konsistoře utrakvistické, ed. K. Borový (wie Anm. 12), S. 123, Nr. 207: Jakub
z Kamenice Liskovcovy; und dann wäre die Rede von Kamnitz an der Linde/Kamenice nad
Lipou im südböhmischen Bezirk Pilgram/Pelhřimov, das ehemals den Vladiken Leskowetz
von Leskowitz/Leskovcové z Leskovce gehörte.
135 Vgl. Evangelické církevní řády pro šlechtická panství v Čechách a na Moravě 1520–1620
[Evangelische Kirchenordnungen für adlige Herrschaften in Böhmen und Mähren zwischen
1520 und 1620], edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (DRGBI B/8), České Budějovice
2017, S. 165–244, Nr. 8a–d (die ursprüngliche und 1581 erweiterte Fassung auf tschechisch,
die andere ebenso auf lateinisch und deutsch).
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448
Martin Wernisch
Bestreben, einen breiten reformatorischen Konsens zu repräsentieren. In der Vereinbarung sah man übrigens eine Parallele zur (wenig jüngeren) Bergischen Konkordienformel.136 Diese fand allerdings unter den Evangelischen in Mähren (und
Böhmen) eine Vielzahl weiterer Anhänger (einschließlich ganzer Gemeinden und
regionaler Gruppierungen), die sich strikt nach ihrem eigenen Wortlaut richten
wollten, nicht nur in einer Analogie. Nichtsdestoweniger ist es bezeichnend, dass
einen solchermaßen starken Widerhall eben erst die Konkordienformel weckte
und nicht die Lehre von Flacius. Dem Bekenntnis seines Gesinnungsgenossen
Christoph Reuter (ca. 1520–1581), 1562 für Österreich verfasst, wurde hingegen
in Mähren eine ausdrückliche Ablehnung zuteil.137
Angesichts dieser Entwicklung wirkt der Magdeburger Appell von Anxiginus
beinahe wie eine Verfehlung. Kein Wunder also, dass der gescheiterte Sonderweg
dieses ‚utraquistischen Flacianers‘ weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Und
dennoch kann er wohl als geeignetes Beispiel für allgemeingültigere Thesen dienen.
136 Unter dem Titel „Formula Concordiae“ wurden die besagten lateinische und deutsche Versionen in den 1580er Jahren in Frankfurt an der Oder gedruckt, mit einer Reihe von Empfehlungsschreiben aus deutschen theologischen Fakultäten versehen, die in: Evangelické církevní
řády, edd. J. Hrdlička / J. Just / P. Zemek (wie Anm. 135), ebenso nicht fehlen.
137 Dazu T. Wotschke, Der Trübauer Superintendent Satbauch, in: ARG 23 (1926), S. 261–268.
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Petr Hrachovec
Die Reformation der langen Distanz
Der Zittauer Stadtschreiber Oswald Pergener († 1546) und sein
zwinglianischer deutsch-böhmischer Lesezirkel
Einführung: Stadtschreiber und Reformation – Oswald Pergener
Es ist je und allwege ein brauch in der welt gewesen, das die menschen durch nahet [?] beywonen
leichtlicher konnen mitteinander bekant werden, denn die so voneinander zerstreuet sein und
wonen. Diß neme ich an mir ab, der ich nu etlich jar darmit bin umgangen und mittel versucht,
wie ich mitt e[urer] a[chtbarkeit] in kunthschafft komen mochte. Hab aber nicht andere nach
richtiger finden konnen, denn das es durch schreiben muste zuwegebracht werden, da ich mich
gleichwol auch zum theil gescheueth hab, das ich e[uer] a[chtbarkeit] mitt schreiben ersuchen solt.1
Das schrieb der Zittauer Wundarzt Johann Bechrer († 1569) an den Züricher
,Antistes‘ Heinrich Bullinger (1504–1575), den ‚Nachfolger‘ Huldrych Zwinglis,2
wobei er viele Probleme ansprach, die den gemeinsamen Briefwechsel prägten.3 Es
1
2
3
StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r.
Zu Bullinger als ‚Nachfolger‘, ‚Antistes‘ sowie ‚Patriarch‘ des reformierten Protestantismus
F. Büsser, Heinrich Bullinger (1504–1575). Leben, Werk und Wirkung, 2 Bde., Zürich
2004/05, hier Bd. 1, S. X, XII, 109–161, 164 f., Bd. 2, S. 145–161, 179; Ders., Wurzeln der
Reformation in Zürich. Zum 500. Geburtstag des Reformators Huldrych Zwingli (SMRT
31), Leiden 1985, S. 5, 127; J. Staedtke, Die Theologie des jungen Bullingers (SDGSTh 16),
Zürich 1962, S. 49: „der berufene Vollender des Zürcher Reformationswerks“; E. Campi,
Heinrich Bullinger und seine Zeit, in: Ders. (Hg.), Heinrich Bullinger und seine Zeit. Eine
Vorlesungsreihe (Zwingliana 21/2004), Zürich 2004, S. 7–35, hier S. 13: „genialer Bewahrer
und Erneuerer zugleich“; ebd., S. 21 f. (Antistes).
Vgl. dazu schon P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen (1300–1600). Zum Wandel
religiöser Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig 2019, bes. S. 339–367; Ders.,
Von feindlichen Ketzern zu Glaubensgenossen und wieder zurück. Das Bild der böhmischen
Reformation in Zittauer Quellen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, in: M. Winzeler
(Hg.), Jan Hus. Die Wege der Wahrheit. Das Erbe des böhmischen Reformators in der Oberlausitz und in Nordböhmen (ZG 52), Zittau/Görlitz 2015, S. 131–156; M. Christ, Zwischen
Wittenberg und Prag. Reformatorische Netzwerke in der Oberlausitz im sechzehnten Jahrhundert (im Druck für „Reformatorische Netzwerke im östlichen Europa“, Herder-Institut); C.
Stempel, Die Reformationszeit in Zittau, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien, Netzwerke,
Reformation. Zittau und die Oberlausitz im konfessionellen Zeitalter. Mit einem Bestandskatalog der Zittauer Epitaphien, Zittau 2018, S. 25–30, hier S. 28 f.; G. M. Metzig, Von Jan
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450
Petr Hrachovec
war ein Verdienst von Bechrers Mitbürger, des Oberstadtschreibers M. Oswald
Pergener († 1546),4 dass sich viele Zittauer durch die Züricher Reformation angesprochen fühlten, und zwar so sehr, dass man heute Zittau bisweilen als ‚zwinglianisch‘ betrachtet.5 Stadtschreiber nahmen im Allgemeinen aufgrund ihrer Bildung
und ihrer politischen Beziehungen eine Schlüsselstellung im religiösen Leben ihrer
Städte ein. Sie waren „Meister der religiösen Seelenführung und -beratung“ und
übten die „religiöse Dirigentenrolle“ in ihren Stadtgemeinden aus.6 Keineswegs
ging es also bloß um die Leitung der Ratskanzleien;7 vielmehr kann man „in den
Stadtschreibern Schlüsselfiguren der konfessionellen Ausrichtung“ einer Stadt8 und
4
5
6
7
8
Hus zu den Herrnhutern. Die Erben der böhmischen Reformation in der Oberlausitz, in: M.
Winzeler (Hg.), Jan Hus (wie oben in dieser Anm.), S. 77–106; V. Dudeck, Zittau, Böhmen und das Haus Habsburg. Stadtgeschichte und personelle Kontakte im Spätmittelalter
und Frühneuzeit, in: J. Bahlcke / Ders. (Hgg.), Welt – Macht – Geist. Das Haus Habsburg
und die Oberlausitz 1526–1635, Görlitz/Zittau 2002, S. 177–188, hier S. 183 f., 187, Anm. 24.
Sein genaues Todesjahr ist in den Ratsherrenverzeichnissen der Stadtchroniken zum Jahr 1545
belegt. Er starb jedoch im Frühling, wobei der Stadtrat am Donnerstag vor Bartholomäi ‚gewählt‘ wurde. Vgl. Chronik der Stadt Zittau 1255–1623 [Christian-Weise-Bibliothek Zittau,
Mscr. A 89], ed. T. Fröde (SRL 8), Görlitz 2013, hier S. 166: Oswaldt Berger notarius obiit
denn 3 aprill [1545, Anm. P. H.]. Obwohl er ebd. als Mitglied des neuen Rats 1545/46 angegeben wird, der erst Feria 5 ante bartolome (20.8.1545) erneuert wurde; d. h. er starb erst im
Amtsjahr 1545/46 (August 1545 bis August 1546); vgl. CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik
Arnsdorff ), fol. 277r: Oswald Bergner, Notari[us], obiit am freytag Gutten. Gott gnade ihm!
Nicolaus Dornßbach, nov[us] Notarius; Karfreitag war aber 1546 am 23.4.; am 3.4. im Jahr davor
(1545); daher ist Pergeners Todesdatum (3.4.1546) in: E. A. Seeliger, Zittauer Freunde der
Züricher Reformatoren und der Böhmischen Brüder, in: ZG 9 (1932), S. 37–44, hier S. 43; in
Anlehnung an J. B. Carpzov, Analecta Fastorum Zittaviensium […], 5 Tle., Zittau/Leipzig:
Johann Jacob Schöps 1716, hier T. 2, S. 302, falsch. Pergener starb eher am 23.4.1546.
Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 3: Briefe des Jahres 1533, edd. E. Zsindely / M. Senn, Zürich
1983, S. 204–206, Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 204, Anm. 1; E. A.
Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41 ff.; J. Prochno, Die Reformationszeit, in:
W. Vetter (Hg.), Die Johanniskirche in Zittau. FS zum 100jährigen Bestehen ihres Baues
am 23. Juli 1937, Zittau 1937, S. 16–21, hier S. 19 f.
B. Hamm, Der Laie Lazarus Spengler. Verbindung von religiöser Seelenführung und Reformationspolitik, in: D. Greiner / Ders. / K. Raschzok, M. Ritter / A.-M. aus der
Wiesche (Hgg.), Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive. Modelle und Personen
der Kirchengeschichte, Leipzig 2013, S. 120–136, hier S. 123 f.
Vgl. ebd., S. 123 ff.; Ders., Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation
zur Reformation machte, in: Ders. / B. Moeller / D. Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen
1995, S. 57–127, hier S. 110 f.; P. Friess, Die Bedeutung der Stadtschreiber für die Reformation der süddeutschen Reichsstädte, in: ARG 89 (1998), S. 96–124.
P. Friess, Bedeutung (wie Anm. 7), S. 118.
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Die Reformation der langen Distanz
451
die ‚Architekten der Reformation‘ sehen.9 Martin Luther selbst soll in Anspielung
auf den Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler gesagt haben:
Es liget mechtig viel an einem gutten stadtschreyber in einer stadt, wenn etwas sol ausgerichtet
werden. Ich halte, wenn Lazarus Spengeler zu Nurmbergk [nicht, Anm. P. H.] gethan hette, das
euangelion were so bald nicht auff gangen. Die stadtschreiber thun, wie es die propheten vorzceit
ten thetten bey den konigen.10
Daher kann man auch Oswald Pergener für den wichtigsten Träger der Reformation in Zittau halten. Seine Person ist im Unterschied zu seinem Görlitzer Amtsgenossen, dem aus Greiz stammenden M. Johannes Haß (ca. 1476–1543), fast
unbekannt, wobei sich die Karrieren der beiden Stadtschreiber durchaus ähneln.11
Auch Pergener stammte nicht aus seinem Wirkungsort,12 sondern aus Lonnerstadt
bei Nürnberg.13 Seine künftige Berufsperspektive verdankte er wohl dem Universitätsstudium in Leipzig (1513–1517), wo er viele Oberlausitzer Ratsherrensöhne
9 Vgl. ebd., S. 120, Anm. 94; weiter Ders., Der Einfluss des Zwinglianismus auf die Reformation
der oberschwäbischen Reichsstädte, in: Zwingliana 34 (2007), S. 5–27, hier S. 13 f.; F. Büsser,
Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 258 f.; G. W. Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen/Zürich 1979, S. 460, 477.
10 WA TR, Bd. 5, Weimar 1919, S. 132 f., Nr. 5426.
11 Zu verweisen ist auf die Differenz von Herkunfts- und Wirkungsort, Studium an der Leipziger Universität, Dienst in den Ratsschulen, Beginn der Karriere (1509) in der Ratskanzlei als
Unterstadtschreiber (subnotarius), Aufstieg zum Oberstadtschreiber (protonotarius). Vgl. M.
Christ, The Town Chronicle of Johannes Hass. History Writing and Divine Intervention in
the Early Sixteenth Century, in: GH 35 (2017), S. 1–20, bes. S. 3; Ders., Von Münzen, Kühen
und Chimären. Zur Darstellung religiöser Persönlichkeiten des frühen 16. Jahrhunderts in
den Ratsannalen des Johannes Hass, in: L.-A. Dannenberg / M. Müller (Hgg.), Studien
zur Stadtchronistik (1400–1850). Bremen und Hamburg, Oberlausitz und Niederlausitz,
Brandenburg und Böhmen, Sachsen und Schlesien (Beihefte NLM 20), Hildesheim/Zürich/
New York 2018, S. 131–150, bes. S. 133 f.
12 Zur ähnlichen Herkunft und anderen Aspekten der Stadtschreiberkarrieren H. Kramm, Studien über die Oberschichten der mitteldeutschen Städte im 16. Jahrhundert. Sachsen – Thüringen – Anhalt, 2 Teilbde. (MF 87/I–II), Köln/Wien 1981, hier Teilbd. 1, S. 415–424, bes.
S. 415, 418, 420; Teilbd. 2, S. 807, Anm. 38; was auch für die Schulmeisterämter als ‚Durchgangsstufen‘, gilt vgl. ebd., Teilbd. 1, S. 315–318.
13 Vgl. Die Matrikel der Universität Leipzig, ed. G. Erler (CDSR II/16–18), Leipzig 1895–1902,
hier Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1409–1559, Leipzig 1895, S. 526, Nr. B 49: Oswaldus
Bergenawer alias de Lonerstadt de Hochstedt [Höchstadt/Aisch, Anm. P. H.] 6 gr. (Immatrikulation; 23.4.1513); ebd., Bd. 2: Die Promotionen von 1409–1559, Leipzig 1897, S. 500, Nr. 34:
Oßwaldus Pergenawer de Lonerstadt (Bakkalaureus; 24.2.1515); ebd., S. 524, Nr. 12: Osvaldus
Perganawer de Lonnerßdorff (Magister; 24.12.1517).
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452
Petr Hrachovec
kennenlernen konnte. Seit 1518 ist er in der Oberlausitz nachweisbar.14 Pergener
war ‚Augenzeuge‘ der Magisterpromotionen unter anderem des späteren Oybiner
Cölestinerpriors Christoph Uthmann († 1555) aus Görlitz15 sowie des nachmaligen
Zittauer ,Reformators‘ Lorenz Heydenreich (ca. 1484/85–1557), seinem späteren
Schwager.16 In Leipzig studierte er mit seinem künftigen ‚Vertrauten‘, dem Hebraisten und Wittenberger Universitätsrektor Matthäus Aurogallus/Goldhahn (ca.
1490–1543) aus Komotau/Chomutov.17 Pergener begegnete auch dem Inhaber des
Griechischlehrstuhls (1515–1517) Richard Croke/Crocus aus London (ca. 1489–
1558),18 wobei er nicht der erste ,Zittauer‘ war, der sich für das Griechische und
Hebräische interessierte.19 Vorangegangen war hier der zwischen 1529 und 1531 in
Zittau wirkende Stadtphysikus Johann Troger/Tröger († 1550) aus Münchberg bei
Hof, dessen eventuelle Kontakte zu Pergener sich bisher nicht nachweisen lassen.20
14 An dieser Stelle kann aus Platzgründen keine Rekonstruktion seines ‚Universitätsnetzwerks‘
vorgestellt werden.
15 Vgl. Matrikel, Bd. 2, ed. G. Erler (wie Anm. 13), S. 488, Nr. 5 (28.12.1513).
16 Vgl. ebd., S. 498, Nr. 11 (28.12.1514); E. A. Seeliger, Lorenz Heydenreich und seine Familie, in: ZG 10 (1933), S. 37–40, 41 ff., hier S. 38 ff.; J. Prochno, Reformationszeit (wie Anm.
5), S. 16 ff., 20; M. O. Sauppe, Diözese Zittau, in: [H. F.] Rosenkranz (Hg.), Die Einführung der Reformation in der sächsischen Oberlausitz nach Diözesen geordnet, Leipzig 1917,
S. 120–165, hier S. 125–134, 143–151; W. Riessner, Der Humanismus in Zittau, unpublizierte philosophische Dissertarion, Leipzig 1926, S. 63–67; V. Dudeck, Kat.-Nr. B 23, in:
J. Bahlcke / Ders. (Hgg.), Welt (wie Anm. 3), S. 304 f.; P. Hrachovec, Zittauer (wie
Anm. 3), S. 250, 321 ff., 329, 333–339, 366, 374 f., 390, 414, 467, 589 f., 596, 608, 635, 660,
678.
17 Vgl. Matrikel, Bd. 2, ed. G. Erler (wie Anm. 13), S. 502, Nr. 3 (Bakkalaureus; 30.5.1515);
R. Metzler, Stephan Roth 1492–1546. Stadtschreiber in Zwickau und Bildungsbürger der
Reformationszeit. Biographie. Edition der Briefe seiner Freunde Franz Pehem, Altenburg,
und Nicolaus Günther, Torgau (QFSG 32), Leipzig/Stuttgart 2008, S. 58; zu Aurogallus als
„the true founder of Hebrew studies at Wittenberg“ S. G. Burnett, Christian Hebraism in
the Reformation Era (1500–1660). Author, Books, and the Transmission of Jewish Learning
(LWWH 19), Leiden/Boston 2012, S. 58 und S. 38 f.
18 Vgl. Matrikel, Bd. 1, ed. G. Erler (wie Anm. 13), S. 539, Nr. S 1 (Immatrikulation; 23.5.1515);
C. Volkmar, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen
1488–1525 (SMHR 41), Tübingen 2008, S. 573 f., Anm. 90; vgl. Pergeners Brief an den Züricher
Theologen und Hebraisten Konrad Pellikan (1478–1556): Rudimenta Grecę linguę olim ado
lescens Lipsi a Richardo Croco didici; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (12.3.1538),
hier fol. 23v.
19 Vgl. W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), der zum Zittauer Humanismus bis 1550 nur
wenig Neues bietet: ebd., S. 1–89, doch zum Späthumanismus (1550–1630) nützlich ist. Ebd.,
S. 90–267. Der Autor bemängelt ebd., S. 7, dass v. a. die Dichtungen überliefert sind, „Briefe
fehlen so gut wie ganz“. Vgl. auch ebd., S. 79, 87 f., 259.
20 Er immatrikulierte sich mit Pergener in Leipzig im Sommersemester 1513. Seit 1531 lebte er
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Die Reformation der langen Distanz
453
Oswald Pergener in Lauban und Zittau (1518–1532). Der Beginn seiner
Karriere im Ratsschuldienst und in der Ratskanzlei
Der genaue Verlauf von Pergeners Karriere zwischen dem Abschluss der Leipziger
Studien Ende 1517 und seiner Berufung ins Amt des Zittauer Oberstadtschreibers
nach dem Tod M. Melchior Hausens († 1532) aus Liegnitz/Legnica ist unklar.
Folgt man Ernst Alwin Seeliger, dann soll er zunächst als Schulrektor in Lauban/
Lubań (1518–1521) gewirkt haben.21 Die Stadtchroniken sind in dieser Hinsicht
nicht eindeutig.22 1524 soll er Zittauer Unterstadtschreiber geworden sein.23 Die
in Görlitz, wo er neben seiner ärztlichen Tätigkeit Privatunterricht in Latein, Griechisch und
Hebräisch anbot. R. Neumann, Die drei Wirkungsstätten des Humanisten Johann Troger –
Philosoph, Mediziner und Pädagoge. Ein Beitrag anlässlich der 450. Wiederkehr seines Todestages am 7. März 2000, in: BJ (2000), H. 14, S. 2–23; E. A. Seeliger, Welche Zittauer haben
Luther persönlich gekannt?, in: ZG 10 (1933), S. 45 ff., ebd., 11 (1934), S. 4, hier 10 (1933),
S. 45 f.; Ders., Denkmale der Frührenaissance in Zittau, in: NLM 106 (1930), S. 1–10, hier S. 3;
R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 71; vgl. einen Brief an Troger bei O. Clemen,
Zur Geschichte dreier Dekane des Kollegiatsstifts St. Petri zu Bautzen im 16. Jahrhundert, in:
ARG 33 (1936), S. 259–284, hier S. 282 f., Nr. 282 (Christoph Uthmann an Troger; 6.4.1532);
Original: HAB Wolfenbüttel, cod. Guelf. 108 Noviss. 2°, fol. 125r f.; ein unedierter Brief Trogers
ebd., cod. Guelf. 109 Noviss. 2°, fol. 226r f. (12.11.1531); zu den Stadtphysiki als Humanisten/
Lehrer H. Kramm, Studien, Teilbd. 1 (wie Anm. 12), S. 316, 409–412.
21 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41; doch nach HBW Briefwechsel,
Ergänzungsbd. A: Addenda und Gesamtregister zu Bden. 1–10, edd. H. U. Bächtold / R.
Henrich, Zürich 2004, S. 67: „Oswald Pergener war nur kurzfristig Rektor in Lauban, bevor
er 1518 als Unter-Stadtschreiber nach Zittau berufen wurde.“
22 In diesem jahre [1518, Anm. P. H.] hat M[agister] Oswaldus Pergenauer, Annaebergensis [sic!,
Anm. P. H.], aus Leipzig umb den schulmeisterdienst alhier angehaltenn; OLB Görlitz, Sign. L
III 126 (Chronik Wiesner V), S. 387; APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2255 (Chronik
Wiesner II), S. 213; ebd., Ms. 2256 (Chronik Wiesner III), S. 263; vgl. aber: Dis jahrs d[en] 21.
Febr[uarii] [1520, Anm. P. H.] hat Simon Sauer, Bacc[alaureus], umb das [!] schulmeisterdienst
alhier schrifttlich angehaltenn, habe [Christoph Wiesner (1566–1627), Anm. P. H.] aber nicht
nachricht, ob er es bekommen; OLB Görlitz, Sign. L III 126 (Chronik Wiesner V), S. 393 f.;
APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2255 (Chronik Wiesner II), S. 218; ebd., Ms. 2256
(Chronik Wiesner III), S. 267 f.; vgl. ein Verzeichnis Laubaner Schulmeister, wo „M. Oswald
Pergenauer, 1518“, „Jugelius, 1522“, 1523 „Franziskus Colerus“ und 1525 „Simon Sauer“ erwähnt
sind; J. G. Gründer, Chronik der Stadt Lauban, Lauban 1846, S. 438 f.; wann Pergener das
Laubaner Schulmeisteramt aufgab und in die Zittauer Ratskanzlei kam, ist nicht ersichtlich.
23 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41; OLB Görlitz, Sign. L III 126 (Chronik Wiesner V), S. 430, 444 f.: in obangezeigtem [15]24. jahre. Die geschickten der städte sind
gewesen […] M[agister] Oswaldus Pergenauer, stadtschreiber [eher Unterstadtschreiber, Anm.
P. H.] zu Zittau; APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2255 (Chronik Wiesner II), S. 240,
248; ebd., Ms. 2256 (Chronik Wiesner III), S. 293, 303.
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454
Petr Hrachovec
Zittauer Ratsverzeichnisse erwähnen ihn erstmals 1524.24 Melchior Hausen wird
letztmals 1531 als ‚Protonotar‘ bezeichnet.25 Pergener war einer der Oberstadtschreiber (1532–1546), die nie Ratsherren waren, gleichwohl in den Ratslisten
registriert wurden. Die Zittauer Ratssyndiki waren bis 1581 keine Ratsherren
qua Amt.26 Alle anderen Chroniken erwähnen Pergener erst zwischen 1527 und
1531, als er schon Stadtschreiber (notarius) war, was wiederum nach Seeliger
seit 1528 der Fall war.27 Pergener folgte demnach dem Ende 1527 verstorbenen
Johann Kramer (Kam[m]er bzw. Heuner) als Stadtschreiber nach,28 sicher belegt ist
er in dieser Funktion spätestens seit August 1528.29 Andere Chroniken erwähnen
ihn erst ab 1529 als Stadtschreiber (notarius),30 d. h. er wäre dann Johann Kramer,
der im Unterschied zu ihm sowie zu Melchior Hausen seit 1521 Ratsherr war, in
beiden Ämtern des Unter- sowie des Stadtschreibers nachgefolgt.31 Kramer wird
24 „Ow. Pergner subnot.“; J. Prochno, Die Zittauer Ratslinie von 1310 bis 1534, in: NLM 110
(1934), S. 23–85, hier S. 57, ebd., S. 58 f., wird er 1527 als Stadtschreiber (notarius) bezeichnet
sowie 1528 und 1531: „Ow. Pergner not.“ usw. Die Abkürzung „not.“ für notarius erscheint bei
ihm von 1533 bis 1545, als er schon Oberstadtschreiber (protonotarius) war; vgl. auch CWB
Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 250r: Oswaldt Pergner, Notarius (1524); J. B.
Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 302, Nr. 35, S. 303, Nr. 9, auch wenn auch das Jahr
1521 nach Carpzovs nicht ganz klarer Schilderung möglich wäre.
25 Vgl. J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 59 ff.
26 Vgl. J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 297 f.
27 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41; mit Fehlern C. A. Pescheck,
Handbuch der Geschichte von Zittau, Bd. 2, Zittau 1837, S. 734 f., 745 f.
28 Hoc anno die Jovis ante festum Thomae [19.12.1527, Anm. P. H.] moritur honest[us] vir Joannes
Heuner, Notarius Reip[ublicae] Zitt[aviensis]; CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ),
fol. 254r, auch wenn Pergener in den Ratslisten Prochnos schon bei der ‚Ratswahl‘ vom August 1527 erscheint. Doch die von Prochno für die Jahre 1527/28 angegebene Quelle „A
129“, J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 58, d. h. CWB Zittau, Mscr. A 129
(Chronik Schnürer), fol. 40r f. (1527), 41r f. (1528), ist falsch. In den Ratslisten der Chronik
Tobias Schnürers (1518–1606) befindet sich Pergeners Name nicht.
29 Vgl. J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 302, Nr. 35, S. 303, Nr. 9.
30 Vgl. CWB Zittau, Mscr. A. 123 (Chronik Krodel), fol. 132r. Hier ohne Funktion, doch sicher
als notarius, da er am Ende der Ratsliste als der 19. im 18-köpfigen Stadtrat erwähnt wird. Ebd.,
fol. 134r (1530), 136r (1531); erst seit 1530 ebd., Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 258r,
260r (1531); ebd., Mscr. A 126 (Chronik Jentsch), S. 70, 72 (1531); ebd., Mscr. A 129 (Chronik
Schnürer), fol. 42v, 43v (1531); Chronik der Stadt Zittau, ed. T. Fröde (wie Anm. 4), S. 151,
153 (1531); erst seit 1531 CWB Zittau, Mscr. A 90b (Chronik Werner), S. 281; ebd., Mscr. A
125 (anonyme Chronik), S. 191; ebd., Mscr. A 129b (anonyme Chronik), S. 75.
31 Zu den zehn in den Zittauer Rat kooptierten Stadtschreibern (1450–1550) H. Kramm, Studien, Teilbd. 1 (wie Anm. 12), S. 421.
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Die Reformation der langen Distanz
455
zuerst für die Jahre 1511 bis 1517 als Unterstadtschreiber (subnotarius) erwähnt,32
danach erscheint er von 1521 bis 1526 als Stadtschreiber (notarius) sowie Ratsherr.33
1532 soll Pergener nach dem Tod des Oberstadtschreibers (protonotarius) und
Ratssyndikus Melchior Hausen beide Ämter übernommen haben.34 Das zweitgenannte Amt soll erst 1530 eingeführt worden sein.35 Hausen ist als Stadtschreiber
(notarius) in Prochnos Ratslisten von 1511 (abgesehen von 1512) bis 1518
belegt, letztmals wird er 1531 als Oberstadtschreiber erwähnt.36 Andere Ratslisten erwähnen ihn noch 1519 als Stadtschreiber (notarius),37 er war allerdings
schon früher Oberstadtschreiber (protonotarius), denn er nennt sich so in den seit
1516 überlieferten und von ihm und Johann Kramer eigenhändig geschriebenen
Rezessen der Zittauer Pfarrkirchenfabrik.38 Die Verhältnisse in der Ratzskanzlei
waren also komplizierter als Seeliger39 und Johann Benedikt Carpzov annehmen. Letzterer belegt eine Anstellung des dritten Stadtschreibers erst 1568 bzw.
1623, wobei er in seinen Verzeichnissen der Proto-Notariorum oder Ober-StadtSchreiber und der Unter-Stadt-Schreiber die Ämter des Unter-, Ober- und Stadtschreibers vermengt, sodass er z. B. zwischen den Ämtern Melchior Hausens, den
er als den Zittauer protonotarius seit 1509 belegen kann, und Johann Kramers
nicht unterscheidet.40 1520/21 mag es zu einer Teilung des Aufgabenbereiches des
Unterstadtschreibers (subnotarius) gekommen sein, als der Unterstadtschreiber Kramer Stadtschreiber (notarius) wurde, wobei seitdem die Bezeichnung
32 Vgl. J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55 f.
33 Vgl. ebd., S. 57 f.; J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 301, Nr. 34, S. 303, Nr. 8
(Stadtschreiber seit 1520); CWB Zittau, Mscr. A 129 (Chronik Schnürer), fol. 42r.
34 Melchior Hause, Protonotari[us], obiit freytag ante Palmarum [22.3.1532, Anm. P. H.]; CWB
Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 263r.
35 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41.
36 Vgl. J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55 ff., 59.
37 Vgl. z. B. CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 244r.
38 […] in p[rese]ncia […] Melchior[is] Hausen, M[a]g[ist]ri [et] P[ro]thono[ta]rii. Ebd., Mscr.
A 267, S. 3 (18.4.1516); weiter ebd., S. 29 (19.6.1517), 55 (27.4.1518), 79 (29.4.1519); Kramer
nennt sich zweimal als Unterstadtschreiber, ebd., S. 55: gemeinsam mit Hausen (27.4.1518);
allein ebd., S. 103: Joannis Khamm[e]r, Subnotarii (14.4.1520); doch am 13.6.1522 schon als
Stadtschreiber: Joannis Kham[m]ers, Notarii; ebd., S. 133.
39 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41, der später Hausens Oberstadtschreiberamt, das er von 1509 bis 1519 ausgeübt haben soll, mit jenem „eines Protonotars oder
Syndikus in Zittau“ vermengte, angeblich „seit 1530“; Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20),
S. 46 (1933).
40 Vgl. J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 297 (1623), 298 (1568), 301 f., Nr. 33 ff.,
S. 303, Nr. 8 f.
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Petr Hrachovec
Unterstadtschreiber für den dritten Schreiber benutzt wurde. Ob es schon Pergener war, der sich in Zittau erst seit 1524 belegen lässt, bedarf weiterer Klärung.
Zittau und Wittenberg – ‚reformatorischer‘ Briefwechsel
1533, als Pergener beide Ämter (des Oberstadtschreibers und des Ratssyndikus)
versehen haben soll, soll deren Trennung vollzogen worden sein.41 Pergener blieb
Oberstadtschreiber, zum ersten ‚selbständigen‘ Ratssyndikus soll auf Empfehlung Melanchthons42 Konrad Nesen (ca. 1495–1560) aus Nastätten in Hessen
berufen worden sein, ein Bruder des Humanisten Wilhelm Nesen (ca. 1493–
1524).43 Von den ,Zittauern‘ werden nur Konrad Nesen und der Pastor primarius (1557–1579) Martin Tektander/Zimmermann (1507–1579) im Briefwechsel
41 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41, 43; anhand einer unsicheren
Quellenparaphrase von 1533 in: J. B. C[arpzov], Memoria Heidenreichiana […], Leipzig:
Friedrich Lanckisch (Erben) 1717, S. 34 f.; Ders., Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 298, T. 3,
S. 26; U. G. Haussdorff, Historia ecclesiastica Zittaviensis […], Budissin: David Richter
1732, S. 64 f.
42 Vgl. J. B. Carpzov, Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 279; E. A. Seeliger, Zittauer Freunde
(wie Anm. 4), S. 44; Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20), S. 45 f. (Melanchthon; 1533);
C. A. Pescheck, Handbuch der Geschichte von Zittau, Bd. 1, Zittau 1834, S. 394 f., 446,
547, Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 730, 734 f.; E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen,
Nikolaus von Dornspach und M. Procopius Naso, Zittau 1843, S. 29 ff., 54, 94; H. J. Kämmel, Beiträge zur Geschichte des Gymnasiums in Zittau I. Die Schule von Zittau unter den
Einwirkungen der Reformation. 1521–1586, in: NLM 49 (1872), S. 258–275, hier S. 264 f.; L.
Haensch, Die Familie Nesen, in: MGZG 6 (1909), S. 17–26, hier S. 17 f.; Quellenbuch zur
Geschichte des Gymnasiums in Zittau, ed. T. Gärtner, 2 Hefte (Veröffentlichungen zur
Geschichte des gelehrten Schulwesens im albertinischen Sachsen 1), Leipzig 1905/11, H.
1: Bis zum Tode des Rektors Christian Weise (1708), S. 11, Nr. II/1, S. 13, Nr. IIIa/1; M. O.
Sauppe, Diözese Zittau (wie Anm. 16), S. 134; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16),
S. 71, 81, 83, 87 ff., 197, 266; H. Kramm, Studien, Teilbd. 1 (wie Anm. 12), S. 374.
43 Die ‚Nähe‘ vieler Zittauer zu Wittenberger Reformatoren ist ein Konstrukt späterer Chronisten, Leichenpredigten und ‚professioneller‘ Genealogien. Vgl. J. Prochno, Reformationszeit
(wie Anm. 5), S. 16, 20. Doch ebd., S. 20, lässt Prochno 1533 Konrad Nesen auf Empfehlung
Luthers nach Zittau kommen. E. A. Seeliger, Neues über Nikolaus von Dornspach, in: ZG
5 (1928), S. 45–48, ebd., 6 (1929), S. 1 f., hier 5 (1928), S. 45 f.; Ders., Lorenz Heydenreich
(wie Anm. 16), S. 39; Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20), S. 46, der diese ,Geschichten‘
sehr ‚nüchtern‘ untersuchte, doch Ders., Nikolaus Dornspach, in: Sächsische Lebensbilder,
hrsg. von der Sächsischen Kommission für Geschichte, Bd. 2, Leipzig 1938, S. 38–47, hier
S. 38 ff., platzierte Nesen unlogisch wiederum nach Wittenberg in die ‚Nähe‘ Luthers und
Melanchthons. Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20), S. 46, wiederholte die unbegründete
Geschichte über den Erzieherdienst Nesens am Hofe Ferdinands I. (1526–1564).
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Die Reformation der langen Distanz
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Luthers und Melanchthons erwähnt. Konrad Nesen hatte sich 1525 in Wittenberg immatrikuliert, 1532 soll er Lizentiat der Rechte geworden sein.44 Mit
ihm kann man fünf Briefe Melanchthons in Zusammenhang bringen. Am 23.
August 1529 empfahl ihn Melanchthon dem hessischen Landgrafen Philipp I.
(1509/18–1567) als zu hoffe zu patrocinirn oder zu lesen zu Marburg, d. h. Nesen
sollte an der 1527 gegründeten Universität unterrichten. Diese Empfehlung für
Nesen, der in iure eyn zeytt lang studirt hatt, d. h. schon 1529 über juristische
Bildung verfügt hatte, blieb ohne Erfolg.45 Melanchthon korrespondierte mit
Persönlichkeiten in der Oberlausitz wesentlich intensiver als Luther. Dabei
waren die Briefe sehr knapp, vor allem handelte es sich um Empfehlungen;
Probleme der Reformation wurden nicht erörtert.46 Überliefert ist ein Empfehlungsbrief Melanchthons für Martin Tektander an Johann Brenz (1499–1570)
in Schwäbisch Hall vom 5. November 1539.47 1559 besuchte Melanchthon sogar
die Oberlausitz.48 Während dieses Aufenthaltes schrieb der erkrankte Melanchthon an den gleichfalls kranken Nesen einen Trostbrief. Beide – Nesen und
Melanchthon – starben im folgenden Jahr (1560), wobei Melanchthon schon
44 Vgl. M. Erbe / P. G. Bietenholz, Konrad Nesen of Nastätten, in: P. G.Bietenholz
(Hg.) / T. B. Deutscher (Mitarb.), Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register
of the Renaissance and Reformation, Bd. 3: N–Z, Toronto/Buffalo/London 1987, S. 12.
45 PM Bw, ed. R. Wetzel, Bd. 3: Texte 521–858 (1527–1529), Stuttgart/Bad Cannstatt 2000,
S. 567 f., Nr. 814, hier S. 568; im zweiten Brief erwähnt Melanchthon Nesen, der damals noch
im Wittenberg war. Vgl. ebd., ed., J. Loehr, Bd. 4/2: Texte 1004–1109 (August–Dezember
1530), Stuttgart/Bad Cannstatt 2007, S. 721 ff., Nr. 1092, hier S. 721 (Oktober 1530).
46 Vgl. M. Christ, Zwischen Wittenberg und Prag (wie Anm. 3).
47 Die Abbildung des Originals V. Dudeck, Kat.-Nr. B 25, in: J. Bahlcke / Ders. (Hgg.),
Welt (wie Anm. 3), S. 306 f.; Edition: PM Bw, edd. C. Mundhenk / H. Hein / J. Steiniger, Bd. 8: Texte 1980–2335 (1538–1539), Stuttgart/Bad Cannstatt 2007, S. 552 f., Nr.
2286. Diese Empfehlung führte ebensowenig zum Erfolg wie eine zweite nach Liegnitz, die
am 24.11.1539 der sächsische Kurfürst Johann Friedrich (1532–1547/54) an Luther mitteilte.
Vgl. WA BR, Bd. 8 (1537–1539), Weimar 1938, S. 605 f., Nr. 3410. Im zweiten Brief Melanchthons an Georg Fabricius (1516–1571) wird Tektander als Meißner Pfarrer erwähnt: PM Bw,
edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 6: Regesten 5708–6690 (1550–1552), Stuttgart/
Bad Cannstatt 1988, S. 29, Nr. 5740; zur epistolografischen Gattung ‚Empfehlungsbrief ‘ M.
Kooistra, The Influence of the Protestant Reformation on Philip Melanchthon’s Letters of
Recommendation, in: J. De Landtsheer / H. Nellen (Hgg.), Between Scylla and Charybdis. Learned Letter Writers Navigating the Reefs of Religious and Political Controversy in
Early Modern Europe (BSIH 192), Leiden/Boston 2011, S. 109–126.
48 Vgl. U. Koch, Von Peucer / Mättig bis Rosenhain / Nesen. Bürgerdynastien zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg und ihre kulturellen Spuren von Bautzen bis Zittau, in: P.
Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 69–85, hier S. 69, 74 f.
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zuvor einen weiteren Trostbrief an Nesen mit einem Empfehlungsschreiben an
den Zittauer Rat gesendet hatte.49
Nesen scheint in Zittau spätestens 1530/31 anwesend gewesen zu sein,50 die
Ratsverzeichnisse Prochnos belegen ihn allerdings erst 1533.51 1541 wurde er
plötzlich nicht nur als Ratsherr, sondern auch als Bürgermeister bezeichnet, was
für den cursus honorum in Zittau unüblich war.52 Nesen verblieb trotz einer Zäsur
infolge des königlichen Eingriffes im Rahmen des sog. Pönfalls (1547) bis zu seinem Tod (1560) an der Spitze der Stadtverwaltung. Andere Ratsverzeichnisse
erwähnen ihn schon früher, was m. E. zutreffender ist und eine Folge der Errichtung des Syndikatsamtes 1530 gewesen sein mag. In den meisten Chroniken geht
es um das Jahr 1531, wobei er als Ratssyndikus auch im folgenden Jahr (1532)
erwähnt wird.53 Seitdem ähneln die Angaben in den Ratslisten vollkommen jenen
von Prochno bzw. von Carpzov. Ein vom Oberstadtschreiberamt unabhängiges
Ratssyndikat ist bereits zum 12. Juli 1531 belegt, d. h. im Amtsjahr 1530/31.54 Auch
wird Pergener in den zeitgenössischen Briefen von 1532/33 nicht als Syndikus
erwähnt.55 Man kann also voraussetzen, dass Konrad Nesen bereits 1530/31 der
erste Zittauer Syndikus war, der im Unterschied zu den beiden ‚Magistri artium‘
Melchior Hausen und Oswald Pergener als Lizentiat der Rechte (schon vor 1532)
49 Vgl. PM Bw, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 8: Regesten 8072–9301 (1557–1560),
Stuttgart/Bad Cannstatt 1995, S. 180, Nr. 8496 f. (16.1.1558), S. 361, Nr. 8991 (30.6.1559).
50 Zu Nesen E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 1–88; L. Haensch, Familie Nesen (wie Anm. 42), S. 26; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16),
S. 71, 76 f., 80; U. Koch, Von Peucer (wie Anm. 48), S. 76 ff.; V. Dudeck, Zittau (wie Anm.
3), S. 180, 182.
51 Vgl. J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 59 ff., wobei er wie Pergener (bis 1540)
trotz seines Ratssyndikats nicht im Rat anwesend war. Ebd., S. 59 f.
52 Vgl. ebd., S. 60 f. (1541–1547). Die Gründe für seinen raschen politischen Aufstieg sind unbekannt.
53 Vgl. z. B.: CWB Zittau, Mscr. A 122b (Chronik Arnsdorff ), fol. 260r: Anno 1531 […] Con
rad[us] Nesen[us], Syndicus; ebd., fol. 262r: Anno 1532 […] Conradus Nesenus, Syndicus.
54 Ich hab euer und der andern hern beider sindici von Budissin und Sittaw schreiben; AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1681: Heinrich Rybisch (1485–1544) an den Görlitzer Rat,
Abschrift, Handschrift Oswald Pergeners.
55 Vgl. ebd., Nr. 1706 (30.1.1533), 1715 (4.3.1533), 1718 (9.3.1533), 1722 (14.3.1533), 1725 (2.4.1533);
vgl. „Bestand Urkunden“, https://www.monasterium.net/mom/DE-AVBautzen/Urkunden/
fond (letzter Zugriff am 6.6.2020); Regesten: P. Arras, Regestenbeiträge zur Geschichte des
Bundes der Sechsstädte der Ober-Lausitz von 1531–1540, zusammengestellt auf Grund der
Urkunden, die sich im Bautzner Ratsarchive (Fund Ermisch) vorfinden, in: NLM 77 (1901),
S. 26–66, hier S. 31 (Nr. 1681), 33 (Nr. 1706), 36–40 (Nr. 1715, 1718, 1722, 1725).
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Die Reformation der langen Distanz
459
über eine geeignetere Bildung verfügte.56 Er besaß in Zittau einen heute am Markt
24 gelegenen achtbierigen Bierhof.57
Nesen soll nach der Zittauer Überlieferung ein enges Verhältnis zu Luther und
Melanchthon gehabt haben,58 was sich freilich kaum belegen lässt. Allerdings sind
beim Stadtbrand des Jahres 1608 sowohl viele materielle59 als auch schriftliche
Quellen zerstört worden, so dass keine gesicherten Aussagen getroffen werden
können.60 Darüber hinaus kann man im Fall der Familie Nesen eher die intensiven
Beziehungen zu Schweizer Reformatoren belegen. Wilhelm Nesen, der allerdings
nie in Zittau war, und wohl auch Konrad unterhielten Kontakte zu Huldrych
56 Zu den mitteldeutschen Ratssyndiki H. Kramm, Studien, 1 Teilbd. (wie Anm. 12), S. 424–440,
der eine mögliche Vermengung des Oberstadtschreiber- und des Ratssyndikatamtes erwähnt:
bei den Protonotaren, die sich juristiche Bildung informell aneigneten. Doch dazu kam es in
Zittau um 1530 eher nicht.
57 Vgl. Häuserchronik der Stadt Zittau innerhalb des Grünen Ringes für den Zeitraum bis 1900,
ed. T. Fröde, Olbersdorf 22008, S. 248, 335. Er wohnte also einem anderen ‚Zwinglianer‘
Onofrius Herzog (†1555) fast gegenüber. 1558 ist er als Besitzer des Hauses, heute Innere Weberstraße 1, belegt, vgl. ebd., S. 252, das zwischen dem sog. Dornspachhaus und dem Haus der
Witwe Oswald Pergeners Anna († 1581), Innere Weberstraße 5, lag; zu den Bierhöfen und den
mikropolitischen Folgen für ihre Inhaber (Ratswahl, Gewandschnitt, Stellung zu den Zünften) K. Lindenau, Brauen und Herrschen. Die Görlitzer Braubürger als städtische Elite in
Spätmittelalter und Früher Neuzeit (SSGV 22), Leipzig 2007.
58 Vgl. E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 33–57, 97; M. O.
Sauppe, Diözese Zittau (wie Anm. 16), S. 134; C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 1 (wie Anm.
42), S. 394 f.; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 77 f., 91, 157 f.; J. B. Carpzov,
Analecta (wie Anm. 4), T. 2, S. 279, 298.
59 Das Nesen‘sche Epitaph mit einem Gedicht des lutherischen Humanisten Joachim Camerarius
d. Ä. (1500–1574) wurde erst 1757 zerstört; zur Wiedergabe seines Textes J. B. Carpzov,
Analecta (wie Anm. 4), T. 1, S. 71; H. Hegewald, Zittaus untergegangener Schatz. Die Epitaphien der Johanniskirche und der Weberkirche. Die Mitteilungen von Christian Döring über
die Epitaphien in der Johanniskirche vor ihrer Zerstörung 1757 und in der Weberkirche vor
ihrer Renovierung zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Zittau 2017 [zu erhalten im Altbestand der
CWB Zittau], S. 25, 93; Ders., Zittaus untergegangener Schatz. Anmerkungen zur Geschichte
der Zittauer Epitaphien, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm. 3), S. 249–263, hier
S. 260.
60 Zum sog. Nesen’schen Pokal, ein Geschenk Luthers an Wilhelm Nesen, den Konrad Nesen
nach Zittau brachte, U. Kahl, Der Nesensche Lutherpokal – ein Zeugnis lutherischer Frömmigkeit und der Lutherverehrung in Zittau, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien (wie Anm.
3), S. 103–121; U. Koch, Von Peucer (wie Anm. 48), S. 76 f.; E. F. Haupt, Wilhelm und
Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 26; zu einem anderen ‚Lutherpokal‘, dem wundertätigen Elisabeths- bzw. Hedwigsglas der Wettiner und dessen evangelischer ‚Umwidmung‘
durch Luther: B. Moeller, Eine Reliquie Luthers, in: J. Schilling (Hg.), Bernd Moeller.
Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, Göttingen 1991, S. 249–
262.
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460
Petr Hrachovec
Zwingli, dem Basler Reformator Johannes Oekolampad (1482–1531), dem Straßburger Reformator Martin Bucer (1491–1551), dem Humanisten Erasmus von
Rotterdam (1466/69–1536) und anderen bedeutenden geistlichen wie geistigen
,Größen‘ in der Schweiz, wo Wilhelm (sicher) seit 1514 in Basel studiert und als
Korrektor in dortigen Offizinen gewirkt hatte. Seit etwa 1520/21 – infolge seiner
schulischen Tätigkeit in Frankfurt am Main – knüpfte Wilhelm Beziehungen zu
Luther und Melanchthon und wechselte 1523 nach Wittenberg, wo er im Sommer
1524 ertrank.61 Auch Oswald Pergener erwähnt Konrad Nesen in einem Brief und
kommt dabei auch auf dessen Aufenthalt in Zürich zu sprechen.62
Die Familie Oswald Pergeners im Kontext des Zittauer Bürgertums
Abgesehen von den Kontakten, die Oswald Pergener in Leipzig geknüpft hatte,
waren für ihn seine ‚familiären Netzwerke‘ nicht minder wichtig.63 In Zittau heiratete er Anna, Tochter des Ältesten der Schneiderzunft Valentin Engler († 1523). Er
besaß einen siebenbierigen Bierhof, heute Innere Weberstraße 5, unweit von ihrer
Einmündung in den nördlichen Zipfel des Marktes gegenüber dem Westeingang
der Stadtpfarrkirche.64 Eine andere Tochter Valentin Englers, Elisabeth († 1573),
61 Vgl. (mit Korrektur zahlreicher Fehler) G. E. Steitz, Der Humanist Wilhelm Nesen, der Begründer des Gymnasiums und erste Anreger der Reformation in der alten Reichsstadt Frankfurt/
Main Lebensbild, auf Grund der Urkunden dargestellt, in: AFGK 6 (1877), S. 36–160, 425; M.
Erbe / P. G. Bietenholz, Wilhelm Nesen of Nastätten, in: P. G. Bietenholz (Hg.) / T.
B. Deutscher (Mitarb.), Contemporaries, Bd. 3 (wie Anm. 44), S. 12 ff.; O. Clemen, Der
Dialogus bilinquium ac trilinguium, in: ARG 1 (1904), S. 355–364; überholt E. F. Haupt,
Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 8–23, 27 ff., 59–84, Anm. 1–38; W.
Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 71–76; vgl. auch G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm. 9), S. 497 f.; P. Leemann-van Elck, Die Offizin Froschauer. Zürichs
berühmte Druckerei im 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Buchdruckerkunst
anläßlich der Halbjahrtausendfeier ihrer Erfindung (MAGZ 33/2), Zürich 1940, S. 19 f.
62 Chuonradus Nesenus licentiat[us], qui Tiguri [Zürich, Anm. P. H.] fuit; HBW Briefwechsel, Bd.
12: Briefe des Jahres 1542, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser, Zürich 2006, S. 165 ff.,
Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167.
63 Methodisch zur Netzwerkbildung in der Vormoderne K. Hitzbleck / K. Hübner, NetzWerkGrenzen, in: Diess. (Hgg.), Die Grenzen des Netzwerks (1200–1600), Ostfildern 2014,
S. 7–15; K. Hitzbleck, Verflochten, vernetzt, verheddert? Überlegungen zu einem erfolgreichen Paradigma, in: ebd., S. 17–40, bes. S. 18–25, 33 f., 40 (Netz vs. Netzwerk vs. Schicht),
27 ff. (Verwandschaft vs. Vernetzung), 34 f. (Beziehung vs. Bindung).
64 Vgl. Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 253, 335 (Oswald; 1543); zu Anna Pergener ebd., S. 343 (dasselbe Haus; 1578), 347 (ein Garten; 1578).
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Die Reformation der langen Distanz
461
heiratete 1530 den ‚Reformator Zittaus‘ Lorenz Heydenreich.65 Dadurch wurden
beide Männer zu Schwägern. Da Lorenz Heydenreichs Schwester Anna († ca.
1520) mit Wenzel Lankisch d. Ä. (ca. 1473–1538) verheiratet gewesen war, war
Pergener auch mit der ‚Ratsfamilie‘ Lankisch verwandt.66 Mit seiner Frau Anna
hatte Oswald Pergener mehrere Kinder.67 Leider ist die Genealogie der Familie
Pergener (später Berger)68 im Unterschied zu den Lankischs, Nesens und anderen ‚Ratsfamilien‘ unerforscht. Mindestens drei seine Söhne wirkten öffentlich.69
Auch sie waren in ähnliche Netzwerke (an der Wittenberger Universität sowie in
der Stadt) wie ihr Vater eingebunden. 1537 immatrikulierte sich in Wittenberg
zusammen mit Oswalds Sohn Thomas Pergener/Thomas Berckner auch Thobias
Engler Zittauiensis, ein weiterer Schwager Oswalds.70 Oswalds Sohn Lukas besaß
einen sechsbierigen Bierhof in derselben Straße (Innere Weberstraße 17) wie
seine Eltern. Nach ihm besaß das Haus ein weiterer Sohn Wenzel Lankischs d.
65 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; Ders., Lorenz Heydenreich (wie
Anm. 16), S. 39 f.; zur engen Beziehung der (meistens von außen kommenden) Stadtschreiber zu führenden Familien ihrer neuen Stadtgemeinden P. Friess, Bedeutung (wie Anm. 7),
S. 111 f.
66 Wenzel Lankisch d. Ä. immatrikulierte sich 1492 in Leipzig und 1497 wurde er Bakkalaureus.
Seit 1509 war er Ratsherr, seit 1517 jedes dritte Jahr Bürgermeister (achtmal) und Stadtrichter
(siebenmal); darüber hinaus wirkte er auch als (Ober-)Kirchvater der Zittauer Pfarrkirchenfabrik (spätestens von 1514 bis 1538). Lankischs Schwiegervater und Kollege im Pfarrkirchenamt (spätestens von 1514 bis 1531) sowie im Stadtrat (jedes zweite Jahr von 1518 bis 1526) war
Paul Heydenreich (ca. 1441–1531), der Älteste der Tuchmacherzunft und Vater Lorenz Heydenreichs: J. B. Carpzov, Memoria Heidenreichiana (wie Anm. 41), S. 19; E. A. Seeliger,
Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; Ders., Lorenz Heydenreich (wie Anm. 16), S. 38; L.
Haensch, Die Familie Just, in: MGZG 7 (1911), S. 42–56, hier S. 44; Ders., Die Familie von
Lanckisch, in: ebd., 8 (1912), S. 17–30, hier S. 17 f.; W. Riessner, Humanismus (wie Anm.
16), S. 36; J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55–59, 82 (Wenzel Lankisch
d. Ä.); ebd., S. 56 ff., 80 (Paul Heydenreich); zu Paul Heydenreich E. A. Seeliger, Lorenz
Heydenreich (wie Anm. 16), S. 38.
67 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; ihre Zahl muss noch eruiert werden.
68 Zu verschiedenen Varianten des Nachnamens ‚Pergener‘ ebd.
69 Thomas († 1558), Wenzel († 1560) und Lukas († 1566) ‚erbten‘ nach ihrem Vater Oswald die
Organistenstelle in der Zittauer Pfarrkirche, näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm.
3), S. 352 f., 361.
70 Zum selben Termin auch: Johannes Lenkisch Zittauien, Johann Lankisch († 1557), ein Sohn
Wenzel Lankischs d. Ä. aus der zweiten Ehe, Zittauer Kantor, Wenczeslaus Jänkisch Zittau
iensis, und Wenzel Lankisch (II.) d. J., Bruder Johanns aus derselben Ehe; Album Academiae
Vitebergensis ab a. Ch. MDII usque ad a. MDLX, ed. C. E. Foerstemann, Leipzig 1841,
S. 165b,19, 165b,36, 166b,14 f.; weiter E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43;
Ders., Lorenz Heydenreich (wie Anm. 16), S. 40; Ders., Welche Zittauer (wie Anm. 20),
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Petr Hrachovec
Ä., Matthias († 1595).71 Einige von Pergeners Söhnen engagierten sich mit ihrer
Mutter Anna für den Gemeinen Kasten, wobei diese kommunale Rahmenstiftung auch von anderen ‚Zwinglianern‘ – Friedrich Weigand (1482–1559), Tobias
Schnürer u. a. – unterstützt wurde bzw. solche standen ihr als sog. Kastenherren
vor wie Cölestin Hennig (1512–1567) oder Johann Bechrer.72
Oswald Pergener scheint sich in seiner ‚Wahlheimat‘ erfolgreich integriert zu
haben. Wegen seines ‚zwinglianischen Bekenntnisses‘ wurde er keineswegs ‚häretisiert‘,73 ganz im Gegenteil fanden die Ratsherren Sympathien für seine Tätigkeit.
Eine eindeutige Entscheidung für eine exakt definierte Konfession war vor bzw.
um 1550 offenbar noch nicht unbedingt erforderlich – immerhin machten Pergener und Bechrer in ihren Briefen eindeutige konfessionelle Aussagen (bezüglich
des Abendmahls).74 Der Zittauer Rat pflegte keine konfessionelle Eindeutigkeit
zu erzwingen. Die religiös-politische Lage in den königlichen Städten der sog.
71
72
73
74
S. 46 (1933); L. Haensch, Familie von Lanckisch (wie Anm. 66), S. 18, 27, Anm. 2; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 14, Nr. IIIb/2, ebd., H. 2: 1709 bis 1855, S. 339.
Vgl. Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 256: hier als „Matthäus“; weiter L. Haensch, Familie von Lanckisch (wie Anm. 66), S. 18.
Die Edition: Register zu verschiedenen Handschriften des Zittauer Gotteskastens aus der Zeit
der ersten 100 Jahre seit der Gründung im Jahre 1527, ed. R. Neumann, Zittau 2007, weist
leider eine hohe Fehlerquote auf.
Vgl. H. R. Schmidt, Die Häretisierung des Zwinglianismus im Reich seit 1525, in: P. Blickle
(Hg.) / P. Bierbrauer (Red.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation (Bauer und Reformation 1), Zürich 1987, S. 219–236; P. Friess, Einfluss (wie Anm. 9), S. 23.
Auch wenn Pergener kein ‚orthodoxer Zwinglianer‘ Züricher Prägung war, was seine Tätigkeit
als Organist in der Zittauer Pfarrkirche belegt. Vgl. dazu Anm. 69 und 143. Im Unterschied
zu den meisten Zentren des reformierten Protestantismus war in Zürich die liturgische Musik (bis 1598) und speziell die Orgelmusik (bis in das 19. Jahrhundert) verpönt. Vgl. dazu A.
Ehrensperger, Geschichte des Gottesdienstes in Zürich Stadt und Land im Spätmittelalter
und in der frühen Reformation bis 1531 (Geschichte des Gottesdienstes in den evangelisch-reformierten Kirchen der Deutschschweiz 5), Zürich 2019, S. 357, 436–449; F. Loetz / F. Eggimann, Differenzierende musikalische Abstinenz – die Einführung des Kirchengesangs im
reformierten Zürich, in: ARG 107 (2016), S. 217–241, bes. S. 217–233, 240 f.; R. Diethelm,
„da uebt, pflanzt und nerd man den waren glouben.“ Der Liturg Heinrich Bullinger, in: EvTh
64 (2004), H. 2: Zum 500. Geburtstag von Heinrich Bullinger, S. 127–139, hier S. 132; Ders.,
Bullinger and Worship: „Thereby Does One Plant and Sow the True Faith“, in: B. Gordon /
E. Campi (Hgg.), Architect of Reformation. An Introduction to Heinrich Bullinger, 1504–
1575 (Texts and Studies in Reformation and Post-Reformation Thought), Grand Rapids 2004,
S. 135–157, hier S. 142 f.; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 149 f.; D. Timmerman, Heinrich Bullinger on Prophecy and the Prophetic Office (1523–1538) (RHT 33),
Göttingen/Bristol, CT 2015, S. 63–66, 295; E. Campi, Die Reformation in Zürich, in: A.
Nelson Burnett / Ders. (Hgg.) / M. E. Hirzel / F. Mathwig (Bearb.), Die schweizerische Reformation. Ein Handbuch, Zürich 2017, S. 71–133, hier S. 89, 108 f., 128 (1598);
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Die Reformation der langen Distanz
463
Nebenländer der Böhmischen Krone (wie in Zittau) ähnelte eher jener in den
böhmischen königlichen Städten. Die Anhänger unterschiedlicher religiöser
Richtungen lebten innerhalb einer Stadt mit- bzw. nebeneinander.75 Auch Pergeners altgläubiger Görlitzer Berufsgenosse Johannes Hass, der über die Zwinglianer kritischer als über die Lutheraner urteilte,76 berührte in seiner Chronik die
‚Konfession‘ Oswald Pergeners.77 Er bezeichnete ihn in Anlehnung an eine 1418
aus der Picardie nach Böhmen geflüchtete Sekte als ‚Pikarden‘78 – ein Etikett, mit
dem Haß Mitglieder der Brüderunität und Zwinglianer gleichermaßen versah,
Lutheraner hingegen waren für ihn Hussiten.79
Oswald Pergener und die frühneuzeitlichen Zittauer institutionellen
Bibliotheken
Pergeners Wirken stand am Beginn der berühmten Zittauer Ratsbibliothek,
die den heutigen Altbestand der Christian-Weise-Bibliothek Zittau bildet. Er
selbst baute eine (eher) semi-öffentliche Bibliothek auf. Diese muss einen Teil
der 1607 an die Ratsbibliothek übergebenen 835 Bände ausgemacht haben.80
75
76
77
78
79
80
B. Gordon, Gemeinwesen und Gottesdienst in den schweizerischen reformierten Kirchen,
in: ebd., S. 495–525, hier S. 515.
Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 49 f., 360 ff., 466 ff., 749.
Vgl. M. Christ, Town Chronicle (wie Anm. 11), S. 13 f., 17; Ders., Von Münzen (wie Anm.
11), S. 145–150.
Auff solche antzeigung, hat man magistrum Osualdum statschreibern zur Sittau zu dem hern
[Konrad /Konrád Krajíř von Krajek (ca. 1470–1542), Anm. P. H.] gen Jungen-Buntzel [ Jungbunzlau/Mladá Boleslav, Anm. P. H.] geschickt, den er hat mit dem hern gut kunthschafft, als
ein halbir pickart. Magister Johannes Hass, Bürgermeister zu Görlitz. Görlitzer Rathsannalen,
Bd. 3 (1521–1542), ed. E. E. Struve (SRL NF 4), Görlitz 1870, S. 192.
Vgl. F. Šmahel, Die Hussitische Revolution, 3 Bde. (MGH Schriften 43/I–III), Hannover
2002, hier Bd. 1, S. 707, 712; und Bd. 2, S. 984 f.
Vgl. M. Christ, Town Chronicle (wie Anm. 11), S. 13 f., 17; Ders., Von Münzen (wie Anm.
11), S. 145–150. So urteilte über Luther auch der sächsische Herzog (1500–1539) Georg der
Bärtige (1471–1539). Vgl. C. Volkmar, Reform (wie Anm. 18), S. 453–466, 478, 567 ff., 594.
Im ‚Berufsleben‘, z. B. infolge der Streitigkeiten zwischen dem Oberlausitzer Städtestand und
dem Stand ‚Land‘ (Adel und Prälaten), scheinen jedoch beide Oberstadtschreiber problemlos
mitgearbeitet zu haben. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41 ff.; AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1715 (der Görlitzer Rat an den Bautzener Rat; 4.3.1533);
RAG, LM (1531–1534), fol. 455v f., hier fol. 456r.
I.N.D. Anno 1607 Ward von einem WohlEdl. und Hochw. Rath dieser Stadt zu dem ietzigen
Bücher Vorrathe der Grund geleget und mit Anschaffung 835 Stücke Bücher den Anfang gemacht.
Die Donatorenbücher der Zittauer Ratsbibliothek 1607–1762. Herausgeben anlässlich des
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Petr Hrachovec
Es handelte sich hierbei um Nachlässe von sechs Zittauer Bürgern, unter anderem Gallus Emmenius (1541–1599), M. Michael Just (1548–1603) und Tobias
Schnürer.81 Pergeners Bibliothek gelangte wohl aus dem Nachlass Schnürers
in die Ratsbibliothek, denn Pergeners Bücher waren bereits zweimal ‚vererbt‘
worden:82 zuerst an den ehemaligen Kantor Onofrius Herzog und dann an den
Wundarzt Johann Bechrer, wobei ein Mitglied Bechrers Lesezirkels der Schulrektor M. Tobias Schnürer war,83 der nach Bechrers Tod dessen Bibliothek ‚geerbt‘
Jubiläums „450 Jahre Sammeln in Zittau“, edd. T. Fröde / U. Kahl, Zittau 2014, S. 3; vgl.
ebd., S. XXI: Berichtigung der vorher angegebenen „824 Nummern“.
81 Vgl. J. G. Kneschke, Geschichte und Merkwürdigkeiten der Rathsbibliothek in Zittau […],
Zittau/Leipzig/Görlitz 1811, S. 11; E. A. Seeliger, Neues über Prokopius Naso, in: ZG 8
(1931), S. 37 f., hier S. 37; C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 606; E. F.
Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 148 f.; C. Stempel, Zittauer
Bibliotheks- und Museumsgeschichte im Überblick: Periodisierung und Quellenlage, in: M.
Winzeler (Hg.), Weises Geschenk. Gelehrsamkeit, Unterhaltung und Repräsentation im
barocken Zittau. 300 Jahre Bibliotheksaal und Wunderkammer im Heffterbau 1709–2009
(ZG 40), Zittau/Görlitz 2009, S. 74–81, hier S. 76; P. Brandt, Sammeln und Schenken.
Büchergeschichte und ihre Stifter in 200 Jahren Geschichte der Ratsbibliothek Zittau, in:
ebd., S. 82–101, hier S. 86; J. Sperlich / U. Kahl, Kleine Geschichte der Zittauer Bibliothek, Spitzkunnersdorf 2004, S. 4; R. Neumann, Wege durch die alte Welt. Die europäische
Ausbreitung des Geschlechtes Emmen am biographischen Beispiel der Zittauer Familie Emmenius. Ein medizin- und kulturgeschichtlicher Beitrag zum 15. und 16. Jahrhundert, Zittau
2005 [zu erhalten im Altbestand der CWB Zittau], S. 57 f.; vgl. ebd., Anhang III, S. 183–224:
Katalog der 209 Einzeltitel der Bibliothek des Zittauer Stadtphysikus Dr. Gallus Emmen(ius)
aus Jüterbog; ohne jeden reformatorischen Schweizer Druck.
82 „Was von den früheren Werken Bullingers und Biblianders in der hiesigen Stadtbibliothek
aufbewahrt wird, ist vielleicht zuerst in Pergeners Besitz gewesen“. H. J. Kämmel, Beiträge I
(wie Anm. 42), S. 264, Anm. 2.
83 Schnürer war Schulmeister (1558–1586), später Ratsherr und Stadtrichter, lateinischer Dichter und Verfasser einer Stadtchronik. E. A. Seeliger, Welche Zittauer (wie Anm. 20), S. 45
(1933); E. F. Haupt, Wilhelm und Konrad, Brüder Nesen (wie Anm. 42), S. 148, 153, Anm.
6; W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 9, 23, 53, 93, 104–111, 142; Quellenbuch,
H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 12, Nr. II/4, S. 14, Nr. IIIa/3. Er stand im Kontakt
mit den Philippisten wie Kaspar Janitius (1545–1597) und Martin Mylius (1542–1611), von
denen einige am Zittauer ,Gymnasium‘ wirkten, wobei Schnürer seit 1586 ein für das städtische Schulwesen zuständiger Ratsherr war; zum Zittauer Philippismus C. A. Pescheck, Zur
Geschichte des Krypto-Calvinismus in der Lausitz, in: NLM 21 (1843), S. 353–378, S. 367 f.;
H. J. Kämmel, Beiträge I (wie Anm. 42), S. 267 ff., 272 f.; Ders., Beiträge zur Geschichte
des Gymnasiums in Zittau II.: M. Caspar Janitius. Ein Beitrag zur Geschichte des Schulwesens
in der 2. Hälfte des 16. Jahrhundert, in: NLM 49 (1872), S. 276–290, hier S. 281–290; Ders.,
[…] III.: Das Gymnasium in Zittau während der trüben Jahre 1587–1602, in: ebd., S. 291–299;
Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 83 f., 92 f.; G. Rautenstrauch,
Streiflichter aus der Frühzeit des Zittauer Gymnasiums. Die „Annales Gymnasii Zittaviensis“
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Die Reformation der langen Distanz
465
haben mag.84 Den Stadtbränden von 1589, 1608 und 1757 war ein Teil dieser
Buchbestände zum Opfer gefallen,85 doch vor allem die Zersprengung großer
Teile des Altbestandes der Ratsbibliothek von den 1960er bis in die 1980er Jahre
ist sehr schmerzvoll.86 Im Unterschied zur neuen Katalogisierung der verbliebenen Luther- und Melanchthondrucke kam es noch zu keiner Auflistung der
Schweizer Drucke.87
84
85
86
87
des Christian Döring, in: BJ (2002), H. 24, S. 2–13, hier S. 6 f.; Ders., Die Affäre um den
Rektor Caspar Janitius im Jahre 1587 im Lichte eines konspirativen Briefes, in: OLHbll. (2005),
H. 6, S. 35–38; I. Crusius, „Nicht calvinisch, nicht lutherisch“. Zu Humanismus, Philippismus und Kryptocalvinismus in Sachsen am Ende des 16. Jahrhunderts, in: ARG 99 (2008),
S. 139–174, hier S. 148–152.
Jedoch hat mich das widerum getrostet, das ich vor ethzlichen jaren schreiben und sendbriff ge
sehen, welche e[uer] a[chtbarkeit] sambt euren andere[n] cristlichen mittbrudern und gehulffen
am wort gottes, nemlich der herrn Leonis Jude und Pellicani, seliger gedechtnis, an ethliche un
sere mittburger, nemlich Magistrum Osvaldum Bergenawer und Onophrium Herzogk, meine
liben praeceptores, welche auch nu in gott ruhen, gethan. […] Nachdem der ewige allmechtige gott
durch sein gerecht urtel uber unser sunde sein veterlich straff und rutt zusendet, durch welche er
vor zweien jaren [1555, Anm. P. H.] ethlich ja vil hundert aus unserem mittel wegknam, unter
welchen er auch obgemelten meinen liben freundt und bruder Onophriu[m] mitttraff. Nach deß
selben abscheid […] und er die bucher ins Newe testament, welche e[uer] a[chtbarkeit] in druck
abgefertigt, alle hatte […], vorehret sie [Witwe, Anm. P. H.] mich mitt solchen buchern, damit
ich meines liben freunds nicht so leicht mocht vorgessen, welche ich zu sonderem danck angenomen
[…]. Es grußt euch allesambt mein liber mittbruder Tobias Schnurer. StAZH, Sign. E II 345a,
fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r–448r.
Zum Untergang der Nesen’schen Bibliothek 1608, wo sich wohl die Korrepondenz mit den
Reformatoren befunden haben soll, W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 6, 77.
Etwa 20.000 Bände infolge sog. Reorganisationsarbeiten (1977–1983); ein Teil davon kam in
die SLUB Dresden, der Rest wurde gegen westliche Devisen veräußert, doch ohne Protokolle
mit Bücherverzeichnissen. U. Kahl, Die Zeit der Geringschätzung und des Desinteresses ist
vorbei. Teile der vor rund 20 Jahren ausgelagerten Bestände sind in die Zittauer Bibliothek
zurückgekehrt, in: BJ (2001), H. 6, S. 2–7, hier S. 4 ff.; J. Sperlich / Ders., Kleine Geschichte
(wie Anm. 81), S. 18 ff. (‚Diebstähle‘ 1987/88); P. Brandt, Sammeln (wie Anm. 81), S. 84.
Vernichtung „von mehreren Tausend Bänden durch unsachgemäße Notlagerung […] mit austretendem Fäkalwasser“, d. h. „buchstäblich zerfallen“, in den 1960er Jahren, R. Neumann,
Wege (wie Anm. 81), S. II–IV (1977–1983), IV f.; ca. 5.000 Bücher der Gymnasialbibliothek
in einer Papiermühle, ebd., S. V.
Vgl. U. Kahl, Luther-Bibeln aus dem 16. Jahrhundert im wissenschaftlichen und heimatgeschichtlichen Altbestand der Christian-Weise-Bibliothek Zittau, in: P. Knüvener (Hg.),
Epitaphien (wie Anm. 3), S. 179–187; Ders., Martin-Luther- und Philipp-Melanchthon-Drucke des 16. Jahrhunderts im wissenschaftlichen und heimatgeschichtlichen Altbestand der
Christian-Weise-Bibliothek Zittau, in: ebd., S. 188–211; T. Fröde, Die handschriftlichen
Eintragungen von Reformatoren in einer Luther-Bibel in der Christian-Weise-Bibliothek
Zittau, in: ebd., S. 212–227. Dabei hätte eine solche (ursprünglich semiprivate) Bibliothek
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466
Petr Hrachovec
Oswald Pergener war ein typischer ‚reformatorischer Oberstadtschreiber‘. Man
kann sich dies mit einem Seitenblick auf seinen Zeit- und Berufsgenossen M.
Stephan Roth (1492–1546) aus Zwickau verdeutlichen.88 Dieser hatte mit Pergener
studiert, wobei „er an der Leipziger Universität eine umfassende humanistische
Bildung erworben hat“89 und ‚Schüler‘ des Gräzisten Richard Croke gewesen war.90
Roths Karriere und seine Verdienste für die Vermittlung der Reformation weisen
verblüffende Parallelen zu Pergener auf, auch wenn beide Männer keinen Kontakt
pflegten.91 Beide wirkten als Schulmeister,92 Unterstadtschreiber,93 Stadtschreiber94
sowie Oberstadtschreiber;95 wobei Roth (1543) sogar Zwickauer Ratsherr wurde.96 Sowohl Pergener als auch Roth betrieben eine umfassende Korrespondenz
und bauten eine Bibliothek auf.97 Während jedoch Roths Nachlass überliefert
ist98 – er hatte ihn in seinem Testament (1546) dem Zwickauer Rat vermacht99 –,
war seinem Zittauer Pendant dieses Glück nicht beschieden.
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99
zur Trägerin der Memoria der ganzen Stadt werden können. Vgl. dazu am Beispiel von St.
Gallen Gamper, Joachim Vadian 1483/84–1551. Humanist, Arzt, Reformator, Politiker. Mit
Beiträgen von Rezia Krauer und Clemens Müller, Zürich 2017, S. 316 f.; am Beispiel von Breslau/Wrocław: D. Haberland, Thomas Rehdiger – Humanist, Sammler und Begründer der
Breslauer Stadtbibliothek, in: M. Hałub / A. Mańko-Matysiak (Hgg.), Śląska republika
uczonych / Schlesische Gelehrtenrepublik / Slezská vědecká obec, Dresden/Wrocław 2010,
S. 73–112, am Beispiel von Zwickau, vgl. Anm. 97-99.
Roth starb am 10.7.1546. R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 222.
Ebd., S. 56.
Vgl. ebd., S. 47, 56, 572.
Vgl. ebd., S. 46–61.
Roth in Zwickau (1517–1521) und Joachimsthal/Jáchymov (1521–1522/23), ebd., S. 10, 12,
62–86.
Roth von 1527 bis 1533, ebd., S. 135 f.
Roth von 1533 bis 1535, ebd., S. 136 f.
Vgl. ebd., S. 10, 12, 136, 197 f., Roth wohl (1535–1546), auch wenn im zitierten Werk nicht
immer ganz genau zwischen dem Stadt- und Oberstadtschreiberamt unterschieden wird.
Vgl. ebd., S. 10, 197.
Wohl 3.757 Briefe von ca. 570 Briefpartnern Stephan Roths sind bisher überliefert. Ebd., S. 9,
13–16.
Vgl. ebd., S. 210–223 (ca. 6.000 Bände, davon ca. 440 Inkunabeln); „Viele seiner Bücher blieben ungelesen“; ebd., S. 194; sowie ebd., S. 221. In welchem Umfang dies auch auf Pergeners
Bibliothek zutrifft, lässt sich wegen der zahlreichen Deperditen nicht feststellen.
Vgl. ebd., S. 209 f.
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Die Reformation der langen Distanz
467
‚Epistolografische Reformation‘. Wissenstransfer durch den
reformatorischen Briefwechsel und Lektüre (1533–1560)
„Wir wissen schließlich auch, dass man niemanden besser kennen kann als in seinen Briefen“, schrieb über Bullingers Briefnachlass sein Biograf Fritz Büsser.100
Doch Bullingers Briefe verraten nicht nur etwas über seine Persönlichkeit, sondern der Reformator setzte seine Korrespondenz als Mittel zum Aufbau und
Unterhalt (Pastoration) der über ganz Europa versprengten reformierten Kirchen
ein.101 Der Briefwechsel war für eine ,öffentliche‘ Wirkung bestimmt und ging
Hand in Hand mit dem Austausch von Büchern.102 Man kann hier von einem
100 F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. IX; vgl. dazu auch Ders., Calvin und
Bullinger, in: A. Schindler (Hg.), Fritz Büsser. Humanismus und Reformation in Zürich.
Ausgewählte Aufsätze und Vorträge (ZBRG 17), Bern 1994, S. 200–222, hier S. 209.
101 Vgl. F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 179; zu seinem Brief- und Buchtransfer mit Ostmitteleuropa ebd., S. 299–316 (doch nur Polen und Ungarn); weiter A. Mühling,
Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (ZBRG 19), Bern 2001, S. 19, S. 24 f. (ohne die
Berücksichtigung der Länder Ferdinands I.), 31, 46, 73, 225–270 (Polen), 272, 276; Ders.,
Heinrich Bullinger als Kirchenpolitiker, in: E. Campi (Hg.), Heinrich Bullinger (wie Anm. 2),
S. 237–249, hier S. 245, 249; A. Mühling, Bullingers Bedeutung für die europäische Reformationsgeschichte, in: EvTh 64 (wie Anm. 74), S. 94–105, hier S. 96, 99–104; D. Timmerman,
Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 16; G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm.
9), S. 591–596; hier S. 594 zu Zittau; J. Małłek, Die Zürcher Reformation und Polen, in: A.
Schindler / H. Stickelberger (Hgg.) / M. Sallmann (Mitarb.), Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen (ZBRG 18), Bern 2001, S. 405–413, hier S. 412
(Buchtransfer); E. Bryner, „Den rechten Glauben bewahren“. Bullingers Anliegen in seinen
Briefen an polnische Theologen, in: ebd., S. 415–424; Ders., Die Ausstrahlung Bullingers auf
die Reformation in Ungarn und Polen, in: E. Campi (Hg.), Heinrich Bullinger (wie Anm.
2), S. 179–197, hier S. 179; E. Bryner, Bullinger und Ostmitteleuropa. Bullingers Einfluss
auf die Reformation in Ungarn und Polen. Ein Vergleich, in: E. Campi / P. Opitz (Hgg.),
Heinrich Bullinger. Life – Thought – Influence, Bd. 2 (ZBRG 24), Zürich 2007, S. 799–820;
R. Henrich, Bullinger als Briefschreiber, am Beispiel seiner Briefe an Johannes Haller, in:
ebd., Bd. 1, S. 129–142, hier S. 140; A. Holenstein, Reformatorischer Auftrag und Tagespolitik bei Heinrich Bullinger, in: ebd., S. 177–232, hier S. 224, 231 (,pastoral networking‘); A.
Mühling, Bullinger als Seelsorger im Spiegel seiner Korrespondenz, in: ebd., S. 271–287; E.
Campi, Heinrich Bullinger (wie Anm. 2), S. 24 f.; R. Henrich, Bullinger’s Correspondence.
An International News Network, in: B. Gordon / E. Campi (Hgg.), Architect (wie Anm.
74), S. 231–241.
102 Vgl. F. Büsser, Wurzeln (wie Anm. 2), S. 125 f.; R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87),
S. 255; M. Greengrass, An „Epistolary Reformation“. The Role and Significance of Letters
in the First Century of the Protestant Reformation, in: U. Rublack (Hg.), The Oxford Handbook of the Protestant Reformations, Oxford/New York 2017, S. 431–456, bes. S. 431; J. Rice
Henderson, Humanist Letter Writing. Private Conversation or Public Forum?, in: T. Van
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468
Petr Hrachovec
(reformatorischen) Wissenstransfer sprechen,103 der auf diesen beiden Säulen
stand.104 „Letters were essential to the Protestant Reformation in almost all its
dimensions.“105 Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit der Überlieferung
Houdt / J. Papy / G. Tournoy / C. Matheeussen (Hgg.), Self-Presentation and Social
Identification. The Rhetoric and Pragmatics of Letter Writing in Early Modern Times (SHL
18), Leuven 2002, S. 17–38, hier S. 18 ff., 24 ff.; W. Boutcher, Literature, Thought or Fact?
Past and Present Directions in the Study of the Early Modern Letter, in: ebd., S. 137–163, hier
S. 139 f.; L. Roper, ,To his Most Learned and Dearest Friend‘: Reading Luther’ Letters, in: GH
28 (2010), S. 283–295, hier S. 285, bezeichnet Luthers Briefe als mindestens „semi-public“.
103 Zu Komponenten des Kultur- bzw. Wissenstransfers D. Haberland, Buch- und Wissenstransfer in Ostmittel- und Südosteuropa in der Frühen Neuzeit. Regionalhistorie und
Medientheorie(n), in: Ders. (Hg.) / T. Katona (Mitarb.), Buch- und Wissenstransfer in
Ostmittel- und Südosteuropa in der Frühen Neuzeit (SBKGE 34), München 2007, S. 9–22,
bes. S. 11 f., 20 ff.; A. Langer / G. Michels, Einleitung, in: Diess. (Hgg.), Metropolen
und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert. Prag – Krakau – Danzig – Wien (FGKÖM 12),
Stuttgart 2001, S. 7–13, bes. S. 8 (Rezeption, Transformation, Multiplikation); M. Middell,
Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch. Das Konzept des Kulturtransfers in
verschiedenen Forschungskontexten, in: ebd., S. 15–51, bes. S. 18 (Rezeption); S. Richter /
J. A. Steiger, Einleitung, in: Diess. / M. Föcking (Hgg.), Innovation durch Wissenstransfer in der Frühen Neuzeit. Kultur- und geistesgeschichtliche Studien zu Austauschprozessen in Mitteleuropa (Chloe 41), Amsterdam/New York 2010, S. 7–16, bes. S. 12 f. (Buch
als Medium); I. Dingel / W.-F. Schäufele, Vorwort, in: Diess. (Hg.), Kommunikation
und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit (VIEG AARG 74), Mainz 2007, S. VII–IX;
speziell zum reformatorischen Briefwechsel: M. Arnold, Die Rolle der Korrespondenz bei
Kommunikation und Transfer. Zu einer evangelischen Indentität in der Frühen Neuzeit, in:
ebd., S. 33–47; M. Beyer, Übersetzungen als Medium des Transfers, in: ebd., S. 49–67, hier
bes. S. 52–56.
104 Dazu instruktiv v. a. J.-A. Bernhard, Konsolidierung des reformierten Bekentnisses im Reich
der Stephanskrone. Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte zwischen Ungarn und der
Schweiz in der frühen Neuzeit (1500–1700) (R5AS 19), Göttingen/Bristol, CT 2015, S. 32 f.,
49–53, 56 f., 69, 75, 129–148, 231, 236, 286–393, 455, 472, 578, 586–606, 633; zu Pergener
ebd., S. 46, 127, 136, allein die Peregrination (v. a. der Studenten) war eine ,Säule‘, die in den
Zittauer-Züricher Beziehungen der früheren Reformationszeit fehlte. Weiter Ders., Die
Bedeutung des Basler Humanismus für Ungarn. Warum ungarische Adelshöfe zu Förderern
der Reformation helvetischer Richtung wurden, in: V. Čičaj / Ders. (Hgg.), Orbis Helveticorum. Das Schweizer Buch und seine mitteleuropäische Welt, Bratislava 2011, S. 113–142;
J.-A. Bernhard, Der Weg des Genfer Buches nach Ostmitteleuropa. Buchdedikationen
und Übersetzungen des Genfer Buches im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, in: K. Komorová (Hg.), Európske cesty románskych kníh v 16.–18. storočí. K výskumu zámockých,
meštianských a církevních knižnic [Europäische Wege der romanischen Bücher vom 16. bis
zum 18. Jahrhundert. Zur Erforschung der Schloss-, Bürger- und Kirchenbibliotheken] (Opera
Romanica 13), Martin 2012, S. 227–264, hier S. 243 f. (Pergener).
105 M. Greengrass, Epistolary Reformation (wie Anm. 102), S. 431, 434, 440: „There is no
better way of exploring the habitus of the Protestant Reformers than through their surviving
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Die Reformation der langen Distanz
469
(1), mit den Beteiligten des brieflichen Netzwerks (2), mit logistischen (3) und
inhaltlichen (4) Aspekten sowie schließlich mit dem Transfer von Büchern und
Personen (5).
(1) Während Martin Luther mit der gesamten Oberlausitz nur vier Briefe wechselte,106 sind im Fall der ‚Zittauer Zwinglianer‘ allein 13 Briefe Oswald Pergeners
an Heinrich Bullinger (1533–1544), zwei Briefe an Konrad Pellikan (1538/39),
ein Brief (1537) an Leo Jud (1482–1542) sowie zwei Briefe (1542, 1544) an Christoph Froschauer d. Ä. (ca. 1490–1564) überliefert; daneben wissen wir von einem
Brief Cölestin Hennigs an Bullinger (1539) und zwei Briefen Johann Bechrers an
Bullinger (1558, 1560) – das macht insgesamt also 21 Briefe.107 Diese Zahl bildet
nur einen Bruchteil der Korrespondenz zwischen Zittau, der Schweiz bzw. den
correspondence“. Ders., Two sixteenth-century minorities and their scribal networks, in: H.
Schilling / I. G. Tóth (Hgg.), Cultural Exchange in Early Modern Europe, Bd. 1: Religion and Cultural Exchange in Europe, 1400–1700, Cambridge/New York 2006, S. 317–337,
hier S. 324: „The reformation validated the letter format still further and broadened the social
constituency for its usage“. T. Van Houdt / J. Papy, Introduction, in: Diess. / G. Tournoy / C. Matheeussen (Hgg.), Self-Presentation (wie Anm. 102), S. 1–13, hier S. 1: „letters constitute a most important and interesting part of Neo-Latin literature“; ebd., S. 6 f.:
Netzwerkbildung durch den Briefwechsel; dazu auch W. Boutcher, Literature (wie Anm.
102), S. 148 ff.; J. Pollmann / M. Greengrass, Introduction, in: H. Schilling / I. G.
Tóth (Hgg.), Cultural Exchange, Bd. 1 (wie oben in dieser Anm.), S. 221–235, hier S. 232 f.;
M. Greengrass, Two sixteenth-century minorities (wie oben in dieser Anm.), S. 318, 332,
336 f.; ebd., S. 328: „Letters were also complex vehicles for the creation of confessional identities“; L. Roper, Reading (wie Anm. 102), S. 286: Briefe als „a Reformation propagandist
vehicle“, und ebd., S. 294: „strategic masterpieces“; G. Almási, The Uses of Humanism. Johannes Sambucus (1531–1584), Andreas Dudith (1533–1589), and the Republic of Letters in
East Central Europe (BSIH 185), Leiden/Boston 2009, S. 43–46, 75–79; M. Arnold, Rolle
(wie Anm. 103), S. 33, 38, 45.
106 Vgl. M. Christ, Zwischen Wittenberg und Prag (wie Anm. 3).
107 Die Briefe an Bullinger (bis 1544) und einer an Froschauer sind ediert; die Briefe an andere
Reformatoren noch nicht. K. T. Hergang / [C. A.] Pescheck, Briefwechsel Zittauer
Rathsherren mit Häuptern der reformierten Kirche zu Zürich im Zeitalter 1541, in: NLM
36 (1860), S. 145–155 (sechs Briefe in extenso abgedruckt), wobei diese Edition nicht die
Originale wiedergibt, sondern die Abschriften aus der sog. Simler’schen Sammlung in der ZB
Zürich. Vgl. auch E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 37, der allein sechs von
sieben Briefen ins Deutsche übersetzen ließ. Zur Sammlung Johann Jakob Simlers (1716–1788)
F. Büsser, Wurzeln (wie Anm. 2), S. 131 f.; Ders., Calvin (wie Anm. 100), S. 210; Ders.,
Johann Heinrich Hottinger und der „Thesaurus Hottingerianus“, in: Zwingliana 22 (1995),
S. 85–108, hier S. 101; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 262; die Autografen werden
nun ediert in HBW Briefwechsel. Diese Korrespondenz kannten z. T. auch tschechische Kirchenhistoriker, näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 343, Anm. 126; Ders.,
Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 147 f., Anm. 24.
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Petr Hrachovec
nichtlutherischen Zentren in Oberdeutschland ab. Die Überlieferung ist nämlich
äußerst einseitig, denn alle nach Zittau gesendeten Briefe sind verschollen. Allein
der Sorge Bullingers um seinen Briefwechsel108 bzw. auch um die Überlieferung
seiner Schweizer Kollegen verdankt man den Erhalt der Briefe,109 die zweimal
im Jahr von Zittau aus an verschiedene Züricher, Straßburger, Baseler und wohl
auch Berner Reformatoren versendet wurden. Allein dem Überlieferten lässt
sich entnehmen, dass Bullinger an Pergener mindestens sechs bzw. sieben Briefe
schrieb, wahrscheinlich waren es wesentlich mehr.110 An den Züricher Hebrais108 Mit ca. 12.000 Stück (10.000 seiner Briefpartner und 2.000 seiner eigenen Briefe) geht es um
das umfassendste Briefkorpus unter allen Reformatoren. Vgl. F. Büsser, Wurzeln (wie Anm.
2), S. 126, 128–133, 160, 164 f., 175; Ders., Calvin (wie Anm. 100), S. 209 f., 220; A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 5, 9 f., 23, 271–278
(Bullinger als eine der bestinformierten Personen seiner Zeit aufgrund seines Briefwechsels);
C. Moser, Ferngespräche. Theodor Biblianders Briefwechsel, in: C. Christ-von Wedel
(Hg.), Theodor Bibliander (1505–1564). Ein Thurgauer im gelehrten Zürich der Reformationszeit, Zürich 2005, S. 83–106, hier S. 98, 101 f.; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2),
S. 9; E. Campi, Reformation (wie Anm. 74), S. 125 ff.; M. Greengrass, Epistolary Reformation (wie Anm. 102), S. 437, 440, 454 ff.; G. Almási, Uses (wie Anm. 105), S. 40 f.; H.
U. Bächtold, Heinrich Bullinger, Augsburg und Oberschwaben. Der Zwinglianismus der
schwäbischen Reichsstädte im Bullinger-Briefwechsel von 1531 bis 1548. Ein Überblick, in:
ZBKG 64 (1995), S. 1–19, hier bes. S. 1 (Brief als wichtigstes Medium Bullingers), S. 8 (Nachrichtenübermittlung); Ders., „Ihr seid das Salz der Erde“. Heinrich Bullinger – vom streibaren Intellektuellen zum Kirchenpolitiker, in: O. Fejtová / V. Ledvinka / J. Pešek (Hgg.),
Město a intelektuálové od středověku do roku 1848 [Die Stadt und die Intellektuellen vom
Mittelalter bis 1848] (DP 27), Praha 2008, S. 255–264, hier S. 262; B. Nagy, Bullingers Bedeutung für das östliche Europa. Ein Forschungsüberblick, in: E. Kähler (Hg.), Reformation
1517–1967. Wittenberger Vorträge, Berlin 1968, S. 84–119, hier S. 84, 96–99; zu Pergener ebd.,
S. 86 f.; E. Egli, Zur Erinnerung an Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger, geboren 1504,
in: Zwingliana (1904), Nr. 2 = Nr. 16, S. 419–437, hier S. 430–436: zu Pergener ebd., S. 433.
109 Vgl. R. Henrich, Heinrich Bullingers letztwillige Verfügung über seinen schriftlichen Nachlass, in: C. Moser / P. Opitz (Hgg.) / H. U. Bächtold / L. Baschera / A. Kess (Mitarb.), Bewegung und Beharrung. Aspekte des reformierten Protestantismus, 1520–1650, FS
Emidio Campi (SHCT 144), Leiden/Boston 2009, S. 181–191, hier S. 185; weiter z. B. Oswald
Myconius. Briefwechsel 1515–1552, Regesten, ed. R. Henrich, 2 Teilbde., Zürich 2017; hier
Teilbd. 1, S. 79–82.
110 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 7: Briefe des Jahres 1537, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich,
Zürich 1998, S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75, ein (erster) und der
letzte Brief Bullingers (bis 1537), den Pergener im Februar 1534 erhielt; doch ebd., S. 63 ff., Nr.
949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64; erwähnt Pergener, dass an ihn Bullinger vor
einem und einem Viertel Jahr, ca. Ende 1535, ein Buch sendete, mit einem siebenten [?] Brief,
ebd., Bd. 8: Briefe des Jahres 1538, edd. Diess., Zürich 2000, S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an
Bullinger; 12.3.1538), hier S. 105: Bullingers (zweiter) Brief vom 1.9.1537, den Pergener im Oktober 1537 erhielt, ebd., Bd. 9: Briefe des Jahres 1539, edd. Diess., Zürich 2002, S. 186 f., Nr.
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Die Reformation der langen Distanz
471
ten Theodor Bibliander (1505–1564) schrieb Pergener mindestens einen heute
verschollenen Brief.111 Vom Hebraisten Konrad Pellikan wurden an Pergener
sicher zwei verschollene Antworten gesendet; die erste stammt vom 30. August
1537,112 die zweite vom 31. August 1538.113 Eindeutig nachweisbar sind zwei verschollene Briefe Pergeners an den Drucker Christoph Froschauer d. Ä.114 sowie
ein verschollener Brief in umgekehrter Richtung.115 Darüber hinaus lässt sich
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1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 186: Bullingers (dritter) Brief vom 13.3.1539,
den Pergener am 23.4.1539 erhielt; ebd., Bd. 11: Briefe des Jahres 1541, edd. R. Henrich / A.
Kess / C. Moser, Zürich 2005, S. 86 f., Nr. 1470 (Pergener an Bullinger; 1.3.1541), hier S. 86:
ein (vierter) durch Pergener erhaltener Brief Bullingers vom 31.8.1540; ebd., Bd. 14: Briefe des
Jahres 1544, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger, Zürich 2011,
S. 110 ff., Nr. 1857 (Pergener an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111: zwei (der fünfte und sechste)
durch Pergener erhaltene Briefe Bullingers.
Vgl. ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949
(Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64; vgl. das Verzeichnis der heute überlieferten
Korrespondenz Biblianders (220 Stück) bei C. Moser, Ferngespräche (wie Anm. 108), S. 84,
86–90, 103 ff. (Hinweise auf verschollene Briefe Biblianders in anderer Korrespondenz).
Epistolam tuam 30. mensis Augusti prioris anni [1537, Anm. P. H.] scriptam summa cum voluptate
legi ac ceteris communicavi fratribus; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an
Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r; wobei Pergener diesen Brief Pellikans auch in seinem Brief
an Bullinger vom gleichen Tag erwähnte: Per amanuensem communicavi eam et d. Chonradi
Pellicani epistolam multis fratribus; HBW Briefwechsel, Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R.
Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 106;
vgl. das Verzeichnis des heute überlieferten Briefwechsels Pellikans (385 Stück) C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken in Zürich 1526–1556 (ZBRG 4), Zürich 1975, S. 285–304,
hier S. 299, Nr. 289 f. (Pergener); zu Pergener und Pellikan noch ebd., S. 148; vgl. auch das
Verzeichnis des heute überlieferten Briefwechsels Leo Juds (159 Stück) K.-H. Wyss, Leo
Jud. Seine Entwicklung zum Reformator 1519–1522 (EHS.G 61), Frankfurt a. M./Bern 1976,
S. 211–245, hier S. 240, Nr. 136 (Pergeners einziger erhaltener Brief an Jud; 1537).
Vgl. ZB Zürich, Ms. F 47/, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol.
28r, wobei Pergener wiederum den Erhalt dieses Briefs von Pellikan auch an Bullinger mitteilte, an den er am gleichen Tag auch einen Brief schrieb. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H.
U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 f., Nr. 1229 (Pergener an Bullinger;
21.2.1539), hier S. 63.
Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110),
S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 107 (erster verschollener Brief
an Froschauer; wohl 12.3.1538); weiter: Reliqua ad d. Chuonradum Pellicanum scripsi [Pergener an Pellikan; 21.2.1539, Anm. P. H.] et partim Germanice ad Christopherum Froschouerum;
ebd., Bd. 9, edd. Diess. (wie Anm. 110), S. 63 f., Nr. 1229 (Pergener an Bullinger; 21.2.1539),
hier S. 63 f. (zweiter verschollener Brief an Froschauer; wohl 21.2.1539).
Vgl. ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm.
110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 112: Bestätigung des Erhalts
seines Briefs, Frankfurt am Main, 24.3.1543.
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Petr Hrachovec
ein verlorener Brief an den Straßburger Reformator Martin Bucer nachweisen, der,
wie Froschauer von Frankfurt am Main aus, als Vermittler der Briefe nach Zürich
diente.116 Auch Johann Bechrer sandte an Bullinger mindestens einen (verschollenen) Brief (wohl Dezember 1559), wobei er wenigstens einmal (zwischen 1558
und 1560) eine Antwort erhielt.117
(2) Pergeners Briefwechsel mit den Schweizer Reformatoren war eine öffentliche, gesamtstädtische Angelegenheit vieler Zittauer Ratsherren, gebildeter Bürger
(Kantoren) sowie ‚eingeladener Gäste‘ jenseits der politischen, sprachlichen und
konfessionellen Grenze. Bereits den ersten Brief an Bullinger ,unterzeichneten‘
viele Männer, die Spitzenpositionen in der Stadtverwaltung innehatten.118 Die
‚anderen Brüder‘ aus ‚anderen Städten‘ gehörten gleichfalls zu den politisch-religiösen Führern ihrer Gemeinden.119 Einige dieser Personen schrieben am 23.
August 1542 mit Oswald Pergener sogar einen gemeinsamen Brief nach Zürich.120
116 Misi et alias literas ad Martinum Buczerum Argentoratum, rogavi, ut eas Tigurum mittere
velit. Ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955
(Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75, Die Briefe sind nicht überliefert. J. Rott, Die
Ueberlieferung des Briefwechsels von Bullinger und den Zürchern mit Martin Bucer und den
Strassburgern, in: U. Gäbler / E. Herkenrath (Hgg.), Heinrich Bullinger 1504–1575.
Gesammelte Aufsätze zum 400. Geburtstag, Bd. 2: Beziehungen und Wirkungen (ZBRG 8),
Zürich 1975, S. 257–284. Bucer war der wichtigste deutsche Briefpartner Bullingers. F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 260; zur Rolle Straßburgs im Buchtransfer
J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 138.
117 Vgl. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r.
118 Salutant te ac alios tuos commilitones in hac civitae viri prestantes Wenceslaus Lankisch [Wenzel
Lankisch d. Ä., Anm. P. H.], nostrę reipublicae iudex, Fridericus Vigantus [Friedrich Weigand,
Anm. P. H.], natione Helvetius [Schweizer, Anm. P. H.], vir ordinis senatorii, Caspar Gettelus
[Kaspar Güttel, Anm. P. H.], Onofrius Hertzog, Celestinus Hennig et plures alii. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272, hier S. 205;
Salutant te in primis Fridericus Weigant, princeps huius senatus, Helvetius, Wenceslaus Lankisch,
iudex, Caspar Guttel, Onofrius Herczog, Celestinus Hennig, Iohannes Becherer, cirurgus, Mar
tinus N., nostri reipublicae cives, ex Lubano Franciscus Boarius cum suis charissimis, tandem ex
Bohemia perquam multi. Ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110),
S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76; weiter ebd., Bd. 8, edd. Diess.
(wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), S. 107; ebd., Bd. 10:
Briefe des Jahres 1540, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich, Zürich 2003, S. 54 ff., Nr. 1362
(Pergener an Bullinger; 25.2.1540), hier S. 55.
119 Iacobus Mraczek, scriba apud Nimburgum super Albim fluvium [Nimburg/Nymburk, Anm.
P. H.], Bohemus, Nicolaus Bitensis, scriba apud Turnoviam [Turnov/Turnau, Anm. P. H.], et
ipse Bohemus, Franciscus Boarius, senator apud Lubanum [Lauban, Anm. P. H.], Ludovicus
Flosselius, eiusdem civitatis civis. Ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm.
110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64 f.
120 Osvaldus Pergenerus a commentariis, Laurentius Neumann, Celestinus Hennig, Onofrius Hertzog
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Die Reformation der langen Distanz
473
Später wurden im Briefwechsel vor allem die damals wohl aktivsten ,Zwinglianer‘ Cölestin Hennig und Onofrius Herzog erwähnt.121 Zu diesem Kreis zählten
auch Tobias Schnürer bzw. Václav/Wenzel Mitmánek (ca. 1510 bis vor 1564).122
Dieses Netzwerk der ‚Zittauer Zwinglianer‘ ist zu ergänzen durch die Vermittler
der Briefe auf der Strecke nach Zürich; namentlich bekannt sind Johann Bechrer, Johann Hensenstein, Pergeners Schwager Tobias Engler, der Wittenberger
Hebraist Matthäus Aurogallus sowie der Wittenberger Stadtrichter (wohl) Kaspar Teudel († 1545) und M. Jakob Berger (d. Ä.).
Friedrich Weigand, der Teilnehmer am reformatorischen Lesezirkel Pergeners,
war ein Schweizer.123 Seit 1519 saß er im Zittauer Rat, 1534 wurde er (einmal)
Stadtrichter und seit 1535 (viermal) Bürgermeister. Infolge des Pönfalls 1547
musste er den Rat verlassen,124 worauf er als Vorsteher des St.-Jakob-Hospitals
wirkte.125 Cölestin Hennig immatrikulierte sich 1530 in Frankfurt an der Oder.
Vor Pfingsten 1535, als er bereits als ein ‚alter Kantor‘ erwähnt wird, muss er diese
Stelle versehen haben.126 1547 wurde er Vorsteher des Gemeinen Kastens. Infolge
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Svevus [Schwabe, Anm. P. H.], Fridrich Helvetius [Weigand, Anm. P. H.], Chuonradus Ne
senus licentiat[us] […], Bartho. Benesß Bohemus et alii multi fratres, qui pie de vestra doctrina
sentiunt. Ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 165 ff.,
Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167.
Vgl. ebd., Bd. 13: Briefe des Jahres 1543, edd. Diess., Zürich 2008, S. 72 f., Nr. 1719, hier S. 73;
ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm.
110), S. 110 ff., Nr. 1857, hier S. 112.
Die meisten Personen konnten näher nachgewiesen werden, bis auf Martinus N. aus Zittau.
Vgl. oben Anm. 118, sowie jene ‚fratres‘ (meistens aus Böhmen), deren ‚große Menge‘ Pergener
durch die Adjektive wie ‚multi‘ bzw. ‚quam plurimi‘ hervorhob. Nur einmal schrieb er über
mehr als 30 ‚fratres‘: Communicavi hanc tua[m] [epistolam vom 31.8.1538, Anm. P. H.] plus
30 fratribus; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539),
hier fol. 28r.
Zu seiner wahrscheinlichen Herkunft aus Toggenburg HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsin
dely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272, hier S. 205, Anm. 11; weiter E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24),
S. 57–61, 85; zu seinem Tod: 7. Der ersame wolweyse her Friderich Weygand, alte burgermeister,
ist yn got vorscheyden montag noch Circu[m]cisionis [2.1.1559, Anm. P. H.] des morgens frue,
folgend mitwoch an der heilign drey konig tag [d. h. vor, also am 4.1.1559, Anm. P. H.] zur erden
bestattet yn der pffarkirchn unnd gelauteth wordn, wie gewonlich. F[runtschafft] d[edi]t von 2
pulsen, ist 9 g. PfA Zittau, Totengeläut mit der Großen Glocke (1553–1559), ohne Sign., fol.
77r. Er besaß ein Haus, heute Bautzner Straße 20: Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57),
S. 349.
Vgl. C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 273, 278.
Vgl. Chronik der Stadt Zittau, ed. T. Fröde (wie Anm. 4), S. 171.
Vgl. CWB Zittau, Mscr. A 267, S. 188.
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Petr Hrachovec
des Pönfalls wurde er Ratsherr, wobei er auch Stadtrichter (1557), mehrfacher
Bürgermeister und 1566 Oberkirchvater der Zittauer Pfarrkirche wurde. Er verfasste eine heute verschollene Stadtchronik.127 Der Wundarzt Johann Bechrer
war ein Vorsteher des Gemeinen Kastens.128 Ein Hans/Johann Becher/Becker
(† 1540) aus dem Frauenviertel, der seit 1528 im Rat saß und 1539 Bürgermeister wurde,129 war wohl sein Verwandter, da er auch in der ‚Neustadt‘ wohnte.130
Onofrius Herzog aus Schwaben war Zittauer Kantor und wirkte 1538 als Bergschreiber.131 Er starb 1555 an der Pest.132 Kaspar Rettelus,133 d. h. Kaspar Güttel
(Gettelus, Göt[t]li[n]g, Göttlich), war auch Kantor (1536–1553);134 er starb
127 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; H. J. Kämmel, Beiträge I (wie
Anm. 42), S. 266; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 5 f., Nr. III/6; W.
Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 53, 79 f. Er besaß (vor 1543) einen siebenbierigen
Bierhof, heute Innere Weberstraße 19, den nach ihm etwa nach 1566 bis etwa vor 1583 Jakob
Berger (d. Ä.) besaß. Das benachbarte Haus, Innere Weberstraße 17, besaß Lukas Pergener,
wobei sein Vater Oswald auch ein Haus in derselben Straße innegehabt hatte. Häuserchronik,
ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 256. Darüber hinaus besaß er 1543, heute Neustadt 37, einen
acht- bzw. zehnbierigen Bierhof. Ebd., S. 17, 333.
128 Ihm jhare 1569t[en] mo[n]tag[es] der 6. Juli [sic! 6. Juni nach, Anm. P. H.] Trinitat[is] [5.6.1569,
Anm. P. H.] ist Hans Becherer verschiden. CWB Zittau, Mscr. A 251, unfoliiertes Blatt ‚v‘ zwischen
den fol. 2v und 3r. Er oder wohl sein Nachkomme besaß 1578 einen Garten in der Helwigsgasse,
heute Dornspachstraße. T. Fröde, Historisches Straßenverzeichnis der Stadt Zittau mit einer
kurzen Erläuterung der Herkunft des Straßennamens, dem Datum der Benennung sowie einigen
Übersichten, Olbersdorf 2009, S. 62, 71; Häuserchronik, ed. Ders. (wie Anm. 57), S. 349.
129 Vgl. Chronik der Stadt Zittau, ed. T. Fröde (wie Anm. 4), S. 162. Ein achtbieriger Bierhof,
Neustadt 34, als dessen Inhaber eher erst seine Nachkommen (1544) erwähnt sind, weist
zahlreiche Elemente der frühen Renaissance von 1532 auf. Häuserchronik, ed. Ders. (wie
Anm. 57), S. 26; J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 58 ff., 78; E. A. Seeliger,
Denkmale (wie Anm. 20), S. 4–7, Abb. 1–4.
130 Barbara, ein iungfrau, Hans Bechers [des Wundarztes, Anm. P. H.] uff der Neustad dienerin,
freitag nach Martini [13.11.1556, Anm. P. H.] vorschieden. PfA Zittau, Totengeläut mit der
Großen Glocke (1553–1559), ohne Sign., fol. 42r f.
131 Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 6, Nr. III/7. 1543 besaß er einen achtbierigen Bierhof auf dem Markt,
heute Mandauer Berg 1: Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 189, 335. Er war ein
Nachbar Konrad Nesens.
132 It[em] ead[em] die [18.9.1555, Anm. P. H.] ist gestorbenn Onoffri[us] Hertzick, alhie lang cantor
gewests [sechs Gr., Anm. P. H.]. PfA Zittau, Sammelband vorwiegend über das Totengeläut,
H. B/C: Totengeläut mit der Messglocke (1555), ohne Sign. fol. 30r (Nr. 154).
133 E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43, hält ihn irrtümlich für einen Verwandten des Ratsherrn Nikol Rettel (seit 1508), wobei er ihn an einer anderen Stelle „Kaspar
Bettelus“ nennt. Ders., Neues über Nikolaus von Dornspach (wie Anm. 43), S. 48 (1928).
134 Vgl. CWB Zittau, Mscr. A 250, fol. 174v: Caspar Götlige, dem cantor (13.5.1541); ebd., fol. 175v
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Die Reformation der langen Distanz
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1559.135 Lorenz Neumann († 1559), genannt Remus, war ein Altarist (1521),
der sich 1519 in Frankfurt an der Oder immatrikulierte. 1550 war er Pfarrer in
Kleinschönau/Sieniawka und 1558 (wohl) Zittauer Archidiakon,136 auch wenn
er Oberseifersdorfer Pfarrer geblieben sein muss.137
Ludwig Flössel aus Lauban lässt nicht identifizieren, doch war er wohl ein
Verwandter des David Flössel Laubensis, der sich 1557 in Frankfurt an der Oder
gemeinsam mit Vincentius Henning Sittaviensis immatrikulierte.138 Darüber hinaus saßen zwei Flössels im Zittauer Rat.139 Bakkalaureus Franz Beier († 1543)
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(vor 20.9.1549), 9r: (17.5.1549); C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 769
(1536); H. J. Kämmel, Beiträge I (wie Anm. 42), S. 266; W. Riessner, Humanismus (wie
Anm. 16), S. 83; Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 6, 14, Nr. IIIb1; HBW
Briefwechsel, Ergänzungsbd. A, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 21), S. 68;
ebd., Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 205, Anm. 12.
96. Der ersame wolgelerte Caspar Götlig, ein lang zceith zum Sagan [Żagań, Anm. P. H.] unnd
alher zur Zittau vleisiger unnd ein gethrauer cantor gewesen, ist yn dem herrn Christo seliglich
vorschieden dinstag noch Joha[n]nis Baptistę [27.6.1559, Anm. P. H.] unter der predigt des hei
lign evangelii. Folgende mitwoch [vor, Anm. P. H.] Petri unnd Pauli Apostolorum [28.6.1559,
Anm. P. H.] zur erdn bestattet ad b[ea]tam Virginem [Frauenkirche, Anm. P. H.] unnd gelau
teth. [Freundschaft, Anm. P. H.] d[edi]t [23 Gr., Anm. P. H.]. PfA Zittau, Totengeläut mit
der Großen Glocke (1553–1559), ohne Sign., fol. 88v f.
Vgl. P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345, 386, Anm. 328, S. 426, Anm. 505, S. 429,
Anm. 517, S. 616, Anm. 206, S. 729, Anm. 710 (Pfarrer in Kleinschönau, nicht in Oberseifersdorf ); Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 133, 148, Anm. 28; C. A. Pescheck,
Handbuch, Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 752; T. Gärtner, Die Zittauer auf Universitäten bis
1550, Zittau 1896, S. 6, Nr. 95; P. Pfotenhauer, Sechsstädter auf der Universität Frankfurt
a. O. in der Zeit von 1506–1606, in: NLM 62 (1886), S. 181–205, hier S. 185, 193, Anm. 18; H.
Knothe, Die Oberlausitzer auf Universitäten während des Mittelalters und bis zum Jahre
1550, in: ebd. 71 (1895), S. 133–174, hier S. 169. Seine Witwe besaß 1578 in der Helwigsgasse,
heute Dornspachstraße, einen Garten. Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 349.
51. Der wirdige her Lorentz Neuman, pffarher zu Seyfferstorff, am dornestag noch Judica [16.3.1559,
Anm. P. H.] gelauteth. [Freundschaft, Anm. P. H.] d[edi]t [für, Anm. P. H.] 2 pulss [ca. neun
Gr.]. PfA Zittau, Totengeläut mit der Großen Glocke (1553–1559), ohne Sign., fol. 83r.
P. Pfotenhauer, Sechsstädter (wie Anm. 136), S. 187, wohl Söhne Ludwig Flössels und
Cölestin Hennigs.
Nikolaus († 1534) von 1512 bis 1534, 1531 wurde er Stadtrichter und 1532 Bürgermeister: J.
Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55–59, 79. Er starb am 10.6.1534. Chronik
der Stadt Zittau, ed. T. Fröde (wie Anm. 4), S. 156; Paul war nur ein Ratsherr (1538, 1540,
1541, 1543, 1544, 1546) J. Prochno, Zittauer Ratslinie (wie Anm. 24), S. 55–59, 79. Nach
dem Pönfall (1547) wirkte er mit Friedrich Weigand als Vorsteher des St.-Jakob-Hospitals. Er
besaß einen achtbierigen Bierhof, Markt 21, unweit der anderen Häuser der Familie Flössel,
benachbart an einigen ‚Zwinglianern‘ (Onofrius Herzog, Konrad Nesen u. a.). Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie Anm. 57), S. 190, 335 (1535, 1543). Ein ,dritter‘ Nicol Flössel († 1563)
besaß zwei Häuser: einen achtbierigen Bierhof, heute Albertstraße 16. Ebd., S. 59 (wohl ca.
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aus Lauban beteiligte sich 1527 an der Huldigung für König Ferdinand I. sowie
(1529) an der Herstellung der Büchsen zur Türkenabwehr. Im Laubaner Rat ist
er zugleich als (Ober-)Stadtschreiber, also als ein Berufsgenosse Pergeners, seit
1527 überliefert bzw. zu unbekanntem Zeitpunkt als Ratssyndikus. 1540 wurde
er Bürgermeister. Er unterhielt Kontakte zum Melanchthonschüler Joachim Cnemiander/Hosemann (1506–1568).140
Stadtschreiber waren auch die böhmischen Teilnehmer am Zittauer Lesezirkel: Zu nennen ist hier Mikuláš/Nikolaus Bytešský (ca. 1521–1548) aus Turnau/
Turnov am oberen Lauf des Flusses Iser/Jizera, einem bedeutenden Zentrum der
Brüderunität vor der Niederlage des ersten ständischen Aufstands (1547). Er war
Verfasser geistlicher Lieder sowie eines Berichtes über den Turnauer Stadtbrand
(1538). Nach der Beschlagnahme Turnaus durch Ferdinand I. musste 1548 die dortige Brüdergemeinde entweder zum Utraquismus konvertieren oder auswandern.
Mikuláš wählte die zweite Möglichkeit, wobei seine Frau Kateřina/Katharina, eine
Kuttenberger/Kutná Hora Bürgerstochter, vor Ort verblieb. Er ging mit anderen
Turnauern nach Ostpreußen, wo er 1548 am sog. Königsberger/Kaliningrader Examen der Brüderunität durch die dortigen Hof- und Universitätstheologen teilnahm.
Er ließ sich dann in Soldau/Działdowo nieder, wo er 1553 Zeuge der Heirat seiner
Enkelin war, die bald danach in ein anderes Zentrum der Brüderunität im Isertal,
Jungbunzlau, zurückkehrte.141 Auch Jakub/Jakob Mráček war Stadtschreiber, und
nach 1543 bis ca. vor 1578), und einen achtbierigen Bierhof, heute Brunnenstraße 2, zwischen
den Häusern Oswald Pergeners, Konrad Nesens und Paul Flössels. Ebd., S. 249, 335 (1543).
140 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345, 348 f.; Ders., Von feindlichen
Ketzern (wie Anm. 3), S. 135 f., 149 f., Anm. 53–60; Ratsherr (1527–1543): APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2255 (Chronik Wiesner II), S. 258 (Ratsherr; 1527), 273 (Ratsherr;
1528), 275 (Ratsherr; 1529), 276 (wohl Unterstadtschreiber und Ratsherr; 1530), 305 (Unterstadtschreiber; 1531), 307 (Unterstadtschreiber; 1532), 309 (wohl Oberstadtschreiber;
1533), 310 (Oberstadtschreiber; 1534), 312 (seine diplomatische Reise nach Prag; 1534), 314
(Oberstadtschreiber; 1535), 316 (Oberstadtschreiber Franz Beier, Unterstadtschreiber M.
Joachim Hosemann/Cnemiander; 1536), 317 (dieselben; 1537), 330 (wie im Jahr zuvor und
Beier wiederum – wie letztmals 1530 – Ratsherr; 1538), 341 (wie im Jahr zuvor; 1539), 346
(Bürgermeister, nicht mehr Stadtschreiber; 1540), 352 (Stadtschreiber, Ratsherr; 1541), 362
(Ratsherr/Kämmerer, Stadtschreiber; 1542), 367 (Tod; 1543); weiter: APWr., Archiwum
Stanów Krajowych Górnych Łużyc (1372–1933) [Landständisches Archiv der Oberlausitz
(1372–1933)], Sygn. 2246 (Landtagsprotokolle 1509–1594), fol. 33r (1537); AV Bautzen –
StA Bautzen, Urkunde Nr. 1915 (Bautzener Ratssyndikus Franz Göritz an den Bautzener Rat;
1.12.1541). Als Syndikus soll Beier 1533 erwähnt worden sein. J. G. Gründer, Chronik (wie
Anm. 22), S. 434. Die Laubaner Chroniken bestätigen dies eher nicht. Dazu noch ebd., S. 257.
141 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345 ff.; Ders., Von feindlichen Ketzern
(wie Anm. 3), S. 134 f., 148 f., Anm. 30, 41–52; vgl. auch M. Thomsen, „Wider die Picarder“.
Diskriminierung und Vertreibung der Böhmischen Brüder im 16. und 17. Jahrhundert, in: J.
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Die Reformation der langen Distanz
477
zwar in Nimburg, das im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts – wohl unter dem
Einfluss Kuttenbergs – unter den utraquistischen Städten ziemlich ,radikal‘ war;
zugleich lebten dort auch Böhmische Brüder.142 Während Mráček wohl ein Utraquist war, gehörte Bartoloměj/Bartholomäus Beneš aus dem mittelböhmischen
Brandeis an der Elbe/Brandýs nad Labem, einer Stadt der Herren von Krajek, wohl
der Brüderunität an. 1542 wird er als ein Bote erwähnt, der in Zittau den Tod des
Organisten Bartel Christels († 1542), eines Schülers Oswald Pergeners und des
Zittauer Pfarrpredigers M. Johannes Zacharias († 1542) mitteilte. Der gebürtige
Zittauer Christel war in Brandeis tätig gewesen; falls Christel dort als Organist
gewirkt hatte, wäre dies ein Komplementärbeleg zu einer ähnlichen Tätigkeit des
‚Zwinglianers‘ Oswald Pergeners.143 M. Johannes Zacharias aus Görlitz ist 1539 als
Zittauer Prediger belegt. Vor 1515 wirkte er als Altarist in Görlitz, von 1516 bis 1542
als Bautzener Stiftsherr, gleichzeitig war er (mindestens bis 1539) auch als Pfarrer in
Jauernick(-Buschbach) tätig. 1522 nannte ihn König Ludwig I. (1516–1526) seinen
‚Kaplan‘. Trotzdem schloß er sich der Reformation an. 1542 starb er in Dresden.144
Der bedeutendeste Teilnehmer an Pergeners Lezezirkel war Dr. Václav Mitmánek, der von der Brüderunität zum Luthertum bzw. zum Utraquismus konvertiert war und als Prediger (1540–1543) in der utraquistischen ,Hauptkirche‘,
der Teynkirche, sowie als Assessor (1541–1543) im utraquistischen Konsistorium
Bahlcke (Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und
Südosteuropa 4), Berlin 2008, S. 145–164, hier S. 150–153.
142 Mráček wird um 1540 bei religiösen Streitigkeiten innerhalb Nimburgs erwähnt. Belegt ist er
seit 1543 als Ratsschöffe, 1544 Gemeindeältester, 1546 Stadtrichter und ehemaliger (Stadt-)
Schreiber, 1549 und 1552 wiederum Ratsschöffe, 1550 und 1551 Bürgermeister (wohl noch
1553); neben seinem Wohnhaus besaß er viele Immobilien, unter anderem einen Wirtschaftshof im Dorf Bobnitz/Bobnice. Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345,
347 f.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 135, 148, Anm. 30, 35–40.
143 Bisher war die Forschung der Ansicht, dass die Brüderunität z. B. wie die Züricher Reformierten die Orgelmusik in Kirchenräumen kategorisch ablehnte. Näher dazu P. Hrachovec,
Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 137, 151 f., Anm. 71–76; Ders., Zittauer (wie Anm.
3), S. 352 f.; vgl. aber B 2: Bartel Christel, organista, des Magistri Oswaldi Pergamer unnd Joan
nis Zacharie discipulus, ist vorschieden yn Behmen zum Brandteysen. Hot den armen gemeynes
kastens 9 m[a]rg unnd den Franczosen [Franzosenhaus, Anm. P. H.] ouch 9 m[a]rg bescheiden,
wie mir Joannes Fuchs, gerichtesdiener am dornestag noch Lucię [14.12.1542, Anm. P. H.] in
kegenwertigkeit Bartl Behnisch angeczeyget hot im [15]42st[en]. CWB Zittau, Mscr. A 250, fol.
14r; näher zur Brüdergemeinde in Brandeis P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345,
Anm. 131, S. 349, S. 352, Anm. 177, S. 353, Anm. 179, S. 363, 365; Ders., Von feindlichen
Ketzern (wie Anm. 3), S. 136, 148, Anm. 28, S. 150, Anm. 61, S. 151, Anm. 72.
144 Vgl. Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 137, 151, Anm. 72; Ders., Zittauer (wie
Anm. 3), S. 352, 374; E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 43.
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478
Petr Hrachovec
tätig war. Durch seine Politik versuchte er eine evangelische böhmische Nationalkirche zu etablieren. Dadurch geriet er in Konflikt mit König Ferdinand I.,
der die konservativen Strömungen innerhalb des Utraquismus unterstützte, was
im August 1543 Mitmáneks erste Verbannung aus Prag zur Folge hatte. Doch er
kehrte Ende 1543 zurück, worauf er gefangen genommen, bis Juli 1544 eingekerkert sowie unter Androhung der Todesstrafe der Länder Ferdinands I. verwiesen
wurde.145 Mitmánek, der auch in Zürich gewesen sein soll, scheint häufig nach
Zittau gereist zu sein, wo er sich als ein in Züricher theologischen Schriften ‚sehr
erfahrener‘ Mann am dortigen Lesezirkel beteiligt haben soll.146
Ob Pergener und Mitmánek ihre Kontakte vermittels ihrer adligen Patrone
knüpften, ist nicht klar. Mitmánek wirkte nach seiner Rückkehr aus Wittenberg,147
wo er sich von etwa 1530/31 bis 1533 und von Ende 1534 bis 1537 aufgehalten hatte, als Erzieher (etwa 1537 bis 1539) beim Böhmischen Bruder Herrn
Arnošt/Ernst Jilemnický von Augezdecz/z Újezdce (vor 1512, † 1560) zu Starkenbach/Jilemnice im oberen Isertal, einem Schwerpunkt der adligen Mitglieder
der Brüderunität.148 Die adligen Anhänger der Brüderunität waren für Pergeners
145 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345 f., 352, 359, Anm. 201; Ders., Von
feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 133 f., 148, Anm. 31–34, S. 151, Anm. 69; K. Krofta,
Doktor Václav Mitmánek. Ein Kapitel aus der tschechischen Reformationsgeschichte, in: PR
5 (1935), S. 397–421.
146 Propter sanctissimum evangelium quidam doctor Wenceslaus cognomento Mitnanek Moravus
hisce diebus Pragę coniectus est in durissima vincula. Predicavit is sincere verbum dei Bohemico
sermone; Bohemis et Moravis idem est sermo. Fuit is Wenceslaus olim Parrisiis et vobiscum Tiguri,
Basileę et in aliis celebribus locis. Doctiorem hominem in Bohemia nec vidi nec audivi. Est et ipse
studiosissimus vestrarum ęditionum, mihi familiarissimus, qui sepius in his meis ediculis mecum
contulit de rebus christianis. An liberatus sit, ignoro, sciam autem brevi. HBW Briefwechsel,
Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110),
S. 110 ff., Nr. 1857 (Pergener u. a. an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111 f. In Zürich war er wohl
während seiner Baseler Studien (Immatrikulation 1533/34), worauf er sich im Herbst 1534
kurz in Paris aufhielt. Zu Bullingers Werken in Prager bürgerlichen Bibliotheken (allerdings
mit dem Schwerpunkt erst auf der Zeit um 1600) O. Fejtová, Reformierte Literatur in Prager bürgerlichen Privatbibliotheken im 17. Jahrhundert, in: Zwingliana 32 (2005), S. 71–87;
Dies., Reformierte Literatur in Prager bürgerlichen Privatbibliotheken im 17. Jahrhundert
im Vergleich (Bullingers Einfluss im bürgerlichen Milieu), in: LF 129 (2006), S. 117–143.
147 Vgl. die Wittenberger Immatrikulation (Wintersemester 1530/31) Mitmáneks und Bořivojs,
Burggrafen von Dohna/z Donína († 1571) zu Benatek/Benátky nad Jizerou an der unteren Iser
zwischen Brandeis im Süden und Jungbunzlau im Norden: Album Academiae Vitebergensis,
ed. C. E. Foestermann (wie Anm. 70), S. 140b,7, 141a,11, auch der Benateker Zweig derer
von Dohna schloss sich der Brüderunität an.
148 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 345, Anm. 134; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 148, Anm. 31.
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Die Reformation der langen Distanz
479
politisch-religiöses Netzwerk sehr wichtig. Vor allem gilt dies für Konrad Krajíř
von Krajek zu Jungbunzlau und dessen Sohn Ernst/Arnošt († 1555), die große
Herrschaften im Isertal besaßen.149 Pergener machte zahlreiche Zwischenhalte
bei Konrad zu Jungbunzlau sowie Friedrich von Dohna († 1547) zu Benatek, als
er im Auftrag des Sechsstädtebunds unterwegs nach Prag war. Diese Adeligen
legten 1535 Ferdinand I. das Bekenntnis der Brüderunität vor.150 Über seine religiös-politischen Verhandlungen mit ihnen informierte Pergener seine Berufsgenossen in den anderen Sechsstädten.151 Die meisten Briefe entstanden im Lauf
der ständischen Streitigkeiten, wobei Pergener häufig zu den beteiligten Adeligen
reisen musste. In Bautzen waren seine Partner zwei Bürgermeister: Bakkalaureus
Christoph Pfeil und M. Hieronymus Hübner (ca. 1486/87–1563),152 zu denen er
149 In der Mitte Jungbunzlau, im Süden Brandeis (bis 1547), im Norden Großrohosetz/Hrubý
Rohozec und Turnau (bis 1534). Näher dazu P. Hrachovec, Von feindlichen Ketzern (wie
Anm. 3), S. 132 f., 137, 139, 141 f., 147 f., Anm. 20–24, S. 156, Anm. 109–123; Ders., Zittauer
(wie Anm. 3), S. 341 ff., 358, 362–365.
150 Vgl. E. A. Seeliger, Geschichte des Reichenberger Bezirkes bis zum Ausbruch des 30jähr.
Krieges (Heimatkunde des Bezirkes Reichenberg. Neue Ausgabe 3), Reichenberg 1936, S. 196 f.,
227; Ders., Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 40 ff. Ob Pergener auch mit den Špetle von
Janowitz zu Weißwasser/Bělá pod Bezdězem westlich von Jungbunzlau im Kontakt stand, ist
nicht klar. Ebd., S. 40 f. Gleiches lässt sich über den Herrn Johann/Jan VI. von Biberstein/z
Bibrštejna († 1550) zu Kost und Trosky, nordöstlich von Jungbunzlau, dem Vormund der
Friedländer/Frýdlant Linie der Bibersteiner in den 1520er/1530er, sagen. Johann VI. war ein
Anhänger der Brüderunität. Ebd., S. 40. Im Jungbunzlauer Kreis residierte auch Nikolaus/
Mikuláš Burggraf von Dohna († 1542), aus der Grafensteiner/Grabštejn Linie, dessen ‚konfessionelle‘ Präferenzen eine Nähe zur Brüderunität sowie zum Utraquismus aufweisen. Ebd.;
Ders., Geschichte (wie oben in dieser Anm.), S. 82 f., 100 f., 185–190, 227 f.; J. Prochno,
Reformationszeit (wie Anm. 5), S. 19 f.
151 Vgl. AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1766 (der Zittauer Rat an den Bautzener Rat;
3.8.1533; Pergeners Handschrift), 1802 (derselbe an denselben; 30.3.1534), 1833 (derselbe an
denselben; 9.8.1536), 1905 (derselbe an denselben; 8.7.1541), 1958 (derselbe an denselben;
9.12.1543); Regesten: P. Arras, Regestenbeiträge 1531–1540 (wie Anm. 55), S. 50, 59, 62;
Ders., Regestenbeiträge zur Geschichte des Bundes der Sechsstädte der Ober-Lausitz von
1541–1547, zusammengestellt auf Grund der Urkunden, die sich im Bautzner Ratsarchive
(Fund Ermisch) vorfinden, in: NLM 79 (1903), S. 241–292, hier S. 241 f., 251; weitere Abschriften durch Pergeners Hand: AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde, Nr. 1681 (12.7.1531),
1800 (24.3.1534); Regesten: P. Arras, Regestenbeiträge 1531–1540 (wie Anm. 55), S. 51, 58.
152 Vgl. AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1706 (Pergener an Pfeil; 30.1.1533), 1722 (Pergener
an Hübner; 14.3.1533), 1725 (derselbe an denselben; 2.4.1533), 1724 (Übersetzung einer tschechischen ‚Zeitung‘ zur Nr. 1724; 24.3.1533); Regesten: P. Arras, Regestenbeiträge 1531–1540
(wie Anm. 55), S. 33, 38 ff.; E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 41 f. Pfeil war
Ratsherr von 1526 bis zum Pönfall (1547), wobei er seit 1533 (meistens) alle drei Jahre (fünfmal) Bürgermeister war; nach 1547 war er erst von 1559 bis 1561 wiederum im Rat vertreten,
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Petr Hrachovec
ein engeres Verhältnis als zum altgläubigen Johannes Haß in Görlitz hatte, sodass
er ihnen ‚vertraulichere‘ Auskünfte erteilte.153
Pergener war allein zwischen dem 7. März und dem 1. April 1533 dreimal in
Jungbunzlau und in Brandeis bei Konrad von Krajek,154 in Prag und bei Burggraf
Friedrich von Dohna zu Benatek. Mit diesen Adeligen unterhielt er sich über ständische Streitigkeiten, die militärisch-politische Lage in Ungarn sowie kirchenpolitische Angelegenheiten. Mit Burggraf Friedrich sprach er beispielsweise am 10. März
1533 über die schwache Basis Ferdinands I., der in Böhmen kaum über königliche
Kammergüter verfügte, sowie über die unsichere (böhmische) Königswahl seines Nachfolgers, die Ferdinand I. durchsetzen wollte.155 Friedrich gehörte zu den
Anführern der ständischen Opposition gegen Ferdinand I. während des sog. Ersten
böhmischen Ständeaufstandes (1546/47). Eine solche politisch-religiöse Einstellung
teilten auch die Herren von Krajek, die als Pergeners Nachrichtenübermittler bezüglich der Türkenkriege dienten. In seinem Brief an Hieronymus Hübner erwähnte
Pergener, dass ihm Herr Konrad eine tschechisch geschriebene ,Zeitung‘ von seinem Klienten Peter/Petr Raschin von Riesenbung/Rašín z Rýzmburka († 1537)
zu Altenburg/Staré Hrady übergeben habe, die (wohl) Pergener für die Bautzener
ins Deutsche übersetzte.156 Pergener muss also Tschechisch beherrscht haben.157
153
154
155
156
157
wobei er 1559 Stadtrichter war. Hieronymus Hübner war Ratsherr 1509 und dann von 1514 bis
zum Pönfall (1547), wobei er seit 1529 (meistens) alle drei Jahre (sechsmal) Bürgermeister war. H.
Baumgärtel, Rathsverfassung und Rathslinie der Stadt Bautzen, Bautzen [1901], S. 10, 31–35.
Dem her[n]n Magistro von Gorlitz [ Johannes Haß, Anm. P. H.] hab ich gerstern[n] mit zufelli
ger[r] botschaft der gleychen meynu[n]g auch zugeschrieben, idoch nicht so weytleufftig. Dis alles
ich euch, als meynem gunstigen hern[n], gutter[r] meynung nichtt wolde pergen; AV Bautzen –
StA Bautzen, Urkunde Nr. 1722 (Pergener an Hübner; 14.3.1533).
Pergener hielt sich auch beim Oberlausitzer Landvogt (1527–1549) Zdislav Berka von Dubá
(† 1553) auf. Ebd., Nr. 1718 (9.3.1533); Regest: P. Arras, Regestenbeiträge 1531–1540 (wie
Anm. 55), S. 38.
Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 42 (Pergener an Hübner; 14.3.1533;
Volledition); von diesem Brief AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1722, ist heute nur
der zweite Bogen überliefert.
Vgl. AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1724 (Peter Raschin von Rieseburg an Konrad
von Krajek; 24.3.1533; Pergeners Autograf ); Raschin, der 1537 in Ungarn fiel, war Unterkämmerer der böhmischen Königin (1523–1537). Ebd., Nr. 1725 (Pergener an Hübner; 2.4.1533):
Neue getzeiten von der turkischen potschaft, so gen Wien kommen, seint dem her[r]n Conradt,
jdoch bemisch, zukom[m]en. Hab dieselben auf die eyl nicht mogen bekommen, jdoch tzeiger[r]
hat ein extract bemisch; weiter. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 42.
Vgl. W. Haupt, Gedeon Hoffmanns Wechselbüchlein von 1609, in: ZG 12 (1935), S. 1 ff.,
hier S. 2. Tschechische Briefe wurden von Böhmen aus nach Zittau zur Übersetzung für andere Sechsstädte gesendet. Auch Pergeners Nachfolger im Oberstadtschreiberamt Nikolaus
(von) Dornspach (1516–1580) aus Mährisch Trübau/Moravská Třebová sprach Tschechisch.
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Die Reformation der langen Distanz
481
(3) Vor allem 1537 scheint der Briefwechsel zwischen der Schweiz und Zittau
in eine wichtige Phase eingetreten zu sein, als die Zustellungsprobleme zwar noch
nicht vollständig gelöst, aber zumindest zum Teil überwunden waren.158 Was die
,Logistik‘ als einen wichtigen Aspekt der Kommunikation der Zittauer Reformation betrifft, so gelang es Pergener, einige Brief- und Buchvermittler (Kaufleute,
Bürger, Buchdrucker und -führer, Universitätsangehörige) für die Zustellung
zu gewinnen,159 von denen sieben bekannt sind: Martin Bucer, Johann Hensenstein, Tobias Engler, Matthäus Aurogallus, Kaspar Teudel, Johann Bechrer und
Christoph Froschauer d. Ä. Am frühesten ist neben Bucer Johann Hensenstein
belegt.160 Die Übergabe der Briefe und Bücher erfolgte während der zweimal jährlich in Frankfurt am Main stattfindenden Buchmessen, die den wichtigsten Knotenpunkt der zeitgenössischen Kommunikation darstellten.161 Daher orientierte
sich Pergener mit seinen Briefen an den Messeterminen,162 auch wenn er beklagte,
158
159
160
161
162
Quellenbuch, H. 1, ed. T. Gärtner (wie Anm. 42), S. 13, Nr. III/1; E. A. Seeliger, Nikolaus Dornspach (wie Anm. 43), S. 38.
Recte me admonuisti, doctissime Bullingere, in postrema epistola, quam abs te accepi anno 1534
in mense februario, ut tandem rationem aut viam invenire velim, ut literae vestrę ad nos sepe et
nostrę ad vos pervenire possent. HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75; dazu am
Beispiel Polens A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm.
101), S. 240 f., 270; M. Greengrass, Epistolary Reformation (wie Anm. 102), S. 437 f.; F.
Egmond, Correspondence and natural history in the sixteenth century: cultures of Exchange
in the circle of Carolus Clusius, in: F. Bethencourt / Dies. (Hgg.), Cultural exchange in
Early Modern Europe, Bd. 3: Correspondence and Cultural Exchange in Europe, 1400–1700,
Cambridge/New York 2007, S. 104–142, hier S. 123 f.
Zu solchen Vermittlern K. Beyrer, Brieftransport in der Frühen Neuzeit. Entwicklung und
Zäsuren, in: C. Antenhofer / M. Müller (Hgg.), Briefe in politischer Kommunikation
vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert / Le lettere nella comunicazione politica dall’Antico
Oriente fino al XX secolo (SPK 3), Göttingen 2008, S. 169–183, hier S. 172–175.
Nactus modo sum adolescentem mercatorem a Francfordia [Frankfurt/Main, Anm. P. H.], qui
modo agit in Montibus Chutnis [Kuttenberg, Anm. P. H.], civitate Bohemię celebri; is promisit
sese posthac literas nostras deferre Francfordiam, idque bis in anno, easque bona fide offerre Tigu
rinis mercatoribus adhibitis pręcibus, ut vobis reddantur in manus, facturus his literis periculum;
HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr.
955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75.
Vgl. M. Toeller, Die Buchmesse in Frankfurt am Main vor 1560. Ihre kommunikative Bedeutung in der Frühdruckzeit, München 1983, bes. S. 124, 151–154 (Kaufleute, besonders
Buchhändler als Vermittler der Briefe); weiter R. Henrich, Bullinger’s Correspondence
(wie Anm. 101), S. 236; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 254, 272; J.-A.
Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 334 f.; M. Steinmann, Johannes Oporinus.
Ein Basler Buchdrucker um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Basel 1966, S. 50–56.
Ad futuras nundinas, si Christi gracia adfuerit, pluribus scribam; ea sit cum nobis omnibus; HBW
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Petr Hrachovec
dass nur wenige Personen nach Frankfurt reisten.163 Die Leipziger Buchmessen
spielten eine geringere Rolle, gleiches gilt für andere in den Wissenstransfer eingebundene Orte (Prag, Kuttenberg, Wittenberg, Nürnberg, Bautzen, Görlitz).
Eben aus Frankfurt am Main stammte Johann Hensenstein,164 der in Kuttenberg
einheiratete und zunächst ein zuverlässiger Bote war;165 später reiste er allerdings
nur noch selten nach Frankfurt.166 Die Briefboten waren mithin ein Dauerproblem.167 Pergener sorgte sich permanent um die Zustellung der Briefe.168 Spätestens
1538 fand er drei weitere Boten: seinen Schwager Tobias Engler, den Wundarzt
Johann Bechrer (über dessen Nürnberger Schwiegervater) und den Züricher
Drucker Froschauer,169 der regelmäßig mit seiner Produktion an den Frankfurter
163
164
165
166
167
168
169
Briefwechsel, Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr.
1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42; weiter ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold /
R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64;
ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110),
S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 112; StAZH, Sign. E II 367, S. 5–8
(Pergener an Froschauer; 20.2.1542), hier S. 8; allgemeiner dazu M. Toeller, Buchmesse (wie
Anm. 161), S. 134–137; C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 111 f., 225.
Merito me accusabis pigritię, quod tanto tempore responsum non dederim; excusabit me primum,
quantum poterit, raritas eorum hominum, qui litteras Francfordium perferrent; HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110),
S. 110–112, Nr. 1857 (Pergener u. a. an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111.
Vgl. E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 44; weiter P. Hrachovec, Zittauer
(wie Anm. 3), S. 349 f.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 136, 150, Anm. 63 f.
Ad vernas nundinas Francfordianas pluribus vobiscum per litteras colloquar. Iohannes ille Hen
senstein constituit singulis vernis nundinis Francfordium sese profecturum; is erit idoneus et fidelis
nunctius. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110),
S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 187.
In causa vero fuit iuvenis ille Francfordianus, Ioannes [Hensenstein, Anm. P. H.] nomine; ex
quo uxorem in Chutnis Montibus duxerit, raro Francfordiam adit, licet natus hic sit. Ebd., Bd.
12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an
Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42, 41 f.
Dazu allgemein K. Beyrer, Brieftransport (wie Anm. 159), S. 175 f.
Male me habet litteras meas, quas ad Martinum Bucerum misi, ad vos non pervenisse. HBW
Briefwechsel, Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr.
1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 107; weiter ebd., Bd. 12 (wie Anm. 62), edd. R.
Henrich / A. Kess / C. Moser, S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542),
hier S. 167; ebd., Bd. 13, edd. Diess. (wie Anm. 121), S. 72 f., Nr. 1719 (Pergener an Bullinger;
8.2.1543), hier S. 73.
Cogitabimus de ratione, qua certus aliquando nunctius Tigurum veniat, neque tutum est incertis
hominibus in tam longinquam regionem committere litteras. Epistolam tuam et Pellicani una
cum confessione uxoris meę frater [Tobias Engler, Anm. P. H.], qui modo agit Wittenberge, misit
ad me nullis additis litteris. Omnia tamen pulchre erant obsignata. Bis iam scripsi adfini meo,
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Die Reformation der langen Distanz
483
Buchmessen teilnahm und dort als Zusteller für Bullingers Briefe und als einer
der wichtigsten ‚physischen‘ Knotenpunkte der reformatorischen Kommunikation fungierte.170 Als Briefpartner171 war er Vermittler und Adressat von Pergeners Briefen,172 der wiederum Froschauers Drucke bewunderte.173 Tobias Engler,
der sich 1537 in Wittenberg immatrikulierte, diente gleichfalls als Briefzusteller,
wobei im lutherischen Wittenberg auch der Hebraist Matthäus Aurogallus sowie
der Stadtrichter Kaspar Teudel als Vermittler wirkten.174 Aurogallus besuchte im
170
171
172
173
174
ut saltem indicaret, a quo accepisset litteras, nam opus esse responso. Impetrare potui nihil. Has
litteras tradidi cuidam [ Johann Bechrer, Anm. P. H.] ex nostris fratribus, qui hic sunt, curatu
rum, Norinbergam [Nürnberg, Anm. P. H.] perferendas, qui bona fide promisit sese curaturum,
ut illinc per socerum suum Francfordium perveniant; nam is frater, huius urbis cirurgus, uxorem
duxit Norinbergę, licet hic sit natus. Scripsi et germanice Christofero Froschovero, ut litteras vobis
reddat. Ebd., Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111
(Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 107.
Vgl. M. Toeller, Buchmesse (wie Anm. 161), S. 135–138; U. B. Leu, Reformation als Auftrag.
Der Zürcher Drucker Christoph Froschauer d. Ä. (ca. 1490–1564), in: Ders. / C. Scheidegger (Hgg.), Buchdruck und Reformation in der Schweiz (Zwingliana 45/2018), Zürich 2018,
S. 1–80, hier S. 8, 14 f., 26, 58–64; 71 f.; ebd., S. 65 (Pergener); Ders., Die Zürcher Buch- und
Lesekultur 1520 bis 1575, in: E. Campi (Hg.), Heinrich Bullinger (wie Anm. 2), S. 61–90,
hier S. 80 f.; Ders., Buchdruck im Dienst der Reformation. Die Zusammenarbeit zwischen
dem Zürcher Drucker Christoph Froschauer d. Ä. und den Reformatoren Huldrych Zwingli
sowie Heinrich Bullinger, in: T. Kaufmann / E. Mittler (Hgg.), Reformation und Buch.
Akteure und Strategien frühreformatorischer Druckerzeugnisse / The Reformation and the
Book. Protagonists and Strategies of Early Reformation Printing (BuW 49/2016), Wiesbaden
2017, S. 176, 184–187 (zu Pergener); P. Leemann-van Elck, Offizin Froschauer (wie Anm.
61), S. 37–43, 70, 75 ff.; G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm. 9), S. 498,
582 f.; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 132 f., 332; H. Fast, Heinrich
Bullinger und die Täufer. Ein Beitrag zur Historiographie und Theologie im 16. Jahrhundert
(SMGV 7), Weierhof 1959, S. 49 f.
Zu Kontakten der Stadtschreiber zu den Buchdruckern R. Metzler, Stephan Roth (wie
Anm. 17), S. 212 ff.
Wellet hierynnen keynen verdrieß haben, das ich beyde brieff zusammenn geschriben [den Brief
an Bullinger vom selben Tag, Anm. P. H.]; wolt euch allen gernn vilmer schreyben, so bin ich
der potschaft gantz ungewiß, muß alletzeit die brieff in frembde stete bestellen, hab nicht wol tzeit
selber auszureyttenn. HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A.
Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544),
S. 112 f., Nr. 1857, hier S. 113.
[…] dann so wir eure bucher nicht hetten, wösten wir nichten zulesen. Ebd., S. 112; Es sein ye vil
redlicher leuth in diesen landen, die eure schrifft ser gern lesen, desgleichen der von Basel und
Strasburg. StAZH, Sign. E II 367, S. 5–8 (Pergener an Froschauer; 20.2.1542), hier S. 5; vgl.
auch ebd., S. 7 f.
Non libet modo plura scribere, nam litterę tradendę erant prętori Wittenbergensi [Kaspar Teudel,
Anm. P. H.], qui hiis diebus [5.8.1539, Anm. P. H.] cum doctissimo viro d. Matheo Aurigallo
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484
Petr Hrachovec
folgenden Jahr nochmals Zittau und nahm Pergeners Briefe nach Wittenberg
für die zur Frankfurter Buchmesse reisenden Buchführern mit.175 Als Vermittler
dienten ferner Oberlausitzer Kaufleute176 aus Bautzen177 und Görlitz.178
Pergener beklagte häufig, dass Brief- und Büchersendungen verloren gingen179
bzw. zeigte sich erleichtert, wenn sich seine Befürchtungen nach einer erfolgreichen Zustellung nicht bestätigten.180 Auf das Angebot des lokalen Buchmarkts
wollte er sich gleichwohl nicht verlassen, auch wenn er auf diesem Wege zu Veröffentlichungen aus der Schweizer Buchproduktion gelangte.181 Mit gleichen
175
176
177
178
179
180
181
professore hebraicarum litterarum, in hac civitate [Zittau, Anm. P. H.] fuit. HBW Briefwechsel,
Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an
Bullinger; 5.8.1539), hier S. 186; weiter ebd., S. 186 f., Anm. 8; näher dazu P. Hrachovec,
Zittauer (wie Anm. 3), S. 350, 360; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 136, 150,
Anm. 63; zu Teudel E. A. Seeliger, Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 44.
Ex litteris meis, quas sępius Tigurum misi, presertim hiis, quas nuper d. Matheus Aurigal
lus per bibliopolas Wittenbergenses Francfordium misit. HBW Briefwechsel, Bd. 10, edd. H.
U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger;
25.2.1540), hier S. 54. Auch in Wittenberg konnte man zeitgenössische Schweizer reforma
torische Bücher lesen. J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 413.
Plura scribere volui, optime Bullingere; nunctius adstat excepturus literas. HBW Briefwechsel,
Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an
Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76.
Reperi tandem hominem in Budissin, que civitas iter diei ab hac urbe [Zittau, Anm. P. H.] sita
est, qui nundinas Francfordienses non negligit. Is ultro promisit litteras meas Christofero Froschau
ero sese exhibiturum addens insuper bibliothecam eius sibi esse notam. Ebd., Bd. 12, edd. R.
Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger;
20.2.1542), hier S. 42.
Sintemal ich zu Görlitz von der Zittaw ander ursachen halbenn bin gezogenn, unnd yn dem mir
zufellig botschafft keyn Franckfurdt ist fürkommen. Ebd., Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R.
Henrich (wie Anm. 110), S. 66 f., Nr. 1231 (Hennig an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 66.
Sed non contigit omnibus fratribus uti istis commentariis propter paucitatem exemplariorum;
nam pauca advehuntur, quid cause sit nescio. Ebd., Bd. 7, edd. Diess. (wie Anm. 110), S. 63 ff.,
Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64; weiter ebd., Bd. 10, edd. Diess. (wie
Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger; 25.2.1540), hier S. 54; ebd., Bd. 12, edd.
R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42.
Nisi christianissimus d. Chuonradus Pellicanus proximis nundinis Francfordiensibus ad me lit
teras plenas pietate et fide misisset maxima adfectus essem tristitia; incertus plane fuissem litteras
meas quantumlibet impolitas Tigurum non pervenisse. Ebd., Bd. 9, edd. H. U. Bächtold /
R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 f., Nr. 1229 (Pergener an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 63.
Divinare non possum, quid nam causę sit, cur adeo raro exemplaria vestror[um] librorum ad
nos perferantur. Multi sunt bibliopolę in his Sex civitatibus [Sechsstädte, Anm. P. H.], ad quos,
cum pervenio, illico rogo, num quid libellorum vestrorum habeant [et] certe divina virgula, ut
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Die Reformation der langen Distanz
485
Problemen musste sich auch Johann Bechrer auseinandersetzen, der Bullinger
direkt um Zusendung von dessen Produktion sowie um schriftliche Antworten
auf seine Briefe ersuchte.182 Bullinger antwortete wirklich, doch der Bote wollte
seinen Brief wegwerfen und Bechrer einreden, dass Bullinger an ihn nur einen
mündlichen Gruß übermittelt hätte.183 Deswegen trafen sowohl Bechrer als auch
Pergener Maßnahmen, um die Zustellungen zweimal im Jahr während der Frankfurter Buchmessen zu gewährleisten. Ein verlässlicher Bote, der Bechrers Briefe
den nach Frankfurt fahrenden Leipziger Buchführern übergeben sollte,184 fand
sich in Jakob Berger d. Ä. († 1589), einem Mitglied des Leipziger Paulinums185
182
183
184
185
dici solet, hunc libellum tuum adeptus sum tandem [et] obtinui. StAZH, Sign. E II 367, fol. 11r f.
(Pergener an Jud; 1537), hier fol. 11r.
[…] e[uer] a[chtbarkeit] wol doch unbeschwert die tittel der bucher, welche e[uer] a[chtbarkeit]
uber ethliche andere buchlen haben, euren kirchen zu nutz laßen ausgehen, anmelden, sonderlich,
so was deudsch ist, so wil ich und mein zugethan liber bruder [Tobias Schnürer, Anm. P. H.] al
len fleis furwenden, damitt wir dieselben bekomen mochten. Ich hab wol etzliche horen nennen,
aber bißher nach hie bey uns nicht konnen ankomen, denn es kombt eurer bucher gar selten zu
uns. Ebd., Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447v;
vgl. auch ebd., fol. 448r (Bitte um schriftliche Antwort).
Es sagt der libe Salomon: ,Gleich wie rauch den augen und essigk den tzenen, also auch ein fauler
denen, die ihn senden.‘ [Spr 10,26, Anm. P. H.]. Den spruch magk ich wol auff den boten, wel
cher mir das erste schreiben von e[urer] a[chtbarkeit] hat bringen sollen, deuten, denn da der
selbe lose mensch dasselbe biß auff vier meiln bracht, hat ers hinwerfen wollen, da aber ungefehr
meiner landßleut zwen darbey gesessen und die oberschrifft mir zustendigk erkant, haben sie das
schreiben zu sich genomen und mir zubracht. Da ich aber den brieff offnet und die furbitt, welche
e[uer] a[chtbarkeit] wegen deß boten gethan, verstanden, hat mir erst sein untreu furnemen gar
we gethan. Es sol mir hiemitt e[uer] a[chtbarkeit] gentzlich glauben, so er zu mir komen und nur
ein gruß von e[urer] a[chtbarkeit] auch an alles schreiben angetzeigt hett. Ebd., fol. 477r–478v
(Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r.
[…] da ich dann öffter e[urer] a[chtbarkeit] wird schreiben konnen, denn ich hab ein sehr gutten
freundt zu Leyptzigk, Magistrum Jacobum Berger, welcher Oeconomus ists im Pauler collegio,
der hat mir diesen rath gegeben, das ich ihm deß jars zwir, nemlich Bartholomei und Mittfasten,
die briff e[urer] a[chtbarkeit] zustendigk ubersenden sol. Da wil er sie e[urer] a[chtbarkeit] wol
und gewiß durch die buchfurer zuschaffen. So hoff ich, […] wenn die Zuricher buchfurer nach
Franckfort abreisen, das sie solch e[urer] a[chtbarkeit] schreiben mittnemen konnen und den
Leiptzigern uberanthworten. […] und konnen also deß jares auffs wenigst einander zuyr durch
schreiben ersuchen. Ebd., fol. 477v.
Vgl. Matrikel, Bd. 1, ed. G. Erler (wie Anm. 13), S. 638, Nr. P 8, Anm. 3: Iacobus Berger
Sittaviensis 4½ gr. (Immatrikulation; Wintersemester 1541); mit Anmerkung: Oeconomus
communitatis Paulinae; weiter ebd., Bd. 2, ed. Ders. (wie Anm. 13), S. 699, Nr. 4 (Bakkalaureus; 1547), S. 731, Nr. 5, Anm. 3 (Magister; 1553); vgl. auch UA Leipzig, Bestand: Urkunden,
Urkunde Sign. 1577-10-18 (18.10.1577). Auch wenn im Regest der Urkunde, https://www.archiv.uni-leipzig.de/ (letzter Zugriff am 6.6.2020), der Titel ‚Ökonomus‘ fehlt, was trotzdem
plausibel ist, denn diese Quelle betrifft eine Auszahlung aus dem gemeinen Tisch des Kollegs.
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Petr Hrachovec
und möglicherweise einem Verwandten Oswald Pergeners.186 Jakob Berger d. Ä.
bzw. eher sein gleichnamiger Sohn (d. J.) hielt eine Klagrede im Gedicht über
den Zittauer Stadtbrand 1589 „Historia miserabilis incendii Sittaviensis“, ein
bisher ungedrucktes Werk, das „mit seinen 770 Hexametern an Umfang sowohl
wie an künstlerischem Gehalt das Hauptwerk des Zittauer Humanismus darstellt“.187 Sein Autor, der Zittauer ,Gymnasiallehrer‘ M. Michael Just lobte darin
„die Gelehrsamkeit eines Jakob Bergers, der 1541 in Leipzig studierte und Oeconomus communitatis Paulinae war“.188
(4) Betrachtet man die Briefe unter dem Aspekt der ‚konfessionellen‘ Selbstvergewisserung, so spielte der größte Zankapfel unter den Reformationskirchen, das
Abendmahlsverständnis, eine zentrale Rolle. Die Zittauer bekannten sich hierbei
zur Züricher Abendmahlsauffassung. Pergener betonte gegenüber Bullinger, dass
Herr Konrad Krajíř die zwinglianische Abensmahlauffassung vertreten haben soll,189
auch die Herren von Dohna fänden die Schweizer Lehre gut.190 Die Abendmahl186 Er besaß etwa nach 1566 bis etwa vor 1583 ein Haus, heute Innere Weberstraße 19, direkt neben dem Haus Lukas Pergeners, wobei diesen siebenbierigen Bierhof vor Jakob Berger (d. Ä.)
unter anderem (vor 1543) Cölestin Hennig besessen hatte. Häuserchronik, ed. T. Fröde (wie
Anm. 57), S. 256; der Name ‚Pergener ‘ änderte sich in Zittau im Laufe des 16. Jahrhunderts
allmählich zu ‚Berger‘. Vgl. dazu oben Anm. 68.
187 W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), 9 f.; vgl. auch ebd., S. 105, 150, 159–174, 260 f.
188 Ebd., S. 105; dazu CWB Zittau, Mscr. B 20, fol. 9v: Jacobus Bergeruscopiose [et] cum energia
Sittae excidium narrat. / Inter [et] hos noster multos concivis in annos / BERGERUS docto prog
natus patre JACOBO / BERGERO ( fido, quo se iactavit Elyster [(Weiße) Elster, d. h. die Stadt/
Universität Leipzig, Anm. P. H.] jampridem Oeconomo celebris philyręaq[ue] MUSA, cuius honos
semper nomen pietasq[ue] manebunt). ‚Bergers‘ Klagrede endet erst ebd., fol. 11r. M. E. war der
‚Leipziger‘ M. Jakob Berger d. Ä., d. h. der Briefvermittler, eher der Vater des ‚Redners‘ von
1589. Dies kann man Justs Gedicht sowie dem Totengeläut für M. Jakob Berger d. Ä. entnehmen: 82. Den 1. October [1589, Anm. P. H.] ist ein polst gebeyret worden herr Magister Jacobus
Bergern von Leiptzg, Jocuf Bergers vater, der kirche[n] 2 gilden. PfA Zittau, Totengeläut mit
der Großen Glocke (1586–1603), ohne Sign, fol. 18r; weiter CWB Zittau, Mscr. B 300b, fol.
130r.
189 Observantissimus enim est evangelice veritatis verstramque assertionem, imo Christi et apostolorum
doctrinam de cena domini unice complectitur. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely /
M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 205;
sowie die Zittauer Quantum ad rem eucharistię attinet, iam pridem nos pię [et] sancte docue
runt duo lumina d[ominorum] Iohanni[s] Oecolamp[adii] [et] Hul[drici] Tzving[lii], quorum
monumenta in aeternum durabunt. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an
Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r.
190 […] novi autem quamplurimos, bene precantur vestris ecclesiis, in primis proceres ac nobiles, ad
quos vestra nomina sepius perveniunt, inter quos sunt barones a Krayku [von Krajek, Anm. P.
H.], a Domina [!] [z Donína, d. h. von Dohna, Anm. P. H.] et plures alii. Ebd., fol. 28r–28av
(Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28v.
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Die Reformation der langen Distanz
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sauffassung der Züricher und der Brüderunität gliche wie ein Ei dem anderen, worüber
die Brüder hocherfreut gewesen seien;191 in gleichem Sinn äußerte er sich gegenüber
Konrad Pellikan.192 Auch Johann Bechrer bekannte sich zur Züricher Abendmahls
variante.193 Die Briefe der Schweizer Reformatoren waren für die Zittauer der Anlass,
ihrer Hochachtung für die Religiosität der Züricher,194 denen sie zutiefst ergeben
waren,195 Ausdruck zu verleihen. Zugleich war man sich deren Bedeutung für die
Ausbreitung der Züricher Glaubenslehre bewusst. Es ging um ein ‚Werk Gottes‘,
das für seine Empfänger eine grundsätzliche Bedeutung nicht nur ‚auf dieser Welt‘
hatte.196 Bullingers theologische und pastorale Tätigkeit, vermittelt durch seine
191 Morem, quem in cena domini servatis […], fratribus, qui sunt in Bohemia, ad verbum exposui;
nam id maxime cupiebant. Quanto gaudio perfusi sunt eo audito, alii potius pronunciabunt; mos
enim illorum, quem ipsi observare solent in sacratissima domini cena, tam similis est vestro ut
ovum ovo. HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110),
S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76.
192 Fratres tame[n], quos vulgus odiosis nominibus Picardos et Waldenses in Bohemia et Moravia ap
pellitat, ferme vestrum observant morem in cena dominica. Communicant ter aut ad sum[m]um
quater in anno, ad quam cenam omnes conveniunt, fratres sum[m]a religione arcentur, autem
qui publicis vitiis et criminibus sunt inquinati. Vestitu ministri nihil a ceteris differunt. Vitrea
aut argentea habent pocula. Nullum hic videre licet vestigium papisticę cenę. ZB Zürich, Ms. F
47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28r f.; detaillierter zu
diesen Beobachtungen zur Liturgie der Brüderunität P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm.
3), S. 355–358; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 137 ff., 153 f., Anm. 81–92.
193 Nach deßselben abscheid [Onofrius Herzogs, Anm. P. H.], weil sein libs weib wol wise, das ich
neben ihm eurer leer (welche ich mitt mund und hertzen grunde, die rechte alte cristliche leer
in allen artickeln, sonderlich vom heiligen abendmal deß herren bekenne und, ob gott wil, biß
in meinen tod bekennen wil) anging [!]. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an
Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r.
194 Mirantur omnes vestram in scribendo humanitatem, sedulitatem ac diligentiam. DEUS labores
vestros secundet fortunetq[ue]! […] Vestra summa pietas et charitas me ad scribendum incitat. ZB
Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r f.; weiter
ebd., fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28r; StAZH, Sign. E II 367, fol.
11r f. (Pergener an Jud; 1537), hier fol. 11r; HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold /
R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 64;
ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 165 ff., Nr. 1654
(Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167.
195 […] et ego me tibi ac fratribus Tigurinis totum dedico, devoveo ac dedo. HBW Briefwechsel, Bd.
3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger;
13.10.1533), hier S. 205; weiter ebd., Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm.
110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76; StAZH, Sign. E II 367, fol.
11r f. (Pergener an Jud; 1537), hier fol. 11r f.
196 […] das e[uer] a[chtbarkeit] sunst mit höen wichtigen geschefften, sorgen und creutz alltzeit beladen
ist und […], das e[uer] a[chtbarkeit] großen fleiß und arbet haben mitt schreiben und vormanen,
damitt rechte cristliche warhafftige göttliche leer möcht recht gepflantzt, wachsen und erhalten
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Petr Hrachovec
Korrespondenz, stand für die Zittauer im Zeichen einer ‚metaphysischen Gruppenbildung‘ einer einzigen wahren Kirche dies- sowie jenseits durch Christus.197 Ein
solcher ‚reformatorischer Briefwechsel‘ verfügte als ein Werkzeug der göttlichen
Barmherzigkeit über eine eschatologische Kraft,198 wobei er nicht nur der ‚profanen‘
Nachrichtenübermittlung diente; zugleich ging es um eine symbolische Kommunikation199 unter den Christen selbst sowie der Christen direkt mit dem Gott.200 Die
197
198
199
200
werden.[…] Der ewige allemechtige gott helff und vorley, ob wir ja in dieser welt der leiplichen
beywonung nicht gebrauchen konnen, das wir doch dorth in seinem leben bey unserem liben herrn
und bruder Jesu Cristo mogen zusamenkomen und alda sambt allen rechtglaubigen ewig beyei
nander leben. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier
fol. 447r und 447v; weiter HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich
(wie Anm. 110), S. 66 f., Nr. 1231 (Hennig an Bullinger), hier S. 67; dazu F. Büsser, Heinrich
Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. X.
Gottes gnad durch seynen eingebornen sohn Jesum Cristu[m], unsern heiland und warhafftigen
helffer, der ihm gewißlich eine ewige kirche im menschlichen geschlechte durchs evangelion sam
let, zuvor. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol.
447r.
Da ich denn selbs tegelich meinen liben treuen gott e[urer] a[chtbarkeit] halben mein gebet fur
bringen will, […] darneben auch e[urer] a[chtbarkeit] gehulffen, welche in eurer cristlichen gemein
treulich am wort arbten helffen, und anderen anderßwo, als dem herrn Calvino […], den h[ei
ligen] geist geben, das sie alle sambt e[urer] a[chtbarkeit] getrost in deß herrn weinbergk arbten,
die dorner und ander ander [!] unkraut helffen außfegen, welche denn jetzund allenthalben nicht
allein im babstum, da sie ungehindert wachsen mogen, wie sie wollen, ja noch wol fleisigk zum
wachsen gewartet werden, sonder auch unter den rechtglaubigen widerum einwurtzeln wollen
und wachsen. Es spricht wol der libe Joannes in seyner epistel: ‚Sie waren wol mitt uns, aber nu
seint sie wider uns etc.‘ [1 Joh, 2,19, Anm. P. H.]; ebd., fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger;
3.8.1560), hier fol. 477r f.
Zu Briefen als Medien der symbolischen Kommunikation H. Droste, Briefe als Medium
symbolischer Kommunikation, in: M. Füssel / T. Weller (Hgg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft (SKGWS 8), Münster
2005, S. 239–256, hier S. 252 f. (Korrespondenz als soziales Kapital); F. Egmond, Correspondence (wie Anm. 158), S. 118–121.
Unser liber herr und h[ei]land Jesus Cristus vorley e[urer] a[chtbarkeit] ein langwerigk gesundes
leben, damitt e[uer] a[chtbarkeit] seiner liben kirchen dem teufel und allen rotten zu trutz nach
moge mitt leren und schreiben furstehen, damitt sein reich gefodert, deß teufels zerstort, sein nahme
geehrt, deß Satans geschwindet werde und die arme kirche durch mitwirckung deß h[eiligen] geists
und eure leer moge getrostet und erhalten werden. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 448r, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560),
hier fol. 477r, 478r; HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie
Anm. 110), S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 187; zum Wirken des
Heiligen Geists (in Bullingers Wirken und Werken) F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2
(wie Anm. 2), S. 136; Ders., Spiritualität in der Zürcher Reformation bei Zwingli und Bullinger, in: A. Schindler (Hg.), Fritz Büsser. Humanismus (wie Anm. 100), S. 130–148, hier
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Die Reformation der langen Distanz
489
Briefe dienten als Medien des religiösen Trostes und der Freude; so war Cölestin
Hennig über Bullingers Briefe und Schriften derart erfreut, dass er sich nach Zürich
begeben wollte, um Bullinger sehen zu können.201 Diese Freude über eine ‚christliche‘ Freundschaft unter voneinander weit entfernt lebenden Menschen, die sich
nie sahen, doch umso enger in einer solidarischen Gebetsgemeinschaft verbunden
waren, wurde trotz toposhafter Formulierungen als eine greifbare, quasi physische
Gegenwart der Abwesenden wahrgenommen.202 So suchte Pergener nach dem gewaltS. 132, 134, 145; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 77 ff., 200–216; G. W. Locher,
Praedicatio verbi dei est verbum dei. Ein Beitrag zur Charakteristik der Theologie Heinrich
Bullingers, in: Zwingliana, Bd. 10/1, S. 47–57, hier S. 51–56; D. Clavuot-Lutz, Eleganter
et breviter Erasmus exposuit. Auf Spurensuche in den Predigtkommentaren zum Römer- und
Galaterbrief von Heinrich Bullinger, in: C. Christ-von Wedel / U. B. Leu (Hgg.), Erasmus in Zürich. Eine verschwiegene Autorität, Zürich 2007, S. 193–221, hier S. 200 (Gottes
Gnade als Quelle für Bullingers Exegese); E. Egli, Analecta Reformatoria II: Bibliografien:
Bibliander, Ceporin, Johannes Bullinger, Zürich 1901, hier S. 30–41; H. Selderhuis, Kirche
am Kreuz. Die Ekklesiologie Heinrich Bullingers, in: E. Campi / P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 101), S. 515–536, hier S. 519; C. Strohm, Frontstellungen,
Entwicklungen, Eigenart der Rechtfertigungslehre bei Bullinger, in: ebd., S. 537–572, bes.
S. 571 f.; I. Karle, „Praedicatio verbi dei est verbum dei“. Bullingers Formel neu gelesen,
in: EvTh 64 (wie Anm. 74), S. 140–147, bes. S. 141–144; zur ,tröstenden‘ Eschatologie und
Apokalyptik und anderen religiösen Kommunikation Bullingers H. Selderhuis, Kirche
(wie oben in dieser Anm.), S. 516–526; F. Büsser, Heinrich Bullinger Bd. 1 (wie Anm. 2),
S. 175 f., ebd., Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 235–240, 317–330; Ders., Wurzeln (wie Anm. 2), S. 116;
A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 35–40;
D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 38–41, 140 ff., 208 f.; J. Staedtke,
Theologie (wie Anm. 2), S. 183–200.
201 […] schreib euch als meynem lyben herrn und preceptori der lehr halben, so ich aus euren büchern
entpfangen […]. Verhoff auch, so es got aber schicken wil, ich wil mich dazu so stellenn, das ich eyns
mals euch wil besuchenn und alldo mündlich hören, was ich langst von euren schrifften eyngnom
men habenn und auch langst begertt habe. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold /
R. Henrich (wie Anm. 110), S. 66 f., Nr. 1231 (Hennig an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 66 f.
202 Cupis in fine epistolę me non debere irasci tumultuario stilo tuo. Hoc tibi persuadeas, velim episto
las tuas mihi gratiores esse magnis donis, imo ego valde precor, ut boni has impolitas meas litteras
consulas. Salutant vestras ecclesias fratres, quos antea recensui, et tu, decus sacrarum litterarum,
vale feliciter; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539),
hier fol. 28ar, weiter ebd., fol. 28r.; HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R.
Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110/112, Nr. 1857 (Pergener u. a.
an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111: Summo perfundimus gaudio apud vos fieri preces pro nobis;
idem et nos faciemus. […] Ob mortem Leonis Jud [19.6.1542, Anm. P. H.] affecti sumus merore,
non tamen ethnico, sed vere christiano. Vgl. auch ebd., Bd. 7, edd. H. U. Gäbler / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 75; ebd.,
Bd. 8, edd. Diess. (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier
S. 106; ebd., Bd. 10, edd. Diess. (wie Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger;
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Petr Hrachovec
samen Tod Zwinglis (1531), als sein Glaube erschüttert war, nach Trost in Zwinglis
und Oekolampads Schriften.203 Trostbriefe stellten eine ‚epistolografische Gattung‘
dar, derer sich die Reformatoren für die Verbreitung ihrer Lehre bedienten.204 Dieser
Trost galt als ein Mittel gegen persönliche Qualen (z. B. Erkrankungen),205 grassierende Seuchen und gegen die Türkengefahr.206
Jenseits dieser religiösen Kommunikationsebene benachrichtigte Pergener die
Schweizer über die allgemeine religiös-politische Lage in den Ländern Ferdinands I.
Zu einer solchen ,Berichterstattung‘ hatte ihn Bullinger selbst aufgefordert,207 da
203
204
205
206
207
25.2.1540), hier S. 54; zu solcher Gegenwart der Abwesenden mittels des Briefwechsels auch
M. Greengrass, Two sixteenth-century minorities (wie Anm. 105), S. 331; allgemeiner
O. G. Oexle, Die Gegenwart der Lebenden und Toten. Gedanken über Memoria, in: K.
Schmid (Hg.), Gedächtnis, das Gemeinschaftt stiftet, München/Zürich 1985, S. 74–107.
Post infaustum Martem, quo e medio sublatus est sanctę memorię vir Huldrichus Zuinglius, exi
gua fuit apud nostrates spes quemquam fore, qui eius doctrinam precipue de eucharistia publice
profiteri auderet, iamque multi ex fratribus meis – nam sciebant me impensissime suis adherere
scriptis – me erroneam ovem apellabant, ut puta, quia pastor misere interiisset, cuius interitus
sane maximum multis hic attulit memorem. […] cumque ego contra tantam turbam solus ferme
non sufficerem, tacitus mecum omnia scripta tum Zuinglii tum Iohannis Oecolampadii, viri in
comparabilis, sedulo domi incepi relegere. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M.
Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 204.
Zu Bullinger als Tröster Arnold, Rolle (wie Anm. 103), S. 43; A. Mühling, Bullinger (wie
Anm. 101), S. 274–282; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 259; D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 158–163; J.-A. Bernhard, Konsolidierung
(wie Anm. 104), S. 128 f.; vgl. auch M. Greengrass, Epistolary Reformation (wie Anm.
102), S. 438; Ders., Two sixteenth-century minorities (wie Anm. 105), S. 331.
Accepi epistolam tuam ultima mensis augusti prioris anni scriptam, Heinriche in Christo colendis
sime, in qua percipio ęstate illa te nihil scribere potuisse ob morbos quosdam et vertiginem capitis,
a quibus te vexatum cum dolore audio. Sed te iam restitutum et hoc dei benignitate nihil ambigo.
Servabit Christus fideles ministros suos in utilitatem reipublice christianę et suę ecclesię usque ad
iustam ętatem. Sed interim certi sumus, ut afflictiones, morbos, carceres, vincula, si cui obveni
unt, non fortunę accepta feramus, sed deo omnipotenti. Perturbavit seu potius afflixit nonnihil et
hoc meum corpusculum in preterita ęstate nescio quę infirmitas occulta, sed non prostravit. HBW
Briefwechsel, Bd. 11, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 110), S. 86 f., Nr.
1470 (Pergener an Bullinger; 1.3.1541), hier S. 86.
Morbi et varię infirmitates, quibus iam plures mortales perire videmus apud finitimos nostros
tum in Bohemia, tum in Slesia, deterrere me possent, nisi scirem mortem esse transitum ad sedes
beatiores et mutationem conditionis deterioris in longe meliorem. Credo enim firmiter animos
fidelium protinus, ut ex corporibus evaserunt, subvolare cęlo, numini coniugi eternoque gaudere
etc. Quare hec vita potius captivitas est et mors quam vita; quo plus a mundo abscedimus, hoc
propius accedimus ad deum. Ideo mori christianis nihil aliud est quam mundum relinquere et
ire ad deum etc. Ebd., vgl. auch ebd., Bd. 12, edd. Diess. (wie Anm. 62), S. 165 ff., Nr. 1654
(Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 166 f.
Accepi in preterito mense octobri [1537, Anm. P. H.] epistolam tuam, charissime frater, Tiguri
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Die Reformation der langen Distanz
491
Pergener sozusagen ein ,Experte‘ war, auch wenn ihm einige Fehler unterliefen.208
Er beschrieb den Zürichern die liturgische Praxis der böhmisch-mährischen
Mehrheits-,Konfession‘ der Hussiten/Utraquisten209 und berichtete über den
Kontroverstheologen und Wiener Bischof Johann Fabri (1478–1541), der 1537
eine polemische Schrift gegen die Kommunion unter beiderlei Gestalt herausgab,
calendis septembris prioris anni scriptam, in qua ais me tibi probe referre animum candidum et
talia nunctiare de Bohemis fratribus, que prorsus animum tuum exhilarabant. HBW Briefwechsel,
Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an
Bullinger; 12.3.1538), hier S. 105 f. Bullinger kam in näheren Kontakt mit der Lehre der Brüder
unität 1532, als in Zürich ihr Bekenntnis erschien und als sich sein Züricher Kollege Leo Jud
nach der Krise des Züricher Protestantismus infolge der Niederlage von 1531 der Brüderunität annäherte. C. Scheidegger, Täufer, Konfession und Staat zur Zeit Heinrich Bullingers,
in: U. B. Leu / Ders. (Hgg.), Die Zürcher Täufer 1525–1700, Zürich 2007, S. 67–116, hier
S. 70–82; H. Fast, Heinrich Bullinger (wie Anm. 170), S. 32 ff., 164–167, 173–196, Nr. 1–5;
F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 101–107; D. Timmerman, Heinrich
Bullinger (wie Anm. 74), S. 214 f.; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 245;
E. Campi, Das theologische Profil, in: A. Nelson Burnett / Ders. (Hgg.) / M. E. Hirzel / F. Mathwig (Bearb.), Schweizerische Reformation (wie Anm. 74), S. 449–493, hier
S. 473 f.; G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm. 9), S. 542–549, 570 f.; zu
solchem Interesse Bullingers am Beispiel Polens A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 238. Später nahm er eine kritische Einstellung zum
polnischen Zweig der Brüderunität ein. E. Bryner, Bullingers Anliegen (wie Anm. 101),
S. 419 ff.; B. Nagy, Geschichte und Bedeutung des Zweiten helvetischen Bekenntnisses in
den osteuropäischen Ländern, in: J. Staedtke (Hg.), Glauben und Bekennen. Vierhundert
Jahre Confessio Helvetica Posterior. Beiträge zu Ihrer Geschichte und Theologie, Zürich 1966,
S. 109–202, hier S. 149 f., 180, 181 f. (1530er Jahre).
208 Er führte einige Ereignisse, die die südfranzösichen Waldenser betrafen, auf die Brüderunität
zurück. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier
fol. 28v; dazu auch HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie
Anm. 110), S. 75 f., Nr. 955 (Pergener an Bullinger; 20.2.1537), hier S. 76; aufgrund des 1536
von Theodor Bibliander herausgegebenen Briefwechsels von Zwingli und Oekolampad A.
Mühling, Der Briefwechselband Zwingli–Oekolampad von 1536, in: C. Christ-von
Wedel / S. Grosse / B. Hamm (Hgg.), Basel als Zentrum des geistigen Austauschs in der
frühen Reformationszeit (SMHR 81), Tübingen 2014, S. 233–242; E. Egli, Analecta Reformatoria (wie Anm. 200), S. 41–50; näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 343;
Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 133, 148, Anm. 25 f.
209 Na[m] maxima pars hominum in Bohemia iam multis annis utraq[ue] specię sunt usi, exceptis
sex forte civitatibus, quę eandem summis votis flagitant et precantur, sed frustra. […] Sacerdotes
utrinq[ue] coniugia detestant[ur]. Rasi incedunt eucharistiam et recondunt ac circumferunt clara
lucę. Candelas accendunt. Divos invocant. Ab esu carniu[m] certis diebus abstinent. ZB Zürich,
Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28v; näher dazu
P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 358 f.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm.
3), S. 139, 154, Anm. 93 ff.
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Petr Hrachovec
und bezichtigte diesen, sich des vakanten Prager Erzbischofstuhls bemächtigen
zu wollen; Fabri hatte dadurch die utraquistische ständische Mehrheit gegen sich
aufgebracht und musste fliehen.210 Die Altgläubigen – wie der Wiener Bischof –
wurden von Pergener immer negativ etikettiert. Im Gegensatz dazu zeichnete er
ein positives Bild der Schweizer Reformierten und der Brüderunität, beschrieb
die Hussiten/Utraquisten mit neutralen Worten und nahm gegenüber der Wittenberger Reformation eine zurückhaltende Position ein. In diesem Sinne berichtete Pergener über den Tod des altgläubigen sächsischen Herzogs Georg des
Bärtigen.211 Eine schlimme Rolle spielten die ‚Papisten‘ nach seiner Darstellung
ferner bei der Ausbreitung zweier Gottesstrafen, der Pest und der Türken: In
Gestalt des Wiener Bischofs Friedrich Nauseas (ca. 1496–1552) suchten sie
die Verbreitung des Evangeliums zu verhindern.212 In seinem Bericht über den
misslungenen Versuch des lutherischen Herzogs Joachim von Münsterberg-Öls/
Ziębice-Oleśnica (1503–1562), sich 1539 zum Breslauer Bischof wählen zu lassen, bezeichnete Pergener diesen ausdrücklich als einen Nachkommen des (hussitischen) Königs Georg von Poděbrad.213 Die positive Einstellung Pergeners zur
böhmischen Reformation lässt sich auch anhand seiner Amtsführung nachweisen,
denn er datierte die Briefe in der Ratskanzlei nach ‚dem heiligen Märtyrer Jan
Hus‘.214 Ein weiterer Beleg für die positive Einstellung der Oberlausitzer zu Hus
210 […] ex parte […] Vulcani Wiennensis [ Johann Fabri, Anm. P. H.], qui priore blasphemum et
virulentum libellum [ J. Fabri, Confutatio gravissimi erroris asserentis in sacramento altaris
[…] non esse totum et integrum Christum […], Leipzig: Nikolaus Wolrab 1537 (VD16 F 198),
Anm. P. H.] scripsit ad senatum Pragensem, in quo damnavit com[m]unionem utriusq[ue] spetiei.
Asserens eam non nisi sacrificulis licere. Libellus mihi visus no[n] est et ni auctor libelli repentina
dissimulata profectione sibi consuluisset, iustam temeritatis vel blasphemię accepisset mercedem.
[…] Nititur Vulcanus Wiennensis Archiepiscopatum Prage, qui ante multos annos collapsus est.
Denuo restituere obluctantur proceres regni. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28v f.; näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm.
3), S. 359; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie Anm. 3), S. 139 f., 154, Anm. 96.
211 Papistę ubique lugent ob principem Georgium Saxonię sublatum. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd.
H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger;
5.8.1539), hier S. 187.
212 Vgl. ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604
(Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42.
213 Vocatur ad episcopatum illustris princeps Ioachimus Monsterbergensis; trahunt autem hii prin
cipes genus a rege Georgio Bohemorum. Ebd., Bd. 10, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich
(wie Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger; 25.2.1540), hier S. 54 f.
214 […] geschriben under der stadt kleynern secret freytags nach Johannis Hussii, martiris, anno etc.
im [15]41t[en]. AV Bautzen – StA Bautzen, Urkunde Nr. 1905 (der Zittauer Rat an den Bautzener Rat; 8.7.1541; Pergeners Handschrift); Regest: P. Arras, Regestenbeiträge 1541–1547
(wie Anm. 151), S. 241 f.; zu Hus als einem (evangelischen und hussitischen) Heiligen P. N.
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Die Reformation der langen Distanz
493
stellt der Brief Luthers an den Rektor der evangelischen Bautzener Ratsschule
Nikolaus Specht († 1565) vom 12. Dezember 1538 dar, dem eine verlorene
Abbildung „des heiligen Mannes“ Jan Hus angehängt wurde.215 Johann Bechrer
sollte dann noch die katholische Erneuerung erleben, als um 1560 in Zittau und
auf dem nahen Oybin der Jesuitenorden tätig wurde, den er in der herkömmlichen evangelischen polemischen Tradition als ‚Jesu wider‘ bezeichnete und für
eine Sekte wie die Schwenckfelder hielt.216 Daher ersuchte er Bullinger um den
Züricher Katechismus, um dem jesuitischen Katechismus des Petrus Canisius
(1521–1597), der damals in Zittau und Oybin wirkte, standhalten zu können.217
Haberkern, Patron Saint and Prophet. Jan Hus in the Bohemian and German Reformations (OSHT), New York 2016.
215 U. Koch, Von Peucer (wie Anm. 48), S. 71 f., Abb. des lateinischen Briefs vom 13.12.1538.
Deswegen halte ich die Auffassung für allzu apodiktisch, dass die Oberlausitzer im Unterschied zu anderen evangelischen Glaubensgenossen das Hussitentum und Jan Hus abgelehnt
und nicht für ‚Vorläufer‘ Luthers gehalten hätten. M. Christ, Von Münzen (wie Anm. 11),
S. 148, 150; Ders., Zwischen Wittenberg und Prag (wie Anm. 3). M. E. muss zwischen der
frühen Reformationszeit (vor 1550) unterschieden werden, als das Hussitentum, d. h. Hussitenkriege, trotzdem abgelehnt wurde, und der Konfessionalisierungsära (um 1600), als man
Hus als Vorläufer Luthers anhand der von Hus ‚ausgesprochenen‘ Prodigien betrachtete. P.
Hrachovec, Böhmische Themen in der Zittauer Stadtchronistik des frühen 17. Jahrhunderts,
in: L.-A. Dannenberg / M. Müller (Hgg.), Studien zur neuzeitlichen Geschichtsschreibung in den böhmischen Kronländern Schlesien, Oberlausitz und Niederlausitz (Beihefte
NLM 11), Görlitz/Zittau 2013, S. 251–318, hier S. 288–296.
216 Solcher Schmähworte wie ,Jesu wider‘ bedienten sich auch die Lutheraner. T. Kaufmann,
Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts (SuR Nr 29), Tübingen 2006, S. 218, 249–254.
217 Ich bitt auch freuntlich, e[uer] a[chtbarkeit] woll mich unterrichten, ob man auch den catechis
mu[m], welcherr eurer jugent furgestellt ist, deudsch bekome, denn ich mocht denselben gern
nicht allein fur die meinen, sonder auch andere haben, der ursach halb: Es rotten sich allenthalb
umb unsere gegend nicht allein des Schwenckfeldi leer, sonder auch die lesterliche sect, welche
sich Confratres Jesu oder Jesuiten nennen, welche billich Jesu wider genennt werden, welche rott
und seckt sonderlich eurer, das ist der reinen leer Jesu Cristi auffs feindest ist, wie ihr lesterlicher
catechismus außweißt. Daru[m] wolt ich solchen catechismu[m] gern haben, das ich die meinen
daru[m] kondt unterweisen und dem elend, so gott durch solche seckte[n] dreuet, furkomen mocht.
StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447v; zu
den Züricher Katechismen Leo Juds G. W. Locher, Zwinglische Reformation (wie Anm.
9), S. 571 f.; E. Campi, Reformation (wie Anm. 74), S. 110; C. Christ-von Wedel, Leo
Jud als Beispiel für die Erasmusrezeption zwischen 1516 und 1536, in: Dies. / S. Grosse / B.
Hamm (Hgg.), Basel (wie Anm. 208), S. 109–126, hier S. 111–119; zum Kontext der Erwähnung der Schweckfelder und der Schriften Bullingers C. Scheidegger, Täufer (wie Anm.
207), S. 89 f.; H. Fast, Heinrich Bullinger (wie Anm. 170), S. 44 f.
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Petr Hrachovec
Über die Wittenberger Reformation schrieb Pergener nur wenig, wobei es
überhaupt fraglich ist, ob man von exakten konfessionellen Trennlinien ausgehen
kann. Ein Zittauer Prediger, der von Wittenberg aus nach Zittau gekommen und
ein treuer Anhänger Luthers gewesen sein soll, lobte Pellikans Drucke, nachdem
ihm Pergener diese gezeigt hatte.218 Mit der Gestaltung der Liturgie, vor allem
des Abendmahls, in Zittau, der Oberlausitz, Schlesien und Sachsen war Pergener
unzufrieden.219 Sie war für ihn mit wöchentlichen Kommunionsgottesdiensten,
kostbaren Ornaten und goldenem Abendmahlsgerät allzu ‚lutherisch‘;220 dem
stellte er die nüchterne Liturgie der Brüderunität gegenüber. Trotzdem ermunterte er seinen Schwager zum Studium des Griechischen und Hebräischen im
lutherischen Wittenberg.221
Die Kenntnis des Hebräischen und Griechischen war für den philologisch
interessierten Pergener wichtig. In dieser Hinsicht war für ihn die Produktion der
Wittenberger Offizinen sowie das Unterrichtsangebot an der dortigen Universität eine Enttäuschung.222 Aus der Elbestadt kamen nämlich vor allem deutsch-
218 Noster contionator, qui nuper e Wittenberga huc concessit, nestio quo casu, Indicem tuum bibli
orum apud me conspexit. Deus bone, quam ille laborem tuum commendabat, licet Luth[ero] sit
deditissimus. Respondi, quid facturus esset, si cetera videret, quę fratres Tigurini in lucem edide
runt. Aiebat is, scripta illorum sibi prorsus esse incognita. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol.
23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r.
219 Ritus in ecclesiis nostris et in toto Marchionatu Superioris Lusatię, quem vulgo Sex civitates apell
amus, et in Slesia similis est ritui ferme Saxonico. Ebd., fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan;
21.2.1539), hier fol. 28ar.
220 Cena dominica apud nos celebratur singulis dominicis diebus. Communicant aliquando 10, 20,
30 homines. Minister utitur vestibus papisticis et aureis poculis, que contrectare nemo audet, nisi
sit sacrificulus in locum papistici canonis. Hic mos servatur in tota regione [et] finitivis provintiis,
quę Wittenbergensium renovationem agnoscunt. Ebd., fol. 28r; näher zu Pergeners Betrachtungen P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 355 f.; Ders., Von feindlichen Ketzern (wie
Anm. 3), S. 137 f., 154 f., Anm. 98. Der Breslauer Reformator Dr. Johann Heß (1490–1547)
aus Nürnberg gehörte ebenso zum Netzwerk von Pergener, der an Bullinger schrieb, dass er an
Heß Bullingers Gruß übermitteln ließ: Salutavi et d. Iohannem Hessum Wratislawiensem, cui
vestra salutatio fuit gratissima. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 186 f., Nr. 1293 (Pergener an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 187.
221 Uxoris mee frater [Tobias Engler, Anm. P. H.] duos annos egit Wittenberge, rediit Terentianus
[Terentianus Maurus, Grammatiker (ca. 200 n. Chr.), Anm. P. H.] nec principia vel Grecę vel
Hebraicę linguę attigit, ad quę ego multum adhortabar; sed surdo cecini. Ebd., Bd. 12, edd. R.
Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167.
222 Wittembergensis[!] ministri nihil preter Germanicos libros nobis obtrudunt; ebd., S. 41 ff., Nr.
1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), S. 42; Qui e Wittenberga ad nos veniunt, ignari sunt
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Die Reformation der langen Distanz
495
sprachige Drucke nach Zittau, auf welche Pergener von oben herab schaute.223
Mit der Produktion der Schweizer oder Straßburger Offizinen, deren Angebot
er anhand der Korrespondenz mit den dortigen Hebraisten verfolgte,224 konnte
Wittenberg um 1540 aus seiner Sicht nicht Schritt halten.225 Unzufrieden mit
fehlenden Sprachkenntnissen wollte Pergener sogar den Hebräischunterricht in
Zittau institutionalisieren.226 Dazu dienten wohl die Besuche des Matthäus Aurogallus in der Stadt (belegt 1539/40) sowie seine Korrespondenz mit den Züricher Hebraisten. Er gewann dafür einen ‚jüdischen Vermittler‘ des Hebräischen,
einen getauften Juden wohl aus der Stadt Weißwasser, der Residenz der Špetle
von Janowitz. Wie viele andere (un)getaufte Juden verstand dieser abgesehen vom
Hebräischen wohl nur seine Muttersprache, sodass sich die Zittauer Lutheraner
gegen dessen Anstellung an der Ratsschule stellten,227 was die ‚Zwinglianer‘ sehr
223
224
225
226
227
Hebraicarum litterarum. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan;
12.3.1538), hier fol. 23v.
E Wittenberga nihil talium librorum sperandum. Prodeunt Germanici Dialogi, D[octor] Luthe
rus expostulavit Germanici de furto cu[m] Cardinali Moguntino. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd.
12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28ar; M. Luther, Wider den
Bischof zu Magdeburg Albrecht Kardinal […], Wittenberg: Hans Lufft 1539 (VD16 L 7402,
VD16 L 7403, VD16 ZV 29164); Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften
Martin Luther bis zu dessen Tod, edd. J. Benzing / H. Claus, Bd. 1 (BBA 10), Baden-Baden
21989, S. 393, Nr. 3318 f.; M. Luther, Wider den Bischof zu Magdeburg, Albrecht Kardinal.
1539, in: WA, Bd. 50, Weimar 1914, S. 386–431, vgl. S. 393 die Editionsanmerkung, dass diese
Flugschrift Anfang Januar 1539 gedruckt wurde.
Vgl. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol.
28r; zur Präferenz des Lateinischen R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 154 f.; U.
B. Leu, Reformation (wie Anm. 170), S. 47; O. Fejtová / J. Pešek, Erasmus, Luther und
Melanchthon in den Privatbibliotheken der böhmischen Bürger um 1600, in: Colloquia 5–7
(1998–2000), S. 66–93, hier S. 73.
Libri, quos nobis mittit Tigurum, Basilea aut Argentoratum, omnibus piis fratribus, quorum
numerus in dies crescit, sunt gratissimi. ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener
an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28ar.
Nihil omnino nos tam male habet, quam quod ignari sumus hebraicarum litterarum. Ebd., fol.
23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23v.
Vgl. S. G. Burnett, Jüdische Vermittler des Hebräischen und ihre christlichen Schüler im
Spätmittelalter, in: L. Grenzmann / T. Haye / N. Henkel / T. Kaufmann (Hgg.),
Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit
I. Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden) (AAWG NF 4:
Berichte über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters),
Berlin/New York 2009, S. 173–188, hier S. 174, 187 f. (etwa 30 solche bekannte Vermittler in
Italien und Deutschland um 1500); Ders., Christian Hebraism (wie Anm. 17), S. 23–27, 59;
C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 169–174, 201 f.
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Petr Hrachovec
enttäuschte.228 Pergener brachte ihn bei sich unter und zeigte ihm die Schweizer
hebräistische Druckproduktion; der darüber sehr erfreute ‚Jude‘ hätte daraufhin
die christlichen Hebraisten in der Schweiz besuchen wollen, wenn er nicht an
einer Gehbehinderung gelitten hätte.229
Die Vorliebe Pergeners für das Hebräische beruhte nicht auf einem dezidierten Philosemitismus, sein Interesse war rein humanistisch-philologischer bzw.
pneumatologischer Natur.230 Gegenüber den Juden war er eher negativ eingestellt. Das belegt sein Bericht an Froschauer über die kurzfristige Verbannung der
Juden aus Böhmen durch Ferdinand I. 1541/42.231 Sie wurden eines Bündnisses
228 Venit ante aliquot annos ę Hierosolimis [ Jerusalem, Anm. P. H.] iuvenis quidam Judęus in Bo
hemiam in civitatem Bielam [wohl Bělá pod Bezdězem/Weißwasser, Anm. P. H.]. […] Pro
fessor hic iuvenis factus est, cum patro christiane fidei is. Nullam linguam preter Hebraicam [et]
Germanicam novit. Hunc accersivi ad nos, ut in publica scola in Hebraica lingua doceret nostram
iuventutem. Obluctabantur quidam Lutherani, presertim ii, quibus scola erat concredita, dictitan
tes hominem non posse docere Hebraicam linguam pueros, qui ipse esset ignarus Latini sermonis.
Sic dimissus est homo non sine fratrum querela. ZB Zürich, Ms. F 47/1, fol. 23r–24v (Pergener
an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23v. Der Unterricht des Griechischen wurde in Zittau erst
nach der ‚Gründung‘ des Gymnasiums (1586) – der „Pflanzstätte des Humanismus“ vor 1600
eingerichtet. W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 198, dazu auch S. 96, 129, 142,
266; G. Sieg, Zittauer auf der Görlitzer Schule im 16. und 17. Jahrhundert, in: ZG 8 (1931),
S. 38 ff., hier S. 38. Doch am Hebräischunterricht mangelte es immer noch weitgehend. W.
Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 256. Bisher ist allerdings noch nicht klar, ob das
Gymnasium wirklich 1586 ‚gegründet‘ wurde bzw. ob es überhaupt eine ‚förmliche‘ Gründung
gab. J. Prochno, Beiträge zur Geschichte des Zittauer Gymnasiums, in: ZG 15 (1938), S. 30 f.,
hier S. 30.
229 Habebam eum aliquot dies apud me. Indicavi homini vestra scripta Hebraica, presertim Oeco
lam[padii] in Hiob, dictionarium Monsteri et quicquid reperire potui. Admirabatur is tales esse
in Germania homines, qui suę linguę darent operam. Cupiebat vos invisere, sed obstabat adversa
valetudo crurum in tam longa profectione contracta, presertim, ut ipse aiebat, in mari, nam nisi
duobus adnitus baculis incedere no[n] potest. ZB Zürich, Ms. F 47/1, fol. 23r–24v (Pergener an
Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23v.
230 Zur ‚Wiederentdeckung‘ der Heiligen Sprachen durch den Heiligen Geist im Humanismus und
in der Reformation D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 56–59, 112–118,
147–151, 180 f., 192–196, 244, 251, 270, 272, 282, 304; C. Christ-von Wedel, Theodor
Bibliander in seiner Zeit, in: Dies. (Hg.), Theodor Bibliander (wie Anm. 108), S. 19–60, hier
S. 45–55. Ein solches „biblisches Wissen wurde zu einem Machtfaktor. Es vermochte Kirche
und Gesellschaft zu durchdringen und zu ordnen“. H.-J. Goertz, Machtbeziehungen in
der Zürcher Reformation. Noch einmal: Zwingli und die Täufer, in: A. Schindler / H.
Stickelberger (Hgg.) / M. Sallmann (Mitarb.), Zürcher Reformation (wie Anm. 101),
S. 43–75, hier S. 55.
231 Vgl. K historii Židů v Čechách, na Moravě a ve Slezsku. 906 až 1620 [Zur Geschichte der
Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien, 906 bis 1620], Bd. 1: 906 až 1576 [906 bis 1576],
ed. B. Bondy / F. Dvorský (Bearb.), Praha 1906, hier (nur von 1540 bis 1550), S. 314–377,
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Die Reformation der langen Distanz
497
mit den Türken zwecks Brandstiftung in den Städten und Brunnenvergiftung
bezichtigt,232 wofür ihnen der Sultan die Rückkehr in das Land ‚ihrer Väter‘ nach
Judäa versprochen haben soll.233 Dies ist nicht das einzige Beispiel für sein Interesse an der ‚Türkengefahr‘. So wollte er die lateinische Ausgabe des Korans, die
Nr. 453–548; als türkische Späher bezeichnet ebd., S. 318 ff., Nr. 458 f., S. 328 f., Nr. 467; als
Mordbrener ebd., S. 349 f., Nr. 515; zur Lage in Saaz/Žatec und Leitmeritz/ Litoměřice ebd.,
S. 320 f., Nr. 460 ff.; weiter A. David, Four Traumatic Events in Prague’s Jewish Community
in the 16th century as seen through the eyes of David Gans, the author of The Hebrew Chro
nicle from Prague, and Joseph ha-Kohen, in: Judaica 72 (2016), S. 368–386, hier S. 371–376
(Türken, Mordbrenner); J. Heřman, The Conflict between Jewish and Non-Jewish Population in Bohemia before the 1541 Banishment, in: JB 6 (1970), H. 2, S. 39–54, hier S. 51 f.
(Türken, Mordbrenner).
232 Näher zur Angst vor sog. Mordbrennern, z. B. vor bettelnden Krüppeln P. Hrachovec,
Zittauer (wie Anm. 3), S. 330 ff.
233 Die Judenn zu Prag haben ungeferlich vor tzweyen jaren einen turckischen wascha ader heupt
man bey ynen ein jar lang heimlich erhaltten und ynen inn deutschen landen auf und nider, hin
und wider gefurt, gelegenheit desselben zu erkunden und als nach solcher besichtigung der wascha
widerumb zum turckischen keyser kommen, hat er yme alle schicklikeyt des deutschen landes an
getzeigt mit underricht, dieweyl so ein streitpar volck uberal verhanden, das nicht wol moglich
wher, dasselbe einzunemen ader zu ubertzihen. Es sey dann, das die stete forderlich und auch das
landt zuvor mit feuer ausgebrant und verderbt wurden. Auf solchen des turkischen waschen bericht
hat der turkisch keyser eine grose sum[m]a gelts den Juden ynn Beheim zugestalt mit befhel, sie
sollen nicht allein Behemerlandt, sunder umbligende lender verschuffen auszubrennen. Dareyn
die Juden bewilligt, das gelt angenom[m]en und ser vil flecken und dorffer verbrant auch feuer
ynn steten angelegt, aber es ist erwert worden. Auch haben sie etlich prunnen mit gifft, die ynen
auch der Turck zugeschicktt, vergiffttet, davon vill menschen und vihe gestorben und solch feuer
ist angelegt worden von armen einfeldigen leuthen, als hirten, bettlern, die ein gering gelt von den
Juden entpfangen. Als nu die sache nach vil scheden geoffenbart, sein etliche Juden zu gefengnis
einbracht, peinlich gefragt, warumb sie so pöse hendel fodertten. Haben sie gesagtt, der turckisch
keyser hette ynen zugesagt, wu sie Behemer- und andere landtt mit feuer wurden verderben, woltt
er ynen Judeam und alle landt, so ire väter ynnengehabt, widerumb frey einreumen und geben. Sie
solttens am gelt nicht lassen mangeln, er woltte ynen deß gnug schaffen und wenn er diese lande
wurde bekrigen, soltten sie sich auch gar nicht forchtten. Er wolde sie zu rath nehmen. Solchs ha
ben etlich Juden in der pein bekannt, habs schrifftlich gesehen und gelesen. Auf solch übel hat die
Koe. Mat. befolhen, die [!] sie soltten auf vergangen Martini [11.11.1541, Anm. P. H.] aus dem
lande tzihen. Darnach wart ynen der termin baß auf Georgii [23.4.1542, Anm. P. H.] erstracktt.
Ist das volck in den tzweyen steten, forderlich als zu Satz und Leutho[m]mritz, unwillig worden,
seint die Juden von dem pöfel geblendert [beraubt, Anm. P. H.] worden, derhalben desselben pefels
vil gefenglich angenom[m]en. Was nu solchs vor ein endt nemen wirt, kan nimant wissen. Dis
hab ich euch aufs kurtzt geschriben, damit irs den herrn ministris [in Zürich, Anm. P. H.] habt
antzutzeigen. StAZH, Sign. E II 367, S. 5–8 (Pergener an Froschauer; 20.2.1542), hier S. 5 ff.;
zu verschiedenen zeitgenössischen Aspekten in diesem Brief (,Verschwörung‘, Rückkehr nach
Judäa) C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 201, 212 f.
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Petr Hrachovec
Theodor Bibliander herausgab, bzw. dessen Türkenschrift zugesandt bekommen.234
Zugleich diente er den Zürichern als Berichterstatter über die Lage in Ungarn,235
wobei diese Kriege eine erhebliche Auswirkung auf die Verbreitung der Reformation in christlichem Hinterland und in den Söldnerheeren hatten.236 Ferner
zogen sie politische Streitigkeiten wegen der Aufteilung des erhöhten Steueraufkommens nach sich,237 was Pergener als einer der Einnehmer der Türkensteuer238
nach Zürich berichtete.239
234 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110 ff., Nr. 1857 (Pergener u. a. an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111; zu
diesen Drucken G. Christ, Das Fremde verstehen. Biblianders Apologie zur Koranausgabe
im Spiegel des Basler Koranstreites von 1542, in: C. Christ-von Wedel (Hg.), Theodor
Bibliander (wie Anm. 108), S. 107–124; G. Christ, Theodor Biblianders Türkenschrift. Ein
Reformator und Humanist über Religion, Moral und kriegerischen Erfolg, in: C. Christvon Wedel / U. B. Leu (Hgg.), Erasmus (wie Anm. 200), S. 309–326; E. Egli, Analecta
Reformatoria (wie Anm. 200), S. 50–61.
235 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 112 f.; ebd.,
Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 196 f., Nr. 1293 (Pergener
an Bullinger; 5.8.1539), hier S. 187; ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser
(wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42; ebd., S. 165 ff.,
Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 166.
236 Decem ferme millia scortorum sunt in castris nostris. Iohannes Eysleben [ Johannes Agricola aus
Eisleben (1494–1566), lutherischer Brandenburgischer Oberhof- und Feldprediger, Anm. P.
H.] supremus concionator est in exercitu nostro, cui adiuncti sunt duodecim evangelici predica
tores. Quottidie fit sermo. Ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm.
62), S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 166.
237 Vgl. ebd., S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542), hier S. 42; ebd., Bd. 14, edd. R.
Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857
(Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 113.
238 Medio anno impeditus fui in exigenda regia pecunia contra Turcam; iam postulatur nova exactio
in expeditionem Turcicam. Ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J.
Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 111;
an der Erhebung der Türkensteuer beteiligte sich (1542) auch der Zwickauer Stadtschreiber
Stephan Roth. R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 192, 246.
239 Bullinger interessierte sich viel für solche mit den Türken in Ungarn verbundenen Nachrichten.
B. Nagy, Geschichte (wie Anm. 207), S. 111 f.; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm.
104), S. 101–113, 124–129, 291–294; E. Bryner, Ausstrahlung (wie Anm. 101), S. 179–182;
E. Zsindely, Bullinger und Ungarn, in: U. Gäbler / E. Herkenrath (Hgg.), Heinrich
Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 116), S. 361–382 (vor allem Briefwechsel und Buchtransport); aus
theologischer Sicht P. Widmer, Bullinger und die Türken. Zeugnis des geistigen Widerstandes
gegen eine Renaissance der Kreuzzüge, in: E. Campi / P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger,
Bd. 2 (wie Anm. 101), S. 593–624, bes. S. 613 f., 617 ff. (Briefwechsel); D. Grimmsmann,
Heinrich Bullingers Deutung der Türkengefahr und des Islams, in: ARG 103 (2012), S. 64–91.
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Die Reformation der langen Distanz
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Der Wissenstransfer von Zittau nach Zürich war vorwiegend epistolografischen Charakters. Daraus gewonnenes Wissen wurde von Zürich aus auch weiter ‚transferiert‘. So berichtete Bullinger an den St. Gallener Reformator, Arzt,
Humanisten und Bürgermeister Joachim Vadian, was er von Pergener erfahren
hatte.240 Pergeners Netz war also nicht sternförmig, sondern bildete ein ,verflochtenes Netzwerk‘.241
(5) Gleichwohl war neben den Briefen auch die reformatorische Buchproduktion wichtig, wobei der Wissenstransfer vor allem in einer Richtung, von Zürich
aus, verlief. Einer seiner Auslöser war Konrad Krajíř von Krajek, der die Züricher
Produktion augenscheinlich systematisch verfolgte und der im Mai 1532 in Prag
Pergener das soeben erschienene Buch Bullingers „Über das Prophetenamt“ zeigte.242
Weil er sah, wie sehr Pergener sich darüber freute und weil in Prag keine weiteren
Exemplare vorrätig waren, schenkte er ihm sein eigenes.243
240 Vgl. HBW Briefwechsel, Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 224,
Nr. 1312 (Bullinger an Vadian; 3.10.1539); ebd., Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich /
A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 207 f., Nr. 1896 (Bullinger an Vadian; 19.4.1544);
dazu allgemein (am Beispiel des Briefwechsels Bullinger–Vadian) F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 99, 103; E. Bryner, Die Reformation in St. Gallen und Appenzell, in: A. Nelson Burnett / E. Campi (Hgg.) / M. E. Hirzel / F. Mathwig (Bearb.),
Schweizerische Reformation (wie Anm. 74), S. 245–269, hier S. 264; R. Gamper, Joachim
Vadian (wie Anm. 87), S. 274 f., 309–312.
241 Dazu am Beispiel des Briefwechsels K. Hitzbleck, Verflochten (wie Anm. 63), S. 29 ff.;
C. Hesse, Netzwerke und ihre Grenzen – zusammenfassende Bemerkungen, in: K. Hitzbleck / K. Hübner (Hgg.), Grenzen (wie Anm. 63), S. 259–269, hier S. 260, 269 (echtes
verflochtenes Netzwerk vs. Ego-Netzwerk).
242 Zu Bullingers Werken über das Prophetenamt der Geistlichen D. Timmerman, Heinrich
Bullinger (wie Anm. 74), bes. S. 30–127 (Prophetenamt vor Bullinger), 129–299 (Bullinger),
176 (Pergener); F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 53 f., 100 f.; ebd., Bd. 2
(wie Anm. 2), S. 41; Ders., Wurzeln (wie Anm. 2), S. 49–71, 106–124; Ders., Spiritualität
(wie Anm. 200), S. 133 ff.; A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik
(wie Anm. 101), S. 32 f.; J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 63 f., 275 f.; E. Campi,
Reformation (wie Anm. 74), S. 105; Ders., Bullingers Rechts- und Staatsdenken, in: EvTh 64
(wie Anm. 74), S. 117–126, hier S. 119–123, 125; A. Ehrensperger, Geschichte (wie Anm.
74), S. 476–480; A. Holenstein, Reformatorischer Auftrag (wie Anm. 101), S. 187–190,
228, 232; P. Opitz, Von prophetischer Existenz zur Prophetie als Pädagogik. Zu Bullingers
Lehre vom munus propheticorum, in: E. Campi / P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger, Bd.
2 (wie Anm. 101), S. 493–513; D. Bollinger, Bullinger on Church Authority. The Transformation of the Prophetic Role in Christian Ministry, in: B. Gordon / E. Campi (Hgg.),
Architect (wie Anm. 74), S. 159–177, bes. S. 160–167.
243 Postea cum legatum huius nostrę reipublicae apud Pragenses agerem anno etc. 1532, mense maio,
incidi Pragę in domum cuiusdam baronis Conradi a Krayku mihi etiam familiarissimi, qui et
maxime delectatur vestris scriptis, precipue Germanicis. Is cum aliquot libros a bibliopola accepisset,
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Petr Hrachovec
Was wurde also in der Zittauer Reformation gelesen? Die Lektüre im Pergeners
Lesezirkel musste sich aufgrund unterschiedlicher Muttersprachen der Teilnehmer auf die lingua franca, die lateinischen Bücher, konzentrieren. Das besondere
Interesse galt den umfangreichen und sprachlich komplizierten lateinischen exegetischen Werken, sog. biblischen Kommentaren,244 die eine ,typische reformatorische‘ Lektüre unter gebildeten Zeitgenossen (mit gutem Absatz) waren.245
Aus den Briefen kann man mindestens 29 bzw. 30 aus Zürich übersandte Werke
Bullingers identifizieren,246 von denen teilweise mehrere Exemplare im Umlauf
waren.247 Mindestens sechs weitere Werke Bullingers wurden gewünscht, die man
244
245
246
247
ut eos filio suo Ernesto, cui et latinę littere arrident, traderet, ecce tamquam virgula divina offendi
inter eos libellum tuum vere christianissimum „De offitio prophetico“. Illico convenio bibliopolam.
Rogabam, num plura exemplaria haberet. Dicebat se non nisi duo habuisse iamque esse divendita
neque tum plura in nundinis Lipcensibus vidisse. Rursus accedo meum baronem. Rogo, ut mihi
aliquot dies hoc tuo libello uti liceat, cum iam nullus reperiretur apud bibliopolas. Non solum
annuit ille, sed et libellum dono mihi dedit pollicens maiora, si postularem, daturum, quod et non
raro fecit. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff.,
Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 204 f. Dieses Bespiel bestätigt die These
Christoph Volkmars, dass trotz der Zensurmaßnamen Herzog Georgs des Bärtigen die
Leipziger Buchmessen auch reformatorische Literatur anboten. C. Volkmar, Reform (wie
Anm. 18), S. 581–588; ein zweiter Beleg einer Vermittelfunktion der Leipziger Messen StAZH,
Sign. E II 345a, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477v (Bullingers
„Hausbuch“); zum seit 1518 in Prag belegten Bücherlager der Leipziger Buchführer, wo unter
anderem die oberdeutsche Produktion, d. h. vielleicht auch die Schweizer, distribuiert wurde.
Z. Šimeček, Geschichte des Buchhandels in Tschechien und in der Slowakei (Geschichte des
Buchhandels 7), Wiesbaden 2002, S. 11.
Bullinger sah in der biblischen Exegese den wichtigsten Zweck der Theologie. F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 237–248; Ders., Wurzeln (wie Anm. 2), S. 10 ff., 52;
Ders., Spiritualität (wie Anm. 200), S. 135; weiter D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie
Anm. 74), S. 102–106, 112–118, 130, 134, 147–155, 164 ff., 171 f., 175–178, 187–196, 265–271,
275 ff., 301; A. Ehrensperger, Geschichte (wie Anm. 74), S. 734; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 381; U. B. Leu, Der Zürcher Buchdruck des 16. Jahrhunderts
im europäischen Kontext unter besonderer Berücksichtigung Ostmitteleuropas, in: V. Čičaj /
J.-A. Bernhard (Hgg.), Orbis Helveticorum (wie Anm. 104), S. 23–32, hier S. 24; H. U.
Bächtold, Eine herrliche Gnade und Gabe Gottes – Heinrich Bullinger als Publizist, in: ebd.,
S. 63–68, hier S. 65; C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 34 f., 85–152.
Vgl. C. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken (wie Anm. 112), S. 142; U. B. Leu, Zürcher Buchund Lesekultur (wie Anm. 170), S. 72 f.; R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 99.
Es gab sicher mehr, denn nur im Fall Bullingers erwähnt Pergener im Rahmen der Aufzählung einzelner Werke in Zittau, dass er multa alia besitzt. HBW Briefwechsel, Bd. 8, edd. H.
U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger;
12.3.1538), hier S. 106. Aus Platzgründen wird an dieser Stelle auf ihre genaue Aufzählung
und bibliografische Einordnung verzichtet.
Vgl. z. B. In sacrosanctum Jesu Christi, domini nostri, evangelium secundum Matthaeum
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Die Reformation der langen Distanz
501
auch erhielt;248 zumindest ist dies wahrscheinlich, da Johann Bechrer erst 1569
starb.249 Pergeners semiöffentliche Bibliothek war augenscheinlich sehr beeindruckend.250 Von Theodor Bibliander besaß man sicher ein Werk, zwei andere wurden
nachgefragt. Von Leo Jud besaß man in Zittau vier Werke, zwei weitere wurden
gewünscht. Von Huldrych Zwingli gelangten mindestens acht Drucke nach Zittau
und ein weiterer wurde nachgefragt. Von Johannes Oekolampad gab es in Zittau
mindestens fünf Werke. Von Konrad Pellikan kamen mindestens neun Werke
nach Zittau und zwei weitere wurden gewünscht. Von Joachim Vadian besaß man
ein Werk. Vom Baseler Hebraisten Sebastian Münster (1488–1552) besaß man
in Zittau sicher ein Wörterbuch, von den Züricher Lexikografen Petrus Cholinus
(1508–1542) und Johannes Fries (1505–1565) ein gemeinsames Werk, ein weiteres
Werk von Cholinus wurde nachgefragt. Im Fall des Züricher und Berner Reforma
tors Kaspar Megander (1495–1545) werden mindestens zwei in Zittau befindliche
Drucke erwähnt. Außerdem besaß man in Zittau mindestens zwei Verlagskataloge der Offizin Christoph Froschauers d. Ä.251 Vom Züricher Theologen Rudolf
248
249
250
251
commentariorum libri XII. […], Zürich: Christoph Froschauer d. Ä. 1542; HBW Bibliographie, Bd.
1: Beschreibendes Verzeichnis der gedruckten Werke von Heinrich Bullinger, ed. J. Staedtke,
Zürich 1972, S. 71, Nr. 144; Bibliographie der Zürcher Druckschriften des 15. und 16. Jahrhunderts, ed. M. Vischer (BBA 124), Baden-Baden 1990, S. 120, Nr. C 304; HBW Briefwechsel,
Bd. 13, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 121), S. 72 f., Nr. 1719 (Pergener
an Bullinger; 8.2.1543), hier S. 73: Duo habemus in hac urbe exemplaria, expectamus plura.
Vgl. z. B. HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J.
Steiniger (wie Anm. 110), S. 110 ff., Nr. 1857 (Pergener u. a. an Bullinger; 3.3.1544), hier
S. 111: Habemus dei benignitate commentaria tua in evangelia tum Mathei tum Iohannis, eadem
et in Lucam expectamus.
Vgl. In sermones et historicas expositiones Ieremiae prophetae a capite XXX. Usque ad finem
operis conciones […] LXXIIII. […], Zürich: Christoph Froschauer d. Ä. 1561; HBW Bibliographie, Bd. 1, ed. J. Staedtke (wie Anm. 247), S. 170, Nr. 360; Bibliographie, ed. M. Vischer
(wie Anm. 246), S. 207, Nr. C 582; StAZH, Sign. E II 345a, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 478v: Wart, biß e[uer] a[chtbarkeit] das ubrige auch wirt volende[n],
damitt ichs zuhauff bekome.
„Wie die Besitzliste Pergeners [….] ausweist, waren alle bis 1536 erschienenen Paulusbrief-Kommentare Bullingers in Zittau bekannt.“ HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R.
Henrich (wie Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 63, Anm. 1.
Index librorum, quos Christophorus Froschouerus Tiguri hactenus suis typis excudit […], Zürich: Christoph Froschauer d. Ä. 1543; Bibliographie, ed. M. Vischer (wie Anm. 247), S. 126,
Nr. C 323; HBW Briefwechsel, Bd. 14, edd. R. Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J.
Steiniger (wie Anm. 110), S. 112 f., Nr. 1857 (Pergener an Froschauer; 3.3.1544), hier S. 112:
hab ich mit sampt dem gedrucktten buchle ader indice aller euer gedrucktten bucher entpfangen.
Dazu auch U. B. Leu, Reformation (wie Anm. 170), S. 69 (Pergener); P. Leemann-van Elck,
Offizin Froschauer (wie Anm. 61), S. 97 f. (1543 und 1555); weiter StAZH, Sign. E II 345a, fol.
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502
Petr Hrachovec
Gwalther (1519–1586) wurde mindestens ein Werk nachgefragt. Von Johannes
Calvin besaß man in Zittau mindestens eine Auflage seiner „Institutionen“ usw.252
Ein vormodernes Buch war keine bloße Gebrauchsware, sondern es besaß weit
über seinen eigentlichen Inhalt hinausreichende Eigenschaften. Oft wurde es zur
Verbreitung der reformatorischen Glaubenslehren verschenkt, und auch die Zittauer erhielten von den Reformatoren einige Werke auf diese Weise.253 Insgesamt
kann man davon ausgehen, dass Pergener oder Bechrer die meisten Bände entweder
direkt von Bullinger und anderen Schweizer Theologen oder indirekt durch die Vermittlung des Druckers, d. h. über die Frankfurter Buchmesse, umsonst bekamen.254
Bechrer wandte sich auch direkt an Bullinger.255 Die spezifische kommunikative
Wirkung des (reformatorischen) Buchs bzw. seiner Lektüre kann man mit dessen
Funktion als ‚Werkzeug Gottes‘ erklären256 sowie mit seiner Rolle für die ‚Erbauung‘,
252
253
254
255
256
477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r: einen gedruckten cathalogum mitt
zusenden, aus welchem ich furanhin gewiß sein kann aller der bucher, so in eurern druckereien zu
födern zugelaßen werden, sonder auch uber das nach schrifftlich angezeigt, was hoer und schwerer
muheseliger arbeit euer a[chtbarkeit] noch im wergk fur sich hab. Wohl: Catalogus librorum
quos Christophorus Froschouerus Tiguri suis typis excudit, Zürich: Christoph Froschauer d.
Ä. [ca. 1555]; Bibliographie, ed. M. Vischer (wie Anm. 247), S. 18 (Einblattdruck).
Jetzundt neulich hab ich die Instituciones Joannis Calvini bekomen. StAZH, Sign. E II 345a, fol.
447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447v.
Zu Buchgeschenken als symbolischer Kommunikation G. Müller-Oberhäuser / K.
Meyer-Bialk (Hgg.), Book Gifts and Cultural Networks from the 14th to the 16th Century
(SKGWS 41), Münster 2019.
Vgl. z. B. Agimus tibi perpetuas gratias de libro in simbolum amicitię nobis misso. Utinam par
pari referre liceret! Animi nostri interim benevolentiam et promptitudinem, quęso, accipe; conso
labuntur ex eo et alii fratres, qui partim in aliis agunt civitatibus. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd.
E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272 (Pergener an Bullinger; 13.10.1533),
hier S. 205. Bullinger verschenkte selbst seine Bücher. F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 2
(wie Anm. 2), S. 272; A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie
Anm. 101), S. 21 f., 51, 56, 60 f., 64, 67, 76, 81, 89 f., 95, 99 f., 157, 160 f., 230 f., 236, 243–246;
B. Nagy, Geschichte (wie Anm. 207), S. 144; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm.
104), S. 331, 363; zur zeitgenössischen Korrespondenz über die neuen Bücher ebd., S. 327–393;
Ders., Geistige und literarische Kontakte zwischen Krakau und Basel in der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts, in: Z. Noga (Hg.), Elita władzy miasta Krakowa i jej związki z miastami
Europy w średniowieczu i epoce nowożytnej (do połowy XVII wieku). Zbiór studiów [Die
Herrschaftselite der Stadt Krakau und ihre Beziehungen zu zentraleuropäischen Städten im
Mittelalter und der Frühen Neuzeit (bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts). Aufsatzsammelband],
Kraków 2011, S. 303–332, hier S. 328 f.; R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 148 f.,
257; H. U. Bächtold, Herrliche Gnade (wie Anm. 244), S. 66 f.
Vgl. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger; 24.4.1558), hier fol. 447r f.
Zu diesem Schlüsselaspekt der evangelischen Theologie (nicht nur Bullingers) C. Christ-von
Wedel, Zum Einfluss von Erasmus von Rotterdam auf Heinrich Bullinger, in: E. Campi /
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Die Reformation der langen Distanz
503
d. h. die Erweckung (religiöser) Emotionen beim Leser.257 Natürlich hing beides
eng zusammen, wobei sich die Lektüre der Bücher und die Lektüre der Korrespondenz komplementär ergänzten. Dem reformatorischen Buch der Schweizer wurde
die Kraft zugeschrieben, die Gegner der neuen Lehre zu bekehren.258 Zugleich
erleichterte es eine religiöse Gruppenbildung vermittels der Lesezirkel.259 Es war
ein Geschenk Gottes, durch das der Weg zum Glauben geöffnet wurde.260 In den
reformatorischen Büchern hatte der Quell des Glaubens, der Heilige Geist, seinen
257
258
259
260
P. Opitz (Hgg.), Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 101), S. 407–424, hier S. 415; F. Büsser, Heinrich Bullinger, Bd. 1 (wie Anm. 2), S. XI, 42, 139 f., 174, 232; ebd., Bd. 2 (wie Anm.
2), S. 39 f.; Ders., Spiritualität (wie Anm. 200), S. 131; J. Staedtke, Theologie (wie Anm.
2), S. 41–46; B. Gordon, Gemeinwesen (wie Anm. 74), S. 502 f.; A. Ehrensperger, Geschichte (wie Anm. 74), S. 324 f.; C. Christ-von Wedel, Theodor Bibliander (wie Anm.
230), S. 56 f.; R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 206: neue Lehre der Katholiken
vs. alte, d. h. die ursprüngliche unverdorbene Lehre der Zwinglianer; so auch bei H. Selderhuis, Kirche (wie Anm. 200), S. 534.
Vgl. D. Timmerman, Heinrich Bullinger (wie Anm. 74), S. 221 f., 226; J.-A. Bernhard,
Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 461; weiter dazu C. Christ-von Wedel, Das Buch der
Bücher popularisieren. Die Bibelübersetzung Leo Juds und sein biblisches Erbauungsbuch,
in: J. Radimská (Hg.), Jazyk a řeč knihy. K výzkumu zámeckých, měšťanských a církevních
knihoven [Die Sprache und die Rede des Buches. Zur Erforschung der Schloss-, Bürger- und
Kirchenbibliotheken] (Opera Romanica 11), České Budějovice 2009, S. 329–344.
Dici non potest, quanta alacritate is tuus libellus me ac fratres meos, qui publice hac in re mecum
sentiunt, affecit. Scribere non ausim, […] quantum nos isto tuo libello profecimus, et hoc gratia
dei. Nestio[!], quo fato id fiat, ut etiam reclamantibus hostibus libelli Tigurini ad nos perferan
tur. HBW Briefwechsel, Bd. 3, edd. E. Zsindely / M. Senn (wie Anm. 5), S. 204 ff., Nr. 272
(Pergener an Bullinger; 13.10.1533), hier S. 205. So, durch die Lektüre, bekehrte sich Bullinger
selbst. J. Staedtke, Theologie (wie Anm. 2), S. 20, 39 f.
[…] mihi crede, optime Bullingere, multos non solum hic, sed etiam in aliis civitatibus finitimis,
presertim in Bohemia, esse, qui tibi ac vestris ecclesiis optime volunt nihilque aliud quam sum
mam felicitatem optant pręcanturque […]. Adulari nolo; scio, quam pie sepe apud me de vobis
vestrisque sentiant ac iudicant ecclesiis, sollicite interrogando, num quid novi scripti vel Tygurum
vel Basileanobis miserit. HBW Briefwechsel, Bd. 7, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie
Anm. 110), S. 63 ff., Nr. 949 (Pergener an Bullinger; 15.2.1537), hier S. 63 f. Solche Lesezirkel
dienten vor allem dem gemeinsamen Studium (der Bibel), wozu die Kommentarwerke, häufig voll von Lesespuren (Marginalien) als Interpretationshilfen (für die anderen), behilflich
waren. Dazu R. Gamper, Joachim Vadian (wie Anm. 87), S. 151–160, 164 f., 171; weiter A.
Strübind, Das Schweizer Täufertum, in: A. Nelson Burnett / E. Campi (Hgg.) / M. E.
Hirzel / F. Mathwig (Bearb.), Schweizerische Reformation (wie Anm. 74), S. 395–446,
hier S. 398 ff., 410, 424, 430 f., 434, 436.
[…] plane Phinonide indoctior essem, ni deus sua gratia vestras lucubrationes ad nos perferri vo
luisset. Quicquid habeo, hoc me a deo et vobis accepisse citra fucum fateor. Quare non immerito
precor deum optimum, ut tibi in omnibus adsit. HBW Briefwechsel, Bd. 11, edd. R. Henrich /
A. Kess / C. Moser (wie Anm. 110), S. 86 f., Nr. 1470 (Pergener an Bullinger; 1.3.1541),
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Petr Hrachovec
Sitz.261 Es war ein Instrument, durch das Gott vermittels des Verfassers die Sinne
der Lesenden physisch ansprach,262 um ihn des Seelenheils zu vergewissern.263 Beim
Erhalt der Bücher sowie der nachfolgenden Lektüre erlebte man geistige Freude.264
Aus all diesen Gründen wollten die ‚Zittauer‘ eigentlich die gesamte Schweizer
261
262
263
264
hier S. 86 f., Anm. 4: „Gemeint ist Philonides, der von den griechischen Komödiendichtern
als überaus groß gewachsen und dumm geschildert wird […].“
[…] nam semper memor sum vestri et ex vestris scriptis vere agnosco spiritum Christi inhabitare
vestra pectora. Sincero animo hoc scribo; sentiunt mecum fratres fideles quam plurimi. Ebd., Bd.
12, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an
Bullinger; 20.2.1542), hier S. 41 f.; weiter ebd., Bd. 8, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich
(wie Anm. 110), S. 105 ff., Nr. 1111 (Pergener an Bullinger; 12.3.1538), hier S. 106; StAZH, Sign.
E II 345a, fol. 477r–478v (Bechrer an Bullinger; 3.8.1560), hier fol. 477r f.
Loqueris enim mecum in tuis christianissimis commentariis quam familiarissime fraterno affectu,
pie, docte; in hiis plane doces ac me instituis. HBW Briefwechsel, Bd. 10, edd. H. U. Bächtold /
R. Henrich (wie Anm. 118), S. 54 ff., Nr. 1362 (Pergener an Bullinger; 25.2.1540), hier S. 54 f.;
Doces nos quottidie, imo et te quasi loquentem audimus in illis tuis christianissimis commenta
riis. Ebd., Bd. 13, edd. R. Henrich / A. Kess / C. Moser (wie Anm. 121), S. 72 f., Nr. 1719
(Pergener an Bullinger; 8.2.1543), hier S. 73.
[…] nisi confortaremur vestris sanctis commentariis. Ex illis discimus mortem christianorum nihil
aliud esse quam permutationem vitę deterioris in longe meliorem. Qui deum vere amant, cupiunt
dissolvi et esse cum eo. Quandiu hic vivimus, quottidie magis ac magis adfectibus impuramur,
quod omnibus dei cultoribus permolestum est. Tigurina scripta docent nos ex sacris litteris mortem
nobis non esse timendam, sed summo gaudio expectandam. Ebd., Bd. 12, edd. Diess. (wie Anm.
62), S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 166; Nos hic, qui vestra
sedulo legimus scripta, mortem non adeo horremus; scimus namque mortem christianorum nihil
aliud esse nisi permutationem vitę deterioris in longe meliorem. Ideo mori christianis nihil aliud
est quam mundum relinquere, quam ire ad deum, patrem pientissimum. Ebd., Bd. 14, edd. R.
Bodenmann / R. Henrich / A. Kess / J. Steiniger (wie Anm. 110), S. 110 ff., Nr. 1857
(Pergener an Bullinger; 3.3.1544), hier S. 111.
Nunc autem recepi animum atque gaudio suffundor tam celebres viros infirmorum quoque fratrum
habere rationem. Certi sumus ex omnibus vestris scriptis, quę nobis indicant summam mansue
tudinem, pietatem et amorem christianum et nos vobis cure esse. […] Dici non potest, quantum
ea scripta, quę ex Tiguro, Basilea vel Argentorato mittuntur, pios delectent; testes complures ad
ducere possem. Ebd., Bd. 9, edd. H. U. Bächtold / R. Henrich (wie Anm. 110), S. 63 f.,
Nr. 1229 (Pergener an Bullinger; 21.2.1539), hier S. 63; weiter ebd., Bd. 12, edd. R. Henrich
/ A. Kess / C. Moser (wie Anm. 62), S. 41 ff., Nr. 1604 (Pergener an Bullinger; 20.2.1542),
hier S. 42; ebd., S. 165 ff., Nr. 1654 (Pergener u. a. an Bullinger; 23.8.1542), hier S. 167; ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 23r, 28r–28av
(Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28ar.
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Die Reformation der langen Distanz
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Produktion besitzen.265 Natürlich gewann man bei der Lektüre auch ganz ‚lebenspraktische‘, etwa sprachliche, Kenntnisse.266
Schließlich darf neben dem Wissenstransfer durch Briefe und Bücher der Personentransfer nicht außer Acht gelassen werden. Mindestens zwei Teilnehmer des
Lesezirkels, Konrad Nesen und Václav Mitmánek, besuchten Zürich. Pergener war
wohl nie dort, gleiches gilt – ungeachtet seiner erklärten Absicht – für Cölestin
Hennig. Ob der oben erwähnte gehbehinderte Jude in die Schweiz gelangte, ist
nicht bekannt. Immerhin lässt sich noch eine nach Zürich verheiratete junge
Zittauerin nachweisen, die Pergener an Pellikan in einem verschollenen Brief
empfohlen hatte; über deren neue Familie berichtete Pergener der in Zittau
lebenden Mutter.267 Zugleich ist noch der Personentransfer zwischen den Orten
zu erwähnen, aus denen die Teilnehmer an Pergeners Briefwechsel kamen. Und
jenseits dieses Personenkreises kann noch auf die Zittauer Bauhütte verwiesen
werden, die von 1550 bis 1559 den Westturm der Zittauer Pfarrkirche erhöhte, die
sich in den 1540er- und 1550er-Jahren an den Bauunternehmen der Herren von
Krajek in Jungbunzlau und Brandeis beteiligte. Umgekehrt bemalte (1570/71)
ein Jungbunzlauer Maler den neuen Hauptaltar der Zittauer Pfarrkirche.268 Diese
‚fachmännischen‘ Kontakte belegen, dass es rege Beziehungen ohne Rücksicht auf
die Sprach- oder konfessionellen Grenzen gab.
265 […] sed multa ędita sunt in lucem a ministris verbi dei Tigurinae [et] Basiliensis ecclesiarum, que
nos desideramus. StAZH, Sign. E II 367, fol. 11r f. (Pergener an Jud; 1537), hier fol. 11r; weiter
ZB Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 28r–28av (Pergener an Pellikan; 21.2.1539), hier fol. 28r.
266 […] wiewol ich der latheinischen sprach nicht so gar uberflussigen grundt hab, das ich allenthalb
den rechten kern verstunde. Bin ich doch der hoffnung, es sol doch diß mein furnemen an son
derlichen nutz nicht abgehn. StAZH, Sign. E II 345a, fol. 447r–448v (Bechrer an Bullinger;
24.4.1558), hier fol. 447v.
267 Iuvenculam, quam olim tuę charitati commendavi, consortem cuiusdam Tigurini bene valere et
triplici prole foelicem lubens audio idque matri cognatisq[ue] nunctiavi. Valde gestit mater. ZB
Zürich, Ms. F 47/1, Bd. 12, fol. 23r–24v (Pergener an Pellikan; 12.3.1538), hier fol. 24r.
268 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), S. 362–366; Ders., Von feindlichen
Ketzern (wie Anm. 3), S. 141 f., 156, Anm. 109–123.
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Petr Hrachovec
Fazit: ‚Reformation der langen Distanz‘: Briefwechsel – Buchtransport –
politisch-religiöse Netzwerkbildung durch Briefe und Buchlektüre
Die Lektüre in Pergeners Lesezirkel ist ein interessantes Gegenbeispiel zur These,
wonach „der Buchmarkt im 16. Jahrhundert im wesentlichen durch das Angebot
der lokalen Druckzentren bestimmt wurde“.269 Pergener sehnte sich nachgerade
nach umfangreichen lateinischen Folianten, vor allem zur Bibelexegese, und seine
‚Lebenswelt‘, in die hinein er die Reformation Züricher Prägung vermittelte, befand
sich geographisch zwischen Wittenberg und Leipzig, Lauban und Breslau und
in der nördlichen Hälfte Böhmens (zwischen Prag und Zittau vor allem im Einzugsgebiet der Iser).270 Diese ‚Lebenswelt‘ schloss Mitglieder zahlreicher Stände
ein: den böhmischen Hochadel (sicher die Herren von Krajek und von Dohna);
Pergeners Amtsgenossen, die Stadtschreiber, Bürgermeister und Ratsherren aus
Zittau und anderen deutsch- sowie tschechischsprachigen Städten; einige eher der
‚gesellschaftlichen Mitte‘ angehörende Stadtbürger, auf welche der soziale Aufstieg
erst wartete; vor allem zahlreiche Kantoren und Schulmeister; und schließlich
einige gut situierte, doch politisch kaum engagierte Bürger (Hans Bechrer, Ludwig Flössel). Auch in konfessioneller Hinsicht widersprach diese ,Lebenswelt‘
jeder klar gezeichneten Linie: Pergener heiratete in ein Familienmilieu ein, das
laut der Tradition als Motor der ‚lutherischen‘ Reformation in der Stadt funktionierte (Pergeners Schwager Lorenz Heydenreich war der ‚lutherische Reformator
Zittaus‘), auch wenn man in dieser ,Lebenswelt‘ eher eine Unterstützung Pergeners in Bezug auf die Schweizer Reformation feststellen kann (Pergeners anderer
Schwager Wenzel Lankisch d. Ä.). Sogar bedeutende Vertreter des Luthertums
wie der Wittenberger Universitätsrektor und Hebraist Matthäus Aurogallus oder
der Reformator Breslaus, Johann Heß, beteiligten sich an Pergeners Nachrichtennetzwerk. In diesem Zusammenhang müssen auch die Vertreter der böhmischen
Reformation, die adligen Mitglieder der Brüderunität sowie der hochstehende
utraquistische Kirchenpolitiker Václav Mitmánek erwähnt werden, die in der
Frühphase der Beziehungen zwischen Zürich und Zittau hinter der Anknüpfung dieser Kontakte standen. Pergeners reformatorisches Netzwerk war also
nicht nur ständisch, sondern auch sprachlich und konfessionell sehr heterogen,
d. h. Pergener versuchte eher zu einen, als konfessionell zu spalten. Dabei ist es
interessant, dass er wohl keine Kontakte zu der kleinen, vor allem zwinglianisch
269 C. Volkmar, Reform (wie Anm. 18), S. 593.
270 Diese „long-distance relationships“ waren üblich. G. Almási, Uses (wie Anm. 105), S. 70.
Schon der Faktor der Entfernung erzwang die Schriftlichkeit. K. Hitzbleck, Verflochten
(wie Anm. 63), S. 31 f.
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Die Reformation der langen Distanz
507
ausgerichteten Kirche der sog. Habrovaner in Südmähren hatte.271 Gleiches gilt
im Hinblick auf den Liegnitzer Aufenthalt Theodor Biblianders 1527–1529 bzw.
auf den täuferischen Drucker Simprecht Froschauers († nach 1536), eines Verwandten Christoph Froschauers d. Ä.272
Abschließend kann man einige Thesen zur (Zittauer) Reformation als Kommunikationsprozess formulieren: In Zittau geht es um die Reformation und
den (biblischen) Humanismus zugleich,273 vor Ort durch die institutionelle
Trias ,Universität‘, ,Dienst in der Ratsschule‘, und ,Amt in der Ratskanzlei (bzw.
direkt im Stadtrat)‘ verkörpert.274 Oswald Pergener kann man als einen ‚praktischen Humanisten‘ bezeichnen, dank seiner Verbindungen zu den Reformatoren,
seines organisatorischen Geschicks bezüglich der Vermittlung reformatorischer
Ideen sowie aufgrund seiner praktischen Tätigkeit an der Spitze der Stadtverwaltung.275 Die Zittauer Reformation zeichnet sich dabei seit ihrem Beginn durch
ihre Pluriformität in Glaubenslehre sowie frommer Praxis aus. Es gab zumindest
im 16. Jahrhundert keine ‚lutherisch-orthodoxe Engführung‘, d. h. man muss gar
keinen Widerspruch zwischen den brieflichen Kontakten zu den Zentren der
Schweizer Reformation und der Lektüre ihrer Bücher einerseits und der sehr
konservativen liturgisch-rituellen Praxis in den Zittauer Kirchen konstruieren.276
Der lutherische Pastor und Heimatkundler Moritz Oskar Sauppe vermengte
im 20. Jahrhundert in abwertender Hinsicht Pergener mit dessen Söhnen als
271 Vgl. zu ihnen und zur religiösen Lage in Südmähren um 1530 M. Rothkegel, Mährische
Sakramentierer des zweiten Viertels des 16. Jahrhunderts: Matěj Poustevník, Beneš Optát, Johann Zeising ( Jan Čížek), Jan Dubčanský ze Zdenína und die Habrovanaer (Lulčer) Brüder)
(BBA 208, BD 24), Baden-Baden/Bouxwiller 2005; W. Urban, Der Antitrinitarismus in den
Böhmischen Ländern und in der Slowakei im 16. und 17. Jahrhundert (BDSS 2), Baden-Baden
1986; J. K. Zeman, The Anabaptists and the Czech Brethern in Moravia 1526–1628. A Study
of Origins and Contacts (Studies in European History 20), Den Haag/Paris 1969.
272 Vgl. E. Egli, Analecta Reformatoria (wie Anm. 200), S. 9–14.
273 Zu solcher Verknüpfung J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 74 ff., 122 ff.,
150–161, 171, 174, 255 f., 551, 633 f.; Ders., Bedeutung (wie Anm. 104), S. 123, 127 ff.
274 Vgl. zu solcher Interpretation schon W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16); nicht so
pointiert C. A. Pescheck, Handbuch, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 451, 542, 546 ff.; ebd., Bd. 2
(wie Anm. 27), S. 777.
275 Vgl. dazu am Beispiel Stephan Roths R. Metzler, Stephan Roth (wie Anm. 17), S. 10.
276 Wie es z. B. E. A. Seeliger, Neues über Nikolaus von Dornspach (wie Anm. 43), S. 48
(1928); Ders., Zittauer Freunde (wie Anm. 4), S. 44; sowie: M. O. Sauppe, Diözese Zittau (wie Anm. 16), S. 151 f. aufgrund einer sehr schmalen Quellengrundlage (z. B. der ersten
Zittauer Kirchenordnung von 1564) taten, wobei sie eine allzu plötzliche Umkehr von der
Schweizer Reformation in der Mitte der 1560er Jahre feststellten (paradoxerweise unter dem
Bürgermeisteramt des ‚Zwinglianers‘ Cölestin Hennigs).
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508
Petr Hrachovec
deren viertem Bruder, sprach von einem nur kleinen Kreis von Zittauer Zwinglianern277 und beschrieb die Zittauer Reformation als orthodox lutherisch.278 Doch
im Unterschied zu Kursachsen gab es in Zittau keine Landeskirche mit einem
Landesherrn, der das Kirchentum seines Territoriums vereinheitlichte. Vielmehr
wurde in Zittau vieles allein vom Stadtrat entschieden, und aufgrund des fehlenden Uniformierungsdrucks von oben konnte die fromme Praxis ohne größere
Probleme wesentlich ‚synkretistischer‘ sein.279 In Zittau galt zu dieser Zeit noch
keine Gleichsetzung der Kirchengemeinschaft als Abendmahlsgemeinschaft.280
Pergener war Bekenner des zwinglianischen Abendmahlsverständnisses, doch
zugleich beteiligte er sich als Organist an der Liturgie in der Zittauer Pfarrkirche.
Die briefliche Kommunikation mit den großen schweizer und oberdeutschen
277 Vgl. M. O. Sauppe, Diözese Zittau (wie Anm. 16), S. 158 f.
278 „Von Anfang an war die Zittauische Reformation, waren Geistliche, Rat und Bürgerschaft
streng lutherisch. Sie hielten am umgeänderten [!] Augsburgischen Bekenntnis. Andere Einflüsse, wie die münzerischen und münsterischen, die schwenkfeldischen und calvinischen
wurden abgewehrt und ausgeschieden. So blieb die Gemeinde im Bekenntnis einheitlich.
Nicht einmal durch den Verkehr mit böhmischen Brüdern und Begharden, welche in Jungbunzlau und Auscha [!] sich ausgebreitet, lockerte sich die Entschiedenheit des Glaubens.
Bemerkenswert ist der briefliche Verkehr des Zittauischen Stadtschreibers Oswald Pergener
und des Schulkollegen Cölestin Hennig mit dem Züricher Reformator Heinrich Bullinger in
den Jahren 1533–1544. Pergner besaß Bullingersche Schriften. Wieweit Pergner, Hennig und
ihre Freunde dem Bullingerschen Calvinismus anhingen, ist nicht zu ersehen.“ Ebd., S. 161 f.
Auch W. Riessner, Humanismus (wie Anm. 16), S. 78 ff. erwähnt irreführende Information,
indem er behauptet, dass Pergener und Hennig vor allem mit Martin Bucer korrespondierten.
Vgl. auch ebd., S. 87 f., 91.
279 Näher dazu P. Hrachovec, Zittauer (wie Anm. 3), bes. S. 748–752; so bereits E. A. Seeliger, Neues über Nikolaus von Dornspach (wie Anm. 43), S. 1 f. (1929); J. Prochno, Reformationszeit (wie Anm. 5), S. 18 f.
280 Diese kategorische Unterscheidung vollzog gegenüber Zwingli und Bullinger schon Luther.
A. Mühling, Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik (wie Anm. 101), S. 77; Ders.,
Heinrich Bullinger (wie Anm. 101), S. 237–240; G. W. Locher, Zwinglische Reformation
(wie Anm. 9), S. 318, 330; M. Brecht, Was war Zwinglianismus? In: A. Schindler / H.
Stickelberger (Hgg.) / M. Sallmann (Mitarb.), Zürcher Reformation (wie Anm. 101),
S. 281–300, hier S. 284 f., 294 ff.; J.-A. Bernhard, Konsolidierung (wie Anm. 104), S. 186 f.;
U. B. Leu, Reformation (wie Anm. 170), S. 30 f.; P. Leemann-van Elck, Offizin Froschauer
(wie Anm. 61), S. 95, 197, Nr. 6; E. Campi, Heinrich Bullinger (wie Anm. 2), S. 26; zur Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft als politischer Gemeinschaft (z. B. einer Stadtgemeinde)
nach der Theologie Luthers vgl. T. Kaufmann, Abendmahl und Gruppenidentität in der
frühen Reformation, in: M. Ebner (Hg.), Herrenmahl und Gruppenidentität (Quaestiones
disputatae 221), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2007, S. 194–210, hier S. 195–198; H. R. Schmidt,
Das Abendmahl als soziales Sakrament, in: Traverse 9 (2002), S. 79–93, hier S. 82 f. (Luther),
83–90 (Zwingli u. a.).
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Die Reformation der langen Distanz
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Reformatoren und der damit zusammenhängende Wissenstransfer infolge der
Lektüre ihrer Bücher trugen viel zu dieser lange andauernden reformatorischen
Vielfalt in der Stadt Zittau bei.281
281 Eine solche Atmosphäre herrschte bis in die 1570er Jahre z. B. in Emden B. Kappelhoff,
Notgedrungen geduldet oder stillschweigend respektiert? Konfessionelle Minderheiten in
Emden vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: H. J. Selderhuis / J. M. J. Lange van Ravenswaay (Hgg.), Reformed Majorities in Early Modern Europe (R5AS 23), Göttingen/
Bristol, CT 2015, S. 139–171, hier S. 141 f.
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Jan Zdichynec
Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop
Beispiele aus der Oberlausitz vor und nach 1600*
[…] und mit solchenn shmehungen viel landt unndt stedte erfuellet […].1
[…] malunt autem vituperare quam sanare […].2
Einführung
Anfang 1582 schrieb Matthias Scheufler († 1593),3 Bürgermeister und Syndikus
der königlichen Sechsstadt Lauban/Lubań in der östlichen Oberlausitz, einen
umfangreichen Brief an Johannes Leisentrit (1527–1586), Domdekan in Bautzen
und Administrator der römisch-katholischen Institutionen und Gläubigen in der
inzwischen lutherisch gewordenen Diözese Meißen.4 Scheuflers schwerkranke
Tochter Dorothea († 1581), verheiratete Berndt, hatten ein Jahr vor ihrem Tod
*
1
2
3
4
Dieser Beitrag wurde realisiert im Rahmen des Forschungsprojektes der GAČR Nr. 18-01320S
„Komunikace rebelie“. České stavovské povstání a jeho následky v politice městských rad v
zemích Koruny české (1617–1623) [„Die Kommunikation der Rebellion“. Der Böhmische
Ständeaufstand und seine Folgen in der Politik der Stadträte in den Ländern der Böhmischen
Krone (1617–1623)].
DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 1r.
NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief des
katholischen Pfarrers in Königshain/Działoszyn bei Zittau, Sebastian Balthasars von Waldhausen; 1.12.1621; Original).
M. W. hat sich die Forschung bislang nicht mit Scheufler beschäftigt. Er wird nur kursorisch
als Bürgermeister im Zusammenhang mit der Gründung der Laubaner Stadtbibliothek und
mit dem hier beschriebenen Konflikt erwähnt. Vgl. detaillierter unten Anm. 37. Auch die
Sächsische Biografie enthält keinen Artikel über Scheufler. In eigenen Schriften nennt er sich
Scheuffler(us) oder Scheufler. Hier wird die zweite Variante Scheufler benutzt, die am häufigsten in der älteren Literatur zu finden ist.
Zu Leisentrit vgl. resümierend S. Seifert, Domdekan Johann Leisentrit als Apostolischer
Administrator und kaiserlicher Generalkommissar in Religionssachen, in: J. Bahlcke (Hg.),
Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Beziehungen – Strukturen – Prozesse
(QFSG 30), Stuttgart/Leipzig 2007, S. 174–190; neuerdings auch J. Bulisch, Bewahrende
Erneuerung – Johann Leisentrit und der Lausitzer Sonderweg, in: SächsHBll 63 (2017), H.
2, S. 135–146.
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512
Jan Zdichynec
erhebliche Zweifel am lutherischen Glauben geplagt, zu dem sie und ihre Familie
sich bekannten. In seinem Brief bezeichnet Scheufler das Luthertum als ‚strittige
Religion‘. Dorothea hatte sich entschlossen, ihren Kummer dem Ehemann zu
verschweigen und sich nur ihrem Vater sowie ihrem Onkel, dem Stadtschreiber
Andreas Krause, anzuvertrauen.5 Danach wandte sie sich an die Schwestern des
Laubaner Magdalenerinnenklosters und empfing dort heimlich Sakramente von
einem katholischen Priester. Sie wollte in ihren letzten Stunden keine lutherischen
Geistlichen in ihrer Nähe dulden, insbesonders nicht den Prädikanten Sigismund
Suevus/Schwabe (1526–1596). Schließlich verschied sie in Christlicher bekhend
nuss des Catholischen Glaubens und wurde nach römischem Ritus begraben. Matthias Scheufler selbst besuchte zusammen mit dem genannten Schreiber Krause
weiterhin lutherische Predigten und empfing lutherische Sakramente, blieb aber
wahrscheinlich ein geheimer Anhänger des Katholizismus und hatte unter den
‚Römischen‘ viele Freunde. Ursprünglich hatte er nicht vorgehabt, jemandem das
Seelenleiden seiner Tochter zu offenbaren. Er war jedoch der Auffassung, dass
der Pfarrer Suevus der verstorbenen Dorothea eine Predigt hätte widmen sollen,
was dieser indes nicht tun wollte, ehe ihm Scheufler über ihren Glaubenswandel detailliert berichtet hätte. Als er die Einzelheiten erfuhr, äußerte er sich sehr
abwertend: Er verdammte Scheuflers einzige geliebte Tochter öffentlich von der
Kanzel, prangerte ihren Glauben als Mamalückisch stuckh an und sprach sie dem
Teufel zu. Anstatt Scheufler zu trösten, verurteilte er ihn öffentlich, als ob er von
der wahren christlichen Religion abgefallen wäre.6
5
6
Krause heiratete Scheuflers Schwester: Nemblich, daß meine Tochter ein Jhar vor Irrem tödtlichen
Abschiedt in schwere Anfechtung der strittigen Religion halber zerfallen, solchs Irrem Ehemann
verschwiegen haben wollen, und mir als dem Vatter beineben dem Stadtschreyber irren Kummer
allein vertrauet. Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift zur Heiligen Maria Magdalena
von der Buße zu Lauban in Schlesien von 1320–1821, ed. E. Piekorz, Stuttgart/Aalen 1970,
S. 370–373, Nr. 11, hier S. 370, wobei es sich bloß um ein Konzept des Briefes an den Domdekan handeln soll, das im Bautzener Domstiftstarchiv überliefert sein sollte. Ich übernehme
hier den Wortlaut der Edition durch Paul Skobel. Die Korrespondenz Leisentrit – Scheufler
ist ziemlich umfassend, wie noch zu zeigen sein wird. Diesen Brief konnte ich aber in den bis
heute überlieferten Quellen nicht eindeutig identifizieren. Im Fall der Originalquellen werden
sie nach den üblichen deutschen Editionsregeln transkribiert. Vgl. die Richtlinien in: Historica Třeboň 1526–1547. Listy, listiny a jiné prameny k politickým dějiným zrodu habsburské
monarchie [Historica Wittingau 1526–1547. Briefe, Urkunden und andere Quellen zur politischen Geschichte der Geburt der Habsburgermonarchie], Bd. 1: Písemnosti z let 1526–1535
[Schriftstücke von 1526 bis 1535], ed. T. Sterneck (DRGBI A II/1), Praha 2010, besonders
S. 23–42.
P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 370 ff., Nr. 11,
hier S. 370; vgl. auch ebd., S. 371 f. Dabei erscheint diese Form der Geschichte als eine quasi
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Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop
513
***
Diese Studie widmet sich den sozialen Interaktionen zur Behauptung und Aufrechterhaltung der Reformation auf lokaler Ebene, und zwar am Beispiel der
Oberlausitzer Frauenklöster, welche die Einführung der lutherischen Reformation überstanden hatten. Konkrete Themen ergeben sich aus dem konfessionellen Druck und den – erzwungenen wie freiwilligen – Glaubenswandel; zu den
daraus resultierenden Konflikten sind interessante und im Rahmen der Länder
der Böhmischen Krone ziemlich außergewöhnliche Quellen überliefert.
Das Markgraftum Oberlausitz befindet sich im Dreieck zwischen Deutschland,
Tschechien und Polen, eine auch für die Forschung sehr günstige geographische
Lage. Am Beispiel der Oberlausitz kann man viele Phänomene der Konfessionalisierung beobachten, die zwar auch vom ‚deutschen Luthertum‘ mitverursacht wurden, die sich jedoch zugleich in dem vom Heiligen Römischen Reich
abweichenden staatsrechtlichen Rahmen der Böhmischen Krone formten. In
dieser Region galt cuius regio, eius religio ebenso wenig wie die (ältere) Tradition der böhmischen Reformation. Die hiesige Lage widersteht also den aus der
Geschichte des Reiches und Böhmens bekannten Erklärungsmustern.7 Vor allem
kann aufgrund der beiden im Folgenden analysierten Beispiele die Grenzen des
‚Konfessionellen‘ im Alltag anschaulich ausgelotet werden; sichtbar werden die
konfessionellen Ab- und Ausgrenzungen und die innerkonfessionelle Autonomie
ebenso wie bisweilen der Widerstand gegen die durch die Obrigkeiten gesetzten
konfessionellen Normen.
Die einschlägige tschechische Forschung zur vorliegenden Fragestellung ist
nicht besonders reichhaltig. Von den tschechischen Forschern widmeten sich
7
‚kanonische‘ Erzählung in allen Abhandlungen über die Laubaner Klostergeschichte, die in
dieser Gestalt auch in der letzten ‚Klosterbiografie‘ geschildert wurde. Vgl. P. Stefaniak, Na
chwałe Trójcy Świętej. Dzieje klasztoru sióstr świętej Marii Magdaleny od pokuty w Lubaniu
1320–2010 [Zum Lob der Heiligen Dreifaltigkeit. Die Geschichte des Klosters der Schwestern der heiligen Maria Magdalena von der Buße in Lauban 1320–2010], Kraków 2011, S. 45.
Zu kirchlichen Verhältnissen in einzelnen Ländern der Böhmischen Krone vgl. den deutsch-polnisch-tschechischen Sammelband L. Bobková / J. Konvičná (Hgg.), Náboženský život a
církevní poměry v zemích Koruny české ve 14.–17. století [Das religiöse Leben und kirchliche
Verhältnisse in den Ländern der Böhmischen Krone (14.–17. Jahrhundert)] (KZ 4), Praha
2009; zu den Spezifika der Oberlausitz vgl. auch L.-A. Dannenberg / D. Scholze (Hgg.),
Stätten und Stationen religiösen Wirkens. Studien zur Kirchengeschichte der zweisprachigen
Oberlausitz (SSI 48), Bautzen 2009; zur Reformation auf dem Land (jedoch eher aufgrund
älterer Literatur) vgl. L.-A. Dannenberg, Reformation auf dem Land. Der Oberlausitzer
Adel und die lutherische Lehre, in: H.-D. Heimann / K. Neitmann / U. Tresp (Hgg.),
Die Nieder- und Oberlausitz. Konturen einer Integrationslandschaft (SBVL 12), Bd. 2: Frühe
Neuzeit, Berlin 2014, S. 55–90.
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Jan Zdichynec
dem Thema des konfessionellen Wandels im Mikrokosmos der Städte und adligen Grundherrschaften vor allem Josef Hrdlička8 und Josef Kadeřábek.9
Radmila Prchal Pavlíčková,10 Marie Ryantová11 und Thomas Winkelbauer12 fokussierten eher auf die konkreten Beispiele der Konversionen, die sog.
Konversionsberichte und auf die konfessionelle Homiletik. Petr Hrachovec
schildert in seinem jüngst erschienenen Buch das religiöse Zusammenleben im
16. Jahrhundert in Zittau, einer weiteren königlichen Stadt in der Oberlausitz.13
Der Autor der vorliegenden Studie machte schon auf verschiedene Facetten
des konfessionellen Nebeneinanders in den Klosterherrschaften aufmerksam.14
8 Vgl. vor allem J. Hrdlička, Víra a moc. Politika, komunikace a protireformace v předmoderním městě ( Jindřichův Hradec 1590–1630) [Glaube und Macht. Politik, Kommunikation und Gegenreformation in vormoderner Stadt (Neuhaus 1590–1630)] (MH 14), České
Budějovice 2013; Ders., Public Expressions of Religious Transformation in Moravian Towns
(1550–1618), in: K. Horníčková (Hg.), Faces of Community in Central European Towns.
Images, Symbols, and Performances, 1400–1700, Lanham/Boulder/New York/London 2018,
S. 211–228.
9 Vgl. J. Kadeřábek, Nerovný boj o víru: páni z Martinic a rekatolizace města Slaný (1600–
1665) [Ein ungleicher Kampf um den Glauben: die Herren von Martinitz und die Rekatholisierung der Stadt Schlan (1600–1665)], Praha 2018; Ders., Unity, confession, power. Symbolic communication in the town of Slaný in the 17th century, in: Město a dějiny/The City
and History 6 (2017), S. 6–16; J. Hrdlička / Ders., Individuální prvky administrativního
tlaku na konverze měšťanů českých měst ve dvacátých letech 17. století [Individuelle Elemente
des administrativen Drucks auf Konversionen der Bürger in böhmischen Städten der 1620er
Jahre], in: FHB 27 (2012), S. 71–98.
10 Vgl. R. Prchal Pavlíčková, Smrt konvertity. Zprávy o dobré a špatné smrti v konfesním
kontextu [Der Tod eines Konvertiten. Die Berichte über den guten und schlechten Tod im
konfessionellen Kontext], in: HOP 11 (2019), H. 2, S. 63–80, darin wird auch Dekan Leisentrit
und sein Werk berücksichtigt. Vgl. Dies., „Unter den Ketzern zu leben und zu sterben ist gar
schwerlich und geferlich.“ Das Sterbebuch des Johann Leisentritt im Kontext der katholischen
Sterbebücher des 16. Jahrhunderts, in: ARG 107 (2016), S. 193–216.
11 Als Beispiel aller ihrer Studien vgl. den Aufsatz M. Ryantová, Der Konvertit und Exulant
Jiří Holík und seine antikatholischen Schriften, in: AC 25/49 (2011), S. 199–219.
12 Zu adligen Konversionen vgl. T. Winkelbauer, Konfese a konverze. Šlechtické proměny
vyznání v českých a rakouských zemích od sklonku 16. do poloviny 17. století [Konfession
und Konversion. Der Wandel des Bekentnisses beim Adel in den böhmischen und österreichischen Ländern vom ausgehenden 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts], in: ČČH 98 (2000),
S. 476–540; dazu seine Synthese Ders., Österreichische Geschichte, T. 2: 1522–1699. Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen
Zeitalter, 2 Bde., Wien 2003.
13 Vgl. P. Hrachovec, Die Zittauer und ihre Kirchen (1300–1600). Zum Wandel religiöser
Stiftungen während der Reformation (SSGV 61), Leipzig 2019.
14 Vgl. J. Zdichynec, „Vim vi pellere licet …“? Vývoj konfesních poměrů na farnostech hornolužických ženských klášterů v průběhu 17. století [… Der Wandel der konfessionellen Verhältnisse
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Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop
515
Darüber hinaus widmeten sich tschechische ebenso wie deutsche Forscher auch
generell dem Thema der konfessionellen Gewalt.15
Relevant ist auch die allgemeinere deutsche sowie zum Teil auch angelsächsische und französische Sekundärliteratur, wobei hier vor allem die Verhältnisse
im Heiligen Römischen Reich untersucht wurden, ohne auf die Lage unter der
Böhmischen oder Polnischen Krone einzugehen.16 Inspirierend ist z. B. die Studie von Frauke Volkland, die sich auf der mikrohistorischen Ebene bewegt
und die Konversion als Beispiel eines sozialen Dramas analysiert.17 Wichtig
sind hauptsächlich ihre Erwägungen über Möglichkeiten zur Übertragung
konfessioneller Identitäten auf die bäuerliche Gesellschaft. Ähnlich scheint
sich die Lage bezüglich der Festigung bzw. eher des Wandels des konfessionellen Selbstverständnisses für Sachsen und Brandenburg entwickelt zu haben.18
Die sog. Simultankirchen untersuchte neuerdings z. B. Daniela Hacke,19 die
15
16
17
18
19
in den Pfarreien der Oberlausitzer Frauenklöster im Lauf des 17. Jahrhunderts], in: I. Čornejová / H. Kuchařová / K. Valentová (Hgg.), Locus pietatis et vitae. Sborník příspěvků
z konference konané v Hejnicích ve dnech 13.–15. září 2007 [… Tagungsband zur Konferenz
in Haindorf, 13.–15. September 2007], Praha 2008, S. 351–391. Auf diesem Aufsatz beruht
zum Teil auch die vorliegende Studie. Vgl. dazu auch J. Zdichynec, Die konfessionelle Zeit
in den oberlausitzischen Frauenklöstern. Krise und Erneuerung des monastischen Lebens in
der bikonfessionellen Oberlausitz, in: P. Knüvener (Hg.), Epitaphien, Netzwerke, Reformation. Zittau und die Oberlausitz im konfessionellen Zeitalter. Mit einem Bestandskatalog
der Zittauer Epitaphien, Zittau 2018, S. 45–52.
Vgl. J. Bahlcke / K. Bobková-Valentová / J. Mikulec (Hgg.), Religious Violence,
Confessional Conflicts and Models for Violence Prevention in Central Europe (15th–18th
Centuries), Praha/Stuttgart 2017, hier vor allem für den vergleichenden theologischen Kontext sowie die ältere Phase der Frühen Neuzeit W. Eberhard, Religionskonflikte – Gewalt
in der Religion in der Frühneuzeit. Ideelle und historische Voraussetzungen – zeittypische
Zuspitzungen, in: ebd., S. 15–36.
Vgl. eine Neuerscheinung über vergleichende Zugänge zur konfessionellen Problematik in Ostmitteleuropa von G. Wąs / L. Harc (Hgg.), Reformacja: Między ideą a realizacją. Aspekty
europejskie, polskie, śląskie [Reformation: zwischen Idee und ihrer Umsetzung. Europäische,
polnische und schlesische Aspekte], Kraków 2019.
Vgl. F. Volkland, Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert (VMPIG 210), Göttingen 2005.
Vgl. vor allem die Studien in A. Stegmann, Die brandenburgische Kirchenordnung von 1540,
in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.), Reformationen vor Ort. Christlicher
Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (SBVL
20), Berlin 2017, S. 235–288; S. Zinsmeyer, Von „halsstarrigen papistischen“ Jungfrauen
und solchen, die sich „christlich“ verhielten. Klosterordnungen weiblicher Gemeinschaften
in der Reformationszeit, in: ebd., S. 312–323.
Vgl. D. Hacke, Konfession und Kommunikation. Religiöse Koexistenz und Politik in der
Alten Eidgenossenschaft – Die Grafschaft Baden 1531–1712, Köln/Weimar/Wien 2017.
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Jan Zdichynec
Konversionen Heike Bock.20 Für die Konfessionalität im Hinblick auf den Tod
und die ars moriendi kann man als Vergleichsstudien die Arbeiten von Claudia
Resch oder Luise Schottroff heranziehen.21 Berücksichtigen muss man in
diesem Kontext auch die Wallfahrten, Religionsdisputationen oder den Wandel
der konfessionellen Identitäten.22 Die Konversionen wurden auch im breiteren
interdisziplinären Rahmen unter Anwendung psychologischer oder literaturhistorischer Ansätze untersucht.23 Die Konversion als ein zeitloses Phänomenon
und zugleich als ein individuelles Erlebnis (und ihre Stilisierung) analysiert eine
andere interdisziplinäre Gemeinschaftsarbeit.24 Für die vorliegende Studie ist
hauptsächlich die Wahrnehmung der Konversion als eines Feldes wichtig, wo –
trotz der Bedeutung vorgegebener Handlungsrahmen und -muster – individuelle
Erfahrung hervortreten kann; ebenfalls bedeutsam ist die Analyse eines Alltags
in einem mehrkonfessionellen Milieu, wo die Ab- und Ausgrenzung einzelner
konfessioneller Akteure oft durch verbale und physische Gewalt ausgedrückt wird.
Stadt und Kloster: der Fall Matthias Scheufler
[…] des pfarners unaufhörrlichs schandtgeshrey unndt diffamation25,
oder Scheuflers unmenschlich wüten?26
Eingangs wurde der Brief Matthias Scheuflers an Johannes Leisentrit in der Interpretation des katholischen Geistlichen und Heimathistorikers Paul Skobel
20 Vgl. H. Bock, Konversionen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Zürich und Luzern
im konfessionellen Vergleich (FF 14), Epfendorf/Neckar 2009.
21 Vgl. C. Resch, Trost im Angesicht des Todes. Frühe reformatorische Anleitungen zur Seelsorge an Kranken und Sterbenden (PiLi 15), Tübingen/Basel 2006; L. Schottroff, Die
Bereitung zum Sterben. Studien zu den frühen reformatorischen Sterbebüchern (R5AS 5),
Göttingen 2012.
22 Vgl. als eine ältere, doch nicht veraltete Analyse E. François, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806 (AGA 33), Sigmaringen 1991.
23 Vgl. N. Brucker (Hg.), La conversion. Expérience spirituelle, expression littéraire (RELS 8),
Bern 2005; J. N. Bremmer / W. J. van Bekkum / A. L. Molendijk (Hgg.), Paradigms,
poetics and politics of conversion (GSCC 19), Leuven 2006, mit Schwerpunkten auf der
sprachlichen Analyse und der Epoche des Mittelalters.
24 Vgl. B. Bakhouche / I. Fabre / V. Fortier (Hgg.), Dynamiques de conversion: modèles
et résistances. Approches interdisciplinaires (BEHE 155), Turnhout 2012.
25 DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 1r.
26 APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2251 (Chronik Hofkuntz), S. 103.
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(1878–1952) vorgestellt, der unter anderem auch das Archiv der Laubaner Magdalenerinnen ordnete. Skobel führte diese Geschichte fort: Trotz aller Bitten
und trotz der Tatsache, dass Scheufler vor den Laubaner Stadtrat erschienen war,
um alles zu klären, habe das ‚erbarmungslose Toben‘ des lutherischen Pastors
Suevus nicht nachgelassen. Die Nachricht von Dorotheas Konversion habe sich
in der ganzen Stadt und in ihrer Umgebung verbreitet. Scheufler habe begonnen,
sich mit der katholischen Sakramentslehre zu befassen und er sei zu dem Schluss
gekommen, dass die Art und Weise, wie diese in lutherischen Texten, besonders
in den „Magdeburger Centurien“, als bloße Äußerlichkeit und hässlicher Flecken
beschrieben wird, mangelhaft sei – und dass sie seiner Tochter ebenso wenig schade
wie sie den rechtgläubigen Kirchenvätern Augustinus (354–430) und Hieronymus
(347–420) geschadet habe. Die katholische Lehre, so Scheufler, sei kontinuierlich
seit den apostolischen Zeiten bis in seine Gegenwart makellos tradiert worden,
wobei demgegenüber Martin Luther (1483–1546), Jean Calvin (1509–1564) und
deren Nachfolger von der katholischen Kirche abgefallen seien. Sie hätten die
Augsburger Konfession (1530) gefälscht und sie durch Arianismus, Ubiquitismus, Nestorianismus und Gott weiß noch mit welchen weiteren Häresien besudelt.27 Dem Kontext dieses Briefes kann zudem entnommen werden, dass sich
damals wegen Dorotheas Konversion auch ihre Mutter quälte – und Scheufler
war imstande, Argumente zu sammeln, mit denen er sie beruhigte. Scheufler bat
Leisentrit verzweifelt um Schutz gegen die weiteren Übergriffe gegenüber den
Katholiken seitens des Laubaner Stadtrats, der Prädikanten und des örtlichen
‚Pöbels‘, doch vergeblich. Scheufler, der schließlich auch zu seiner sterbenden
Frau einen katholischen Priester holen ließ, musste sein Amt des Bürgermeisters aufgeben und sein Haus wurde vom ‚Pöbel‘ – so der katholische Geistliche
Skobel – geplündert. Schließlich verließ er Lauban und ging ins schlesische
Liebenthal/Lubomierz, wo ihm die dortigen Benediktinerinnen das Amt des
Klostersyndikus anvertrauten. Schließlich landete Scheufler in den Diensten des
Bischofs Andreas von Jerin (1540/41–1596, reg. ab 1585) von Breslau/Wrocław.
Danach kehrte er im hohen Alter nach Lauban zurück. Katholischen Historikern zufolge wurde er durch den grausamen Suevus und den Laubaner ‚Pöbel‘
zu Tode gehetzt. Nach Auffassung der protestantischen Autoren wiederum war
er ein unnachgiebiger Apostat und Rebell. In Lauban starb er am 1. März 1593,
„fast in einem viehischen Zustand“,28 und er wurde bei der südlichen Wand des
Klosters begraben – soweit der katholische Blickwinkel.
27 Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 370–373,
Nr. 11.
28 J. G. Gründer, Chronik der Stadt Lauban, Lauban 1846, S. 152.
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Jan Zdichynec
Noch im 19. und 20. Jahrhundert schied sich an der ‚Affäre Scheufler‘ die
katholische und protestantische Deutung der Geschichte Laubans. Ganz anders
als Skobel beschrieb sie der protestantische Laubaner Historiker und Pastor bei
der dortigen Frauenkirche Karl Gottlieb Müller († 1818), der anlässlich des
200jährigen Reformationsjubiläums die „Kirchengeschichte der Stadt Lauban“
verfasste.29 Müller schrieb die Stadtgeschichte gemäß einer Reihe von katholischen und später lutherischen Pfarrer, Pastoren und Diakonen. So ist die von
ihm geschilderte Geschichte hauptsächlich mit dem eingangs erwähnten Pastor
Sigismund Suevus verbunden, einem recht bedeutenden Mathematiker und evangelischen Theologen, der gleichfalls Musiker und Poet war und zudem viele Werke
verschiedener Gattungen herausgab.30 Suevus „wurde auch bald in mancherlei
Streitigkeiten verwickelt, die ihm großen Kummer verursachten“; andererseits
soll er – im Gegensatz zu Skobels Deutung – unter den lutherischen Bürgern
sehr beliebt gewesen sein. Müller berichtet allerdings ebenfalls, dass der Pfarrer
kein öffentliches Begräbnis eines an Trunksucht gestorbenen Jungen erlaubt habe.31
Nach einer Zwischenstation trat er Anfang Januar 1578 erneut das Pastorenamt in
Lauban an. Die angeblich bestehende Einigkeit zwischen den konfessionellen Parteien wurde dann im Dezember 1581 unterbrochen: im Zusammenhang mit dem
Bürgermeister Scheufler und dem Stadtschreiber Andreas Krause. Die Schuld an
der großen Unruhe und Erbitterung schreibt Müller – übrigens im Einklang mit
den frühneuzeitlichen Stadtchronisten – den hiesigen ‚Krypto-Katholiken‘ und
den Klosterjungfrauen zu, die zur erkrankten Dorothea Berndt gerufen wurden.
Scheufler und Krause hätten sich noch eine lange Zeit zur evangelischen Lehre offiziel bekannt, waren aber, so Müller, „im Geheimen immer Freunde und Anhänger
29 Vgl. K. G. Müller, Kirchengeschichte der Stadt Lauban von der Mitte des zehnten Jahrhunderts an bis mit der dritten Jubelfeier der Reformation im Jahr 1817, Görlitz 1818, S. 189 ff. Die
protestantische Überlieferung stützt sich auf frühneuzeitliche Laubaner Chroniken, außer in
der schon zitierten Chronik Hofkuntz (wie Anm. 26) ist der Streit detailliert beschrieben bei
C. Wiesner, Annales Lauban […], SLUB Dresden, Mscr. a 77, fol. 117 v–121 v.
30 Vgl. Schwabe, Sigismund, CERL Thesaurus, https://data.cerl.org/thesaurus/cnp01875537 (letzter Zugriff am 21.6.2020); weiter C. F. D. Erdmann, Suevus, Siegmund, in: ADB 37 (1894),
S. 129–135, online-Version: https://www.deutsche-biographie.de/pnd124639240.html#adbcontent (letzter Zugriff am 21.6.2020). Suevus wird als ein Schüler Philipp Melanchthons
(1497–1560), Prediger in Lauban und Breslauer Geistlicher beschrieben. Allgemein bekannt
ist seine Schrift: Arithmetica Historica […], Breslau: Georg Baumann d. J. / Andreas Wolcke
1593 (VD16 S 4523), die als eine Vorbereitung auf das Jüngste Gericht durch Bibelunterricht
und Arithmetikkenntnis konzipiert ist. Er verfasste auch viele theologische Schriften, Trostpredigten oder Beschreibungen der (evangelischen) Wallfahrt zum (Görlitzer) Heiligen Grab
usw.
31 K. G. Müller, Kirchengeschichte (wie Anm. 29), S. 189.
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des Katholicismus geblieben und hatten Mehrere von ihren Freunden, als auch
die gedachte Berndt dazu zu bereden gesucht“.32 Nun sei jedoch die Wahrheit
aufgedeckt worden, worauf sie durch ihre angeblichen Vorwürfe versucht hätten,
Zweifel an der Rechtgläubigkeit von Suevus zu wecken, um dadurch von ihrer
Zugehörigkeit zur katholischen Kirche abzulenken. Gerade deshalb soll Suevus
diese ‚harte‘ Predigt gegen Scheufler und seine Tochter gehalten haben; und zwar
am Tag, an welchem sie nach katholischem Brauch beerdigt wurde: „Er that dies
aber, nach allen nachrichten, mit der größten bescheidenheit“, wobei er die Zuhörer aufgefordert haben soll, „dass sie an diesem Beispiele kein Aergerniß nehmen,
und sich nicht auch zum Abfall verleiten lassen, sondern der einmal erkannten
und bekannten Wahrheit des Evangeliums treu bleiben sollten“.33
Allen Versuchen der Protestanten und des Magistrats zum Trotz war die Beilegung dieses Streites unmöglich, was die Lage in der Stadt sehr destabilisierte, wo
es seit den 1520er Jahren mehrfach zu Versuchen gekommen war, verschiedene
Verträge über die religiösen und kirchlichen Verhältnisse zwischen dem Kloster
und der Stadt zu vereinbaren.34 Man sprach über die durch Scheufler und Krause
organisierten ‚geheimen Zusammenkünfte‘. Die Klagen beider Seiten nahmen zu.
Am 15. Februar 1582 reichte Scheufler eine Schrift unter dem Titel „Auf etlche
[!] Ev. Predigten vom Abfall Antwort und Erklärung Mathes Scheuflers“ ein.35 In
den Streit zog er den Bautzener Domdekan Leisentrit hinein. Dessen Verwicklung
spiegelt zugleich die besondere Lage im Markgraftum Oberlausitz wider: Ausgerechnet der katholische Administrator sollte die religiösen Streitigkeiten zwischen
Lutheranern und Katholiken in einer königlichen Stadt erledigen. Er war nämlich
immer noch die höchste kirchliche Instanz im Land, weil eine eigene lutherische
Landeskirche in der Oberlausitz aufgrund der spezifischen politischen Verhältnisse (konkret der Zugehörigkeit zur Böhmischen Krone) noch nicht entstanden war. Auch Kaiser Rudolf II. (1576–1611/12) mischte sich in den Streit ein.36
32 Ebd., S. 191.
33 Ebd., S. 191 f.
34 Vgl. dazu schon J. B. Carpzov, Neueröffneter Ehren=Tempel Merckwürdiger Antiquitäten
des Marggraffthums Ober=Lausitz […], Leipzig/Budißin: David Richter / Andreas Zeidler
1719. In den modernen Studien zur Reformation in der Oberlausitz wird Lauban eher übersehen, z. B. im Vergleich zu Görlitz vgl. C. Speer, Frömmigkeit und Politik. Städtische Eliten
in Görlitz zwischen 1300 und 1550 (HAB 8), Berlin 2011.
35 Diese Schrift erwähne ich nach K. G. Müller, Kirchengeschichte (wie Anm. 29), S. 193,
nach welchem auch alle späteren protestantischen Autoren diese Geschichte schildern. Leider
war die Schrift nicht auffindbar; inhaltlich nahe steht sie aber den Quellen, die weiter unten
untersucht werden. Vgl. vor allem Anm. 49.
36 Vgl. S. Seifert, Domdekan (wie Anm. 4); K. Blaschke / Ders., Reformation und
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Jan Zdichynec
Die Schilderung Müllers stützte sich auf die älteren Laubaner Chroniken, die
Scheufler aus einer pointiert lutherischen Perspektive als ‚wütenden, unmenschlichen‘ Mann bezeichnen. Dieses ‚protestantische‘ Bild wiederholt sich auch bei
den Autoren des 19. Jahrhunderts.37 Problematisch ist, dass keiner dieser Autoren die Quellen genauer zitiert. Skobel, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg
sein Werk abschloss, stützte sich offensichtlich auf die Quellen des Bautzener
Domstiftsarchivs, die noch heute fast komplett überliefert sind;38 Müller und
seine protestantischen Nachfolger dagegen griffen auf die Quellen des Laubaner
Ratsarchivs zurück, die heute weit verstreut sind.
Eines der Ziele dieser Studie ist, die Sicht der älteren Literatur aufgrund unedierter Quellen zu revidieren, obwohl dies aus Platzgründen nur zum Teil möglich
ist. Zum Fall Scheufler sind nämlich bis heute zahlreiche Quellen überliefert, vor
allem aus dem Magdalenerinnenkloster Lauban; zurzeit werden sie in mehreren
Archiven aufbewahrt, besonders in Breslau und Bautzen. An dieser Stelle werden
zugleich die Quellen aus Lauban (Kloster und Stadt) berücksichtigt, die sich heute
aufgrund der Kriegs- und Nachkriegsereignisse im Erzdiözesanarchiv Breslau
befinden, welches der heutigen Forschung meist unbekannt ist.39 Dazu kommt
noch eine Aktenmappe im Staatsarchiv Breslau, Abteilung Bunzlau/Bolesławiec.40
Zur Verfügung steht hier vor allem der Briefwechsel zwischen Scheufler und Leisentrit. Besonders aussagekräftig für die vorliegende Untersuchung ist schließlich
37
38
39
40
Konfessionalisierung in der Oberlausitz, in: J. Bahlcke / V. Dudeck (Hgg.), Welt – Macht –
Geist. Das Haus Habsburg und die Oberlausitz 1526–1635, Görlitz/Zittau 2002, S. 121–128;
H. Manno, Die Reformation in der Oberlausitz, in: Wegmarken der Oberlausitzer Kirchengeschichte (Studien zur Oberlausitzer Kirchengeschichte 1), hrsg. vom Verein für Schlesische
Kirchengeschichte, Mainz-Gonsenheim 1994, S. 1–10.
Vgl. J. G. Gründer, Chronik (wie Anm. 28), S. 152; G. F. Otto, Lexikon der seit dem funfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und jeztlebenden Oberlausizischen Schriftsteller und
Künstler […], 3 Bde., Görlitz 1800–1803, ND (4 Bde.), Neustadt/Aisch 2000/01, hier Bd. 1,
S. 1. Scheufler wird meistens im Kontext der Anfänge der Laubaner Stadtbibliothek im Jahr
1569 erwähnt. Vgl. dazu Das Andencken des Ursprungs, und des Wachsthums der offentlichen Bibliothek in Lauban […] Lauban: s. i. 1748; URN: urn:nbn:de:gbv:3:1-155130 (letzter
Zugriff am 21.6.2020). Es ist interessant, dass sich Scheufler damals gemeinsam mit seinem
späteren Gegner, dem Pastor Suevus, an der Verbesserung des Zustandes der Laubaner Bibliothek beteiligte.
Vgl. DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis
Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), neue Paginierung.
Vgl. wenigstens viele Briefe in: AAW, Sign. V C 7 p) (Aktenmappe: Alte Schriften betreffend
das Kloster der Magdalenerinnen in Lauban, 1565–1589).
Vgl. mindestens APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Sign. 2853 (Mappe: Pastorat bey der
Haupt- und Pfarrkirche zu Lauban dessen Besetzung, 1558–1678).
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ein handschriftliches, deutsch-lateinisches Glaubensbekenntnis Scheuflers im
Bautzener Domstiftsarchiv.41
Die protestantische Deutung der Causa Scheufler lässt sich gut auf Grundlage der
Laubaner Chronistik rekonstruieren. Die Chronisten scheinen sehr gut informiert
gewesen zu sein. So führte z. B. der Laubaner Syndikus Georg Hofkuntz/Hiffguns
einen Brief des Rates an den Domdekan Leisentritt an, der neben der Bestellung
eines Predigers zur Laubaner Stadtkirche auch die Causa Scheufler behandelt und
in den Herbst 1584 datiert ist.42 Man kann dadurch auch die Kommunikationsformen zwischen der lutherischen Stadt Lauban und der katholischen Administratur in Bautzen eindrücklich erkennen. So wurde in diesem Zusammenhang ein
Stadtbote, der die Sache mündlich erledigte, erwähnt und daneben auch ein Brief
Scheuflers. In diesem Zusammenhang führen die Ratsherren wiederholte Klagen
Scheuflers nach Bautzen an. Er hätte, so die Ratsmänner wieder sein pflicht, so er
dem veterlandt shuldig, wieder den eidt, so er alss gewesener burg[er]m[eister] der statt
gethan […] wieder gemeinen stat und des vaterlandts sachen und wolfart handeln.43
Die Stadt könne zu keiner Ruhe kommen, bis Scheufler mit seinen Handlungen
aufhöre. Der Rat forderte deshalb vom Domdekan, dass die gemeine stadt, bei den
friedt unnd concordien, auch freiem excertitio religionis, wie wir got lob biß dahero
ab anno 1525 post reformatam religionem einsam vorblieben, auch hinfuro dabey
erhalten, und also dem fried nahrung helffen.44 Dagegen tobe Scheufler unmenschlich aus seinem unversehnlichen haß und neidt.45 Seine Rachgier war, dem Brief des
Rats bzw. Hofkuntz zufolge, das größte Hindernis für den religiösen Frieden in der
Stadt. Der Dekan könne sehen, wie einfach es sei, die Stadt und das Ratsregiment
unruhig zu machen.46 Interessant ist gleichfalls, dass die Laubaner Lutheraner ihre
Boten sogar nach Frankfurt an der Oder und nicht nach Leipzig oder Wittenberg
41 Vgl. DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis
Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), neue Paginierung.
42 Vgl. APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2251 (Chronik Hofkuntz), S. 103–106. Diese
Chronik, die eigentlich einem Tagebuch ähnelt, beschreibt den Verlauf der 1580er Jahre am
ausführlichsten.
43 Ebd., S. 103.
44 Ebd., S. 104. Der Hinweis des Rates auf die Einführung der Reformation in der Stadt schon
im Jahr 1525 entspricht nicht vollkommen den Tatsachen. Die kirchlichen Zustände in Lauban gestalteten sich eigentlich noch am Ende des 16. Jahrhunderts sehr dynamisch und es gab
immer noch Katholiken in der Stadt. Vgl. J. G. Müller, Versuch einer Oberlausitzischen
Reformazionsgeschichte, Görlitz 1801, S. 417; vgl. auch die Edition des Vertrags über das
faktische Simultaneum in Lauban (1584) in: P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed.
E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 367, Nr. 9.
45 Vgl. APWr. Bolesławiec, Nr. 150 (AML), Ms. 2251 (Chronik Hofkuntz), S. 105.
46 Ebd.
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Jan Zdichynec
abfertigten, wobei viele Laubaner eben in Frankfurt studiert hatten bzw. dort tätig
waren,47 um die Angelegenheit mit verschiedenen Autoritäten zu besprechen.
Die Frankfurter Universität in Person von Dr. Johannes Knobloch/Cnoblochius
(1520–1599) sowie des kurfürstlichen Rates und Kanzlers zu Küstrin/Kostrzyn
nad Odrą Dr. Adrianus Albinus (1513–1590), eines gebürtigen Laubaners, unterstützten die Laubaner mit theologischen Argumentationen, wobei sie ihnen auch
die Berufung eines neuen lutherischen Pastors empfahlen.
Die Hauptquelle für die Causa Scheufler ist jedoch sein mehr oder weniger
stilisiertes Glaubensbekenntnis.48 Die zum Teil beschädigte Handschrift umfasst
heute 58 Blätter. Sie beginnt mit einem Brief Scheuflers an Leisentrit, der sehr
ähnlich, doch nicht identisch mit dem Brief ist, den Skobel analysierte.49 Darin
berichtete er über die shwere[n] anfechtungen seiner seligen tochter.50 Dorothea soll
Pfarrer Suevus um einen gründlichen bericht von seinen theologischen Büchern
ersucht haben. Suevus habe ihr dies aber abgeschlagen und:
uns ohn allen beweis des abfalls von warer religion offendtlich beshueldet unndt mit solchenn shme
huengen viel landt unndt stedte erfuellet, als er auch seiner shmehuengen einen gruendt vorm stadt
unndt den geshwernen anzeigen sollenn, das er keinen andern gruendt gehabt, dan das ubergebene
dubium, welches (wie alle verstendige davon judiciren) seiner bezicht ex diametro stracks zuwieder ist.51
Er habe Verhör und Unterredung abgelehnt und Scheufler mit einem Geschrei
verfolgt. Es habe:
des pfarners unaufhörrlichs schandtgeshrey unndt diffamation, dadurch er uns aus der kirchenn
geiagt unndt verstossen, mir ursach gegebenn, meiner tochter anfechtungen ferner nachzudencken,
die neue concordiam vor die handt zue nemben unnd was andere theologen, so nicht subscribiren
wollennt, davon ertheilenn zu erkundigenn.52
47 J. Zdichynec, Frühneuzeitliche Laubaner Geschichtsschreibung und das Land der Sechsstädte, in: T. Binder (Hg.), 666 Jahre Sechsstädtebund (Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Kamenz 1), Görlitz/Zittau, 2012, S. 101–127.
48 Vgl. DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis
Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), neue Paginierung.
49 Vgl. oben vor allem Anm. 5 und 27.
50 DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 1r f.
51 Ebd., fol. 2r.
52 Ebd., fol. 1r.
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Die Invektiven Suevus’ hätten also Scheufler dazu veranlasst, die wichtigsten theologischen Schriften zu studieren. Er habe bald festgestellt, dass sie mit mancher
ley irthumb, sonderlich mit den Gottes lesterlichen ketzereien des Eutychitis unndt
Nestorii beshuldiget wuerde.53 Scheufler kannte sich augenscheinlich gut in den
alten Schismen aus – er war wie erwähnt sehr gebildet –54 und habe sich darüber
verstuerzet gefühlt.55 Er wollte aber nicht von der wahren christlichen Religion
abfallen, sondern es plagte ihn die Frage der Seligkeit; zudem habe er festgestellt,
dass der Pfarrer ihn vor Gott und Welt zu Unrecht verurteile. Scheufler beschrieb
dann sehr detailliert, wie er sich dem Wort Gottes sowie den Schriften der Heiligen Propheten, der Apostel und der Evangelisten zuwandte. Eine besondere
Autorität war für ihn der heilige Augustinus und die alten ortodoxen Theologen,
nicht die heutigen, weil sie einander so feindlich verdammen, unndt der sachen
vielleicht nimmer mehr einig werden können […] weil kein furtrefflicher Lehrer in
der gantzen Christenheitt koentte genennet werden, als der h[eilige] Augustinus.56
Vielleicht ist es zu gewagt, darin den Einfluss der Magdalenerinnen, die der
Augustinusregel folgten, zu sehen. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass Scheufler selbstständig imstande gewesen wäre, solche theologischen Schlüsse zu ziehen.
Vehement lehnte er die Beschuldigung als ‚Mameluck‘ durch Suevus ab; der hätte
niemals erger gewuettet unndt getobet geshendet unndt geshmehett auch der leuten
verboten, mit uns gemeinschafft zu haben.57 Er hätte dies auch seiner kranken Frau
unter dem Eindruck des grausamen und unmenschlichen Handelns Suevus’ vor
deren Tod erklärt. Scheufler selbst fühlte sich gleichfalls nicht mehr seines Lebens
sicher. Der Pfarrer war für ihn kein Christ, sondern ein Unchrist, und an uns ein
mörder und verleumbder […, er, Anm. J. Z.] hette auch alle benachbarte pfarner
zue mitthellffern an sich gezogenn.58 Gegen diese protestantischen Geistlichen
bezog Scheufler den Pfarrer aus Katholisch Hennersdorf/Henryków Lubański,
der zum Kloster gehörigen Pfarrei, ein, dem er sein Bekentnis vorlegte. Diesen
habe er um Absolution und Kommunion gebeten und ihn zugleich zu seinem
Seelsorger erwählt. Man kann also diese Schrift als einen klaren (obwohl wohl
stilisierten) Beweis einer durchdachten und durchlebten Konversion auffassen.
53 Ebd.
54 Nach G. F. Otto, Lexikon (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 1 und Bd. 4, S. 138 f., soll Scheufler sogar
eine polemische Satire über die Laubaner Schule geschrieben haben.
55 DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 1r.
56 Ebd., fol. 2v.
57 Ebd., fol. 2r.
58 Ebd.
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Jan Zdichynec
Nach dieser Einführung folgt dann in Scheuflers Glaubensbekenntnis ein
bemerkenswerter Vergleich der katholischen und lutherischen Lehre, wobei er
versuchte, die zweitgenannte von den errores und naevis und irrtümer zu reinigen. Damit könne er sein Herz und Gewissen befriedigen. Er stütze sich immer
wieder auf die Lehre Augustins, mehr als Smidelinum oder Brentium, oder Illiri
cum oder Calvinum, die auch keine Götter, sondern Menschen seien und deren
widerwerttige opiniones zum theill uf den Lutherum, zum theill uf den Philippum
fundirn, und in stetem zanck und uneynigkeitt verharrenn.59 Er behandelte Themen
wie die Gnade und das Erbarmen, wobei er sich vor allem auf die Autoritäten der
alten Kirchenväter wie Hieronymus und Tertullian (ca. 150–220) berief.60 Diese
Erklärung wird sogar durch eine chronologische Tabelle zur Kirchengeschichte
ergänzt, die aber leider nicht zu Ende gebracht wurde.
Gerade die Uneinigkeit, die unterschiedlichen und sich widersprechenden protestantischen Meinungen, waren für Scheufler die stärksten Argumente gegen die
Protestanten. Scheufler lehnte alles ab, was nicht aus dem Konsens der Orthodoxie
nachgewiesen werden könne. Er verwies dabei auf die Psalmen, Gebete, Medita
tionen und Manuale divi Augustini, worin er seinen Trost finde. Er berief sich
ebenso auf die Autorität des Kaisers. Zuletzt bat er, sein Bekenntnis auf Deutsch
und Latein zu drucken – ob das wirklich geschah, ist nicht bekannt.61
Zu diesen Erklärungen ist noch eine „Confessio catholica Mathei Scheuffleri
consulis Laubensis“ hinzugefügt, wo Scheufler detailliert über coena Domini et
transsubstantione panis berichtete, wieder mit Berufung auf die Konzilen der heiligen katholischen Kirche.62 Er resümierte auch die Ansichten Luthers, Johannes
Brenz’ (1499–1570), Kaspar Schwenckfelds (1489/90–1561), Tilemann Heshusius’ (1527–1588), Calvins, Theodor Bezas (1519–1605) und anderer Autoren.
Der Streit kam zu keinem eindeutigen Ausgang. Man kann die Aktivitäten Suevus’
für einen Versuch halten, eine so spektakuläre katholische Konversion zu vereiteln.
Scheuflers Schrift stellt auf der anderen Seite ein wichtiges Zeugnis der Bildung, aber
auch der Gewissensnöte eines frühneuzeitlichen Menschen dar, obwohl es sicher
59
60
61
62
Ebd., fol. 3r.
Vgl. ebd., fol. 42r–59v (lateinischer Text, zum Teil ins Deutsche übersetzt).
Ebd., fol. 18r; vgl auch Anm. 35.
DStA Bautzen, Sign. 3653, Altsign. E VI 7 (Acta den Laubaner Bürgermeister Mathis Scheuffler
und sein Glaubensbekenntnis betr.; ca. 1582), fol. 18r; vgl. ebd. ein Zitat für alle: Die papisten
lehren, weil der her Christus sagtt, hoc est corpus meum, ergo so sey es klar, hoc quod prius erat
panis, iam per ipsius benedictionem esse corpus suum pro nobis datum, es where nit mehr brodt
sondern der leib Christi vor uns gegeben unter der gestaldt des brodts, undt where also die substanz
des brodts nicht mehr da, sondern die selbe wehr in die substantz des leibes Christi verwandeltt,
undt lehere also, mit einem wort davon zu reden, ein transsubstantio.
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ist, dass sie auch zum Teil durch vorgegebene Deutungsmuster geprägt wurde. Es
ist besonders interessant, dass sie in der Polemik vom Domdekan Leisentrit nicht
mehr benutzt wurde. Vielleicht waren Scheuflers Ansichten für das fragile Gleichgewicht in der Oberlausitz, und speziell in der Stadt Lauban, allzu radikal.
Man kann sicher nicht alle den Fall Scheufler betreffenden Quellen ausführlich
würdigen. An dieser Stelle soll dennoch zumindest ein weiterer Bestand vorgestellt werden: die sog. Alten Schriften des Magdalenerinnenklosters in Lauban, die
heute im Erzdiözesanarchiv Breslau aufbewahrt sind und die von der Forschung
eher selten berücksichtigt werden.63 Es ist eindeutig, wie intensiv die Bindungen
Scheuflers an Leisentrit und das Bautzener Domstift schon in seiner ‚lutherischen
Zeit‘ waren. So ist z. B. ein lateinischer Brief Leisentrits an Scheufler, damals
Oberstadtschreiber in Lauban, vom 28. Oktober 1566 erhalten. Scheufler wird
als humanissimus atque doctissimus vir und amicus praestantissimus angesprochen.
Der Brief beinhaltet interessante Ansichten der ‚katholischen Autoritäten‘ (docto
res ecclesiae) über das heiligste Gesetz der in den biblischen Texten begründeten
Ehe.64 Diese sei nicht nur deswegen heilig, weil sie vom Schöpfer gegründet worden sei, sondern auch dadurch, dass Christus bei der Hochzeit in Kana Wasser in
Wein verwandelt habe.65 Deswegen könne die Ehe auch nicht aufgelöst werden.
Dazu zog Leisentrit auch die tridentinischen Kanones heran, in klarer Abgrenzung gegenüber den Lutheranern. Aus dem Brief geht weiter hervor, dass Leisentrit zur Hochzeit von Scheuflers Tochter (wahrscheinlich eben jener Dorothea)
eingeladen war. Er genehmigte die Hochzeit, konnte aber aus Zeitgründen nicht
teilnehmen. Ein anderer Brief beklagt das wenig christliche ‚Tun‘ (practica parum
christiana) gegen das Magdalenerinnenkloster in Lauban. Scheufler – angeblich
noch Lutheraner, jedoch den Katholiken sehr nahestehend – schrieb darüber an
den Schreiber Andreas (wahrscheinlich Krause).66 Er erwähnte eine Unterredung
63 Vgl. AAW, Sign. V C 7 p) (Alte Schriften betr. das Kloster der Magdalenerinnen in Lauban,
1565–1589). Es handelt sich um Quellen, die bis Ende des Zweiten Weltkriegs im Archiv
des Laubaner Klosters aufbewahrt wurden. Danach wurden sie entweder schon während des
Krieges nach Breslau gebracht, um sie zu ordnen, oder erst nach 1945 in Lauban gerettet. Ein
anderer Teil dieses Archivs befindet sich noch im Laubaner Kloster. Vgl. dazu eine ungedruckte
Bestandsübersicht von Roman Stelmach vom APWr (Klasztor magdalenek w Lubaniu: Archiwum / Magdalenerinnenkloster in Lauban).
64 Alle lateinischen Zitate vgl. im Brief vom 28.10.1566 in: AAW, Sign. V C 7 p), unpag.
65 Num coniugium, rem bonam esse et sanctam non solum ex eo probatur, quod sum[mus] omnium
rerum opifex legitur inter primos parentes institutuisse, verum etiam quod in Coena Gallileae
nuptiis interfuerit Christus, easque miraculo, nimirum aquae in vinum conversione, commenda
ret. Ebd., unpag. (28.10.1566).
66 Ebd., unpag. (22.10.1571).
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526
Jan Zdichynec
mit dem Oberlausitzer Landeshauptmann in Görlitz, der mit der Priorin des Klosters nicht zufrieden gewesen sei. Diese sei beim Landeshauptmann denunziert
worden, worauf der Domdekan strenge Reformmaßnahmen vorbereitet habe67 –
eine Information, die klar die Eingriffe der Landesherrschaft in die Angelegenheiten des Klosters belegt. Auch die Stadt – in Person Scheuflers – überwachte
die schlechte ‚Haushaltung‘ im Kloster. Das systematische Interesse für die Klostersachen kommt auch im anderen Briefen Scheuflers klar zutage.
Es sind darüber hinaus auch Konzepte und Originale der Briefe an den Laubaner Rat und Stadtpfarrer überliefert, in denen Leisentrit als Administrator, loci
ordinarius ecclesiasticus und geistlicher Kommissar des Kaisers vom Bürgermeister
Scheufler eine Rechtfertigung zu dessen Handlungen verlangte;68 dabei erwähnt
er das dubium in Glaubenssachen von Krause und Scheufler, welches sie mithilfe
Suevus’ erledigen wollten. Suevus habe ihnen aber überhaupt nicht geholfen, wobei
er sie unchristlicher weÿse von der Cantzell iniuriose ausgeshrienn habe. Dabei hätte
der Pfarrer doch eigentlich jeden Pfarrangehörigen in Glaubenssachen christlich
informieren sollen.69 Falls ein Pfarrkind zweifele, sei es aus der christlichen Liebe
auf den rechten Weg zu leiten.70 Leisentrit forderte deshalb im Auftrag des Kaisers Suevus auf, sich des Schmähens wider diesen Personen zu enthalten und sie
nicht öffentlich zu nennen, sonst müsse er dem lutherischen Pastor mit einem
kirchlichen Prozess drohen.71 Leisentrit erlangte sogar beim Kaiser und dem Oberlausitzer Landvogt ein Mandat gegen Suevus. In der Stadt setzte sich schließlich
aber, wie schon gesagt, die ‚lutherische Partei‘ durch und Scheufler musste gehen.
Er wirkte danach in Schlesien. Aus der Bischofstadt Neiße/Nysa schrieb er einen
Brief an Leisentrit, mit welchem er wiederum versuchte, die kirchlichen Verhältnisse in Lauban zu seinen Gunsten zu verändern.72 In diesem Schriftstück sprach er
67 Zu den Reformen im Laubaner Kloster vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E.
Piekorz (wie Anm. 5), S. 214 ff.
68 AAW, Sign. V C 7 p) (Alte Schriften betr. das Kloster der Magdalenerinnen in Lauban, 1565–
1589), unpag. (Bautzen; 28.12.1582; Original).
69 Ebd., unpag. (28.12.1582).
70 […] unnd do er in einem oder dem andern dubitirte oder aber in manifesto errore stegket, aus
christlicher liebe // [Randanmerkung, Anm. J. Z.] wie der Apostel spricht omnia numquam cha
ritati aedificat fieri debent, et ea modestia // darvon abweysenn unnd auf den rechten weg leiten
sollet, iuxta illud s[ancti] Petri sitis parati semper ad satisfactionem omni poscenti vos rationem
de ea quae in vobis est spe et fide etc. Item inter opera charitatis non minimum est errantem ab
errore sui semita revocare; ebd., unpag. (28.12.1582).
71 Erstmals schrieb in dieser Sache Leisentrit an Suevus schon im Dezember 1581. Ebd., unpag.
72 Vgl. ebd., unpag. (Neiße; 28.8.1584). Vielleicht nicht zufällig am Tag des hl. Augustinus datiert?
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Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop
über die Invektiven des Pastors Suevus gegen die Katholiken und sogar über eine
Zusammenarbeit des Klosters mit Nichtkatholiken.73 Interessanterweise schrieb
Scheufler, dass man mit einem Fortbestehen des Klosters im ‚protestantischen
Meer‘ rechnen dürfe, denn wir sind, Gott lob, nicht unterm Tuercken, sondern
unter einem catholischem christlichem keysser. Der Brief war auch sehr persönlich:
Scheufler könne nicht in seinem Vaterland leben, sondern er müsse in exilio, cum
detrimento valetudinis, auf meine alter, unter frembden leuten leben.74 Hier findet
sich nun auch ein deutlicher Beweis für seine Konversion, denn er konstatiert,
allen Schwierigkeiten und Verfolgungen zum Trotz:
Ich bin meiner religion gewiß, unnd hab nu[n] mehr kein zweifel […] es ist mir tausentmal lieber,
der teufel shellte mich, dann das er mich lobe, oder mir dancke zum valete. [… Ich, Anm. J. Z.]
wuerde nichts serviliter simulirn, sondern mein conscientiam aperte liberirn unnd zu der religion
treten, derer ich in meinen gewissen anhengig wer.75
Land und Kloster: der Fall Ursula Queitsch
[…] uti insaniens Jezabel […].76
Im ersten Teil dieses Beitrags wurde eine Geschichte aus dem städischen Milieu
vorgestellt. Auch auf dem Land, in vielen Oberlausitzer Klosterdörfern, herrschten in Fragen der Konfession um 1600 jedoch keineswegs Ruhe und Einigkeit.
Aus den Quellen erfährt man von zahlreichen komplizierten Situationen und
Arrangements, ebenso von verschiedenen, sehr verwickelten und uneindeutigen
Wahrnehmungen zu Religion und Konfession. So bat z. B. die St.-Marienthaler
Äbtissin Ursula Laubig (1573–1583) den Prager Erzbischof, er möge ihr gestatten, im Rahmen ihrer Patronatspfarreien solche Priester anzunehmen, welche die
Messe Deutsch sängen und die Kommunion unter beiderlei Gestalt austeilten,
weil dies die Pfarrkinder gewünscht hätten.77 Auch die späteren Dominae und
73 Scheufler verlangte, dass sich der Pastor: enthaltet ab omnibus conviciis, iniuriis, contumeliis,
ironiis, sarcasmis, invectivis et seditiosis clamoribus […] bey verlust des predigstuls, das auch der
rat sich verpflichten mueste, dem closter unnd iren religionsverwanten shutz zu halten. Ebd.,
unpag. (28.8.1584).
74 Ebd., unpag. (28.8.1584).
75 Ebd., unpag. (28.8.1584).
76 NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief des
Ordensvisitators Antonius Flamingk; 8.12.1608; Original).
77 Vgl. J. Zdichynec, Konfessionelle Zeit (wie Anm. 14), S. 45–52.
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528
Jan Zdichynec
einige Nonnen aus St. Marienthal und zum Teil aus St. Marienstern wurden der
Sympathien zum Luthertum bezichtigt.78
Zur absoluten Lockerung konfessioneller Verhältnisse kam es in der St.-Marienthaler Klosterherrschaft, zumindest in den Augen der katholischen Kirche,
während des Ständeaufstands (1618–1620). In dieser Zeit begann eine weitere
Vorgesetzte des Klosters, Ursula Queitsch (1600–1623), die von ihren lutherischen Beamten (besonders vom Sekretär Georg Wagner) beeinflusst wurde, die
Katholiken zu verfolgen. Daher wurde sie schließlich – nach heftigem Widerstand – im September 1623 im Auftrag des Prager Erzbischofs Ernst Adalbert von
Harrach (1598–1667), der Zisterzienseräbte und des böhmischen Königs ihres
Amtes enthoben und unter Militäreskorte in ein böhmisches Zisterzienserkloster
gebracht. Später kehrte sie trotzdem nach St. Marienthal zurück; dort lebte sie
noch viele Jahre mit weiteren Ordensschwestern zusammen und wurde schließlich auch dort begraben – zugegeben, mit einem gebrochenen Äbtissinnenstab
als einem symbolischen Zeichen ihrer Absetzung. Eine solche Krise war unter den
damaligen Umständen keineswegs außergewöhnlich, nicht einmal in Klöstern in
den habsburgischen Ländern.79
Dieser Konflikt fand seinen Niederschlag in zahlreichen Quellen, etwa in Verhörprotokollen, die heute im Archiv des Erzbistums Prag aufbewahrt sind. Diese
ermöglichen es nicht nur, detailliert die Denkweise des Beichtvaters der Nonnen
und der katholischen Priester zu ergründen, sondern zum Teil auch das Denken
der Klosteruntertanen verschiedener Konfessionen zu erfassen.
78 Vgl. dazu die ausführliche, doch ein wenig zurückhaltende lokale katholische Geschichtsschreibung bei J. B. Schönefelder, Urkundliche Geschichte des Königlichen Jungfrauenstifts und
Klosters St. Marienthal, Cistercienser=Ordens, in der Königlich Sächsischen Oberlausitz […],
Zittau 1834, besonders S. 147 ff.; A. A. Hitschfel, Chronik des Cisterzienserinnenklosters
Marienstern in der königlich sächsischen Lausitz […], Warnsdorf 1894, ND: Dresden 2015, besonders S. 146 ff. Ähnliches lässt sich wenigstens im Fall der Priorin Ursula Nas (1565–1595) im
Laubaner Magdalenerinnenkloster nachweisen. Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift,
ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 214–222; zusammenfassend J. Zdichynec, Venerabiles dominae. Die Äbtissinnen der oberlausitzischen Cistercienserinnenklöster Sankt Marienthal und
Sankt Marienstern in der Zeit der Krise und Erneuerung, in: ACi 59 (2009), S. 424–443.
79 Zu den Klöstern in der Habsburgermonarchie vgl. allgemein R. J. W. Evans, Das Werden
der Habsburgermonarchie 1550–1700. Gesellschaft, Kultur, Institutionen (Forschungen zur
Geschichte des Donauraumes 6), Wien/Köln/Graz 1986; zur Lage in der Oberlausitz vgl. die
französische Fassung meiner Doktorarbeit J. Zdichynec, Les abbayes féminines de Haute
Lusace aux XVIe et XVIIe siècles. Les religieuses entre pouvoirs temporel et spirituel au temps
des réformes, Saarbrücken 2014; mit genaueren Quellennachweisen vgl. Ders., Äbtissinnen
(wie Anm. 78). Die wichtigsten Briefe sind aufbewahrt in NA Praha, APA, Historica – St.
Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. 2113, unpag.
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Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop
529
So beschwerte sich z. B. im Herbst 1623 der Beichtvater Jakob Lagus (auch
1624 belegt), dass er gezwungen worden sei, dem ,Winterkönig‘ Friedrich von
der Pfalz (1619/20) für das Kloster die Treue zu schwören. Auch habe ihn der
Landeshauptmann vor dem Landtag gerügt, dass er kein ordentliches Leben
führe, von der Kanzel gegen die Lutheraner predige und die Nonnen zu lange
bei der Beichte aufhalte. Diese Denunziationen wären wohl vom Klostersekretär Georg Wagner angestiftet worden. Schon die Tatsache, dass diese Angelegenheit unter anderem vor dem Oberlausitzer Landtag verhandelt wurde, ist
an sich bemerkenswert. Noch dazu tauchten regelmäßig Beschwerden auf, dass
die Äbtissin völlig von Lutheranern umgeben sei und dass sie im Kloster allein
lutherische Beamten hätte, ja dass sie den Untertanen verboten habe, während
der Ermittlungen die Wahrheit auszusagen und sie am Kontakt zu kirchlichen
und weltlichen Ämtern in Prag hinderte. Dabei unterstand die Herrschaft St.
Marienthal weiterhin der Prager Erzdiözese und sie gehörte mit der Oberlausitz
zur Böhmischen Krone. Ursula berief sich darauf, dass sie völlig von Lutheranern
umgeben sei, sodass sie mit ihnen leben müsse, und dass sie die Lutheraner für
ehrliche Leute halte.80 Sie wies zudem auf die komplizierten Verhältnisse in der
Oberlausitz hin, die eine solche religiöse Koexistenz seit Jahrzehnten verlangten, später auch darauf, dass das Markgraftum dem lutherischen Kurfürsten von
Sachsen verpfändet worden sei. Ebenso bemerkenswert ist auch ihre Bemerkung
über die Beichte in St. Marienthal: Lagus soll sie einst so lange im Beichtstuhl
aufgehalten haben, bis sie ohnmächtig geworden sei. Wie häufig die übrigen
Nonnen beichteten, wisse sie nicht.
Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang eine Klage des St.-Marienthaler
Konvents, also der Mitschwestern Ursulas.81 Sie beschuldigten sie vor allem der
Misswirtschaft und ihrer Kontakte zum lutherischen Sekretär Georg Wagner.
Lange Zeit, so der Vorwurf, habe sie nicht gebeichtet und sei nicht zur Kommunion gegangen. Weiter schrieben die Schwestern über böses leben und regiment
der Äbtissin. Sie wüssten nicht, warum sie sich so verhalte: […] wir konnen kein
ander ursach spuren noch mercken, den ir boses verstocktes kaldes hertz. Das kan sie
nicht uberwinden weder kegen Got, noch iren nehesten.82
Im Herbst 1623 erschienen die Klosteruntertanen vor einer Kommission, die
vom Prager Erzbischof und vom böhmischen König ernannt worden war; ihre
80 […] wir seind mit lutherisch umbgeben, müssen mit ihnen leben, halte sie vor ehrliche leuth; NA
Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief der Äbtissin Ursula Queitsch; Oktober 1607).
81 Vgl. ebd., unpag. (undat.; etwa Anfang des 17. Jahrhunderts).
82 Ebd., unpag. (undat.; etwa Anfang des 17. Jahrhunderts).
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530
Jan Zdichynec
Aussagen wurden lateinisch bzw. deutsch aufgeschrieben.83 So beschwerte sich
Christoph Shultes [?], ein katholischer Schneider aus dem Städtchen Ostritz,
über die lutherischen Klosterbeamten, dass sie die Katholiken als ‚Pfaffenknechte‘
beschimpften. Wenn er Flachs in Prag verkaufe, würde er von der Klosterobrigkeit
verdächtigt, er führe dorthin, um sie dort zu denunzieren. Nach den Ermittlungen
in der Sache Ursula Queitsch sei er sogar für 26 Tage eingekerkert worden. Dabei
sei er von Kindheit an zum Respekt gegenüber katholischen Priestern erzogen
worden, was jedoch nun dem Kloster nicht gefalle. Der Schustergeselle Hans
Becker, ein Katholik, beschwerte sich, dass ihn die Protestanten daran gehindert
hätten, sich in Ostritz niederzulassen und sein Gewerbe zu betreiben. Der lutherische Klostersekretär Georg Wagner soll gesagt haben, dass er wünsche, dass
alle mönch und pfaffen und jesuiter gehenckt weren, sie stifften doch nichts guts.84
Einem Untertanen soll Wagner gedroht haben, ihn erschießen zu wollen, da er die
Kommunion unter einerlei Gestalt empfange. Andere erwähnten gegenseitiges
Schelten und Beschimpfen: pfaffenknecht, rebellen, holuncken, Mamelucken.85 Die
Katholiken, die kniend beteten, seien ausgelacht worden. Ein Blasphemiker habe
in der Schenke die Predigten des Pfarrers höhnisch nachgeahmt. Aus diesen zahlreichen Zeugenberichten erfährt man von Prügeleien, die sich Hitzköpfe beider
konfessionellen Lager lieferten. Es scheint, dass sich in der Herrschaft St. Marienthal unübersichtliche Unruhen abspielten, die zusätzlich durch die Anwesenheit
von Söldnern – z. B. der Wallenstein’schen Kavallerie – verschlimmert wurden.
Weitere Zeugen betonten, dass das Verhalten der Pfarrer eher dazu geführt hätte,
dass die Leute von Rom abgefallen seien. Einige Nonnen seien neidisch und hass
erfüllt. Die Klausur funktionierte offensichtlich in jener Zeit in St. Marienthal
nicht richtig. Die Nonnen waren das Verlassen des Klosters gewohnt, wobei sie
manchmal sogar Unruhen angeheizt hätten. Seien katholische Studenten zum
Kloster gekommen, so seien sie mit einem lächerlichen Almosen abgetan worden.
Die Lutheraner hätten viel mehr bekommen. Im Kloster habe Vetternwirtschaft
geherrscht.86 Äbtissin Ursula wurde deshalb vom Pfarrer Sebastian Balthasar von
83
84
85
86
Vgl. ebd., unpag. (Protokolle; September/Oktober 1623).
Ebd., unpag. (Protokolle; ein ausführlicher Bericht des Klosterkaplans; September 1623).
Ebd., unpag. (undat. Verhörprotokolle).
Vgl. dazu die Briefe des Königshainer Pfarrers Sebastian Balthasar von Waldhausen, vor allem
von 1621/22 in: NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. Er war später auch Domherr in Bautzen und dann Dekan in Friedland/Frýdlant, wobei
er anscheinend eine bedeutende Persönlichkeit in der Rekatholisierung Nordböhmens war.
Vgl. C. A. Pescheck, Geschichte der Gegenreformation in Böhmen, nach Urkunden und
anderen seltenen gleichzeitigen Quellen bearbeitet, 2 Bde., Dresden/Leipzig 1844, hier Bd.
2: Hauptgeschichte seit 1621 und Nachgeschichte, S. 85; seine polemische Schrift untersuchte
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Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop
531
Waldhausen sowie von ihrem Ordensvisitator als wahnsinnige Jezabel und sogar
als eine Hexe (saga) bezeichnet.87
Es ist interessant, dass in den Klosterpfarreien Königshain und Ostritz auch die
unter beiderlei Gestalt kommunizierenden Katholiken – Utraquisten [?] – anwesend waren, die auf die Fragen der kaiserlichen Kommissare antworteten, dass
sie bald ‚am katholischsten‘ (catholicissimi) sein möchten.88 Auch gab es Luthe
raner, die angaben, ihren Glauben aufgrund der Erlaubnis der vorigen Äbtissin zu
praktizieren. Schwierige Verhältnisse gab es ebenfalls im zu St. Marienthal gehörenden Dorf Reichenau/Bogatynia: So sagte z. B. der dortige Richter aus, dass er
sich an zwei lutherische Prediger erinnere, davor seien alle katholisch gewesen.
Die Bestellung eines Lutheraners sei von Gewalttaten begleitet gewesen. Dabei
erfahren wir außerdem, dass am Anfang des 17. Jahrhunderts im Zittauer Land
auch die Reformierten wirkten und hören von einer Disputation zwischen einem
katholischen Priester und einem calvinistischen Doktor.
Im Fall Ursula Queitschs können die Aussagen der katholischen Hierarchie
durch das Zeugnis Georgius Ruperts, eines Arztes am Hof der lutherischen Herren von Redern im benachbarten nordböhmischen Friedland, ergänzt werden.89
Sein Bericht richtete sich an den Visitator des Klosters St. Marienthal, Antonius
Flamingk (ca. 1545–1609), Abt des Klosters Königsaal, der schon 1607/08 vergeblich versuchte, die Äbtissin Queitsch wegen ihrer Regelverstöße und Neigungen zum Luthertum abzusetzen. Es scheint, dass die scharfen Konflikte zwischen
M. Svoboda, Cedo nulli. Mgr. Wolfgang Günther a P. Sebastian Balthasar von Waldhausen
v protestantsko-katolické polemice (1626–1628) [… Mgr. Wolfgang Günther und P. Sebastian
Balthasar von Waldhausen in der protestantisch-katholischen Polemik (1626–1628)], in: L.
Březina / J. Konvičná / J. Zdichynec (Hgg.), Ve znamení zemí Koruny české. Sborník
k šedesátým narozeninám prof. PhDr. Lenky Bobkové, CSc. [Im Zeichen der Länder der
Böhmischen Krone. FS für Lenka Bobková zum 60. Geburtstag], Praha 2006, S. 325–345.
87 Vgl. dazu ausführlich J. Zdichynec, „Ex malis moribus meliores leges natas esse.“ Krize kláštera Marienthal v dobách konfesijního štěpení [… Die Krise des Klosters Marienthal während
der Konfessionsspaltung], in: A. M. Wyrwa / A. Kiełbasa / J. Swastek (Hgg.), Cysterki
w dziejach ziem polskich, dawnej Rzeczypospolitej i Europy Środkowej [Die Zisterzienserinnen in der Geschichte der polnischen Länder, der alten Rzeczpospolita und Zentraleuropas],
Poznań 2004, S. 976–1011.
88 NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (undat. Verhörsprotokolle).
89 Vgl. ebd., unpag.: Copey schreybens herrn Georgii Ruperti, medicinae doctoris, et viri catholicis
simi, ahn herrn abbten zu Konigsall [Königsaal/Zbraslav, Anm. J. Z.] abgangen, in wellchem
ihm, herrn abbten, vor augen sichtbarlich gestellet wirdt, waß vor unheil im stifft Marienthal
vorhanden und umb forderliches einsehen gebeten wirdt, darauff aber herr abbt zu Konigsall
niemaln einigen buchstaben geantwortet (Brief; 1.12.1606).
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Jan Zdichynec
Konvent, Äbtissin und Beichtvater auch für die ‚Nachbarn‘ dieses Klosters von
Belang waren. Der Arzt – ein treuer Katholik – betonte, dass jede Person geistlichen und weltlichen Standes in die geistlichen Angelegenheiten eingreifen könne,
falls sie sehe, dass die Kirche durch schlechte Beispiele und Zwietracht entkräftet
werde. Schon seit mehreren Monaten höre er die Nachrichten über die Stürme
im Kloster, die manchmal aus Neid gegen Äbtissin Ursula erdacht würden, teilweise berechtigt wären. Diese Gerüchte, die sich in der ganzen Gegend verbreitet
hätten, verdürben den Ruf des Ordens, des Klosters und auch der ‚allgemeinen
katholischen‘ Kirche:
[…] wirdt fast auff der gassen unnd ihn schenckheußern von leichtferttigen leutten davon gesungen
unnd gepredigett, was vor ein herrliche andacht friedt unndt einigkeitt ihm kloster Marienthall sey,
dieweill allein aus zwitracht, wie der gemeine Mann vorgibt, zwischen dem munch unnd nonnen,
beide sacrament der absolution unnd Communion so lange zeitt untterwegen bleiben […].90
Rupert und seine Frau, die beiden kürzlich zum Katholizismus übergetreten waren,
hätten sich entschieden, die Sache vor Ort zu untersuchen und beide Parteien zu
versöhnen. Aus der Nachricht ergibt sich klar, dass Rupert direkt mit der Äbtissin und den Ordensschwestern geredet und auch ihre Klagen gegen den Vaterabt
studiert hatte. Rupert stellte fest, dass Flamingk versucht hätte, die Ordnung zu
hastig und zu hart herzustellen, seine Macht aber zu einer Tyrannei missbraucht
habe. Dabei habe ihm der Beichtvater geholfen. Beide gemeinsam sollen unter
den Schwestern eher demütige Angst als Liebe erweckt haben. Deswegen hätten die Schwestern eine Neigung zur ,heimlichen Andacht‘ (zum Luthertum?)
entwickelt; sie dächten nur an ihren eigenen Nutzen und lebten sehr locker. Die
übertriebene Härte bestünde in der Weise des Beichtens und in allzu vielen Bußübungen (unerhörter busse aufflegung). Der Beichtvater greife die alten und die
jungen Schwestern an, wobei er gar nicht versuche, sie zu verstehen. Er verhalte
sich wie ein grausamen peiniger und der Beichtstuhl ähnele eher einem marter
hausse.91 Rupert erläutert, man müsse beim Beichten auf die ethnische Zugehörigkeit, die Gewohnheiten des Volkes sowie die Natur des Beichtenden achten:
Da war das deutzsche weibespersohnen einfälttiger, vieler bösen sachen unwissende
sein, nicht so vershmitzt als französische, welsche völcker unnd weiber darentwegen
auch solcher scharffen ergerlichen fragen von notten sein.92
90 Ebd., unpag. (1.12.1606).
91 Ebd.
92 Ebd.
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Man kann die Schilderung des Charakters von Ursula Queitsch mit einem
Bericht abrunden, der kurz vor ihrer Absetzung entstanden ist. Der kaiserlicher
Kommisar und Kanzler im Zisterzienserkloster Neuzelle in der Niederlausitz,
David Wachsman, schrieb darin von Glogau/Głogów aus an den obersten Kanzler
des Königreichs Böhmen.93 Er beschrieb die Lage im Kloster und den Zustand der
bedrengten catholischen religion als ziemlich verzweifelt. Vor allem äußerte er sich
über die Äbtissin: Ihr Status sei so uncatholisch, imo fast unmenschlich befunden
worden, daß ich hertzlich erschrocken bin [… Ich, Anm. J. Z.] wolte diss monstrum
ohn eintzig bedencken, samb ihrem gespiele, dem Wagner gebunden nach Praag
geschickt haben. Sie lache die christlichen Vorhaben schnöde und leichtfertig
aus und sie sei auch sehr ungehorsam: […] hat sie mir strags gesagt, sie wolte und
köndte der kaiserlichen Maj. nicht pariren, sie wolt eher sterben, als ihrer dienern
lassen, und obwohl er [der lutherische Klostersekretär Georg Wagner, Anm. J. Z.]
uncatholisch, wehre ehr doch ein redlicher man.94
Ursula äußerte gegenüber dem Kommisar ihre Überzeugung, er solle die lutera
ner itzo nicht so gar verdammen helfen, sie wehren auch redliche leute. Umgekehrt
bezeichnete Wachsmann diese Äbtissin als Bestiam. Er könne durch Verhöre von
50 katholischen Zeugen bestätigen, dass die schwere verfolgung der catholischen
religion diss orts, nicht allein von dem Wagner sondern auch von der abbatissin
selbst getriebenn werde.95
Plurale konfessionelle Verhältnisse wie diese bildeten in den Oberlausitzer
Klosterherrschaften keine Ausnahme. So kam es 1608 zur starken Konfrontation
zwischen den Pfarrkindern im Klosterstädtchen Ostritz und dem Pfarrer Mat
thias Schade [?], der wohl versuchte, die von Böhmen ausgehenden Rekatholisierungsmaßnahmen vor Ort durchzusetzen.96 Angesichts der besonderen Lage in St.
Marienthal und des Ständeaufstands eskalierten die Streitigkeiten jedoch heftig.
Weiterhin könnte man an die Vertreibung der Bautzener Domherren erinnern oder
an das provokative Niederreißen des Gangs, der das Laubaner Magdalenerinnenkloster mit der einzigen Stadtpfarrkirche, einem Simultaneum, verband. Auch
im Schwesterkloster St. Marienstern und in seinem Herrschaftsgebiet herrschte
keine Ruhe. Die Äbtissin Ursula Weishaupt soll sogar beabsichtigt haben, wohl
auf Druck der Lutheraner, ihr Zisterzienserinnenkloster in ein protestantisches
Damenstift umzuwandeln, was durch ihre Absetzung verhindert wurde. Auch im
93
94
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96
Vgl. ebd., unpag. (21.5.1623; Original).
Ebd., unpag. (21.5.1623).
Ebd., unpag. (21.5.1623).
Vgl. J. Zdichynec, Krize (wie Anm. 87).
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Jan Zdichynec
St.-Mariensterner Klosterstädtchen Wittichenau/Kulow brodelte es zwischen
den Lutheranern und Katholiken.97
Viele bislang unbekannte Quellen weisen darauf hin, wie der Wandel des
‚Konfessionellen‘ von verschiedenen sozialen Gruppen erfahren wurde, einschließlich der einfachen Untertanen. Diese beklagten meistens heftige und jähe
Religionswechsel, die auch von Veränderungen der Besitzverhältnisse motiviert
wurden, und sie führten die Attraktivität des lutherischen Glaubens auf dessen
Gottesdienste in der Volkssprache sowie dessen Kommunion unter beiderlei
Gestalt zurück. Ein besonderes theologisches Wissen kann ihnen sicherlich –
anders als bei Scheufler – nicht unterstellt werden. Auffällig ist ihre Bindung
zum traditionellen ‚Glauben der Väter‘ – was auch immer dies bedeutet – und
eine gewisse Abneigung gegenüber einem häufigen Glaubenswechsel. Aus einer
St.-Marienthaler Ermittlung erfährt man von einer fast theatralisch in Szene
gesetzten Konfrontation zwischen Katholiken und Protestanten. Die gegen den
jeweiligen Gegner gerichteten Argumente sind theologisch sehr oberflächlich. Die
Gegner warfen einander vor, sich von Gott losgesagt zu haben. Das Gegenargument lautete, man halte sich an den Glauben, in dem man erzogen worden wäre.
Nur der größte Rebell, der Lutheraner Georg Effler, argumentierte eloquenter:
unter einerlei gestalt kann man nicht selig werden […] nach dem gesetz Christi zu
leben, bedeutet freiheit.98
Rück- und Ausblicke
Blickt man aus der Vogelperspektive auf den kirchlichen und religiösen Wandel
Laubans, dann ist zu konstatieren, dass die ersten Erwähnungen über die evangelischen Predigten ins Jahr 1525 zurückreichen – im Vergleich zu den übrigen
Sechsstädten ein relativ später Zeitpunkt. Der konfessionelle Wandel wurde hier
dadurch erschwert, dass der Stadtpfarrer zugleich der Propst des Magdalenerin
nenklosters war. Durch seine Entlassung hätten die Nonnen den wichtigsten
Vertreter ihrer Interessen verloren. Die Schwestern teilten mit den Bürgern die
gemeinsame Pfarr- und Klosterkirche und sie waren somit zwangsläufig auch
bei den ersten evangelischen Predigten anwesend. Einer Verbreitung der neuen
Lehre stand zunächst auch der Stadtrat im Weg, der zumindest zum Teil anfangs
der alten Kirche treu bleib. Die Ratsherren verboten einerseits die Einführung
97 Vgl. Ders., Abbayes féminines (wie Anm. 79).
98 NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief eines
Kaplans in St. Marienthal; undat.).
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deutscher Taufformeln, andererseits zögerten sie nicht, die Pfarrkirchenkleinode
einzuschmelzen oder zu verkaufen, um einen Gutshof zu erwerben.99
Der religiös gespaltene Laubaner Stadtrat verfügte über das Präsentationsrecht zu allen Altaristenstellen (Niederpfründen) in der Pfarr- und Klosterkirche.
Dabei schritt er bald zur Berufung von Geistlichen, die der neuen Lehre gegenüber positiv eingestellt waren. So standen bald dem älteren, konservativen Pfarrer und Propst vier radikal gesinnte Kapläne gegenüber. Mit der Einführung der
lutherischen ‚Neuigkeiten‘ begann der Prediger Georg Heu/Hew, ein aus Görlitz
stammender Altarist.100 Am Ostersonntag 1525 brachte Heu tatsächlich in seiner
Predigt die Gemeinde gegen den Papst und den Meißner Bischof auf. Das Fasten
und Beten, die Gabe von Almosen, die Messe und Vigilien erklärte er zum überflüssigen Unwesen. Die katholische Schule bezeichnete er als Rattennest und er
übte ganz generell auch mit anderen negativen Etikettierungen heftige Kritik an
der römischen Kirche. Er beseitigte die lateinischen Formeln aus dem Gottesdienst und spendete die Kommunion in beiderlei Gestalt.101 Eben infolge seiner
Predigten flüchteten zwölf Magdalenerinnen aus dem Kloster. Die meisten von
ihnen heirateten, was darauf hindeutet, dass es sich um relativ junge Schwestern
handelte, die wohl stark mit dem städtischen, sich gerade lutherisierendem Milieu
verbunden waren, wo sie vermutlich auch Verwandte hatten.
Die Zeitgenossen begannen bald, den Prediger Heu deswegen zu kritisieren,
weil er zu stark in die bisherigen Gepflogenheiten eingreife. Er habe nicht nur
sämtliche Fastentage und Prozessionen verworfen, sondern auch das funktionierende und mit der katholischen Kirche verbundene Wohltätigkeits- und Bildungssystem abgeschafft, ohne sich um deren Ersatz zu kümmern. Sogar seine
lutherischen Zeitgenossen, die Stadtchronisten, nannten ihn einen ,Stürmer‘, der
das Kind mit dem Bade ausschüttete. So war es z. B. in der örtlichen Kirche üblich,
dass die Schüler zusammen mit den Nonnen lateinisch sangen. An dem bereits
erwähnten Ostersonntag 1525 wurden sie von Heu gezwungen, bei Gloria im
lateinischen Gesang ein deutsches Lied zu singen, wodurch der Gottesdienst auf
eine grobe Weise gestört wurde. Man erfährt auch von einer Papstpuppe mit den
Spottversen: Christus ist erstanden, Der Papst ist gehangen. Dess wollen alle wir
uns freun, Daß wir des Buben los nun sein. Sie wäre damals an einer alten Linde
,erhängt‘ worden.102
99
100
101
102
Vgl. K. G. Müller, Kirchengeschichte (wie Anm. 29), besonders S. 128 f.
Vgl. ebd., S. 473 f.
Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 200.
Ebd.
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Jan Zdichynec
Der Stadtrat war bemüht, die Ordnung aufrechtzuerhalten und den Frieden zu
wahren. Trotzdem beharrte er auf der Entlassung des katholischen Pfarrers Matthäus
Hoffmanns. Schließlich wurde 1527 unter Vermittlung der Bautzener und Görlitzer ein Vertrag zwischen der Priorin und dem Stadtrat vereinbart. Seinen Ursprung
hatte er wiederum in einem Streit um den Pfarrprediger. Der Stadtrat hatte den
entlaufenen Mönch Ambrosius Kreusing eigenwillig auf diese Stelle berufen, was
einen Eingriff in die Rechte des Klosters und des Pfarrers darstellte. Es wurde verabredet, dass der Prediger in seinem Amt bleiben und weiterhin uneingeschränkt
Gottes Wort verkünden konnte, doch sollte er dabei kein Sektierertum dulden
und niemanden belästigen dürfen. Seine Kost und Kleidung sollte er weiterhin wie
seit jeher vom Kloster beziehen. Der Stadtrat musste sich nun jedoch verpflichten,
anstelle des Klosters dessen Besoldung in Höhe von zwölf Mark zu zahlen. So entstand einmal mehr eine paradoxe Lage, wie man sie in der konfessionell gespalteten
Oberlausitz häufig antrifft: Ein protestantischer Prediger findet einen regelmäßig
gedeckten Tisch im katholischen Kloster, was noch Ende des 16. Jahrhunderts zu
Problemen führen sollte. Die Priorin musste sich hingegen verpflichten, für jene
zwölf Mark einen anderen Priester zu bestellen, der die Nonnen mit Sakramenten
und Zeremonien in ihrer Kapelle in der Pfarr- und Klosterkirche versorgte, ohne
dass ihn jemand daran hindere. Dadurch wurden die Ämter des Propstes und des
Pfarrers faktisch voneinander getrennt. Der Rat musste sich darüber hinaus verpflichten, die Nonnen vor Angriffen der Lutheraner zu schützen.103
Das Zusammenleben beider Konfessionen dauerte in Lauban bis zum Ende
des Zweiten Weltkriegs an, und sie war nie ganz friedlich. So erfährt man z. B.,
dass 1542 das Fest der Einkleidung einer Novizin auf dem Nonnenchor in der
Simultankirche von einer beleidigenden Predigt des lutherischen Pastors begleitet wurde, obwohl dieser der Stadtordnung zufolge ausschließlich friedlich und
liebevoll hätte predigen sollen. Auf die angespannte Atmosphäre weisen neben
dem bereits erwähnten Fall Matthias Scheuflers viele Ausschreitungen während
der Gottesdienste hin, über die sich die Magdalenerinnen noch im 18. Jahrhundert beschwerten. Das örtliche Simultaneum können wir also sicher nicht als
Ausdruck von Toleranz auffassen, wie dies manchmal geschieht, sondern eher als
Manifestation einer erzwungenen Koexistenz.
Für den Ausklang dieser Studie kann eine Konversion von 1763 dienen.104 Der
Übertritt von Johann Christoph Schlegel zum Katholizismus löste derart großen
103 Vgl. J. Zdichynec, Abbayes féminines (wie Anm. 79); P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5); und zahlreiche Quellen in: AAW, vor allem Sign. V C
7 p), q), r).
104 Vgl. P. Skobel, Das Jungfräuliche Klosterstift, ed. E. Piekorz (wie Anm. 5), S. 284.
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Konfessionsstreitigkeiten unter dem Mikroskop
537
Unmut unter den Stadtbewohnern aus, dass sie alsbald sein Haus verwüsteten
und sein Leben bedrohten. Das Kloster gewährte Schlegel Zuflucht und setzte
sich sodann für ihn beim Administrator in Bautzen sowie beim Landesherrn
ein, woher die Hilfe schließlich auch kam. Schlegel durfte in Lauban bleiben,
wobei er auch entschädigt wurde. Dieser Zwischenfall veranschaulicht, dass das
Kloster mit seiner kleinen katholischen Gemeinde innerhalb der evangelischen
Stadt noch im Jahrhundert der Aufklärung Konflikte hervorrief. Schon in den
1660er Jahren begegnet man konfessioneller Gewalt in den Klosterherrschaften.
Damals kam ein Priester zu einem sterbenden katholischen Töpfer in Ostritz
mit der Eucharistie. Beim Wegzug wurde er mit coth und steinen und lästerlichen
Worten von den alten und jungen Bürgern angegriffen. Die Sache gelangte sogar
vor den Landvogt (1645–1672) Curt Reinicke von Callenberg (1607–1672).105
Andererseits wurden die Kontakte zwischen den Klöstern und der lokalen
Gesellschaft auch während des 17. Jahrhunderts nicht unterbrochen. So erwähnen die Laubaner Chroniken relativ häufig detaillierte Berichte über das Ablegen der Ordensgelübde im Kloster, aber auch – ein bisschen schadenfroh – die
Flucht einer Schwester im September 1618.106 Nahezu alle Zittauer und Görlitzer
Chroniken schildern die Absetzung der schon erwähnten St.-Marienthaler Äbtissin Ursula Queitsch (1623). Als im 18. Jahrhundert Streitigkeiten zwischen der
St.-Marienthaler Äbtissin und dem Klosterpropst oder zwischen dem Kloster St.
Marienstern und dem Bautzener Domstift wegen des Wallfahrtsorts Rosenthal/
Róžant aufkamen, befürchteten die Oberlausitzer Katholiken, dass dies ihrem
Ruf in der protestantischen Umgebung schaden könne. Es gibt jedoch auch positive Beispiele wechselseitiger wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Beziehungen. Die Protestanten sandten z. B. den Äbtissinnen Gratulationsadressen zu
deren Wahl; und die Schrift „Ehrentempel der Äbtissinnen Marienthals“, die 1761
anlässlich der goldenen Profess der St.-Marienthaler Äbtissin Scholastika Walde
erschien, wurde sowohl vom protestantischen Pastor und Historiografen Christian
Knauth(e) (1706–1784) als auch vom katholischen Priester Bernhard Augustin
Pfalz (1710–1774) zusammengestellt.107 Die St.-Marienthaler Nonnen bestellten
Bücher für ihre Bibliothek unter anderem über die Herrnhuter Brüdergemeine.108
105 NA Praha, APA, Historica – St. Marienthal, Sign. C 121 3, Kart. Nr. 2113, unpag. (Brief;
6.11.1668); vgl. dazu auch J. Zdichynec, Vývoj (wie Anm. 14).
106 Vgl. SLUB Dresden, Mscr. d 37 (Annales civitatis Laubanae […] durch Martinum Zeidler diese
Zeit Burgermeistern daselbsten), S. 427.
107 Vgl. C. Knauth / B. A. Pfalz, Ehren-Tempel derer Hochwürdigen Abbatissinnen des Königl.
Jungfräulichen Gestifts St. Marienthals, Cistercienser Ordens […], Görlitz: Johann Friedrich
Fickelscherer 1761.
108 Vgl. J. Zdichynec, Les bibliothèques de moniales cisterciennes de Haute Lusace (Saxe) à
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538
Jan Zdichynec
Vielleicht sind dies schon Belege interkonfessioneller Zusammenarbeit im Zuge
der Aufklärung, die jedoch nahezu ausschließlich am Beispiel der lokalen Eliten,
keineswegs bei den Untertanen, beobachtet werden können.
Schluss
Im Alltag der Oberlausitz dauerten die häufig durch materielle Gründe bzw. bloße
Rivalität motivierten Streitigkeiten bis tief ins 19. Jahrhundert an. Vor allem ging
es um politische, rechtliche und wirtschaftliche Auseinandersetzungen; sie gewähren Aufschluss über die praktische Ebene der Konflikte, während anscheinend
der ‚wahre Glaube‘ nur relativ selten zum Zankapfel wurde. Die Akteure scheinen
vor allem ihre Macht und ihre Verhandlungstaktik demonstrieren zu wollen. Die
Konversion der Tochter des lutherischen Bürgermeisters oder der Fall der katholischen Äbtissin, die Lutheraner zu unterstützen und Katholiken zu verfolgen
begann, sind zwar Phänomäne, die für die Oberlausitz typisch waren; allerdings
kennt man aus der Frühen Neuzeit bislang nur wenige derart gut illustrierte Beispiele. Auch dass sie sich auf der sozialen Bühne der Klosterherrschaften abspielten,
hatte für die konfessionellen Konfrontationen m. E. keine allzu große Bedeutung.
Die Frauenklöster verhielten sich ähnlich wie andere Obrigkeiten, sie passten sich
an die lokalen Verhältnisse an. Die Hauptakteure waren die mit den Klöstern
verbundenen Männer, konkret Pfarrer, Visitatoren und Vertreter der weltlichen
Kirchenhierarchie. Sie waren die eigentlichen Motoren der Rekatholisierung,
und zwar selbst im 18. Jahrhundert, wobei auch in dieser Spätphase eine gewissen Spannung zwischen den in der komplizierten Situation der bikonfessionellen
Oberlausitz lebenden Ordensschwestern und ihren männlichen Superiores existierte, die im bereits rekatholisierten Böhmen kirchlich sozialisiert worden waren.
l’époque moderne, in: T. Falmagne / D. Stutzmann / A.-M. Turcan-Verkerk (Hgg.),
Les cisterciens et la transmission des textes (XIIe–XVIIIe siècles) (BHCMA 18), Turnhout
2018, S. 127–156.
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TRADITIONSÜBERHÄNGE UND
TRADITIONSKONSTRUKTIONEN
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Hartmut Kühne
„[…] so vns Gott seine gaben mit wunderwercken erzeigt /
so halten wir es für ein gespöt oder fabel.“
Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
Von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in den lutherischen Territorien des Alten Reiches sog. Wunder- und Gnadenbrunnen. Durch
das aus ihnen quellende Wasser bewirke Gott auf gnadenhafte Weise wunderbare Heilungen – davon waren lutherische Geistliche, die Landesherren und das
Kirchenvolk gleichermaßen überzeugt. Diese besonderen Heilquellen wurden in
wallfahrtsähnlicher Weise besucht. Es gab an ihnen zumindest seit der Mitte des
17. Jahrhunderts eine geregelte kirchliche Betreuung der auf Heilung wartenden
Patienten sowie der zahlreichen Schaulustigen durch Gottesdienste, Gebete und
weitere Seelsorge. Für die geschehenen Wunder dankten die Geistlichen im Gottesdienst, die Geheilten hinterließen Krücken oder ähnliche Geräte zum Zeichen
ihrer Rettung, die Heilungen wurden von den Geistlichen aufgezeichnet und
wie die aus den katholischen Territorien bekannten Mirakelbücher zum Druck
gebracht. (Abb. 1)
Bei den Recherchen des Autors zu diesem Phänomen konnten bisher etwa 90
Orte zwischen dem Holsteinischen Itzehoe und dem fränkischen Weihenzell,
zwischen Polzin/Połczyn-Zdrój in Hinterpommern und Stolzenau an der Weser
identifiziert werden, an denen solche Wunder- und Gnadenbrunnen anzutreffen
waren. Dieses Phänomen in seiner komplexen Geschichte von der Mitte des 16.
bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts darzustellen, ist der Gegenstand einer kurz
vor dem Abschluss stehenden Monografie.1 Im Rahmen dieses Beitrags soll der
Ursprung dieses Wunderbrunnen-Konzeptes im Zusammenhang mit der ersten
Blütezeit der lutherischen Wunder-Publizistik dargestellt werden.
1
Meine langjährige, allerdings stets von anderen Tätigkeiten unterbrochene Beschäftigung mit
den lutherischen Wunderbrunnen, die im Jahre 2006 begann, konnte ich durch ein von der
Gerda Henkel Stiftung gewährtes Forschungsstipendium von 2016 bis 2018 durch Archivstudien intensivieren und systematisieren. Das aus dieser Arbeit resultierende Buch steht kurz
vor dem Abschluss und wird am Historischen Seminar der Universität Leipzig als Habilitationsschrift eingereicht werden.
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542
Hartmut Kühne
Abb. 1: Anonym, Einblattdruck: Bericht
Von dem nicht allein Gesundheit sondern
auch Wunder-Brunnen […], Leipzig:
Elias Fiebig [1677] (VD17 15:741852F)
[Universitätsbibliothek Leipzig, Sign.
Baln.369-h/2, Foto: Universitätsbibliothek
Leipzig].
Der Wunderbrunnen von Pyrmont
Die Vorstellung, dass Gott in der Gegenwart durch bestimmte Wasserquellen
Heilungswunder bewirkt, wie es Christus zur Zeit seines irdischen Lebens tat,
tauchte im Wirkungsbereich der lutherischen Reformation erstmals im Jahre
1556 auf. Der erste dieser Wunderbrunnen wurde in der Zwerggrafschaft Pyrmont entdeckt, einem Herrschaftsgebiet, das nur wenige Dörfer und die kleine
Stadt Lügde umfasste.2 (Abb. 2)
Die Residenz der Grafschaft, das Schloss Pyrmont, liegt in einem Talkessel
des Weserberglandes. Hier steigt auch heute noch Mineralwasser aus der vulkanischen Tiefe durch die Spalten des Buntsandsteins zur Erdoberfläche auf und
sichert so der heutigen Kurstadt Bad Pyrmont ihre wirtschaftliche Existenz.3 Die
an verschiedenen Stellen in und um die Stadt aufbrechenden Mineralquellen
wurden bereits in der Antike besucht, was ein 1863 in der Nähe des heutigen
2
3
Vgl. G. Engel, Politische Geschichte Westfalens, Köln/Berlin 41980, S. 122.
Zur Geologie des Pyrmonter Talkessels vgl. W.-R. Teegen, Studien zu dem kaiserzeitlichen
Quellopferfund von Bad Pyrmont (ErgBd. zum RGA 20), Berlin/New York 1999, S. 4–12.
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
543
Abb. 2: Anonym, Die Grafschaft Pyrmont in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts,
Ölbild auf Leinwand [Foto:
Melanie Mehring, Museum im
Schloss Bad Pyrmont].
Brodelbrunnens entdeckte Hortfund aus der römischen Kaiserzeit dokumentiert,
der im Schacht einer solchen Quelle abgelagert wurde.4 In der Mitte des 14. Jahrhunderts berichtete der Dominikaner Heinrich von Herford (ca. 1300–1370)
über zwei Brunnen in der Nähe der Stadt Lügde: Der eine heiße Heiliger Brunnen ( fons sacer); wer sich darüber neige, dem spritze das Wasser ins Gesicht. Der
andere werde Brodelbrunnen ( fons bulliens) genannt, weil es darin so laut brodele,
so dass man das Geräusch im Umkreis eines Armbrustschusses höre.5 Auch wenn
der Dominikaner von dem säuerlichen Geschmack des Wassers sprach und seine
abführende Wirkung kannte, ist keineswegs sicher, dass die Pyrmonter Quellen
bereits im 14. Jahrhundert als Heilbrunnen besucht wurden.6 Belastbare Zeugnisse
4
5
6
Vgl. ebd.
Der Passus aus der „Catena aurea entium“, für die keine Edition vorliegt, wird ausführlich zitiert von F. von Fürstenberg, Monumenta Paderbornensia […], Lemgo: Heinrich Wilhelm
Meyer 41714, S. 192; dort aber irrtümlich dem „Liber de rebus et temporibus memorabilibus
sive Chronicon“ des Heinrich von Herford zugeordnet. Vgl. W. Mehrdorf / L. Stemler,
Chronik von Bad Pyrmont, Teil 1, Bad Pyrmont 1967, S. 31 ff.
Vgl. ebd., S. 33.
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544
Hartmut Kühne
über Heilwirkungen des Pyrmonter Wassers und seine therapeutische Nutzung
finden sich jedenfalls nicht vor dem Jahre 1556.7
Den ersten gesicherten Hinweis auf die Heilwirkungen der Quelle bietet ein
Brief, den Ernst Rhegius (1526–1568), der jüngste Sohn des Celler Superintendenten Urbanus Rhegius (1489–1541), in der ersten Februarhälfte 1556 an Philipp
Melanchthon (1497–1560) richtete.8 Rhegius schrieb, in der Nähe Hamelns seien
Heilbrunnen (thermae) durch einen von Dämonen besessenen Mann entdeckt
worden. Dieser Mensch habe zuvor in der Wildnis gelebt; als er von dem Wasser
trank, sei ein lautes Geräusch zu hören gewesen und sogleich wurde er von dem
Dämon befreit. Anschließend reinigte er den Sprudelquell (scaturigo) und machte
dessen heilende Wirkung bekannt. Inzwischen habe, so Rhegius, ein Zulauf zu
der Quelle eingesetzt und weitere Heilungen seien geschehen.
Der Ruf Pyrmonts verbreitete sich im Frühjahr 1556 rasch im ganzen Reichsgebiet. Da sich vor Ort keine einschlägige Überlieferung erhalten hat, ist man zur
Rekonstruktion der Vorgänge auf die aus beiden konfessionellen Lagern reichlich
vorhandenen Chroniken, einige Privatbriefe und die mindestens elf einschlägigen
Drucke des Jahres 1556 angewiesen. Eine gründliche Auswertung der gesamten
Nachrichten zu dem Ereignis wird die oben angekündigte Monografie bieten.9 Als
7
8
9
Vgl. J. Feuerberg [Pyrmontanus], FONS SACER, Das ist / Beschreibung der Wunderbaren / Köstlichen vnd Weitberümbten Heiligbrunnen / gelegen in der Graffschafft Pyrmont /
seiner Edlen vnd Vieltugendreichen Krafft vnd Wirckung / […] Autore Johanne Pyrmontano
alias Feurbergk / Lugdunensi, Scholae patriae Moderatore, Lemgo: s. i. 1597 (noch nicht im
VD16 verzeichnet, vgl. UB Basel, Sign. hx VII 2: 4). Ebd., fol. A4v, wird behauptet, dass bereits
Margarete zur Lippe, die Frau des Grafen Johann I. von Rietberg (1472–1516), im Jahre 1502 den
Pyrmonter Heilbrunnen gebraucht habe. Diese Angabe ist aber schon deshalb fragwürdig, weil
der Chronist an derselben Stelle behauptet, dass die Tugent des Brunnens verborgen blieb, solange
das Volck noch im grewel des Bapstthumbs steckte. Möglicherweise liegt eine Verwechslung mit
dem Brunnen der Wallfahrtskirche von Blomberg vor, die durch die Förderung des Edelherren
Bernhard VII. zur Lippe (1429/46–1511), des Vaters der Margarete, gegründet wurde, und aus
welchem die Landesherren auch Wasser zu Heilzwecken verschickten. Vgl. K.-F. Besselmann,
Stätten des Heils. Westfälische Wallfahrtsorte des Mittelalters (SRK 6), Münster 1998, S. 69.
Vgl. Melanthoniana. Regesten und Briefe über die Beziehungen Philipp Melanchthons zu
Anhalt und dessen Fürsten, ed. C. Krause, Zerbst 1885, S. 152 ff., Nr. 64. Der undatierte
Brief wurde von Heinz Scheible dem Februar 1556 zugeordnet, weil in ihm die Neuausgabe
der „Definitiones“ erwähnt wird, die Melanchthon seit Ende Januar 1556 verschickte. Vgl. PM
Bw, edd. H. Scheible / W. Thüringer, Bd. 7: Regesten 6691–8071 (1553–1556), Stuttgart/Bad Cannstatt 1993, S. 395, Nr. 7722. Da auch die Vorbereitungen eines zu Fastnacht
in Celle veranstalteten Turniers erwähnt werden, muss er in den Tagen unmittelbar vor dem
17.2.1556 verfasst worden sein.
Das Ereignis Pyrmont wird in meiner Monografie in einem eigenen Kapitel umfassend dargestellt. Bis zu deren Erscheinen vgl. noch den, in Teilen inzwischen korrekturbedürftigen
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
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knappes Ergebnis sei hier so viel verraten, dass der massenhafte Besuch bei dem
Wunderbrunnen sich auf eine kurze Zeitspanne im Frühjahr, nämlich die Monate
April und Mai 1556, konzentrierte. Immer wieder ist in den Chroniken davon die
Rede, dass sich in der Hochzeit mehrere Tausend Menschen am Brunnen aufhielten. Die zahlreichen Besucher kamen aus einem Gebiet, das sich in etwa von
Lübeck bis Coburg und von Osnabrück bis Wittenberg erstreckte. Der spektakuläre Erfolg des Brunnens habe auf seinen einzigartigen Heilwirkungen beruht,
da hier auch als unheilbar geltende Erkrankungen kuriert wurden. Die Heilung
von Lähmungen wird in den Chroniken besonders hervorgehoben. Häufig wird
auch die Befreiung von Dämonen durch das Trinken des Wassers erwähnt. Für
die Genese der Wunderbrunnen-Konzeption ist entscheidend, dass im Gegensatz
zum traditionellen ‚medizinischen‘ Heilwassergebrauch, wie er zuvor besonders
im deutschen Südwesten praktiziert wurde,10 in Pyrmont eine Generalindikation
für die Anwendung des Wassers behauptet wurde. Dies bedeutet, das gnadenhaft
gespendete Wasser hielt man zur Heilung aller Krankheiten und Gebrechen bis
hin zu den sog. biblischen Krankheiten (Lähmungen, Taubheit, Blindheit nach
Lk 7,22) für geeignet. In diesen Zusammenhang gehören ebenso Exorzismen, die
auch bei den späteren Wunderbrunnen als besonders deutlicher Beweis für die
wunderbare Wirksamkeit des Wassers galten.
Die Flugschriften über den Pyrmonter Wunderbrunnen
Wesentlich deutlicher als die retrospektiven chronistischen Berichte propagierten die im Kontext des ersten Wunderbrunnens entstandenen Flugschriften die
universellen Anwendungsmöglichkeiten des Wunderwassers. Dies bezeugt im
Rückblick ausdrücklich der Heidelberger Mediziner Jacobus Theodorus Tabernaemontanus (ca. 1522–1590), der den Zulauf nach Pyrmont als unsinnige Wallfahrt
verdammte. Er warf etliche[n] ärzt[en] oder Doctores vor, dass sie ein offentlichen
truck außgehen ließen, in dem sie behaupteten, der Wunderbrunnen könne alle
Krankheiten heilen.11 Es handelte sich bei der so inkriminierten Schrift allerdings
Aufsatz H. Kühne, „… diese Quelle übertrifft alle Thermen und anderen Quellen“. Der
Wunderbrunnen von Pyrmont im Briefwechsel Melanchthons, in: I. Dingel / A. Kohnle
(Hgg.), Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas (LStRLO 13), Leipzig 2011, S. 227–250.
10 Vgl. P. Kaufmann, Gesellschaft im Bad. Die Entwicklung der Badefahrten und der „Naturbäder“ im Gebiet der Schweiz und im angrenzenden südwestdeutschen Raum (1300–1610),
Zürich 2009.
11 J. Theodorus [Tabernaemontanus], Neuw Wasserschatz / Das ist: Aller Heylsamen
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546
Hartmut Kühne
nicht nur um eine Publikation, sondern um eine Serie von Flugschriften, deren
bislang bekannte zehn Einzeldrucke in der Regel ohne Verfasserangabe publiziert
wurden.12 Auch wenn die Drucker diese Titel nicht immer unter dem Namen ihrer
Werkstatt herausgaben, ließen sich die Drucke durch den Typenvergleich Druckereien in Magdeburg, Wittenberg, Leipzig, Erfurt, Nürnberg, Mainz, Straßburg/
Strasbourg und Nimwegen/Nijmegen zuweisen.13
Es gibt keine andere Schrift über einen Heilbrunnen bzw. ein balneologisches
Thema, die im 16. Jahrhundert auch nur näherungsweise eine ähnliche Zahl von
Nachdrucken erreichte.14 Die sonst am häufigsten gedruckte balneologische
Schrift des 16. Jahrhunderts, die 1535 von Paracelsus (ca. 1493–1541) publizierte
„Beschreibung des Bades Pfäfers“, erlebte bis zum Ende des Jahrhunderts – also in
60 Jahren [!] – insgesamt sieben Auflagen.15 Bädermonografien, also Beschreibungen eines einzelnen Bades, wurden im 16. Jahrhundert allenfalls dann innerhalb
eines Jahres nachgedruckt, wenn sie von der Volkssprache in das Lateinische übertragen wurden oder umgekehrt. Schon die Herstellung der ersten Auflage einer
Bädermonografie konnte Drucker und Autoren vor unüberwindliche Probleme
stellen. So lehnte der Baseler Buchdrucker Johannes Oporinus (1507–1568) den
Druck einer ihm angebotenen Schrift über einen Heilbrunnen ab, weil sich dessen Herstellung erst durch den Verkauf einer Auflage von mindestens 500 Stück
wirtschaftlich rentierte.16 Daher zeigt allein schon die Zahl der Drucke, die 1556
über den Pyrmonter Brunnen erschienen, dass es sich in diesem Fall nicht um
einen ‚normalen‘ balneologischen Text handelte. Werfen wir daher einen genaueren Blick auf den Inhalt dieser Flugschriftenserie. Diese lässt sich aufgrund unterschiedlicher Titel in zwei Gruppen teilen.
Die erste Gruppe mit sechs verschiedenen Drucken wurde unter folgendem, in
der Schreibweise leicht variierenden Titel verbreitet: „Gründlicher warhafftiger
12
13
14
15
16
Metallischen Minerischen Bäder vnd Wasser / sonderlich aber der new erfundenen Sawrbrunnen […] beschreibung […], Frankfurt a. M.: Nikolaus Basse 1581 (VD16 T 821), S. 361.
Um den bibliografischen Apparat zu entlasten, beschränke mich darauf, in der Anm. 17 die
VD16-Nr. der entsprechenden Drucke zu nennen.
Ich bin Ulrich Kopp (Wolfenbüttel) außerordentlich dankbar, dass er bereits in Vorbereitung
meines Aufsatzes [H. Kühne, Wunderbrunnen von Pyrmont (wie Anm. 9)], die bis dahin
noch nicht identifizierten Pyrmont-Drucke durch Typenbestimmung zugewiesen hatte und
dies 2017 nochmals für die inzwischen neu entdeckten Funde leistete. Diese Ergebnisse sind
inzwischen in den VD16 eingeflossen.
Vgl. F. Fürbeth, Bibliographie der deutschen oder im deutschen Raum erschienenen Bäderschriften des 15. und 16. Jahrhunderts, in: WmM 13 (1995), S. 217–252.
Vgl. ebd., S. 225.
Vgl. P. Kaufmann, Gesellschaft im Bad (wie Anm. 10), S. 123, Anm. 301.
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
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Abb. 3: Anonym, Titelblatt
von: Gründtlicher / warhafftiger Bericht / vom dem new
gefundenen wunder Brunnen /
inn der Graffschafft Spiegelberg/ zwo meyl weges gelegen
von Hamelen an der Weser.
Jtem / Von Natur, eygendschafft vnd wirckung desselben
Brunnen / in bewerten Exempeln angezeiget, Erfurt: Gervasius Stürmer 1556 (VD16 G
3608) [Bibliothek des Museums
Hameln, Dauerleihgabe im Mu
seum Pyrmont, ohne Inv.-Nr.,
Foto: Hartmut Kühne].
Bericht von dem neu gefundenen Wunderbrunnen in der Graffschafft Spiegelberg
zwo meil weges gelegen von Hameln an der Weser. Item von Natur eigendschafft
und wirckung desselben Brunnen in bewerten Exempeln angezeiget“.17 (Abb. 3)
An diesem Titel ist bemerkenswert, dass er den Begriff ‚Wunderbrunnen‘ gezielt
einsetzt – das Wort tauchte niemals zuvor im Titel eines gedruckten deutschen
Textes auf. Mit der einleitenden Wendung Gründlicher warhafftiger Bericht wird
eine in der Flugschriftenpublizistik bereits gebräuchliche Formulierung aufgegriffen, die allerdings erst kurz zuvor, nämlich im Zusammenhang des Schmalkaldischen Krieges (1546/47) häufiger benutzt und so für die Berichterstattung über
politisch-konfessionelle Auseinandersetzungen typisch wurde.18
17 Wie bereits in Anm. 12 ausgeführt, beschränke ich mich auf die Nennung der VD16-Nr.: VD16
G 3610, VD16 G 3608, VD16 ZV 26676, VD16 G 3611; VD16 G 3609. Der aus der Magdeburger Offizin des Pankratius Kempf (1533–1570) stammende Druck in: Kirchenbibliothek
Kalbe (Altmark), Sign. KEHB: 234,17m, ist noch nicht vom VD16 verzeichnet.
18 Die Formulierung taucht im Titel einer Druckschrift erstmals 1525 auf. Vgl. VD16 B 9382.
Eine auffällig häufige Verwendung lässt sich aber erstmals im Konflikt zwischen Herzog Heinrich d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1514–1568) und dem Schmalkaldischen Bund bzw.
dem hessischen Landgrafen Philipp (1509/18–1567) 1546 feststellen. Vgl. VD16 ZV 2395,
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548
Hartmut Kühne
Die zweite Gruppe der Pyrmont-Flugschriften, die vier Drucke umfasst, firmierte unter dem ebenfalls sprachlich leicht variierenden Titel „Beschreibung
des neuen gefundenen Brunnens, in welchem der allmächtige Gott täglich seine
Gaben und Guttat reichlich den Menschen erscheinen lässt“.19
Mit einer Ausnahme20 ist der Text all dieser Drucke aus zwei Teilen zusammengesetzt. Am Beginn steht stets ein chemisch-medizinisches Gutachten, das
die Heilwirkung des Wassers in Pyrmont auf den hohen Gehalt von ‚Ocker‘
zurückführt und dafür auf ein klassisches Arzneihandbuch, die „Materia Medica“
des Dioscurides (ca. 40–90 n. Chr.), verweist.21 Der Autor warnt vor der inneren
Anwendung des Wassers und will diese auf kräftige junge Menschen eingeschränkt
wissen. Das Baden in dem Wasser soll hingegen gegen alle reudigkeit / kretz / grind
/ böse flüsse / Frantzosen [Syphilis, Anm. H. K.] / offene scheden / Gicht / das heilige
ding [Wundrose, Anm. H. K.] vnd Podagra [Fußgicht, Anm. H. K.] / etc. helfen.22
Der Verfasser dieses Gutachtens war Burkhard Mithoff. Der renommierte
Mediziner lehrte an der Universität Marburg und war zunächst für den hessischen Landgrafen Philipp, seit 1536/37 aber auch als Leibarzt am Hof des Herzogs Erich I. von Braunschweig-Calenberg-Göttingen (1495–1540) tätig.23 Nach
dessen Tod blieb er als Mediziner im Dienst der Witwe seines ehemaligen Dienstherrn. Unter Herzogin Elisabeth von Brandenburg (1510–1558), die zunächst für
ihren unmündigen Sohn regierte und in dieser Zeit die Reformation des Landes
19
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VD16 G 3592, VD16 ZV 7851, VD16 B 7309, VD16 H 2847. Im Schmalkaldischen Krieg und
im Zusammenhang der Magdeburger Belagerung (1550/51) wird er ebenfalls verwendet. Vgl.
VD16 G 3593, VD16 B 2267.
VD16 ZV 24438, VD16 ZV 29168, VD16 ZV 29445; vgl. auch die folgende Anm.
Es handelt sich um den niederländischen Druck: Een gescrift des nieuwen gheuonde[n] Fonteyne ofte sprincborne / inde welcke die almechtige Godt syn gaven dagelyc etc. laet blycken
/ ende is gelegen in die Graeffschap van Speighelberghe twee mylen weechs van der stadt Hamelen an de Weser, Nimwegen: Peter von Elzen [1556]. Dessen einziges bekanntes Exemplar,
ehemals im Heimatmuseum Coppenbrügge und jetzt im Museum Schloss Pyrmont befindlich,
enthält nur den ersten Teil des sonst gebotenen Textes, also lediglich das Gutachten Burkhard
Mithoffs (1501–1564). Nach der Angabe des Kolophons soll es sich um den Nachdruck einer
in Magdeburg hergestellten Publikation handeln.
Vgl. Pedanius Dioscurides aus Anazarba. Fünf Bücher über die Heilkunde, ed. M. Aufmesser (ATS 37), Hildesheim/Zürich/New York 2002, S. 324.
Ich zitiere den Wittenberger Druck B. Mithoff, Gründlicher: warhafftiger Bericht / von
dem new gefundenen wunder Brunnen / in der Graffschafft Spiegelberg […], Wittenberg:
Georg Rhau (Erben) 1556 (VD16 ZV 26676), fol. A2v.
Vgl. B. Streich, Fürstliche Repräsentation und Alltag am Hofe Herzogin Elisabeths von
Braunschweig-Lüneburg (Calenberg-Göttingen), in: E. Schlotheuber (Hg.), Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1510–1558). Herrschaft – Konfession – Kultur
(QDGNS 132), Hannover 2011, S. 138–166, bes. S. 148.
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
549
durchsetzte, gehörte er zum Hofrat, also zum engsten Beraterkreis der Herzogin.24
Als Elisabeth 1546 eine zweite Ehe mit Graf Poppo XII. zu Henneberg (1513–
1574) einging, trat Mithoff als Leibarzt in den Dienst des Henneberger Grafen.25
Mithoff wird in den Drucken der zweiten Gruppe am Ende des Textes, in einem
Fall auch auf dem Titelblatt als Verfasser genannt. Dass er der Verfasser eines entsprechenden Gutachtens war, ist auch aus anderen Zusammenhängen bekannt.26
Sein Text ist allerdings für den Abdruck in der Flugschriftenserie erweitert worden,
indem man eine predigtartige Anpreisung der wunderbaren Heilungen hinzufügte,
die mit dem Satz beginnt: Es hat / Gott lob / dieser brunnen vielen leuten geholffen
/ die etliche jar taub vnd blind gewesen sein. Desgleichen auch vielen Leuten / die
den Krebs vnd Harwurm [ein flechtenartiger Hautausschlag, Anm. H. K.] gehabt
/ geholfen.27 Darauf folgt die ausführliche Schilderung eines Exorzismus, bei dem
das Wasser einem besessenen Mann gegen seinen Willen eingeflößt wurde, so das
der böse Geist von in hat müssen weichen.28 Nach dem summarischen Hinweis auf
eine große Zahl von Heilungen durch das Wasser endet der erste Textteil mit der
Wendung: Gott verleihe vns allen Christgleubigen seine gnade / Amen.29
Der zweite Teil des Flugschriftentextes wird als Brief eingeführt, den ein Pfarrer
nicht weit vom Brunnen wonend / einem Bürger aus Lübeck […] zugeschrieben.30 Bei
dem genannten Geistlichen muss es sich um den seit 1552 in Oesdorf als Pfarrer und
zugleich als Hofprediger des Grafen Philipp von Pyrmont (1530–1557) amtierenden Dietrich bzw. Theodor von Collum (1521–nach 1595) handeln.31 In dem Brief
24 Vgl. ebd., S. 147 f.; M. Füssel, Vormoderne Politikberatung? Gelehrte Räte zwischen Standes- und Expertenkultur, in: ebd., S. 222–232, hier S. 225 f.
25 Vgl. Die Grafen von Henneberg. Eine illustrierte Genealogie aus dem Jahr 1567, edd. V. Kessel / J. Mötsch / (Red.) T. Wurzel / M. Lüders (Selecta 9; Sonderveröffentlichung des
Hennebergisch-Fränkischen Gerschichtsvereins 17), Frankfurt a. M. 2003.
26 So hat Mithoff sein Gutachten am 12.4.1556 auch an Melanchthon geschickt. Vgl. Philippi
Melanthonis epistolae, praefationes, consilia, iudicia, schedae academicae […], in: Philippi Melanthonis opera, quae supersunt omnia, ed. C. G. Bretschneider (CR 8), Halis Saxonum
1841, Sp. 730 f, Nr. 5961; das Regest in: PM Bw Regesten, edd. H. Scheible / W. Thüringer (wie Anm. 8), Bd. 7, S. 416, Nr. 7780; wahrscheinlich dasselbe Gutachten, das Mithoff an
Dietrich IV. von Plesse († 1571) adressierte, findet sich in der Wiedergabe bei J. Feuerberg
[Pyrmontanus], FONS SACER (wie Anm. 7), fol. A4r f.
27 B. Mithoff, Gründlicher: warhafftiger Bericht (wie Anm. 22), fol. A2v f.
28 Ebd., fol. A3r.
29 Ebd.
30 Ebd.
31 Die spärlichen Angaben zu seiner Biografie stammen aus einer von ihm selbst in niederdeutscher Sprache verfassten Vita, auf der die Darstellung bei L. Curtze, Evangelische Geistliche
zu Pyrmont seit der Reformationszeit bis auf die neueste Zeit (T. 1), in: Ders., Beiträge zur
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550
Hartmut Kühne
dieses Geistlichen werden zunächst die Indikationen des Heilwassers im Allgemeinen aufgeführt. Es helfe gegen alle Arten von Wunden, gegen Grind und Flechten,
bei Lähmungen und erschlafften Gliedern sowie bei Vergiftungen und bösen Augen.
Es folgen Berichte über einige exemplarische Heilungen. Einer vergifteten Frau aus
Bielefeld seien nach dem Trinken des Wassers eine Eidechse und Würmer aus dem
Leib gekrochen. Ein seit sieben Jahren stummer Mann habe auf dieselbe Weise seine
Sprache wiedererlangt und ein erblindeter Schmiedeknecht konnte nach dreitägiger
Waschung des Auges wieder sehen. Der Text schließt mit der Formel: Des sey Gott
gelobet vnd gedancket in ewigkeit / dem kein ding vnmüglich ist / Amen.32
Der Flugschriftentext stellt eine eigentümliche Mischform zwischen einem
balneologischen Gutachten und Mirakelaufzeichnungen dar, die allerdings in das
Gewand tagesaktueller Berichterstattung, also der sog. Neuen Zeitungen gekleidet
wurden. Auch wenn in den Darstellungen der Wunderheilungen ein predigtartiger
Stil durchbricht, fehlen in fast allen Drucken deutliche theologische Aussagen,
mit denen die Mirakel gedeutet werden. Allerdings findet sich in dem Mainzer
Druck auf der letzten Seite ein Holzschnitt mit der Darstellung Christi an einem
Krankenbett, also wohl einer neutestamentliche Krankenheilung, die mit der
Bildunterschrift Die wunderzeichen Christi seind nicht zu verlachen / Die Blin
den macht er sehent / die lamen gerade / die Tauben hörent / die Stummen redent
/ etc. kommentiert wird.33 (Abb. 4) Lediglich in einer Druckvariante wird eine
explizite theologische Deutung der Pyrmonter Wunderheilung geboten. Daher
soll diese Publikation genauer in den Blick genommen werden.
Die Straßburger Pyrmont-Flugschrift aus der Zürcher „WickianaSammlung“
Der im Folgenden zu besprechende Druck gehört zur zweiten Gruppe der Pyrmont-Flugschriften mit dem Titel „Beschreibung des neuen gefundenen Brunnens […]“.34 Er bietet auffällig weitreichende Veränderungen des Basistextes der
Geschichte der Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont, T. 2, Arolsen 1869, S. 571–577 und
bei C. Völker, Geschichte der katholischen Kirche in der Grafschaft Pyrmont bis 1668. Mit
Beiträgen zur Geschichte des Bistums Paderborn. Für die Herausgabe bearb. von H. Engel,
Lügde 1991, S. 219; beruhen.
32 B. Mithoff, Gründlicher: warhafftiger Bericht (wie Anm. 22), fol. A4r.
33 VD16 ZV 24438, fol. A4v.
34 Vgl. B. Mithoff, Beschreibung des newen gefundnen Brunnens / in welchem der allmechtig
Gott täglich seine gaben vnnd gůthat reichlich den menschen erscheinen laßt […], Straßburg:
Thiebold Berger 1556 (VD16 ZV 29445).
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
551
Abb. 4: Anonym, Holzschnitt
aus: Beschreibung des neuwen
gefundenen Bronnens / inn
wellichem der Allmechtige
ewige Gott / teglich seine
gaben reychlich erscheynen
lasset / Vnd ist derselb Bron
gelegen in der Graffschafft
von Speyelberge/ zwo meyl
wegs von Hamelen an der
Weser […], Mainz: Franz Behem 1556 (VD16 ZV 24438)
[Staatsbibliothek zu Berlin –
Preußischer Kulturbesitz, Sign.
Js 10485, Foto: Staatsbiblio
thek zu Berlin – Preußischer
Kulturbesitz, http://resolver.
staatsbibliothek-berlin.de/SB
B00009EBE00000000 (letz
ter Zugriff am 25.5.2020)].
Flugschriftenserie, und ist damit der umfangreichste Druck dieser Gruppe. Er war
lange Zeit nur durch die Abbildung seines Titelblattes und die Transkription des
Textes bekannt, die Alfred Martin in seiner Kulturgeschichte des Badewesens
im Jahre 1906 wiedergegeben hatte, ohne den Standort des benutzten Druckes
anzugeben.35 Erst 2011 konnte ein Exemplar dieses Druckes in der Zürcher „Wickiana-Sammlung“ identifiziert werden.36 (Abb. 5) Diese bei Thiebold Berger (aktiv
1551 bis 1584) in Straßburg hergestellte Flugschrift ist für die Interpretation des
1556 entstehenden Wunderbrunnen-Konzeptes besonders aussagekräftig, weil
sie zwei Aspekte deutlicher ausspricht, als es die anderen Druckfassungen tun,
nämlich die Folgen sündigen Verhaltens am Brunnen und die Deutung der Heilungen als auf die Endzeit verweisende Wunderzeichen Gottes.
35 Vgl. A. Martin, Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen. Nebst einem Beitrag zur Geschichte der deutschen Wasserheilkunde, Jena 1906, S. 287–290.
36 Vgl. H. Kühne, Wunderbrunnen von Pyrmont (wie Anm. 9), S. 249. Da die Blätter des Druckes im zweiten Band der Sammlung Wicks einzeln auf Papier aufgeklebt wurden, ist er in der
Handschriftenabteilung der Zürcher Zentralbibliothek nicht eigens katalogisiert worden.
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552
Hartmut Kühne
Die Flugschrift stellt dem medizinisch-chemischen Gutachten eine knappe
Chronik des Heilbrunnens voran, die sich von der durch Ernst Rhegius berichteten
Version über die Entdeckung der Heilkraft des Wassers unterscheidet. Nach der
Schilderung dieses Druckes war diese Quelle bereits 300 Jahren zuvor als Heilbrunnen genutzt worden. Weil die Landesherren aber damals für ihre Nutzung
Tribut oder zinß forderten, sei das Wasser versiegt.37 Dass man aus dem Heilwasser keinen materiellen Gewinn ziehen dürfe und der Verkauf des Wassers eine
Sünde sei, die das Versiegen des Brunnens bzw. den Verlust seiner Heilkraft nach
sich ziehe, wurde für den Umgang mit den Wunderbrunnen in den lutherischen
Gebieten grundlegend. Es wurde geradezu zu einem Dogma der lutherischen
Wunderbrunnen-Theologie, dass Gott seine Gnade von den Wunderbrunnen
abziehe, wenn man sich in ihrer Nähe sündig verhalte. Neben Geiz und materiellem Gewinnstreben spielte vor allem die Undankbarkeit für das Geschenk des
Heilwassers in der theologischen Argumentation eine wichtige Rolle. Dies kommt
auch im Text der in Straßburg gedruckten und hier zu besprechenden Flugschriftenvariante zur Sprache: An die Stelle der sonst in dem Brief des Ortspfarrers
enthaltenen Erzählung über die Heilung des seit sieben Jahren stummen Mannes
wurde ein Strafwunder gesetzt: Die Erzählung berichtete, wie drei Landsknechte
unsinnig und toll wurden, nachdem sie über die Heilkraft des Brunnens gespottet hatten.38 In diesen Zusammenhang gehört auch, was der Lügder Schulmeister
Johann Feuerberg (ca. 1530–nach 1597) im Rückblick auf das Ende des Zulaufs
zum Pyrmonter Heilbrunnens schrieb: Da der gemeine hauffe sich kegen Gott
vndanckbarlich angestalt / offentliche sunde / schande vnd Hurerey getrieben bey
diesem Brunnen, habe Gott dem Brunnen / die krafft verschlossen.39
Aber zurück zu der in der Zürcher „Wickiana-Sammlung“ bewahrten Flugschrift und ihrer einleitenden Brunnenchronik! Nach deren Darstellung hätte
der Brunnen erst im März des laufenden Jahres 1556 seinen fluß wider bekommen
/ auch sein vorige würckung vnd tugend durch die krafft Gottes wider erzeigt.40 Da
bekannt war, dass Tiere, die von der Quelle trinken, sterben würden, habe ein
schwer kranker, gesüchter [an Rheuma leidender, Anm. H. K.] Mann beschlossen, seinem Leben durch einen Trunk aus der Quelle ein Ende zu setzen. Als aber
durch den Gebrauch des Wassers eine Besserung seines Zustands eintrat, habe
er weiter getrunken, sich auch mit dem Wasser gewaschen und wurde auf diese
37 B. Mithoff, Beschreibung des newen gefundnen Brunnens (wie Anm. 34); die vorgeschaltete Brunnenchronik umfasst die fol. A1v f.
38 Ebd., fol. A3v.
39 J. Feuerberg [Pyrmontanus], FONS SACER (wie Anm. 7), fol. B3r.
40 B. Mithoff, Beschreibung des newen gefundnen Brunnens (wie Anm. 34), fol. A1v.
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
553
Abb. 5: Anonym, Titelblatt
von: Beschreibung des newen
gefundnen Brunnens / in
welchem der allmechtig Gott
täglich seine gaben vnnd gůthat reichlich den menschen erscheinen laßt […], Straßburg:
Thiebold Berger 1556 (VD16
ZV 29445) [Abb. nach H.
Fehr, Massenkunst im 16. Jahr
hundert mit 112 Abbildungen,
Berlin 1924, S. 54].
Weise geheilt. Daraufhin setzte ein massenhafter Zulauf von den armen krüppelen /
lamen / tauben / blinden / vnd besessenen menschen dorthin ein, so dass nicht alle
Besucher vor Ort Unterkunft finden konnten und deshalb provisorische Hütten
auf dem Feld errichten mussten.
Nach dieser Einleitung folgen wie auch in den anderen Drucken das chemisch-medizinische Gutachten und der nach Lübeck adressierte Brief des Ortspfarrers. An diesen Brief, der sonst den Text der Flugschriften beendete, schließt sich
in dem Straßburger Druck noch eine Reflektion über den Pyrmonter Brunnens an.
Zum ersten wird nochmals das breite Spektrum der dort geheilten Krankheiten
wie Lähmungen, Blindheit, Taubheit etc. exemplarisch beschrieben, was in einer
Generalindikation des Wassers kulminiert: In sum[m]a / was doch presthafft ist
/ kein kranckheit vßgenommen / hat alles sein zuflucht zu disem brunnen.41 Eine
zweite grundlegende Aussage betrifft die theologische Bedeutung des Brunnens.
Es gäbe nämlich Menschen, die zu behaupten wagen, dass Gott bey vnsern zeiten
[…] nit so grosse wunderwerck vnd miracklen den menschen erzeigt / als zun zeiten
41 Ebd., fol. A4r.
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554
Hartmut Kühne
Christi.42 Beachteten diese Leute die gegenwärtigen Wunder an dem Brunnen,
so würden sie nicht so unwissend von Gott reden. Dieser Gedankengang wird
in einer zweiten Argumentation wiederholt, allerdings anders akzentuiert. Einst
offenbarte sich Gott den Kindern Israels durch Wunder. Weil diese aber undankbar waren und gegen Gott murrten, starben die meisten von ihnen in der Wüste,
ohne in das gelobte Land zu kommen. Also ist es zu vnsern letsten zeiten gleich
auch ein ding / so vns Gott seine gaben mit wunderwercken erzeigt / so halten wir es
für ein gespöt oder fabel.43 Denn wenn Gott in der Gegenwart mit Plagen straft, so
nimmt es sich niemand zu Herzen, außer jenen, die es unmittelbar betrifft. Warnt
Gott aber mit Wunderzeichen, so halten es alle für eine Fabel, außer jenen, die es
selbst gesehen haben. So werden Gottes Wunderwerke verlachet vnd verspottet, als
ob sie ein erdichtet ding seien, wiewol die wunderwerck heiter am tag ligen.44 Die
Argumentation endet schließlich im Aufruf zur Bekehrung und in der Anrufung
der Gnade Gottes. Sollichs wöll er vns verleihen das wir durch ihn erwerben nach
disem leben das ewig leben / Amen.45
Die am Pyrmonter Brunnen geschehenen Heilungen werden in der Flugschrift
also als göttliche Wunder interpretiert, mit denen Gott am Ende der Zeiten zur
Buße ruft. Dieses Argumentationsmuster erscheint ebenso in der lutherischen
Wunderzeichenpublizistik, die gerade in der Mitte der 1550er Jahre einen ersten
Höhepunkt erlebte. Im Falle Pyrmonts verband sich die Werbung für den neu
entdeckten Heilbrunnen in auffälliger Weise mit dem gerade erst deutlich etablierten Interesse lutherischer Geistlicher und Gelehrter an der Beobachtung von
‚himmlischen Wunderzeichen‘. Daher waren die Ereignisse des Jahres 1556 im
Weserbergland in ein mentales Klima eingebettet, das in besonderer Weise für
himmlische Zeichen und Wunder sensibilisiert war. Dieser Zusammenhang soll
im folgenden Abschnitt zumindest ansatzweise verdeutlicht werden.
Beginn und erster Höhepunkt der lutherischen
Wunderzeichenpublizistik
Die publizistische Verbreitung und Interpretation von Wunderzeichen ist ein
Phänomen, das in der Reformationsgeschichte und insbesondere in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung bis in die jüngste Vergangenheit keine
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45
Ebd.
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
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Rolle spielte. Zwar hatte der katholische Historiker Johannes Janssen (1829–
1891) schon am Ende des 19. Jahrhunderts den Protestanten deren „Wunder- und
Schauerliteratur“ genüsslich unter die Nase gerieben, da diese Veröffentlichungen
aus Janssens ‚ultramontaner‘ Sicht den kulturellen Niedergang zeigten, den die
Reformation mit sich gebracht habe.46 Abgesehen von einzelnen, wissenschaftlich
isolierten Arbeiten wie etwa der 1921 publizierten Monografie des Klimaforschers Gustav Hellmann (1854–1939) zu den meteorologischen Flugschriften
des 16. Jahrhunderts begann sich erst in den 1960er Jahren die Germanistik und
Erzählforschung mit dem Thema zu befassen.47 Aber auch diese grundlegenden
Arbeiten von Rudolf Schenda (1930–2000)48 sowie von Wolfgang Brückner
und dessen Schülern fanden zunächst in der Geschichtswissenschaft wenig und
in der Kirchengeschichte keine Resonanz,49 da die in der Wunderzeichenliteratur
zutage tretende apokalyptische Weltdeutung noch nicht als charakteristischer
Zug der protestantischen, insbesondere der lutherischen Mentalität gewertet
wurde. Erst als seit den 1990er Jahren auch in der Geschichtswissenschaft die
eschatologischen Erwartungen ernster genommen wurden, die die Reformation
weckte und die sich im konfessionellen Zeitalter noch verstärkten, begann man
die Wunderzeichen-Drucke als relevante historische Quellen zu akzeptieren.50
Freilich war die Interpretation von besonderen Naturerscheinungen als göttliche Zeichen keine Erfindung der Reformation oder der konfessionellen Publizistik. Bereits in der griechischen Antike wurden sog. Prodigien als den Zorn der
Götter verkündende Vorzeichen ernst genommen und in der Römischen Republik behandelte man sie als politische Angelegenheiten, die das ganze Gemeinwesen betrafen.51 Auch wenn die Prodigien in der Römischen Kaiserzeit ihre
46 J. Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, erg. und hrsg.
von L. Pastor, Bd. 6: Culturzustände des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters
bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges, Freiburg i. Br. 121888, S. 431 f.
47 Vgl. G. Hellmann, Die Meteorologie in den deutschen Flugschriften und Flugblättern des
16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Meteorologie (APAW PMK 1921/1), Berlin
1921.
48 Vgl. R. Schenda, Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: AGB
4 (1963), Sp. 637–710.
49 Vgl. W. Brückner (Hg.), Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung
und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Berlin 1974.
50 Ein wesentlicher forschungsgeschichtlicher Impuls war der Aufsatz von H. Lehmann, Das
17. Jahrhundert als Endzeit, in: H.-C. Rublack (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung
in Deutschland (SVRG 197), Gütersloh 1992, S. 545–558.
51 Vgl. V. Rosenberger, Gezähmte Götter. Das Prodigienwesen der römischen Republik (HABES 27), Stuttgart 1998.
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Hartmut Kühne
politische Bedeutung z. T. einbüßten,52 lebten sie als literarisches Traditionsgut
in der Spätantike und im Mittelalter fort und erfuhren seit dem Ausgang des
15. Jahrhunderts im humanistischen Milieu eine Renaissance.53 Das neu erwachte
Interesse an der Beobachtung und Deutung ungewöhnlicher Erscheinungen als
himmlischer Vorzeichen spiegelt sich besonders deutlich im Werk Sebastian Brants
(1457/58–1521).54 Mit seiner Deutung des 1492 bei dem elsässischen Städtchens
Ensisheim niedergegangenen Meteoriten, des sog. Donnersteins, avancierte er
zum ‚Erzaugur‘ des Reiches.55
Die systematische Beschäftigung mit den himmlischen Vorzeichen erhielt zu
Beginn des 16. Jahrhunderts durch die Wiederentdeckung einer von dem sonst
unbekannten Schriftsteller Julius Obsequens (ca. Mitte des 4. Jhs. n. Chr.) geschaffene Kompilation himmlischer Vorzeichen einen wichtigen Impuls. Dieser „Liber
Prodigiorum“, eine vor allem aus dem Geschichtswerk des Livius (59 v. Chr.–17
n. Chr.) geschöpfte Zusammenstellung aller Prodigien der Jahre 249 bis elf vor
Christus, wurde erstmals 1508 in Venedig als Anhang zu einer Briefausgabe des
jüngeren Plinius (61–113 n. Chr.) gedruckt.56 Eine ergänzte Neuausgabe durch
Conrad Lycosthenes (1518–1561) im Jahre 1552 wurde zum Impuls für die sich
kurz darauf etablierenden Prodigiensammlungen reformatorisch-humanistischer
52 Vgl. ebd., S. 201–240.
53 Vgl. J. Beyer, Art. Prodigien, in: R. W. Brednich / H. Bausinger / W. Brückner u. a.
(Hgg.), EM, Bd. 10: Nibelungenlied – Prozeßmotive, Berlin/New York 2002, Sp. 1378–1382;
C. Daxelmüller, Art. Vorzeichen, in: LexMa, Bd. 8, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 1869 f.,
mit weiterer Literatur.
54 Die Drucke sind gesammelt zugänglich in: Flugblätter des Sebastian Brant, ed. P. Heitz
(JGElsässLit 3), Straßburg 1915; zur Prodigiendeutung Brants vgl. D. Wuttke, Sebastian
Brants Verhältnis zu Wunderdeutung und Astrologie, in: W. Besch / G. Jungbluth /
G. Meissburger / E. Nellmann (Hgg.), Studien zur deutschen Literatur und Sprache
des Mittelalters. FS für Hugo Moser zum 65. Geburtstag, Berlin 1974, S. 272–286; Ders.,
Wunderdeutung und Politik. Zu den Auslegungen der sogenannten Wormser Zwillinge des
Jahres 1495, in: K. Elm / E. Gönner / E. Hillenbrand (Hgg.) / O.-H. Elias (Red.),
Landesgeschichte und Geistesgeschichte. FS für Otto Herding zum 65. Geburtstag (VGGL B
92), Stuttgart 1977, S. 217–244; Ders., Sebastian Brants Sintflutprognose für Februar 1524,
in: M. Krejci / K. Schuster (Hgg.), Literatur, Sprache, Unterricht. FS für Jakob Lehmann
zum 65. Geburtstag, Bamberg 1984, S. 41–46.
55 Vgl. D. Wuttke, Sebastian Brant und Maximilian I. Eine Studie zu Brants Donnerstein-Flugblatt des Jahres 1492, in: O. Herding / R. Stupperich (Hgg.), Die Humanisten in ihrer
politischen und sozialen Umwelt (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung
der DFG 3), Boppard 1976, S. 141–176.
56 Vgl. zum Werk P. L. Schmidt, Iulius Obsequens und das Problem der Livius-Epitome. Ein
Beitrag zur Geschichte der lateinischen Prodigienliteratur (AAMZ 1968/5), Mainz 1968.
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
557
Autoren.57 Diese Bearbeitung des singulären antiken Textes durch den Baseler
Humanisten Lycosthenes gehörte aber bereits einer neuen Phase des gelehrten,
aber auch des publizistischen Umgangs mit den Wunderzeichen an, denn in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts spielten Publikationen über Prodigien gemessen
an der gesamten Druckproduktion nur eine untergeordnete Rolle; „erst danach
[schnellte, Anm. H. K.] die Publikationsrate rasant nach oben“, wie Harry Oelke
konstatiert, der den Anteil von Wunderzeichendrucken an der gesamten Flugblatt-,
d. h. Einblattdruckproduktion im 16. Jahrhundert mit 36 Prozent berechnete.58
Schon Gustav Hellmann hatte festgestellt, dass die Zahl meteorologischer Flugschriften und Einblattdrucke seit den 1530er Jahre signifikant anstieg, wobei er
auch Berichte über Blut- und Schwefelregen sowie Polarlichter aufnahm.59 Auch
beobachtete er, wie seit den 1540er Jahren in der Darstellung der geschilderten
Ereignisse eine „moralisierende Betrachtungsweise“ Einzug hielt, d. h. die meteorologischen Erscheinungen wurden zunehmend als göttliche Zeichen gedeutet.60
Die Zunahme einschlägiger Printerzeugnisse lässt sich an den von Hellmann
verzeichneten Flugschriften und Einblattdrucken gut nachvollziehen.61 Zählte er
für die 1520er Jahre nur 13 Drucke, so waren es in den 1530er Jahren bereits 38
und in den 1540er Jahren 47 Drucke; in den 1560er Jahren stieg die Zahl gar auf 97
und in den 1570er Jahren auf 103 Drucke an.62 Innerhalb dieser steigenden Publikationskurve fallen besondere Ereignisse auf, die stärker als andere öffentlich rezipiert wurden und dadurch wohl auch dafür sorgten, dass sich Wunderzeichen als
Bestandteil der publizistischen Kommunikation etablieren konnten. Schon Hellmann hatte eine Liste jener Ereignisse zusammengestellt, die „ein ganz besonderes
Interesse geweckt haben müssen“, da über sie mindestens sechs Drucke hergestellt
wurden.63 Unter diesen Ereignissen nimmt eine Serie wegen ihres Umfangs – von
mindestens vierzehn Flugschriften – eine Ausnahmestellung ein. Es handelt sich
um Drucke, die von den Folgen eines Unwetters berichten, das am 7. August
57 Vgl. Iulii ObsequenTIS PRODIGIORUM LIber, ab Urbe condita us[que] ad Augustum Caesarem, cuius tantum extabat Fragmentum, nunc demum Historiaru[m] beneficio, per CONRADVM LYCOSTHENEM Rubeaquensem […], Basel: Johannes Oporin 1552 (VD16 O 178).
58 H. Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter
(AKG 57), Berlin/New York 1992, S. 380.
59 Vgl. G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 13.
60 Ebd., S. 21.
61 Trotz VD16 ist Gustav Hellmann durchaus nicht überholt, da er auch die im VD16 nicht
enthaltenen Einblattdrucke verzeichnet und die inzwischen verlorenen oder nur durch den
einstigen Antiquariatshandel bekannten Exemplare erfasste.
62 Vgl. G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 13.
63 Ebd., S. 14.
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Hartmut Kühne
1546 die burgundische Stadt Mecheln/Mechelen heimsuchte.64 Das Witterungsereignis wurde für die flämische Stadt zu einer Katastrophe, weil der Blitz in das
dortige Sandtor einschlug, das als Pulvermagazin diente. Die Explosion zerstörte
das Gebäude, dessen glühende Trümmer über der Stadt niedergingen. Hunderte
Häuser wurden beschädigt und etwa 150 Menschen starben an den Folgen der
Detonation. Unmittelbar nach dem Ereignis hatten bereits ein französischer Druck
und zwei niederländische Nachdrucke über das spektakuläre Geschehen berichtet,
ohne freilich eine moralische oder gar theologische Wertung vorzunehmen.65 Auf
eine ganz andere Resonanz trafen diese Nachrichten in der angespannten Situation des beginnenden Schmalkaldischen Krieges im Reichsgebiet, war doch die
prominente habsburgische Nebenresidenz Kaiser Karls V. (1519–1556) betroffen, der sich gerade zur militärischen Unterwerfung der Protestanten im Reich
anschickte. Antonius Corvinus (1501–1553), der General-Superintendent des
Fürstentums Braunschweig-Calenberg, übersetzte den niederländischen Text ins
Deutsche und ließ ihn mit einem aktuell-theologischen Kommentar versehen in
Hannover drucken.66 Die Übersetzung von Antonius Corvinus erlebte noch 1546
mit unterschiedlicher Kommentierung des Ereignisses im Reichsgebiet mindestens zehn Nachdrucke.67 Die Wittenberger Ausgabe dieser Flugschrift behauptete,
das Schießpulver hätte von Mecheln wenige Tage später in das kaiserliche Lager
geführt werden sollen, um es gegen die Protestanten einzusetzen, aber nu vnser
HE rr Gott […] durch einen schos sie selbest zum teil gestraffet.68 Und ein anonym
bleibender Magdeburger Prediger versicherte seinen Lesern, Gott habe durch das
Unwetter begonnen fur vns [zu, Anm. H. K.] streiten; er habe dem Keyser Carolo
64 Vgl. zum Ereignis R. Foncke, Die Explosion des Mechelner Sandtores (1546) in Flugschriften
der damaligen Zeit (Faculteit van de Wijsbegeerte en Letteren, Universiteit te Gent. Werken
68), Antwerpen 1932, S. 12–18; G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 43 f., verzeichnet nur zehn Drucke.
65 Vgl. R. Foncke, Die Explosion (wie Anm. 64), S. 19–35.
66 Vgl. A. Corvinus, Warhafftige anzeigung der schrecklichen / grausamen / erbermlichen geschichten vnd vngewitters / so sich aus Gottes verhengnis vnd straff / zu Mecheln in Braband
/ am VII. Augusti dieses XLVI. Jars / in der nacht zwischen zehen vnd eilff vhren / zugetragen
haben. […], Hannover: Henning Rüdem 1546 (VD16 W 183); zur Übersetzung durch Corvinus und seine heute verlorene Vorlage, einen bei Peter Jans Sone in Leiden hergestellten
Druck, vgl. R. Foncke, Explosion (wie Anm. 64), S. 52–55.
67 Nach Durchsicht des VD16 ließen sich folgende Drucke feststellen: VD16 W 4600, VD16 ZV
1375, VD16 B 2213, VD16 W 4601, VD16 ZV 19215, VD16 B 2212, VD16 N 738, VD16 N 737,
VD16 W 607, VD16 ZV 3834; vgl. auch G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 43.
68 Warhafftige Zeitung von dem schrecklichen Wetter zu Maehem in Brobant, Wittenberg: Josef
Klug 1546 (VD16 W 607), fol. A2v.
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
559
Abb. 6: Anonym, Titelblatt
von: Newe zeittung / der man
furmals nicht viel gehöret / die
sich begeben haben in Nidderlandt / zu Mecheln vnnd
andern vmbligenden Stedten
[…], Magdeburg: Michael Lotter
1546 (VD16 N 738) [Staatsbi
bliothek zu Berlin – Preußischer
Kulturbesitz, Sign. Flugschr.
1546/31/5, Foto: http://resol
ver.staatsbibliothek-berlin.de/
SBB0001966200000000 (letzter
Zugriff am 25.5.2020)].
ein zeichen gegeben […] / ob er sich besinnen wolt / vnd von seinem vnchristlichen
[…] fürnemen […] abstehen.69 (Abb. 6)
Mit mindestens 14 Drucken bzw. Nachdrucken war diese Druckserie die erfolgreichste Wunderzeichenpublikation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zu
diesem außerordentlichen Erfolg hat zweifellos die besondere religionspolitische
Situation am Beginn des Schmalkaldischen Krieges beigetragen. Da die folgenden
militärischen Auseinandersetzungen anders verliefen, als von Corvinus und seinen
literarischen Parteigängern prognostiziert, ist diese publizistische Episode allerdings
schnell wieder vergessen worden. Auch das zeitlich nächste wunderbare Ereignis,
das medial Aufsehen erregte, da es in sieben Auflagen verbreitet wurde, war religionspolitisch brisant. Es handelte sich um ein in der Nacht vor dem Pfingstfest
1548 in der Nähe von Braunschweig beobachtetes ‚Feuerzeichen‘ (d. h. ein Nordlicht), das den Zuschauern unter anderem den nach der Schlacht von Mühlberg
gefangenen sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich I. (1532–1547/54), eine
69 Newe zeittung / der man furmals nicht viel gehöret / die sich begeben haben in Nidderlandt /
zu Mecheln vnnd andern vmbligenden Stedten […], Magdeburg: Michael Lotter 1546 (VD16
N 738), fol. A3v f.
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560
Hartmut Kühne
Kreuzigungsszene und das Erscheinen Christi zum Jüngsten Gericht vor Augen
stellte.70 Von dem Braunschweiger Superintendenten Nikolaus Medler (1502–
1551) wurde der Bericht in eine literarische Form gebracht, die geeignet war, den
Widerstand gegen die kaiserliche Religionspolitik zu unterstützen.71 Da sich dieser
Widerstand besonders in Magdeburg formiert hatte, wurden alle sieben Auflagen
der Schrift – teilweise mit einem Vorwort von Matthias Flacius (1520–1575)
versehen – in der Elbestadt gedruckt.72 Diese Veröffentlichung steht am Beginn
einer Reihe von Publikationen, die sich mit der Deutung ähnlicher Chasmata
(‚Feuerzeichen‘) befassten und die in einer Serie von neun Drucken über ein Feuerzeichen kulminierte, das im Juli 1556 im Vogtland beobachtet wurde.73 Diesen
frühen ‚Erfolgsgeschichten‘ der protestantischen Wunderzeichenliteratur wird an
anderer Stelle ausführlicher nachgegangen.74 Für die jetzige Argumentation muss
es genügen, darauf hinzuweisen, dass die Kumulation dieser Wunderzeichen-Drucke im selben Jahr stattfand, als auch der Pyrmonter Wunderbrunnen bekannt
wurde. Dies ist sicher kein Zufall, denn das Jahr 1556 darf als Epochenjahr der
protestantischen Wunderzeichen-Literatur gelten. Das literarisch markanteste
Datum dieses Jahres ist die Publikation der ersten Wunderzeichenchronik des
Jenenser Lutheraners Hiob Fincel († nach 1568).75 Der Band enthält auf etwa 450
Seiten jahrweise geordnete Nachrichten über Wunderzeichen, die sich seit dem
Jahr 1517 ereigneten – d. h. seit dem Beginn der Reformation, also dem Beginn
70 Vgl. G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 44 f., der nur drei unterschiedliche Drucke kannte.
71 Vgl. zum Verhältnis Medlers zum Interim und den Magdeburger Theologen T. Kaufmann,
Das Ende der Reformation. Magdeburg „Herrgotts Kanzlei“ (1548–1551/2) (BHTh 123),
Tübingen 2003, S. 257–266.
72 Vgl. VD16 ZV 21685, VD16 M 1894, VD16 ZV 25077, VD16 M 1892, VD16 M 1895, VD16 M
1893.
73 Vgl. G. Hellmann, Meteorologie (wie Anm. 47), S. 49 f.
74 Vgl. dazu meinen in Vorbereitung befindlichen Beitrag H. Kühne, Von Oels nach Mecheln und
von Braunschweig nach Elsterberg. Frühe Erfolgsgeschichten der lutherischen Wunderzeichenliteratur, in: S. Dornheim (Hg.), Götzenkammern. Entsorgung, Umdeutung und prämuseale
Bewahrung vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum (Bausteine ISGV), Dresden 2021.
75 Vgl. H. Fincel, Wunderzeichen Warhafftige beschreibung und gründlich verzeichnus schrecklicher Wunderzeichen und Geschichten, die von dem Jar an MDXVII. bis auff itziges Jar MDLVI. geschehen und ergangen sind nach der Jarzal, Jena: Christian Rödinger d. Ä. 1556 (VD16
F 1103); zur Biografie Fincels und der Programmatik seiner Wunderzeichensammlungen vgl.
H. Schilling, Job Finzel und die Zeichen der Endzeit, in: W. Brückner (Hg.), Volkserzählung (wie Anm. 49), S. 326–392; Ders., Art. Fincelius, Job, in: W. Kühlmann / J.-D.
Müller / M. Schilling / J. A. Steiger / F. Vollhardt (Hgg.) / J. K. Kipf (Red.),
Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd.
2, Berlin/Boston 2012, Sp. 349–354.
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
561
der heilsgeschichtlichen Endzeit, in der Gott mit sichtbaren Zeichen am Himmel, im Wasser und auf der Erde zur Buße ruft. Fincels Kompilation einschlägiger
Flugblätter und anderer Nachrichten zu einem großen Wunderpanorama wurde
zum literarischen Erfolg, was sich daran ablesen lässt, dass das Werk in den folgenden zehn Jahren vier weitere Auflagen erlebte.76 1559 veröffentlichte Fincel einen
ersten77 und 1562 einen zweiten Nachtrag78 zu seinem Wunderzeichenbuch, die
ebenfalls Nachauflagen erlebten. Im selben Jahr 1556 verfasste Ludwig Lavater
(1527–1586), Archidiakon am Zürcher Großmünster, angeregt von der Erscheinung eines Kometen im März 1556 einen Kometenkatalog, der von den Zeiten
des Kaisers Augustus (44 v. Chr.–14 n. Chr.) bis in die eigene Gegenwart reichte.79
Im folgenden Jahr erschien die reich bebilderte, die gesamte Weltgeschichte seit
der Schöpfung umfassende Prodigienchonik von Conrad Lycosthenes zunächst
in einer lateinischen Fassung80 und wenig später in deutscher Übersetzung.81 Noch
im selben Jahr wurde auch das nach einer sachlichen Systematik gegliederte Wunderzeichenbuch des Lutherschülers und Reformators von Nassau-Weilburg Kaspar Goltwurm (1524–1559) gedruckt.82 In diesem Jahr 1557 begann sehr wahrscheinlich auch der Zürcher Chorherr Johann Jacob Wick (1522–1588) mit der
76 Dem ersten Jenenser Druck folgten der ebenfalls in Jena hergestellter Nachdruck. Vgl. VD16
ZV 5854 und die beiden Nürnberger Nachdrucke, vgl. VD16 F 1104 sowie ZV 5856; 1557
folgte eine verbesserte Leipziger Neuauflage mit Holzschnitten, vgl. VD16 F 1105; zehn Jahre
nach Erscheinen des ersten Bandes wurde dieser zusammen mit dem ersten Nachtragsband
in Frankfurt am Main nochmals nachgedruckt. Vgl. VD16 F 1108 und VD16 F 1109.
77 Vgl. H. Fincel, Der ander Teil Wunderzeichen […], Leipzig: Jakob Bärwald 1559 (VD16 F
1106, VD16 ZV 22131).
78 Vgl. Ders., Wunderzeichen / Der dritte Teil […], Jena: Donat Richtzenhan/Thomas Rebart
1562 (VD16 1107, VD16 ZV 15882).
79 Vgl. L. Lavater, COMETARVM OMNIVM FERE CATALOGVS, QVI AB AVGVSTO, QVO IMPERANTE Christus natus est, usque ad hunc 1556. annum apparuerunt […], Zürich: Andreas
und Hans Jakob Geßner 1556 (VD16 L 814); vgl. zum Werk F. Mauelshagen, Wunderkammer auf Papier. Die „Wickiana“ zwischen Reformation und Volksglaube (FF 15), Epfendorf
2011, S. 67 ff.
80 Vgl. C. Lycosthenes, PRODIGIORVM AC OSTENTORVM CHRONICON […], Basel: Heinrich Petri 1557 (VD16 W 4314).
81 Vgl. Ders., Wunderwerck Oder Gottes vnergründtliches vorbil / den / das er inn seinen
gschöpffen allen / so Geystlichen / so leyblichen […] von anbegin der weldt / biß zů vnserer
diser zeit / erscheynen […] lassen […], Basel: Heinrich Petri 1557 (VD16 W 4315).
82 Vgl. K. Goldwurm, Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch. Darinne alle fürnemste Göttliche / Geistliche / Himlische / Elementische / Jrdische vnd Teuflische wunderwerck / so sich
in solchem allem von anfang der Welt schöpfung biß auff vnser jetzige zeit / zugetragen vnd
begeben haben / kürtzlich vnnd ordentlich verfasset sein […], Frankfurt a. M.: David Zöpfel
1557 (VD16 G 2602); zu diesem Werk vgl. B. Deneke, Kaspar Goltwurm. Ein lutherischer
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562
Hartmut Kühne
Sammlung von Wunderzeichen-Zeugnissen, die bis zu seinem Tode 1588 auf 25
Foliobände anwuchs.83 Dass der Straßburger Pyrmont-Druck seinen Weg in diese
Sammlung gefunden hat, ist ein zusätzliches Argument dafür, dass die mediale
Kommunikation über den ersten Wunderbrunnen in den Zusammenhang der
Wunderzeichen-Konjunktur mit ihrem Epochenjahr 1556 gehört.
Der hier skizzierte Überblick zur frühen Wunderzeichen-Publizistik hat einen
weiteren Berührungspunkt zu den Pyrmont-Drucken offengelegt, der bisher noch
nicht ausdrücklich thematisiert wurde. Der Impulsgeber für die äußerst erfolgreichen Druckserie über das Unwetter in Mecheln 1547, Antonius Corvinus, und der
Verfasser des chemisch-medizinischen Gutachtens der Wunderbrunnen-Drucke,
Burkhard Mithoff, standen über Jahre in engem persönlichen Kontakt und gehörten beide dem Hofrat der Herzogin Elisabeth von Brandenburg an.84 Beide zählten
damit zur gelehrten und politisch einflussreichen Führungselite des deutschen Protestantismus, was auch für den Autor des erfolgreichen Wunderzeichendrucks über
das 1548 bei Braunschweig sichtbare Nordlicht, Nikolaus Medler, gilt.85 Auch wenn
von jenen Autoren, die 1556/57 durch die Publikation von Wunderzeichenchroniken hervortraten, nur Goltwurm und Lavater zur intellektuellen Führungselite
ihres jeweiligen Territoriums zu rechnen sind, handelte es sich bei allen Verfassern
um ernst zu nehmende Gelehrte. Dass gelehrte und politisch einflussreiche Personen Wunderzeichen-Texte publizierten und zu Initiatoren entsprechender Kampagnen wurden, widerspricht freilich einem tief verwurzelten Wahrnehmungsschema, dass diese Literatur „häufig mit der Sensations- und Boulevardpresse des
neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts verglichen“ hat.86 Dieser Einschätzung
hat auch Rudolf Schenda als Pionier der Prodigienforschung Vorschub geleistet,
indem er den „Sensationshunger des Menschen“ für die massenhafte Verbreitung
der Wunderzeichen-Drucke seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mitverantwortlich
machte.87 Schon damals hätte „die Sensationslust“ auf dem Publikationsmarkt „die
83
84
85
86
87
Kompilator zwischen Überlieferung und Glaube, in: W. Brückner (Hg.), Volkserzählung
(wie Anm. 49), S. 124–177.
Zur Sammlung und ihrer Intention vgl. F. Mauelshagen, Wunderkammer (wie Anm. 79);
zum Beginn der Sammeltätigkeit vgl. ebd., S. 22 f., und das zweite Kapitel im ersten Teil des
Buches. Die Einblattdrucke der Sammlung wurden herausgegeben. Vgl. Die Wickiana. Die
Sammlung der Zentralbibliothek Zürich, edd. W. Harms / M. Schilling (DIF 6–7), 2
Bde., Tübingen 1997/2005.
Vgl. oben Anm. 23 f.
Vgl. R. Stupperich, Medler, Nikolaus, in: NDB, Bd. 16, Berlin 1990, S. 603 f.
Dies beklagte ausdrücklich F. Mauelshagen, Wunderkammer (wie Anm. 79), S. 65 f.
R. Schenda, Deutsche Prodigiensammlungen (wie Anm. 48), Sp. 638 f.
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Von Wunderzeichen und Wunderbrunnen in den 1550er Jahren
563
Oberhand gewonnen“.88 Die weite Verbreitung der Wunderzeichen-Drucke darf
allerdings einen elementaren Unterschied nicht verwischen, der zwischen dieser
frühneuzeitlichen Literaturgattung und der modernen Boulevardpresse besteht. Die
Wunderzeichen-Beobachtung und Deutung war wie etwa die frühe reformatorische
Flugschriftenpublizistik kein kulturell mediokres oder gar Unterschichtenphänomen, das sich vom gelehrten Diskurs und den intellektuellen Eliten entkoppelt
hatte. Die Beobachtung und Deutung himmlischer Vorzeichen wurde vielmehr
besonders im lutherischen Bereich als eine Aufgabe gerade dieser intellektuellen
Führungsgruppen begriffen.89 Dass dies auch jenseits der literarischen Produktion
galt, soll abschließend an einem Beispiel gezeigt werden.
Am 25. Januar 1560 schrieb Caspar Kayser, Pfarrer von Malitzschkendorf (etwa
60 km südöstlich von Wittenberg gelegen) und einstiger Wittenberger Student,
an Philipp Melanchthon und Paul Eber (1511–1569) einen Brief, in welchem er
Folgendes berichtete:90 Als ein Bauer in seinem Filialdorf Jagsal am 17. Januar ein
Brot anschnitt, sei Blut aus dem Laib hervorgequollen. Der entsetzte Mann hatte
seinen Nachbarn berichtet, wie bei jedem neuen Schnitt immer mehr Blut aus dem
Brot austrat. Als der Grundherr Hans Stauchwitz von Schlieben von dem Vorfall
erfuhr, ließ er den Bauern zu sich zitieren und befragte ihn im Beisein des Pfarrers. Da der Ortsgeistliche das Wunder nicht selbstständig deuten wollte, schickte
er einen Brief an seine akademischen Lehrer nach Wittenberg mit der Bitte, sie
mögen ihm ihr judicium und guttdüncken, was daraus mechte verstanden werden,
mithteylen.91 Paul Eber, Generalsuperintendent des Kurkreises, antwortete auf die
Anfrage und interpretierte das Ereignis als zeichen künfftiger straffen, über das er hart
erschrocken sei, da solch blut, im brot gefunden, bedeut ein gemein blutvergießen durch
krig oder andere verwüstung.92 Diese theologische Beurteilung entspricht in auffäl88 Ders., Wunder-Zeichen. Die alten Prodigien in neuen Gewändern. Eine Studie zur Geschichte
eines Denkmusters, in: Fabula 38 (1997), S. 14–32, hier S. 22.
89 Zwei typische Vertreter waren die Pfarrer und Chronisten Cyriakus Spangenberg (1528–1604)
(vgl. H. Kühne, Der Prediger als Augur – Prodigien bei Spangenberg, in: S. Rhein / G.
Wartenberg (Hgg.), Reformatoren im Mansfelder Land. Erasmus Sarcerius und Cyriakus
Spangenberg (SLSA 4), Leipzig 2006, S. 229–244) und Johannes Letzner (1531–1613) (vgl.
R. Kirstan, Die Welt des Johannes Letzner. Ein lutherischer Landpfarrer und Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts (VHKNS 278), Göttingen 2015, bes. S. 287–336).
90 Zur Person vgl. V. Albrecht-Birkner, Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen, Bd. 2,
Leipzig 2004, S. 142.
91 Der Brief wurde ohne Angabe der Fundstelle ediert von T. Wotschke, Das Mirakel von
Jagsal bei Herzberg, in: ZVKGS 21 (1926), S. 90 ff., hier S. 91; Fundstelle in: FB Gotha, Cod.
chart. A 123, fol. 334r–335v.
92 T. Wotschke, Mirakel (wie Anm. 91), S. 91 f.; FB Gotha, Cod. chart. A 123, fol. 330r–331v.
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564
Hartmut Kühne
liger Weise der Deutung, die Hiob Fincel in seinem ersten Wunderzeichenbuch
für ein Blutwunder bietet, das sich 1550 in einem polnischen Dorf ereignet haben
soll. Eine Witwe, die ihren sechs Kindern nichts zu essen geben konnte, bat ihre
Schwägerin um Brot. Aber die hartherzige Frau verweigerte ihr die Hilfe. Als ihr
Mann, der Bruder der Witwe, nach Hause kam und das Geschehen guthieß, begann
das von ihm zum Essen geschnittene Brot zu bluten.93 Fincels Interpretation dieses
Blutwunders als Vorzeichen eines Krieges entspricht fast wörtlich dem Brief Paul
Ebers zum Blutwunder in Jagsal. Anders als Eber klärte Fincel seine Leser aber
auch über die historischen Grundlagen seiner Deutung auf, da er auf ein ähnliches
Vorzeichen verwies, das in Arezzo zur Zeit der Römischen Republik geschehen
wäre und das er aus dem von Lycosthenes bearbeiteten Prodigienbuch des Julius
Obsequens kannte.94 Auch bei einer summarischen Angabe, dass im Jahre 1551
zahlreiche Blutzeichen in Sachsen beobachtet wurden, urteilte Fincel: Blutige
wunderzeichen bedeuten gemeiniglich krieg / wie diese historien vnd erfarung zeu
get, wofür mehrere historische Belege angeführt werden, die überwiegend aus dem
Prodigienbuch des Julius Obsequens stammen.95 Mit ihren Beobachtungen und
Deutungen von Blutwundern stehen Hiob Fincel und Paul Eber freilich nur am
Beginn einer lutherischen Blutwunder-Literatur, die ebenso wie die lutherischen
Wunderbrunnen erst im 17. Jahrhundert ihre volle Entfaltung erleben sollte.96
93 Vgl. H. Fincel, Wunderzeichen (wie Anm. 75), fol. R3r f.
94 Vgl. ebd., fol. R4v; die Vorlage findet sich in: Iulii ObsequenTIS PRODIGIORUM LIber (wie
Anm. 57), S. 108.
95 H. Fincel, Wunderzeichen (wie Anm. 75), fol. S5r.
96 Einen Überblick zur lutherischen Blutwunderliteratur bietet H. Kühne, „Zufällige Begebenheiten als Wundergeschichten sammeln“. Über dingliche Wunderzeugnisse im Luthertum, in:
H. Röckelein (Hg.), Der Gandersheimer Schatz im Vergleich. Zur Rekonstruktion und
Präsentation von Kirchenschätzen (SFGEK 4), Regensburg 2013, S. 281–299, hier S. 284–288.
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Stefan Dornheim
Götzenkammern
Zum Umgang mit vorreformatorischer Bildkultur im Luthertum
„Die arme schöne Maria! Hätte ich dafür das Bildnis eines trunkenen Silens entdeckt gehabt, alle Pfarrer der Umgebung wären entzückt gewesen; die Mutter
ihres Heilands aber, zu dessen Lob ihre Lungenkraft kaum ausreichte, mußte in
der Finsternis bleiben.“1 So resümierte der Schriftsteller Julius Mosen (1803–1867)
eine Episode in den Erinnerungen an seine Kindheit im sächsischen Vogtland.
Die Wiederentdeckung einer einst als wundertätig geltenden Marienfigur und
weiterer Holzskulpturen in einer Götzenkammer unterm Dach der Kirche des
ehemaligen Wallfahrtsortes Marieney bei Oelsnitz hatte im frühen 19. Jahrhundert in seinem Umfeld noch für wenig Begeisterung gesorgt.
Als Sohn des örtlichen Kantors und Lehrers hatte er in dem kleinen Ort seine
Schulzeit verbracht und war mit dem Kirchenschlüssel des Vaters regelmäßig in
der alten Dorfkirche auf Erkundungstouren gegangen. Mosen schreibt:
An die eine Seite der Kirchenwand war die Sakristei angebaut, deren Dachstuhl in einem rechten Winkel bis in den Glockenboden hinaufreichte, welcher hier mit Brettern verschlagen war.
In diesen Dachboden der Sakristei hinein führte kein Zugang, auch war er nicht erleuchtet;
doch befand sich in dieser Bretterwand ein Astloch; Aufforderung genug, zuweilen hineinzublicken. In dem Dach oder in der Wand mochte eine Ritze sein, durch welche ein gebrochenes
Tageslicht sich hineinstahl, ohne die Finsternis erhellen zu können, doch war es meinem Auge,
wenn ich recht lange hineingeschaut hatte, als sähe es undeutliche Umrisse von Figuren, welche
jedoch bald in Nacht und Dämmerung wieder verschwanden. Aber einst hatte der Zufall zur
günstigen Stunde mich dorthin geführt, ich blickte hinunter in den geheimnisvollen Raum,
in welchen gerade ein Lichtstrahl hineinfiel, und stieß einen Freudenschrei aus, denn sichtbar
stand unten mit der funkelnden Krone im goldenen, wallenden Mantel mit dem Jesuskinde
auf dem Arme, die schöne Himmelskönigin.2
Der junge Mosen unterrichtete seinen Vater von der merkwürdigen Beobachtung. Die Anregung des aufklärerisch gesinnten Lehrers, die Objekte als wertvolle ‚Kunstaltertümer‘ zu bergen, stieß bei seinem Vorgesetzten zu Beginn des
1
2
J. Mosen, Erinnerungen, ed. M. Zschommler, Plauen/Vogtland 1893, S. 47–53, hier S. 52.
Ebd., S. 50 f.
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566
Stefan Dornheim
19. Jahrhunderts allerdings auf noch wenig Verständnis. Die alsbald durch den
örtlichen Pfarrer bestellten Handwerker erschienen nicht, um die entdeckte
Götzenkammer zu öffnen. Vielmehr war es ihr Auftrag, das alte Bilderdepot
wieder fest und blickdicht zu vernageln.3 In diesem Depot befanden sich neben
der genannten spätgotischen Madonna mit dem Jesuskind4 eine Reihe weiterer
Bildwerke eines inzwischen verlorenen Flügelaltarwerkes und vier Figuren einer
Ölberggruppe. Eine Bergung der Figuren scheint erst Jahrzehnte nach Mosens
Entdeckung geschehen zu sein. Die Literatur erwähnt sie erstmals im Jahr 1841 als
noch gut erhaltene Reste eines auf die Zeit um 1507 zu datierenden Flügelaltares,
der spätestens im Jahr 1751 durch ein neues barockes Altarretabel ersetzt worden
war.5 Die Bildwerke blieben bis zum Abbruch der alten Dorfkirche im Jahr 1892
in derselben deponiert und wurden danach im Pächterhaus des örtlichen Gutes
zwischengelagert. Erst im Jahr 1918 erfolgte eine fachwissenschaftliche Begutachtung der Objekte durch die Königliche Kommission für Kunstdenkmäler
und deren Verbringung nach Dresden zu ihrer Sicherung und konservatorischen
Behandlung. Im Februar 1945 wurde die Figur der heiligen Barbara, im Landesamt für Denkmalpflege auf ihre Restaurierung wartend, bei der Bombardierung
der Stadt zerstört. Die Figuren der Madonna sowie der Anna Selbdritt blieben
glücklicherweise erhalten und gelangten nach Kriegsende ins Vogtlandmuseum
Plauen, wo sie sich bis heute befinden. (Abb. 1)
Der Fall Marieney ist ein durchaus typisches Beispiel für den Umgang mit vorreformatorischer Bildkultur im frühneuzeitlichen Luthertum. Er zeigt den Willen
zur Erhaltung der sakralen Bildwerke bei gleichzeitiger Umdeutung, Separierung
und Tabuisierung und verweist dabei auf das bisher kaum untersuchte Phänomen
sog. Götzenkammern, einer Form kirchlicher Bildnisdepots im Luthertum, welche
im Folgenden als eine der vielfältigen Formen des Umgangs mit dem materiellen
Bilderbe der spätmittelalterlichen Kirche näher thematisiert werden soll. Der Fall
Marieney verdeutlicht zugleich die beginnende Neubewertung der Objekte in den
Jahrzehnten um 1800 als erhaltenswerte ‚Kunstaltertümer‘ von historischem und
künstlerischem Wert, welche neben den Funden des ‚klassischen‘ Altertums vor
3
4
5
Vgl. ebd.
Die 125 cm hohe Madonna entstand in der Zeit um 1500 zusammen mit dem einst zugehörigen Flügelaltarretabel in einer vermutlich in Hof ansässigen Werkstatt, der bisher kein Name
zugeordnet werden konnte; weiterführend G. Hummel, Julius Mosen und die alte Marieneyer
Dorfkirche, in: Heimatbote 40 (1994), H. 2, S. 74–78; G. Werner (Red.), Mittelalterliche
Kunstwerke. Kat., Saalfeld/Saale 1977, S. 22; R. J. Hartenstein, Eine Hofer Altarwerkstatt
um 1500, in: MVVGA 40 (1937), S. 45–60.
Vgl. R. Steche, Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, H. 10: Amtshauptmannschaft Oelsnitz, Dresden 1888, S. 9 f. (Marieney).
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Götzenkammern
Abb. 1: Unbekannter Meister aus Hof,
Madonna aus Marieney.
Lindenholz, um 1500
[Vogtlandmuseum Plauen,
Inv.-Nr. V 4459, Foto:
Steve Schneider].
dem Hintergrund erwachender nationalpatriotischer Ideen nun zunehmend eine
neue Wertschätzung erfuhren.
In der Verknüpfung kulturgeschichtlicher und religionsethnologischer Perspektiven mit Ansätzen der historischen Bildkunde6 und der materiellen Kultur geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, wie sich im frühneuzeitlichen
lutherischen Protestantismus der Umgang mit altgläubigen Bild-, Symbol- und
Sakralitätskonzepten entwickelte.7 Die inzwischen relativ gut erforschte Ebene
der zeitgenössischen theoretischen Diskurse und Auseinandersetzungen zwischen
Protestanten und Katholiken, Lutheranern und Calvinisten um den ‚richtigen‘
6
7
Zur Methodendiskussion vgl. unter anderem C. Maar / H. Burda (Hgg.), Iconic Turn. Die
neue Macht der Bilder, Köln 2004; H. Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; H. Talkenberger, Von der Illustration zur Interpretation.
Das Bild als Historische Quelle. Methodische Überlegungen zur Historischen Bildkunde, in:
ZHF 21 (1994), S. 289–313; O.-G. Oexle (Hg.), Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte
und Geschichte im Gespräch (GGG 4), Göttingen 1997; K.-H. Kohl, Die Macht der Dinge.
Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003.
Vgl. U. Köpf, Protestantismus und Heiligenverehrung, in: P. Dinzelbacher / D. R. Bauer
(Hgg.), Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, Ostfildern 1990, S. 320–344.
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Stefan Dornheim
Bildgebrauch bildet dabei die Basis und Kontext für eine weiterreichende Fokussierung auf den tatsächlichen praktischen Umgang mit kirchlichen Ausstattungen und sakralen Objekten in den lutherischen Gebieten Mitteldeutschlands
zwischen Reformation und Spätaufklärung.8 Angeregt wurde dies unter anderem
durch die neuere Forschungsperspektive der materiellen Kultur,9 welche Objekte
als semiotische Zeichen und Bedeutungsträger begreift, die mit Sinn aufgeladen,
aber auch neutralisiert oder umcodiert werden können und mitunter eine eigene
Macht entfalteten, die es seitens der Theologen zu disziplinieren galt.10
Der Blick richtet sich dabei nicht wie so häufig allein auf Wittenberg und
den Bildersturm Andreas Bodensteins/Karlstadt (1486–1541), an dem sich die
damaligen Diskussionen maßgeblich entzündeten und der bis heute in der Forschung eine prominente Rolle spielt. Vielmehr wird nun auch die Situation in
den kleineren Stadt- und Dorfkirchen des lutherischen Mitteldeutschland untersucht, wo sich – soweit mit dem Blick auf das zu untersuchende Material die Vermutung – breitenreligiöse Beharrungskräfte, Kontinuitäten, Kompromisswille
und nur langsamer Wandel beobachten lassen.11 Nicht zuletzt entwickelte sich
im Luthertum ein besonderes kulturhistorisches Phänomen, welches der
8 Vgl. hierzu I. Dingel, „Dass wir Gott in keiner Weise verbilden.“ Die Bilderfrage zwischen
Calvinismus und Luthertum, in: A. Wagner / V. Hörner / G. Geisthardt (Hgg.), Gott
im Wort – Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bedingung des Monotheismus?, Neukirchen-Vluyn
2005, S. 97–112; C. Göttler, Die Disziplinierung des Heiligenbildes durch altgläubige
Theologen nach der Reformation. Ein Beitrag zur Theorie des Sakralbildes im Übergang vom
Mittelalter zur Frühen Neuzeit, in: R. W. Scribner (Hg.), Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (WF 46), Wiesbaden 1990, S. 263–298.
9 Zentral für das vorliegende Thema sind dabei insbesondere K.-H. Kohl, Macht (wie Anm.
6); S. Laube, Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin
2011; C. Jäggi / J. Staecker (Hgg.), Archäologie der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle Kultur (AKG 104), Berlin/New York 2007.
10 Vgl. H. Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst,
München 52000, S. 11–28; C. Göttler, Disziplinierung (wie Anm. 8).
11 Vgl. dazu die Arbeiten von S. R. Boettcher, Von der Trägheit der Memoria. Cranachs
Lutheraltarbilder im Zusammenhang der evangelischen Luther-Memoria im späten 16. Jahrhundert, in: J. Eibach / M. Sandl (Hgg.), Protestantische Identität und Erinnerung. Von der
Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR (FdE 16), Göttingen 2003, S. 47–69;
G. Wartenberg, Bilder in den Kirchen der Wittenberger Reformation, in: J. M. Fritz
(Hg.), Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen
Kirchen, Regensburg 1997, S. 19–33; G. Seebass, Mittelalterliche Kunstwerke in evangelisch gewordenen Kirchen Nürnbergs, in: ebd., S. 34–53; E. Wolgast, Die Reformation im
Herzogtum Mecklenburg und das Schicksal der Kirchenausstattungen, in: ebd., S. 54–70; M.
Wandersleb, Luthertum und Bilderfrage im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel und
in der Stadt Braunschweig im Reformationsjahrhundert, in: JGNKG 66 (1960/61), ND 1996.
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Götzenkammern
zeitgenössische Begriff „Götzenkammer“ beschreibt:12 die Verbergung theologisch
problematisch gewordener sakraler Objekte (Figuren, Bildnisse, Reliquien etc.)
in speziellen, mehr oder minder unzugänglichen Räumen der Kirchengebäude.
Bildnisse und sakrale Objekte wurden durch Theologen aus dem öffentlichen
kirchlichen Sicht- und Handlungsfeld herausgenommen und gewissermaßen in
‚Schutzhaft‘ gesetzt vor ikonoklastischem Eifer einerseits und falschverstandener
Verehrung andererseits. Durch diese sich verstetigenden Provisorien, welche die
weithin indifferente Haltung der Lutheraner zu den sakralen Bildern verdeutlichen, war es möglich, sich im öffentlichen Raum problematisch gewordener vorreformatorischer Bildprogramme zu entledigen, ohne die mitunter materiell wie
ideell wertvollen Objekte zu zerstören oder zu veräußern. Zugleich lassen sich
erste Formen prämusealer Bewahrungs- und Historisierungsstrategien erkennen,
die für die spezifisch lutherische Erinnerungskultur durchaus typisch sind.13
Geradezu idealtypisch und quellenmäßig gut dokumentiert und auch in ihrem
untersuchbaren Bestand an Objekten weitgehend erhalten sind die Götzenkammern des Domes in Freiberg und der Marienkirche in Zwickau.14 Dokumentiert,
wenn auch inzwischen verloren sind, neben St. Jacobi in Wilsdruff, die Götzenkammern der Kreuzkirche in Dresden und in der St. Annenkirche zu Annaberg,
welche neben Bildnissen auch bedeutende Reliquiensammlungen enthielten. Während die Dresdner Götzenkammer unter anderem mit der bedeutenden Kreuzreliquie 1760 kriegsbedingt einem Brand zum Opfer fiel, wurden die Reliquien
des sog. „großen Annaberger Heiligthums“ erst Mitte des 17. Jahrhunderts durch
den Superintendenten Georg Seidel (1604–1675) „an einem verborgenen Orte“
beigesetzt, „damit das Volk welches ohnehin dem Aberglauben sehr geneigt, dieselben nicht mehr sehen und sich daran ärgern sollte“.15 Aus den Götzenkammern
12 J. Grimm / W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 8 = Bd. 4, Abt. 1, T. 5: Glibber–Gräzist,
München 1999 [fotomechanischer ND der Erstausgabe 1958], Sp. 1461: „kirchlicher Raum
zur Aufbewahrung alter Heiligenbilder und zerstörter kirchlicher Requisiten“. Vgl. auch die
online-Version dieses Wörterbuchs (und Stichworts): http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/
WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG24172#XGG24172 (letzter
Zugriff am 20.2.2020).
13 Vgl. S. Dornheim, Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis. Lutherische Erinnerungskultur
in der Frühen Neuzeit zwischen Religion und sozialer Kohäsion (SSGV 40), Leipzig 2013,
S. 45–79 sowie 201–254.
14 Vgl. E. Fabian, Der erste Versuch, in Zwickau ein Museum zu errichten, in: MAVZ 11 (1914),
S. 1–13; Im Himmel zu Hause. Christliche Kunst zwischen Gotik und Barock, hrsg. von den
Kunstsammlungen Zwickau, Zwickau 2011; G. F. Klemm / H. von Friesen, Zweiter Bericht über die Begründung eines Museums vaterländischer Alterthümer und Kunstwerke in
den Kreuzgängen des Doms zu Freiberg, Dresden 1838.
15 R. Wolfram, Von dem großen Heiligthum der St. Annenkirche zu Annaberg, in: ASG 1
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Stefan Dornheim
in den Dachböden von St. Jacobi in Wilsdruff oder der Dorfkirche in Otzdorf bei
Roßwein hingegen sind vorreformatorische Figurengruppen überliefert, welche
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Sammel- und Dokumentationsinteresse des Dresdner Altertumsvereins weckten.
Der Idee der Götzenkammer der großen Kirchen folgend, aber doch um Einiges schlichter, gestaltet sich die Situation in vielen Dorfkirchen, wo sich häufig
in einem Verschlag hinter der Orgel oder in Truhen auf dem Dachboden vorreformatorische Bildnisse deponiert fanden, wie die Auswertung der Archivalien
des Sächsischen Altertumsvereins und der umfassenden bau- und kunsthistorischen Inventarwerke für Sachsen und Thüringen für bestimmte Regionen zeigt.16
Innerhalb des 1825 in Dresden gegründeten Sächsischen Altertumsvereins hatte
sich nach der Aufsehen erregenden Öffnung der Götzenkammer des Freiberger
Domes seit den späten 1830er Jahren eine regelrechte Entdeckungs- und Dokumentationseuphorie entfaltet, wie die durch den Verein geführten Briefwechsel
und Registerbände belegen.17 Landesweit wurden nun Stadt- und Dorfkirchen
durch eifrige Vereinsmitglieder auf der Suche nach Depots vorreformatorischer
Sakralgegenstände systematisch durchstreift. So konnten im Königreich Sachsen
um 1840 bereits mehr als 55 Depots mit Marien- und anderen Heiligenfiguren,
vor allem in Dachboden- und Kirchturmkammern, in ehemaligen Sakristeien
oder hinter Orgeln, teils aber auch auf Rathausböden und in alten Stadttürmen registriert werden.18 Superintendenten, Ortspfarrer, Lehrer, Stadträte oder
ansässige Adlige wurden zwecks Erteilung näherer Auskünfte angeschrieben und
gegebenenfalls zu Konsultationen herangezogen, wie vorgefundene ‚Kunstaltertümer‘ vor Ort besser aufgestellt und erhalten werden könnten. Vor allem in
vielen ländlichen Regionen fanden die neuartigen Ideen vom künstlerischen und
historischen Wert der spätmittelalterlichen Bildwerke erst durch jene Aktionen
eine erstmalige Verbreitung. (Abb. 2)
(1863), S. 229–235, hier S. 235; A. Tacke (Hg.), „Ich armer sündiger Mensch.“ Heiligenund Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter (Schriftenreihe der Stiftung
burg 2), Göttingen 2006.
16 Vgl. R. Steche / C. Gurlitt (Hgg.), Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und
Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, 41 Hefte, Dresden 1882–1923; P. Lehfeldt / G.
Voss (Red.), Die Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens, 24 Teilbde., Jena 1888–1928; Beschreibende Darstellung der Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen und angrenzender
Gebiete, hrsg. von der Historischen Kommission der Provinz Sachsen und des Herzogtums
Anhalt, 33 Teilbde., Halle/Berlin/Magdeburg 1879–1923.
17 Vgl. HStA Dresden, Bestand Sächsischer Altertumsverein 12508, Sign. Nr. 58 Memento Registrande 1840, sowie Nr. 072 bis 074 Erfassung von Altertümern 1847–1851.
18 Vgl. ebd.
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Götzenkammern
Abb. 2: Pietà und Christusfragment aus dem Bilderdepot der
Kirche in Rosendorf bei Neustadt
an der Orla, Bergungszustand
um 1930 [Stadtarchiv Neustadt
an der Orla, Sammlung Dr. Karl
Ehrlicher, unerschlossen, Foto: Karl
Ehrlicher].
Die bei diesen Bergungen häufig erstellten Inventarlisten und schriftlichen Mitteilungen erlauben Einblicke in die Anzahl und die Art der verschiedenen deponierten Objekte. Während es sich bei kleineren Dorfkirchen meist um Teile einstiger
spätgotischer Flügelaltäre oder einzelne Figuren oder Figurengruppen jener Zeit
handelte, so lassen die Götzenkammern großer städtischer Kirchen wie etwa die
in Freiberg oder Zwickau mit ihrer Fülle an Objekten aus verschiedenen Zeiten
mit Vorsicht eine Art Nutzungsgeschichte dieser Bilderdepots zwischen dem 16.
und dem 19. Jahrhundert rekonstruieren.19
Die Götzenkammern füllten sich demnach schrittweise in mehreren Phasen. Im
16. Jahrhundert waren es in einer ersten Welle vor allem unter Idolatrieverdacht
stehende Bildwerke und Teile funktionslos gewordener Nebenaltäre, welche ihren
Platz den nun vielerorts geplanten Kirchenstuhl- und Emporeneinbauten zu überlassen hatten. Das protestantische Gottesdienstideal, nach dem eine Gemeinde
möglichst vollzählig und regelmäßig einer ausführlichen Predigt folgen sollte,
19 Vgl. die Inventarliste der Götzenkammer im Dom zu Freiberg aus dem Jahr 1836 in: HStA
Dresden, Bestand Sächsischer Altertumsverein 12508, Signatur Nr. 316 Freiberger Dom-Kreuzgänge, fol. 19 f.
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Stefan Dornheim
stellte neue praktische Anforderungen an den Kirchenraum. Die Veränderung von
Todes- und Jenseitsvorstellungen im Zusammenhang mit Luthers (1483–1546)
Rechtfertigungslehre und die Ablehnung der Vorstellung von der ‚Gerechtigkeit
der Guten Werke‘ initiierten einen fundamentalen Wandel der Memorialkultur
und des Stiftungswesens20 und führten zu einem Wegfall21 bzw. zu einem strukturellen Wandel diesbezüglicher Aufträge an entsprechende Werkstätten und
Künstler.22 Ähnliche Folgen ergaben sich aus der geminderten Bedeutung der
Heiligenverehrung. Die sukzessive Umgestaltung der lokalen sakralen Topografien und Kirchenräume hob folglich alte symbolische Bezugssysteme auf oder
deutete sie um. So verschwand etwa sukzessive die Vielfalt der auf einzelne Heilige bezogenen Nebenaltäre aus den Kirchenräumen und die Kanzel rückte als
Symbol und neue repräsentative Gestaltungsaufgabe stärker in den Mittelpunkt
des Kirchenraumes und des nicht mehr ritual-, sondern nunmehr wortzentrierten
evangelischen Gottesdienstes.23
Luther selbst hatte vor diesem Hintergrund bereits zur Zeit der Frühreformation wichtige Hinweise zum Bildgebrauch gegeben, welche auch für die meisten
seiner Nachfolger als Richtschnur ihres Handelns galten. Sein anfangs noch
heftigerer bildkritischer Tonfall milderte sich unter dem Eindruck aktueller ikonoklastischer Ereignisse vor dem Hintergrund des Bauernkrieges und der Auseinandersetzungen mit den radikaleren Anschauungen und Vorgehensweisen um
Karlstadt, Calvin (1509–1564) oder die Täuferbewegung.24 Ihnen sollte bewusst
ein moderates und geordnetes Vorgehen entgegengestellt werden, bei dem lediglich problematische oder überflüssige Bilder ab- und unter Verschluss genommen
werden konnten, aber möglichst nicht zerstört werden sollten.
20 Vgl. B. Jussen / C. Koslofsky (Hgg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600 (VMPIG 145), Göttingen 1999; C. Koslofsky, From Presence to Remembrance. The Transformation of Memory in the German Reformation, in: A. Confino / P.
Fritzsche (Hgg.), The Work of Memory. New Directions in the Study of German Society
and Culture, Urbana/Chicago 2002, S. 25–38; Ders., The Reformation of the Dead. Death
and Ritual in Early Modern Germany, 1450–1700 (Early Modern History: Society and Culture), Houndmills/Basingstoke/Hampshire/London 2000.
21 So etwa Seitenaltäre, Heiligenbilder, Reliquiare und Monstranzen, vgl. A. Tacke (Hg.), Heiligen- und Reliquienkult (wie Anm. 15).
22 Vor allem die Grabmale der Geistlichen und Honoratioren, Stifterepitaphien, Altarbilder.
23 Vgl. H. Belting, Bild und Kult (wie Anm. 10); T. Lentes, Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation, in: R. Hoeps (Hg.), Handbuch der Bildtheologie,
Bd. 1: Bild–Konflikte, Paderborn/München/Wien/Zürich 2007, S. 213–240.
24 Vgl. H. Feld, Der Ikonoklasmus des Westens (SHCT 41), Leiden/New York/København/
Köln 1990, S. 122 ff.; B. Heal, A Magnificent Faith. Art and Identity in Reformation Germany, Oxford 2017, S. 268 ff.
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Götzenkammern
Im Falle fortwährender Idolatrie empfahl sich die Entfernung der aus protestantischer Sicht durch ihre falsche Behandlung zu Abgöttern bzw. Götzen verkommenen Bilder aus dem Kirchenraum und ihr Verschluss an einem uneinsehbaren und unzugänglichen Ort. Eine solche Entfernung hatte nach Ansicht der
Wittenberger Reformatoren möglichst im Konsens mit der lokalen weltlichen
Obrigkeit geordnet und ohne ikonoklastischen Eifer vor sich zu gehen.25 In den
Kirchendepots wurden die aus dem liturgischen Raum und Gebrauch herausgelösten Bildnisse mit der Zeit zu historischen Gegenständen lutherischer Identitätsbildung und Erinnerungskultur. Anhand der Objekte ließen sich sinnbildlich
und visuell erlebbar die Grundideen und der Verlauf der lutherischen Reformation
vor Ort ebenso erläutern wie die Grenzlinien zu den konfessionellen Gegnern:
den idolatrieaffinen Katholiken einerseits und den ikonoklastisch gesinnten Calvinisten und Täufern andererseits. So geschah es etwa in den frühneuzeitlichen
Chroniken und Städtebeschreibungen Zwickaus, Freibergs und Dresdens. Die
historischen Narrative zur lokalen Einführung der Reformation verbanden sich
in diesen Städten eng mit der Beschreibung der geordneten Entfernung verehrter
‚papistischer‘ Bildwerke und Reliquien.26 Der performative Akt ihrer Entfernung
und Disziplinierung scheint zumindest für die städtische konfessionelle Erinnerungskultur als Gründungsmythos nicht minder bedeutsam gewesen zu sein als
die erste lutherische Predigt oder die Einführung des Abendmahls in beiderlei
Gestalt. Es scheint naheliegend, dass die Bildnisdepots auch der regelmäßig in
unmittelbarer Nähe auf den Kirchenemporen probenden und singenden Schuljugend durch den Pfarrer oder den Lehrer und Kantor in diesem Sinne gezeigt
und erläutert wurden. Konfessionspolemisch ausgeschmückte Legenden über
die Existenz mechanisch manipulierter Bildwerke, mit denen die ‚Papisten‘ einst
das leichtgläubige Volk in die Irre geführt und betrogen hätten, waren in der
25 Vgl. ebd., S. 270 ff.; P. Knüvener, Was bleibt? Was kann weg? Die Umwandlung mittelalterlicher Kirchenausstattungen nach Einführung der Reformation in Brandenburg und in
den Lausitzen, in: E. Bünz / H.-D. Heimann / K. Neitmann (Hgg.), Reformationen vor
Ort. Christlicher Glaube und konfessionelle Kultur in Brandenburg und Sachsen im 16. Jahrhundert (SBVL 20), Berlin 2017, S. 362–389; H. Jaddatz, dann drei altaria on bild genug
sein. Die Veränderung spätmittelalterlicher Kirchenausstattungen durch die Wittenberger
Reformation, in: U. Siewert (Hg.), Die Stadtpfarrkirchen Sachsens im Mittelalter und in
der Frühen Neuzeit (Bausteine ISGV 27), Dresden 2013, S. 165–178.
26 Vgl. T. Schmidt, Chronica Cygnea, Oder Beschreibung Der sehr alten / Löblichen / und
Churfürstlichen Stadt Zwickaw […], Bd. 1, Zwickau 1656 (VD17 23:235985G), S. 51–77 sowie
377–382; A. Moller, Theatrum Freibergense Chronicum, Beschreibung der alten löblichen
BergHauptStadt Freyberg in Meissen […], Freiberg 1653 (VD17 23:238100M), S. 58 f.; P. C.
Hilscher, Etwas zu der Kirchen=Historie in Alt=Dreßden […], Dresden/Leipzig 1721,
S. 17.
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Stefan Dornheim
Bevölkerung noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein lebendig. So habe es
etwa in der Götzenkammer von St. Marien in Zwickau die Figur eines ‚nickenden
Mönchs‘ gegeben und eine Pietà habe durch Löcher in den Augen und eingefülltes
Wasser im ausgehölten Hinterkopf künstliche Tränen weinen können – Narrative, die man auch der Pietà der Gottesackerkirche des thüringischen Pößneck27
und Marienfiguren in Eilenburg und im niederlausitzischen Mochow nachsagte.
Erste konservatorische Untersuchungen der Objekte verwiesen diese volksläufigen Überlieferungen bereits im 19. Jahrhundert in den Bereich der Legende.28
Gut möglich, dass die Implementierung solch entlarvender protestantischer ‚Predigermärlein‘ helfen sollte, die Fama bestimmter Heiligenfiguren besonders zu
diskreditieren und ins Negative umzudeuten – hatte die Bevölkerung mit ihnen
bis zur Einführung der Reformation doch mitunter vielfältige Mirakel- und Heilungserzählungen verbunden.29 Zumindest die vier genannten Bildwerke galten
vor der Reformation als mirakulöse Gnadenbilder. Es waren gewissermaßen sakralisierte Objekte, welche es zu entsakralisieren galt, indem man die mit ihnen
verbundenen Geschichten öffentlich und möglichst glaubhaft diskreditierte und
publikumswirksam gegen neue Narrative austauschte. Wie Karl-Heinz Kohl in
seiner Theorie sakraler Objekte verdeutlicht, bekommen materielle Gegenstände
ihre Sakralität in der Regel erst durch den breiten Konsens einer sozialen Gruppe
zugesprochen oder aber auch abgesprochen.30 In diesem Sinne lassen sich auch
27 Die Figur befindet sich heute im Germanischen Museum Nürnberg.
28 Vgl. O. Langer, Über drei Kunstwerke der Marienkirche zu Zwickau: den Altar, die Beweinung Christi und das Heilige Grab, in: MAVZ 12 (1919), S. 75–101; K. Ernst, Das Pößnecker
Vesperbild aus der Gottesackerkirche, in: Pößnecker Heimathefte 22 (2016), H. 1, S. 10–13.
Für den freundlichen Hinweis auf das Mochower Marienbildnis danke ich Frau Corinna
Juncker vom Museum Lübben. Vgl. dazu auch G. Lohde, Vergessene Wallfahrtsorte im
Kreise Lübben, in: Lübbener Kreiskalender 1935, S. 82 f.; zu Eilenburg ausführlich S. Bräuer,
Wallfahrt in reformationsgeschichtlicher Perspektive. Forschungsgeschichte und Desiderata,
in: J. Hrdina / H. Kühne / T. T. Müller (Hgg.), Wallfahrt und Reformation – „Pouť a
reformace“. Zur Veränderung religiöser Praxis in Deutschland und Böhmen in den Umbrüchen der Frühen Neuzeit (Europäische Wallfahrtsstudien 3), Frankfurt a. M. 2007, S. 29–62,
hier S. 53–55.
29 Vgl. weiterführend J. Tripps „Denn man sieht weder Schnur noch Draht … so dass es wie
Zauberei erscheint“. Handelnde Bildwerke in Sachsen um 1500, in: E. Bünz / H. Kühne
(Hgg.), Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“ (SSGV 50), Leipzig 2014,
S. 715–734; W. Brückner (Hg.), Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradition und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Berlin 1974;
vgl. vor allem Ders., Historien und Historie, Erzählliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts als
Forschungsaufgabe, in ebd., S. 13–123.
30 Vgl. K.-H. Kohl, Macht (wie Anm. 6), S. 151–162.
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Götzenkammern
öffentliche Aktionen gegen einst weithin bekannte Gnadenbilder und sich mit
ihnen verbindende Wallfahrten verstehen, denen dabei die kollektive Anerkennung entzogen werden soll. So hatte man etwa das genannte Eilenburger Gnadenbild nach einer skandalisierenden Predigt aus der Kirche auf den Markt schaffen
lassen, um der versammelten Menge öffentlich den ‚papistischen‘ Betrug und
die Wirkungslosigkeit des Bildnisses zu demonstrieren und es anschließend zu
zerschlagen. Die Aktion wurde später ausführlich in der lutherischen Stadt- und
Landeschronistik beschrieben und damit als ein zentraler Topos der Eilenburger
Reformationsgeschichte stilisiert und auf Dauer gestellt. Ähnliches geschah mit
dem Gnadenbild aus Eichen bei Mühlhausen.31 Über das vermeintlich präparierte Marienbild dieses überregional bekannten Wallfahrtsortes, der übrigens
nach einer Zwangsumsiedelung der Bevölkerung mitsamt der Kirche um 1588
geschlossen und später abgerissen wurde, berichtet um 1571 der Mühlhausener
Superintendent Johannes Petreius (ca. 1518–1574) im Vorwort eines durch ihn
als Nachdruck herausgegebenen vorreformatorischen Pilgerführers aus dem Jahr
1491, den er in seiner vorausgegangenen Zwickauer Amtszeit entdeckt und mitgebracht hatte. Petreius argumentierte in der Vorrede, es wäre notwendig, alte
Mess- und Legendenbücher, Breviere und sonstige Dinge und Beweismittel in
den Kirchen und Bibliotheksräumen zu sammeln und für die Nachwelt aufzubewahren, damit die Erinnerung an den einstigen Betrug und die Abgötterei des
Papsttums in der Bevölkerung nicht verblasse, was inzwischen leider schon zu
beklagen sei.32 Petreius war zuvor durch den über Jahre schwelenden Streit um
die durch ihn propagierte Beseitigung des großen Zwickauer Marienaltars aufgefallen, bei dem er sich letztlich dem Mehrheitswillen beugen musste und die
Stadt schließlich verließ.33 Ob die Entstehung der Götzenkammer in St. Marien
in Zwickau auf eine Initiative von Petreius zurückzuführen ist, muss derzeit mangels direkter Belege noch Vermutung bleiben. Die Einrichtung derartiger Depots
wird zumindest von Petreius publizistisch gefordert und als Idee verbreitet. Dass
31 Vgl. S. Bräuer, Wallfahrt (wie Anm. 28), S. 40 f., 52–55; J. Petreius, Ablas Buechlein.
Erzelunge des Heilthumbs / Gnade vnd Ablaß / aller Kirchen in Rom / Ein altes Buechlein
fur 90. Jharn zu Rom Lateinisch / vnd hernachmals zu Nuernberg Deutzsch ausgangen. Jetzt
aber zu dienst fromer Christen / auffs new gedruckt. Mit einer Vorrede Johannis Petreij / Superattendenten zu Muelhausen, Mühlhausen 1571 (VD16 I 182), Vorrede (unpag.) [Exemplar
der FB Gotha].
32 Vgl. S. Bräuer, Wallfahrt (wie Anm. 28), S. 40 f.
33 Vgl. O. Langer, Der Kampf des Pfarrers Johann Petrejus gegen den Wohlgemuth’schen Altar
in der Marienkirche, in: MAVZ 11 (1914), S. 31–49; S. Bodechtell (Red.), Der Zwickauer
Wolgemut-Altar. Beiträge zu Geschichte Ikonographie, Autorschaft und Restaurierung (Arbeitshefte LfDS), Görlitz/Zittau 2008.
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die Götzenkammern in Dippoldiswalde und vermutlich auch in Freiberg die
Räume der einstigen Kirchenbibliotheken nutzten und die Bildwerke teils mit
den vorreformatorischen Buchbeständen zusammen lagerten, sodass die ehemals
sakralen Bildwerke gewissermaßen von Objekten des Kultes zu Gegenständen des
Wissens und der Geschichte umgedeutet worden waren, scheint die Verbreitung
von Petreius’ Idee zu bestätigen.
Der lutherische Umgang mit der vorreformatorischen Bildkultur gestaltete sich
in der Praxis zeitlich und regional dennoch sehr differenziert. Veränderungen von
Kirchenausstattungen ergaben sich meist aus Initiativen einzelner lokaler Akteure,
in der Regel der örtlichen Pfarrer, welche sich mit den Ansichten und Interessen
ihrer Kollatoren und Gemeinden auseinanderzusetzen hatten. Amtskirchliche
Vorgaben, etwa im Rahmen der evangelischen Kirchenordnungen, gab es kaum.
Luther selbst hatte die Bilder als Mitteldinge (Adiaphora) eingeordnet, welche
nichts nutzten, aber auch nicht schadeten und häufig noch didaktisch als Mittel
der Belehrung dienen konnten. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurde die eigene
Bildkultur zunehmend im entstehenden konfessionellen Selbstverständnis der
Lutheraner verankert. Der demonstrative disziplinierte Gebrauch von tradierten
Zeremonien und Bildern wurde bald zu einem wahrnehmbaren konfessionellen
Marker kultiviert, mit dem sich die Lutheraner gegenüber der Radikalität der
Täuferbewegung und der Calvinisten zu unterscheiden suchten.34 Die Bilder dienten aber nicht nur als Symbole konfessioneller Abgrenzungen. Vielmehr galten
sie auch als notwendiger Teil religiöser Erfahrung. Die lutherische Begeisterung
gegenüber dem Hören des Gotteswortes führte nicht unmittelbar zu einer völligen
Ablehnung der Bedeutung von Bildwerken und Monumenten. Die Bedeutung
innerer (spiritueller) und äußerer (materieller) Bilder für das menschliche Vorstellungs-, Erkenntnis- und Erinnerungsvermögen wurde frühzeitig auch im Rahmen
humanistischer und bildungstheoretischer Diskurse reflektiert. Die Bildlichkeit
war nach wie vor ein wichtiger Teil frühneuzeitlicher lutherischer Frömmigkeit.
Die disziplinierte Benutzung aller Sinne, insbesondere des Hörens und Sehens,
sollte einen Zugang zur Erfahrung des Göttlichen vorbereiten.35
34 Vgl. B. Heal, Magnificent Faith (wie Anm. 24), S. 43–73; S. Wegmann, Der sichtbare
Glaube. Das Bild in den lutherischen Kirchen des 16. Jahrhunderts (SMHR 93), Tübingen
2016, S. 199 ff.; für den thüringischen Raum ausführlich M. Sladeczek, Vorreformation
und Reformation auf dem Land in Thüringen. Strukturen – Stiftungswesen – Kirchenbau –
Kirchenausstattung (QFThZR 9), Köln/Weimar/Wien 2018, S. 436–554.
35 Vgl. B. Heal, Magnificent Faith (wie Anm. 24), S. 268 ff.; T. Lentes, Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit
und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: K. Schreiner (Hg.) / M. Müntz (Mitarb.),
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Götzenkammern
Im populären Bewusstsein ebenso wie in der kulturwissenschaftlichen Forschung
galt der lutherische Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts aufgrund seiner
konfessionellen Festlegungen lange Zeit als bilder- und brauchtumsfeindlich. So
nahm man an, dass sich in den lutherischen Kirchen von sich aus keine eigenen
religiösen Darstellungsformen und darauf bezogene Zuwendungs- und Umgangspraxen (etwa in Form emotionaler Hinwendung und Verehrung, sog. ‚Bräuche‘)
entwickeln und verbreiten konnten. Zeitweise sprach man – so etwa Reinhard
Raffalt (1923–1976) – sogar von der ‚Fastenzeit der christlichen Kultur‘.
Das Entfernen der Bilder aus den Kirchen wurde zu einem äußerlichen, weithin
sichtbaren Konfessionsmerkmal, so Irene Dingel, das den theologischen Laien
eine unkomplizierte konfessionelle Selbstverortung bot und für die Herausbildung und Festigung bekenntnismäßiger Identitäten ausschlaggebend wurde.36 So
wundert es nicht, dass sich auch die historische und volkskundliche Forschung
bis nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mit Fragen spezifisch protestantischer
Religiosität und Alltagskultur befasste.37 Der älteren Forschung war neben wenigen kontrastiven Untersuchungen zwischen katholischer und protestantischer
Kultur von Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897)38 allerdings auch schon das
Kuriosum des Fortbestehens vorreformatorischer Gebräuche und Anschauungen
in der evangelischen Popularkultur aufgefallen.39 Das protestantische Selbstbild
des 19. Jahrhunderts bestätigende und die Konfessionen kontrastierende historische Phänomene, wie die sog. Bilderstürme des 16. Jahrhunderts, fanden
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Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 179–220.
Vgl. I. Dingel, Bilderfrage (wie Anm. 8), S. 111.
Vgl. hier vor allem die Arbeiten von W. Brückner, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, Berlin 1966; Ders. / W. Braun (Mitarb.), Einführung in die Ausstellung Bildwelt und Glaube. Volkstümliche Kulte und Verehrungsformen, Frankfurt a. M.
1957; Ders., Volkskunde als historische Kulturwissenschaft, T. 10: Frömmigkeit und Konfession. Verstehensprobleme, Denkformen, Lebenspraxis (VVK 86), Würzburg 2000; sowie
R. W. Scribner, Volkskultur und Volksreligion: zur Rezeption evangelischer Ideen, in: P.
Blickle / A. Lindt / A. Schindler (Hgg.) / H. R. Schmidt (Red.), Zwingli und Europa, Zürich 1985, S. 151–161; Ders., Ritual and Popular Belief in Catholic Germany at the
Time of the Reformation, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London/Ronceverte 1987, S. 17–47; Ders., The Reformation, Popular Magic
and the „Disenchantement of the World“, in: JIH 23 (1993), S. 475–494.
Vgl. W. H. Riehl, Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859.
Vgl. R. Andree, Katholische Überlebsel im evangelischen Volke, in: Zf V 21 (1911), S. 113–
125; N. A. Bringéus, Volkstümliche Bilderkunde. Formale Kennzeichen von Bildinhalten,
München 1982.
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578
Stefan Dornheim
hingegen bis heute reges und wiederholtes Interesse40 – ganz im Gegensatz zu
den im Luthertum wohl weitaus häufigeren Tendenzen der Beharrung, der Kontinuität, des Kompromisses und des sanften Wandels in der Bilderfrage.41 Bei aller
Wertschätzung des Wortes war bereits Luther in seiner Argumentation gegen den
Bilderstürmer Karlstadt davon überzeugt, dass menschliches Denken und Erkennen auf Bilder angewiesen sei. Bilder, kirchliche Ornamentik und Ausstattung
seien zwar für das menschliche Heil nicht zwingend notwendig und dem Ermessen des Einzelnen freigestellt. Dennoch betont Luther, dass bilder aus der schrifft
und von guten Historien sehr nützlich seien.42 „Die zunehmende Wertschätzung
der Künste im Allgemeinen und der Bilder als pädagogischer und didaktischer
Hilfsmittel im Besonderen“ sei, so Thomas Kaufmann, „weitergeführt, kultiviert und lebenspraktisch umgesetzt“ worden.43 Auch Thomas Lentes betonte,
wie seit dem Spätmittelalter der Augensinn und das von ihm ausgeprägte innere
Bildgedächtnis als wichtige theoretische Grundlage der Bildung erkannt wurden.44
Auch die weitgehende Toleranz, ja gar ein gesteigertes – wenn auch selektives –
Interesse lutherischer Theologen an volkskultureller Bildlichkeit im Brauchtum,
Erzähl- und Liedgut scheint sich unter anderem dieser bildungstheoretischen
Einsicht zu verdanken.45 Bilder hatten als Mitteldinge (Adiaphora) die Aufgabe
historisch-didaktischer Lehrvermittlung, der Verschönerung sowie heils- und
eigengeschichtliche Erinnerung zu stiften.
Neben solchen Phänomenen des Wandels sollte die starke Beharrungskraft
tradierter Vorstellungen, Symbole und Deutungsmuster jenseits der theologisch
40 Vgl. N. Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm, Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996; S. Michalski, Die
Ausbreitung des reformatorischen Bildersturms 1521–1537, in: C. Dupeux / P. Jezler / J.
Wirth (Hgg.), Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Kat. zur Ausstellung, Bern/Straßburg 2000, S. 46–51, hier S. 50; Ders., Das Phänomen Bildersturm. Versuch einer Übersicht,
in: R. W. Scribner (Hg.), Bilder und Bildersturm (wie Anm. 8), S. 69–124.
41 Vgl. B. Welzel, Die Vertreibung der Heiligen und die Folgen für die Bilder, in: S. Wegmann / G. Wimböck (Hgg.), Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums
in der Frühen Neuzeit (SKGMFN 3), Korb 2007, S. 365–379; C. Jäggi / J. Staecker (Hgg.),
Archäologie der Reformation (wie Anm. 9).
42 M. Luther, Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis. 1528, in: WA, Bd. 26, Weimar 1909,
S. 241–509, hier S. 509.
43 T. Kaufmann, Die Bilderfrage im frühneuzeitlichen Luthertum, in: P. Blickle / A. Holenstein / H. R. Schmidt / F.-J. Sladeczek (Hgg.), Macht und Ohnmacht der Bilder.
Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte (HZ Beiheft NF 33),
München 2002, S. 407–454, hier S. 416 mit vielen Nachweisen.
44 Vgl. T. Lentes, Inneres Auge (wie Anm. 35).
45 Vgl. W. Brückner, Historien und Historie (wie Anm. 29), S. 13–110.
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Götzenkammern
gebildeten amtskirchlichen Eliten im Bereich der Breitenreligiosität nicht außer Acht
gelassen werden. Jüngere Untersuchungen zum Wandel von Memorial-, Ritual- und
Sakralitätskonzepten in der Frühen Neuzeit haben hier beachtliche Ungleichzeitigkeiten und Differenzen in der Deutung von Bildern und Symbolen festgestellt.46
So hat sich etwa jenseits der reformatorischen Zentren in vielen Dorf- aber
auch Stadtkirchen Mitteldeutschlands das vorreformatorische Inventar bis zur
Gegenwart erhalten. Luthers Adiaphora-Postulat, wonach die Bildwerke als Mitteldinge nichts nützten, aber auch nicht schadeten und meist noch der Belehrung
dienen könnten, hat diesen Freiraum eröffnet.47 Dem Vorkommen verschiedener
Bilderstürme stehen viele Fälle gegenüber, bei denen sich soziale Gruppen, trotz
Zustimmung zur neuen Lehre, geradezu weigerten, sich von ihren Bildwerken zu
trennen, welche mitunter jahrhundertelang ein ebenso vielfältiges wie ambigues
Spektrum an Funktionen für die Gemeinschaft erfüllten und oft unter enormem
materiellen Aufwand angeschafft worden waren. Neben ihrer sakralen bzw. heilsvermittelnden Funktion besaßen die Objekte einen Bedeutungsüberschuss, der
auch memoriale, identifikatorische, schutzmagische, repräsentative, politische
und ökonomische Dimensionen miteinschloss. So wurden viele Stücke häufig erst
durch die veränderten Bildkonzepte der rationalistischen Theologie der Aufklärungszeit entfernt oder verändert.48
46 Vgl. E. Muir, Ritual in Early Modern Europe (New approaches to European history 33), Cambridge/New York 22005; S. C. Karant-Nunn, Ritual, Ritualgegenstände und Gottesdienst:
Revision der Sakralumgebung in der Reformation, in: S. Rau / G. Schwerhoff (Hgg.),
Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, München/Hamburg 2008, S. 90–102; Dies., The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern
Germany, London/New York 1997; R. W. Scribner, Volkskultur und Volksreligion (wie
Anm. 37); Ders., Ritual and Popular Belief (wie Anm. 37), S. 17 ff.
47 Vgl. T. Lentes, Zwischen Adiaphora und Artefakt (wie Anm. 23); vgl. auch die verschiedenen
Beiträge zu Entwicklungen in den lutherischen Territorien in J. M. Fritz (Hg.), Bewahrende
Kraft (wie Anm. 11).
48 Vgl. B. Welzel, Vertreibung (wie Anm. 41); G. Wimböck, Kirchenraum, Bilderraum, Handlungsraum: Die Räume der Konfessionen, in: S. Wegmann / Dies. (Hgg.), Konfessionen
(wie Anm. 41), S. 31–54; A. Pietsch / B. Stollberg-Rilinger (Hgg.), Konfessionelle
Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit (SVRG
214), Gütersloh 2013; B. Seyderhelm, Die „bewahrende Kraft des Luthertums“ gegen die
Beseitigung vorreformatorischer Kirchenausstattungen. Von der Erhaltung mittelalterlicher
Goldschmiedearbeiten und anderer Kirchenausstattungen in mitteldeutschen evangelischen
Kirchen, in: J. Bulisch / D. Klingner / C. Mai (Hgg.), Kirchliche Kunst in Sachsen. FS
für Hartmut Mai zum 65. Geburtstag, Beucha 2002, S. 32–51; E. Koch, Die Wittenberger
Reformation und das Gedenken an die Heiligen, in: B. Seyderhelm (Hg.), Goldschmiedekunst des Mittelalters. Im Gebrauch der Gemeinden über Jahrhunderte bewahrt, Dresden
2001, S. 73–87, hier S. 73–75.
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Stefan Dornheim
Im lutherischen Glauben ändere sich nicht nur der Status der neugeschaffenen,
sondern auch der weiterverwendeten Bilder, konstatiert Barbara Welzel und
erkennt darin weitreichende Aufgaben für den Dialog zwischen Konfessionalisierungsforschung und Kunstgeschichte.49 Bisher habe sich das Hauptaugenmerk
entweder auf die Bilderstürme oder auf die für den evangelischen Gebrauch neu
geschaffenen Werke gerichtet.50 Nicht minder bedeutsam sei für die kulturellen
Verschiebungen aber auch der veränderte Umgang mit den ererbten Bildern.51
Konnte eine fortgesetzte Idolatrie ausgeschlossen werden, so versuchte man
im 16. Jahrhundert vielerorts zumindest die spätmittelalterlichen Hauptaltäre an
ihren ursprünglichen Standorten zu erhalten. Bei Erneuerungen der Ausstattungen
in bedeutenden Kirchen der städtischen Zentren, aber auch bei der Schließung
von Klosterkirchen wurden wertvolle Altarwerke in der Frühen Neuzeit häufig
in periphere Kirchen der Vorstädte oder umliegender Dörfer umgesetzt.
Nach dem auch für die sakrale materielle Kultur verlust- und zerstörungsreichen Dreißigjährigen Krieg vollzog sich im Kirchenbau seit dem späten 17. Jahrhundert und insbesondere das gesamte 18. Jahrhundert hindurch eine bauliche
und ästhetische Erneuerungsbewegung, welche sich mit der Epoche des Barock
verbindet. Neue sakrale Raumideen ließen die alten sakralen Bilder und vorreformatorischen Raumausstattungen oft als ästhetisch überholt und einer Erneuerung im Wege stehend erscheinen. Von sakralen Objekten längst zu Trägern
historischer Erinnerung umgedeutet, stand eine Zerstörung der Bildwerke meist
außer Frage. Vielmehr wanderten die abgenommenen Bildnisse und Tafeln in
einer zweiten großen Welle in die seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Depots.
So etwa in Freiberg, wo um 1713 im Zuge einer Barockisierung des Domes das
Gros der nach der Reformation noch verbliebenen reichen Ausstattung mit gotischen Schnitzwerken, darunter die bekannten Zyklen der Apostel sowie der sog.
klugen und törichten Jungfrauen, in die Götzenkammer wanderten.52 Viele noch
bestehende vorreformatorische Flügelaltäre müssen im Laufe des 18. Jahrhunderts zudem dem lutherischen Trend des barocken Kanzelaltars weichen, bei dem
der Kanzelkorb über den Altar ins Zentrum des Kirchenraumes rückte und den
Platz des Retabels einnahm. Die Erzählungen der Altarbilder sollten durch den
49 Vgl. B. Welzel, Vertreibung (wie Anm. 41), S. 374 f.
50 Vgl. etwa T. Packeiser, Zum Austausch von Konfessionalisierungsforschung und Kunstgeschichte, in: ARG 93 (2002), S. 317–338.
51 Vgl. B. Welzel, Vertreibung (wie Anm. 41), S. 374 f.
52 Vgl. H. Magirius, Der Dom zu Freiberg, Berlin 1977, S. 36–38; S. Bürger u. a., Der Freiberger Dom. Architektur als Sprache und Raumkunst als Geschichte (Kulturreisen 15), Wettin-Löbejün 2017, S. 59 ff.
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Götzenkammern
Abb. 3: Kanzelaltar des frühen 18. Jahrhunderts mit recycelten Elementen eines spätmittelalterlichen Flügelaltars in Moderwitz bei Neustadt an der Orla, Zustand um 1930
[Stadtarchiv Neustadt an der Orla, Sammlung Dr. Karl Ehrlicher, unerschlossen, Foto: Karl
Ehrlicher].
predigenden Pfarrer ersetzt werden. Die alten Bildwerke wanderten ins Depot,
wurden an den Seitenwänden des Kirchenraumes aufgestellt oder auch zerlegt
und im Rahmen neuer barocker Raumideen recycelt. Letzteres Phänomen zeigt
sich überraschend häufig im ländlichen Raum, etwa in thüringischen, sächsischen,
lausitzischen und brandenburgischen Dorfkirchen, wo vielerorts die Bildwerke
gotischer Altarretabel und andere vorreformatorische Ausstattungsteile in neuen
barocken Rahmungen an Kanzelaltären, an Kanzelkörben, Rednerpulten und
Emporenbrüstungen wieder erscheinen und damit im Kirchenraum sichtbar erhalten blieben,53 so etwa in Moderwitz bei Neustadt an der Orla, wo die figürlichen
53 Vgl. P. Knüvener, Umwandlung (wie Anm. 25); zum Altar in Moderwitz vgl. P. Lehfeldt,
Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens [1]: Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Bd. 5
= H. 24/25: Amtsgerichtsbezirke Neustadt an der Orla, Auma und Weida, Jena 1897, S. 45 ff.
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Stefan Dornheim
Elemente eines spätmittelalterlichen Flügelaltars nahezu komplett in den Kanzelaltar des frühen 18. Jahrhunderts integriert wurden. (Abb. 3)
Die sich in den Jahrzehnten um 1800 auch im mitteldeutschen Raum verbreitende rationalistische Aufklärungstheologie zeigte weniger Sympathie für solche
ästhetisch mehr oder minder geglückten Verbindungen. Sie konnten zudem unter
den Verdacht gestellt werden, nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein ideeller Kompromiss mit einer noch veralteten und abergläubischen Frömmigkeitspraktiken verhafteten Gemeinde zu sein. Die rationalistisch gesinnten Pfarrer
der Spätaufklärung, die auf dem Land zudem überwiegend die Hauptakteure
der Volksaufklärungsbewegung stellten, übten erneut Kritik an ‚altväterischer‘
Bildlichkeit im Kirchenraum, die ihren theologischen Modernisierungsgedanken
und ihrem Kampf gegen sog. Aberglauben im Wege standen. Purifizierung wurde
zu einem Leitgedanken, der die oft tatsächlich mit memorialen und historischen
Artefakten überfüllten Kirchenräume leeren und die Götzenkammern in einer
weiteren Welle füllen sollte. Die Lichtmetaphorik der Aufklärung wurde auf den
Glauben angewendet und sollte bei Gottesdienst und Predigt auch vom Gemeinwesen in seinem vornehmsten Raum sinnlich erfahrbar werden. Große Fenster,
lichte Kirchenräume in Weiß und etwas Gold spiegelten die neuen Ideale. Der
Kanzelaltar blieb in neuen klassizistischen Versionen im Trend und verdrängte
weiterhin gotische Flügelaltäre in die Götzenkammern. Ihnen folgten nun auch
infolge der Purifizierungen abgenommene Erinnerungszeichen der städtischen
Honoratiorenfamilien, vor allem Wappenschilde und Epitaphien, aber auch erstmals einzelne nachreformatorische Bildausstattungen der Renaissance und des
Barock, welche vor allem aus ästhetischen Erwägungen mit den neuen Raumkonzepten nicht mehr vereinbar waren. Die ritual- und traditionskritische Ausrichtung der rationalistischen Theologen schickte in den Jahrzehnten um 1800
etwa auch das im erzgebirgischen und westsächsischen Raum weit verbreitete sog.
Bornkinnel in die Götzenkammern. Die an das römische Santo Bambino oder
das Prager Jesuskindlein erinnernde Figur des stehenden Jesuskindes, welches in
der Weihnachtszeit kostbar eingekleidet vom Altar grüßte, war weniger ein altkirchliches Relikt, sondern hatte sich in Sachsen, im kulturellen Austausch mit
den böhmischen Nachbarn, erst in nachreformatorischer Zeit infolge von Luthers
Aufwertung des Weihnachtsfestes im kirchlichen Festkalender als regionale evangelische Tradition entwickelt.54
Im Zuge der Reformation wurde kirchlichen Bildern und Gegenständen zunehmend ihre sakrale Qualität abgesprochen. Dem gegenüber wurden die memorialen,
54 Vgl. G. Hummel / H.-J. Beier (Hgg.) / F. Ficker (Mitarb.), 500 Jahre Bornkinnel. Sakrale
Kunst aus dem Erzgebirge und dem Vogtland, Langenweißbach 2000.
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583
Götzenkammern
historischen, künstlerischen und bildungsdidaktischen Funktionen der Objekte
betont, was ihren Erhalt für die Gemeinde im Kirchenraum, zumindest aber in
den anwachsenden kirchlichen Bilderdepots sicherte. Der Kirchenraum wurde
damit zu einem für das Gemeinwesen bedeutsamen Erinnerungsraum, der neben
der christlichen Heilsgeschichte auch die Erinnerung an die Geschichte des eigenen Ortes, seiner politischen, religiösen und kulturellen Entwicklungen materiell
repräsentierte und dabei konfessionelle und regionale Identitätsbildungen sicherte.55 Diese gewissermaßen prämuseale Funktion lutherischer Kirchenräume und
Depots stand bald im Spannungsfeld mit aufkeimenden theologischen, ästhetisch-kulturellen aber auch politisch-sozialen Erneuerungsbewegungen, denen die
vielfältigen materiellen Zeugnisse im Kirchenraum zunehmend als eine Last der
Vergangenheit galten. Die historisch gewordenen Objekte ließen sich inzwischen
vom Sakralraum lösen und wanderten seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts in großer Zahl in die Sammlungen der überregional und lokal entstehenden
Altertumsvereine und bildeten später den Grundbestand zahlreicher städtischer
Museen.
Die Götzenkammer im Dom St. Marien zu Freiberg spielte zu Beginn dieser
Entwicklung eine bedeutsame Rolle. Sie genoss seit den 1830er Jahren in kunstinteressierten Fach- und Laienkreisen landesweite Bekanntheit, nachdem ihr
reichhaltiges Inventar zur Objektgrundlage des 1837 in den Domkreuzgängen
eröffneten ersten sächsischen Altertumsmuseums wurde. Viele der mehr als 55
gotischen Heiligenfiguren, die heute wieder an ihren rekonstruierten ursprünglichen Standorten die reiche Ausstattung des Freiberger Domes ausmachen –
darunter neben den Zyklen der zwölf Apostel und den sog. klugen und törichten Jungfrauen auch eine nahezu lebensgroße Pietà –, lagerten lange Zeit hinter
einer dreifach verschließbaren, eisenbeschlagenen Tür in einem Gewölberaum im
Obergeschoss des Südturmes.56 Die Bergung der Objekte aus der Götzenkammer,
deren Neuinventarisierung, kunsthistorische Beschreibung, Beschilderung und
öffentliche Ausstellung in den frisch restaurierten Räumen der seinerzeit gerade vor
Verfall und Abriss geretteten Domkreuzgänge bedeuteten nicht nur deren Konservierung und Musealisierung, sondern auch ihre Umdeutung von theologisch
55 Vgl. S. Dornheim, Der Kirchenraum als Erinnerungsraum. St. Johannis und das vormoderne
Gedächtnis der Stadt, in: W. Greiling / U. Schirmer / R. Schwalbe (Hgg.), Der Altar
von Lucas Cranach d. Ä. in Neustadt an der Orla und die Kirchenverhältnisse im Zeitalter
der Reformation (QFThZR 3; Beiträge zur Geschichte und Stadtkultur, Sonderbd.), Köln/
Weimar/Wien 2014, S. 285–307; Ders., Pfarrer (wie Anm. 13), S. 45–79 sowie 201–254.
56 Vgl. H. Magirius, Geschichte der Denkmalpflege. Teil: Sachsen. Von den Anfängen bis zum
Neubeginn 1945, Berlin 1989, S. 54–62; HStA Dresden, Bestand Sächsischer Altertumsverein
12508, Sign. Nr. 316 Freiberger Dom-Kreuzgänge, insbesondere fol. 19 f.
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584
Stefan Dornheim
und teils auch ästhetisch als problematisch angesehenen religiösen Gegenständen hin zu Kunstwerken, deren Erhaltung und wissenschaftliche Beachtung als
‚vaterländische Altertümer‘ nunmehr empfohlen wurde. Zugleich verband sich
mit dem Projekt zur Rettung der Freiberger Domkreuzgänge und der Musealisierung des Götzenkammerinventars ein wichtiger Gründungsimpuls der sich
damit formierenden sächsischen Denkmalpflegebewegung.57
57 Vgl. H. Ermisch, Zur Geschichte des Koeniglich Saechsischen Altertumsvereins 1825–1885,
in: NASG 6 (1885), S. 1–50; E. Fabian, Erster Versuch (wie Anm. 14); G. F. Klemm / H. von
Friesen, Zweiter Bericht (wie Anm. 14); H. Magirius, Geschichte der Denkmalpflege (wie
Anm. 56), S. 54–62.
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Wolfgang Flügel
Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
Ewer Christlichen Lieb ist anzumelden, das in dieser jetzt angehenden Wochen ein solches Fest
feyerlich sol gehalten werden, welches dergestalt in gantzen ein hundert Jahren nicht geschehen.
Dann auff künfftigen Freytag werden es vollstendig hundert Jahr, daß der Allmächtige Gott durch
seinen Außerwelten Rüstzeug Herrn D. Martin Luthern, seligen, den Anfang gemacht, die hoch
bedrengte Kirch aus dem schweren gefengniß des Römischen Antichrists zu erlösen.1
Diese Worte verlasen alle Pastoren im Kurfürstentum Sachsen am 26. Oktober
1617 während des Sonntagsgottesdienstes, unmittelbar im Anschluss an die
Predigt.2 Dadurch erfuhren die Gemeinden zeitgleich, dass und warum sie auf
Geheiß des Kurfürsten keine Woche später, am 31. Oktober 1617, ein Reformationsjubiläum zu feiern hatten.
Allerdings dürfte diese Anordnung in den Gemeinden Erstaunen ausgelöst
haben. Denn während sich die protestantischen Kirchen in der Gegenwart zehn
Jahre lang auf das Reformationsjubiläum 2017 vorbereiteten, war 1617 die Vorstellung, mit einer Jahrhundertfeier die Ereignisse des 31. Oktober 1517 zu vergegenwärtigen, in doppelter Hinsicht ein Novum. Zuvor war nämlich der 31.
Oktober weder in Kursachsen noch in anderen protestantischen Territorien als
Gedenktag begangen worden.3 Vielmehr hatte sich die Reformationserinnerung,
die als Ergebnis der seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts betriebenen
Luther-Stilisierung entstanden war, am Todes- bzw. am Geburtstag des Reformators orientiert.4
Ebenso wenig bekannt wie das Feierdatum war im frühen 17. Jahrhundert
die kulturelle Praxis, ein historisches Jubiläum zu begehen. Das Wesen eines
1
2
3
4
Formula, wie den 19. Sonntag, welcher ist der 26. Octobris, das instehende Evangelische Jubelfest, also bald nach gehaltenen Predigten und vor Ablesung des gemeinen Gebets, von allen
Cantzeln soll intimiret werden, [o. O., s. i.] 1617 (VD17 14:016670Q).
Der Aufsatz folgt in weiten Teilen W. Flügel, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830 (SSGV 14), Leipzig 2005,
S. 11–84; hier auch weiterführende Literatur.
Allgemein zur Reformationserinnerung vor 1617 vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist, Weltheilsgeschehen und Gottes Werkzeug. Römische Kirche, Reformation und Luther im Spiegel des
Reformationsjubiläums 1617 (VIEG AARG 88), Wiesbaden 1978, S. 10–13.
Vgl. ebd.
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586
Wolfgang Flügel
historischen Jubiläums besteht bekanntlich darin,5 unter dem Zwang der runden
Zahl jene zentralen Ereignisse der eigenen Vergangenheit zu vergegenwärtigen,
die als ‚Erinnerungsfiguren‘ zum festen Bestandteil des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ zählen und Leitideen von Institutionen und Personen symbolisieren.6 Damit
wird ein doppelter affirmativer Zweck verfolgt. Erstens besteht die jubiläumsspezifische Leistung darin, die seit dem Ereignis vergangene Zeitspanne als Ausweis
für Stabilität und Zukunftsfähigkeit der das historische Jubiläum begehenden
Institution zu behaupten. Hinzu tritt, wie bei jeder Form der Geschichtspolitik,
eine zweite Sinnstiftung. Es gilt, im Interesse einer kollektiven Identitätsstiftung
die Festgemeinde auf gemeinsame Leitideen einzuschwören und Zustimmung
im Sinne eines Wir-Gefühls zu generieren.7 Die Zeitgenossen verstanden unter
einem Jubiläum noch nicht oder zumindest selten diese Form der Geschichtserinnerung, sondern meinten damit eine in der katholischen Kirche gängige Praxis.
Gemeint war der an einen festen zeitlichen Rhythmus – eben den Jubiläumszyklus – gebundene Sündenstrafenablass, an dem sich die Reformation einst entzündet
hatte und der bis in die Gegenwart hinein sowohl während der in regelmäßigen
Zeitzyklen wiederkehrenden Heiligen Jahre als auch zu besonderen Anlässen
vergeben wird; zuletzt geschah dies 2016 anlässlich des Außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit.8
Angesichts dieser doppelten Voraussetzungslosigkeit interessieren nicht nur der
Vorbereitungsprozess und Intentionen, die die Initiatoren und Träger der Säkularfeier verfolgten, sondern auch deren Resonanz und Verbreitung – immerhin
ist das Reformationsjubiläum 1617 zum zentralen Ausgangspunkt der modernen
Jubiläumskultur geworden.9
Einen ersten Hinweis auf den speziellen strukturellen Rahmen, der die Jahrhundertfeier prägte, gibt Johannes Burkhardt, indem er pointiert darauf verweist, dass diese Säkularfeier den Endpunkt des Reformationsjahrhunderts markierte.10 Damit beschloss sie einen Zeitabschnitt, in dem die Druckmedien eine
5 Vgl. W. Müller, Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion,
in: Ders. (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus (GFW 3), Münster 2004, S. 1–75.
6 Vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in
frühen Hochkulturen, München 21997, S. 37.
7 Vgl. ebd., S. 9–19.
8 Vgl. etwa D. O’Grady, Alle Jubeljahre. Die „Heiligen Jahre“ in Rom von 1300 bis 2000,
Freiburg i. Br./Basel/Wien 1999.
9 Vgl. W. Flügel, „Und der legendäre Thesenanschlag hatte seine ganz eigene Wirkungsgeschichte“. Eine Geschichte des Reformationsjubiläums, in: BThZ 28 (2011), S. 28–43.
10 Vgl. J. Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
587
„Glaubens- und Kommunikationsrevolution“ bewirkt hatten und in dem eine in
konfessionellen Belangen sensibilisierte „reformatorische Öffentlichkeit“ entstanden war.11 Die Bedeutung, die der Buchdruck als Motor dieser Revolution
nicht nur für die reformatorischen Ereignisse des Jahres 1517, sondern auch für
das Reformationsgedenken 1617 besaß, belegt unter anderem die Fülle der zu
diesem Anlass erschienenen illustrierten Einblattdrucke.12 Letztendlich wurde
das Reformationsjubiläum 1617 zu einem Medienereignis, insofern die Medien
es mit vorbereiteten und inhaltlich ausdeuteten.
Von dieser Beobachtung ausgehend interessieren die verschiedenen Kommunikationsprozesse, die bereits im Vorfeld der Jubiläumsfeier eingesetzt hatten und
die Feier prägten. Kommunikation wird dabei verstanden als die Übermittlung
von Informationen zum Zweck der Steuerung von Meinungen, Einstellungen
und Verhaltensweisen. Diesen Prozess der Einflussnahme beschreibt die von dem
amerikanischen Kommunikationswissenschaftler Harold Dwight Lasswell
(1902–1978) bereits 1948 vorgelegte ‚Lasswell-Formel‘ folgendermaßen: Wer
sagt was über welche Kommunikationskanäle zu wem mit welcher Wirkung.13
Sie kennzeichnet das grundlegende Modell der Massenkommunikation, das letztendlich auch auf das Reformationsjubiläum anzuwenden ist. Da diese Säkularfeier wie jede außerordentliche lutherische Kirchenfeier in der Frühen Neuzeit
landesherrlich angeordnet wurde, ist ein unidirektionaler, die gesellschaftlichen
Hierarchien abbildender Kommunikationsverlauf anzunehmen. Dadurch erweist
sich ein zentraler Einwand gegen die ‚Lasswell-Formel‘, wonach das ‚Feedback‘
der Rezipienten nicht berücksichtigt werde, zumindest für den Vorbereitungsprozess als gegenstandslos. In den Blick geraten jedoch nicht nur die Akteure und
Träger des Vorbereitungsprozesses und der Jubiläumsfeier sowie deren Intentionen, sondern auch die rituellen und symbolischen Kommunikationsstrukturen,
in welche die Festgemeinden eingebunden waren, sowie deren performative und
visuelle Medien, etwa Flugblätter und Schuldramen. Insofern diese zumindest
partiell der landesherrlichen Kompetenz und Verfügungsgewalt entzogen waren,
Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002, S. 9: „Am Ende stand
ein Jubiläum.“
11 G. Lottes, Medienrevolution, Reformation und sakrale Kommunikation, in: S. Kronenburg (Hg.), Die Aktualität der Geschichte. Historische Orientierung in der Mediengesellschaft. Siegfried Quandt zum 60. Geburtstag, Gießen 1996, S. 247–261, hier S. 252 und 260.
12 Eine Auswahl von 40 dieser Flugblätter analysiert R. Kastner, Geistlicher Rauffhandel.
Form und Funktion der illustrierten Flugblätter zum Reformationsjubiläum 1617 in ihrem
historischen und publizistischen Kontext (Mikrokosmos 11), Frankfurt a. M./Bern 1982.
13 Zur Lasswell-Formel vgl. etwa W. Schulz, Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze
und Ergebnisse empirischer Forschung, Wiesbaden 32011, S. 57 f.
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588
Wolfgang Flügel
können sie zugleich als Gradmesser für jenes ‚Feedback‘ dienen, das die Kritiker
der ‚Lasswell-Formel‘ eingefordert haben.
Der Vorbereitungsprozess
Nachdem sich im Ergebnis der Jahrhundertwende 1600 das Jahrhundert als feste
Größe in ein immer breiteres Bewusstsein eingebrannt hatte, mehrten sich seit
1616 die Anzeichen für ein langsames Bewusstwerden der Bedeutung des Jahres
1617.14 Einzelne Pastoren in verschiedenen Territorien des Reiches verwiesen auf
den bevorstehenden 100. Jahrestag der Reformation,15 und auch der Dekan der
Philosophischen Fakultät der Universität Wittenberg erinnerte in einer Rede am
25. November 1616 daran, dass a Reformatione Divi Lutheri centesimo currente,16
ohne dass jedoch der Wunsch nach einer besonderen Säkularfeier artikuliert wurde.
Auf solchen Äußerungen aufbauend ging die erste nachweisbare Initiative, am
31. Oktober 1617 ein Reformationsjubiläum zu zelebrieren, von der Universität
Wittenberg aus. In zwei Briefen baten die Wittenberger Universitätstheologen am
27. März 1617 zunächst das Oberkonsistorium in Dresden, und, als eine Reaktion
ausblieb, am 24. April 1617 direkt den sächsischen Kurfürsten Johann Georg I.
(1611–1656) um die Erlaubnis, am 31. Oktober 1617 ein primus Jubilaeus Christi
anus begehen zu dürfen.17 Dass dieser Vorstoß von den Wittenberger Professoren
ausging, verwundert nicht. Immerhin waren sie bereits jubiläumserfahren, hatten
sie doch am 18. Oktober 1602 mit einer Säkularfeier an den 100. Gründungstag ihrer Universität erinnert.18 Welche Bedeutung ein Universitätsjubiläum als
Katalysator für die Jubiläumsinitiative 1617 besaß, zeigt der Blick in die Kurpfalz.
14 Zur Jahrhundertwende vgl. A. Brendecke, Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frankfurt a. M./New York 1999. Tatsächlich mussten die
Theologen 1617 nicht den Jahrhundertbegriff nicht erklären. In den wenigen Fällen, in denen
sie es doch taten, heißt es lapidar: weil hundert Jahr der großen Zahlen eine ist damit wir zu
zehlen und zu rechnen pflegen und nun heutigen tages hundert Jahre verflossen sind. ThHSta
Weimar, Eisenacher Archiv, Konsistorialsachen 3, fol. 32–39 (Vorschlag und Entwerffung;
undat., 1617).
15 Vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 12.
16 Zitiert nach F. Loofs, Die Jahrhundertfeiern der Reformation an den Universitäten Wittenberg und Halle 1617, 1717 und 1817, in: ZVKGS 14 (1917), S. 1–80, hier S. 5.
17 HStA Dresden, Loc. 1891, Jubilaeum Reformationis Lutheri Ao. 1617, fol. 1 (Theologische
Fakultät an Oberkonsistorium; 27.3.1617); zum Schreiben vom 24.4.1617 vgl. auch UBUW,
ed. W. Friedensburg, Bd. 2: 1611–1813 (GQProvSachs NR 4), Magdeburg 1927, S. 34, Nr.
600; zum Vorgang vgl. W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 29–33 und S. 41–45.
18 Auch andere protestantische Universitäten begingen seit dem späten 16. Jahrhundert
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
589
Nachdem dort zunächst die Universität Heidelberg 1587 und das für die Theologenausbildung zuständige Collegium Sapientiae 1606 ihre Stiftungsjubiläen
begangen hatten, folgte Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz (1610–1623) diesem
Beispiel und ordnete am 11. April 1617 ebenfalls ein Reformationsjubiläum an.19
Die Wittenberger Universität lud ihren Wunsch nach einem Reformationsjubiläum mit einer besonderen Sinnhaftigkeit auf. In ihrem Schreiben an Johann Georg I.
nutzten die Professoren Argumente, die sie bereits während des Universitätsjubiläums 1602 entwickelt hatten. Damals stilisierten sie die Reformation zum zweiten,
prestigeträchtigen Gründungsereignis ihrer Universität.20 Angesichts dieser Identitätsprägung erscheint es als folgerichtig, dass 1617 erneut auf die Verschränkung
von Universität und Reformation zurückgegriffen wurde. Entsprechend behaupteten die Professoren in ihrem Gesuch an das Oberkonsistorium, die Reform der
Kirche sei durch Martinum Lutherum in […] dieser Universität begonnen worden.21
Dadurch sei die Wittenberger Alma Mater, wie der Festprediger am 1. November
1617 feststellte, ein neues geistliches Jerusalem und die Residenz Gottes geworden.22
Offenkundig zielte die geplante Säkularfeier nicht nur auf die Reformation und ihre
theologischen Inhalte, sondern sollte zugleich als Medium dienen, um die eigene
Exklusivität zu demonstrieren. Dass eine solche Außenwirkung tatsächlich eingeplant
war, belegt der Hinweis, man wolle auch andere Universitäten zur Feier einladen.23
Der entscheidende Schritt lag nun beim Kurfürsten. Dieser entsprach zwar dem
Wunsch der Wittenberger nach einem lokalen Gedenken, aber er weitete zusätzlich das Jubiläum zu einer landesweiten Feier aus.24 Aufbauend auf ein positives
19
20
21
22
23
24
Universitätsjubiläen, etwa Heidelberg, Tübingen oder Leipzig. Vgl. W. Müller, Historisches
Jubiläum (wie Anm. 5), S. 21–24.
Die Gründung des Collegium Sapientiae 1556 fällt zusammen mit der Einführung der Reformation in der Kurpfalz; zum Jubiläum des Collegiums. Vgl. Q. Reuter, Jubileus primus
Collegii Sapientiae quod est Heidelbergae celebratus […], [Heidelberg: s. i.] 1606 (VD17
23:247922G); zur Jubiläumsinitiative 1617 von Kurfürst Friedrich V. Vgl. H.-J. Schönstädt,
Antichrist (wie Anm. 3), S. 13 f.
Vgl. V. Gummelt, Die Theologische Fakultät und das Jubiläum der Universität Wittenberg
im Jahr 1602, in: I. Dingel / G. Wartenberg (Hgg.) / M. Beyer (Red.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres
der Leucorea (LStRLO 5), Leipzig 2002, S. 223–235, hier S. 229 f.
HStA Dresden, Loc. 1891, Jubilaeum Reformationis Lutheri Ao. 1617, fol. 1 (Theologische
Fakultät an Oberkonsistorium; 27.3.1617).
So Balthasar Meisner (1587–1626) in seiner Predigt am 1.11.1617; zitiert nach: W. Flügel,
Konfession (wie Anm. 2), S. 31.
Vgl. HStA Dresden, Loc. 1891, Jubilaeum Reformationis Lutheri Ao. 1617, fol. 1 (Theologische
Fakultät an Oberkonsistorium; 27.3.1617).
Vgl. zum Ablauf W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 41–45.
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590
Wolfgang Flügel
Gutachten, das das Oberkonsistorium am 15. Mai 1617 im Auftrag von Johann
Georg I. verfasst hatte,25 befahl dieser in Abstimmung mit dem Geheimen Rat am
nächsten Tag dem Oberkonsistorium, einen ersten Ablaufplan für die Säkularfeier
vorzulegen.26 Dem folgten die Theologen und präsentierten dem Landesherrn am
11. Juni detaillierte Ergebnisse.27 Am 18. Juli gab der Kurfürst seine Zustimmung,
forderte jedoch Überarbeitungen im Detail.28 Damit war ein erster Teil des Vorbereitungsprozesses abgeschlossen.
Der nun erreichte Planungsstand wurde im engen Zusammenspiel von weltlichen und geistlichen Behörden unter Rückgriff auf verschiedene Kommunikationsmedien verbreitet. Dabei nutzte man ein bereits erprobtes Verfahren, das
die Uniformität der Jubiläumsfeier in allen Kirchen des Landes garantierte; die
intendierte Zielsetzung, einheitliche Inhalte und Riten zu formulieren und durchzusetzen, war gerade im konfessionellen Zeitalter wichtig für die Herstellung und
Generierung von Gruppenkohärenz.29
Um das Reformationsjubiläum landesweit zu kommunizieren, ließ das Oberkonsistorium zum 12. August 1617 drei Formulare im handlichen Oktavformat
drucken, die als Handlungsaufforderung über die Konsistorien an die Super
intendenten und schlussendlich an alle Pastoren verteilt wurden. Mit diesem
Schneeballsystem in Übereinstimmung steht, dass mindestens drei verschiedene
Offizinen mit dem Druck dieser Dokumente beauftragt wurden.30 Das erste
und wichtigste Dokument war die Instruction und Ordnung.31 Entsprechend der
Vorschläge des Oberkonsistoriums vom 11. Juni 1617 enthielt sie gleich einer
Gebrauchsanweisung alle Details für ein dreitägiges Kirchenfest nach dem Vorbild höchster kirchlicher Feiertage, das am 31. Oktober 1617 beginnen sollte. Im
25 Vgl. UBUW, ed. W. Friedensburg, Bd. 2 (wie Anm. 17), S. 34, Nr. 601, Anm. 2.
26 Vgl. F. Loofs, Jahrhundertfeiern (wie Anm. 16), S. 5 f.; H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie
Anm. 3), S. 16.
27 Vgl. HStA Dresden, Loc. 7423/2, fol. 83–87 (Oberkonsistorium an Johann Georg I.; 11.6.1617);
UBUW, ed. W. Friedensburg, Bd. 2 (wie Anm. 17), S. 34 f., Nr. 602; vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 16 f.
28 Vgl. HStA Dresden, Loc. 7423/2, fol. 82 und 88 (Oberkonsistorium an Johann Georg I.;
11.6.1617); F. Loofs, Jahrhundertfeiern (wie Anm. 16), S. 8; H.-J. Schönstädt, Antichrist
(wie Anm. 3), S. 18.
29 Vgl. W. Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des
konfessionellen Zeitalters, in: ZHF 10 (1983), S. 257–277, hier S. 263.
30 In Freiberg: Georg Hoffmann, in Wittenberg: Georg Kellner und Paul Helwig, sowie eine
nicht genannte in Dresden.
31 Instruction und Ordnung nach welcher in Vnsern von Gottes Gnaden Johanns Georgen […]
Landen das instehende Evangelische Jubelfest soll gehalten werden, [Dresden] 1617 (VD17
3:003477R).
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
591
Mittelpunkt standen täglich zwei Festgottesdienste mit Abendmahl, wobei mit
Werner Freitag die Liturgie als Kommunikationsmedium verstanden werden
kann.32 Hinzu traten weitere Regieanweisungen, etwa die Bestimmung, sowohl
die Jubiläumsfeier am Vorabend als auch die einzelnen Gottesdienste mit einem
längeren Glockengeläut zu beginnen. Weiterhin schrieb die Instruktion auf den
Jubiläumsanlass abgestimmte Perikopen vor, die anstelle der üblichen Epistel und
Evangelien zu verlesen und in den Predigten zu erläutern waren. Als zweiter Druck
erschien ein spezielles Dankgebet, das jeder Pastor in allen sechs Festgottesdiensten
verlesen musste. Drittens ist die bereits erwähnte Formula zu nennen, mit der die
Pfarrer die Gemeinden über das anstehende Reformationsjubiläum informierten.
In welchem Maß die Behörden versuchten, mit ihren Vorgaben das Verhalten
der Bevölkerung zu steuern, zeigt der Umstand, dass sowohl die Instruction als
auch die Formula Disziplinar- und Verhaltensvorschriften enthielten, die eine
breite Teilnahme an den Gottesdiensten und damit die Rezeption der genormten
Inhalte gewährleisten sollten: fressen, sauffen, spielen sowie nächtliches tumultie
ren und dergleichen waren bei Strafe verboten, Handel und Gewerbe hatten zu
ruhen.33 In Absprache mit den Superintendenten hatten die weltlichen Lokalbehörden auf die Umsetzung dieser Bestimmungen zu achten.
Über einen zweiten ergänzenden Kommunikationsstrang sorgte Oberhofprediger Matthias Hoë von Hoënegg (1580–1645) für eine weitere Vereinheitlichung
der Predigtinhalte. Er befürchtete, dass viel Pastores und Diaconi auf dem Lande,
zumal in Dörfern, nicht so recht in das werck schicken möchten, was sie predigen
und worauf sie insonderheit ihren zweck richten sollten.34 Deshalb verfasste er
eine Musterpredigtsammlung und ließ diese drucken.35 Die Exemplare wurden
den Pfarrern ab dem 1. Oktober 1617 zum Kauf angeboten. Zugleich erging die
Anweisung, die Pastoren ihrerseits sollten den vorgesetzten Behörden ihre Festpredigten zum Druck einschicken, wodurch die Nutzung der Musterpredigten
fast erzwungen wurde – tatsächlich finden sich in manchen dieser gedruckten
Predigten Formulierungen, die Hoë von Hoënegg vorgegeben hatte.
Doch mit der Predigtsammlung normierte der Oberhofprediger nicht nur die
Auslegung der angeordneten Perikopen, die an gewöhnlichen Sonn- und Feiertagen
32 Vgl. W. Freitag, Die Kirche im Dorf, in: J. Burkhardt / C. Werkstetter (Hgg.),
Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (HZ Beiheft NF 41), München 2005,
S. 147–157, hier S. 147.
33 Aus dem Formular zitiert nach: W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 48.
34 Zitiert nach F. Loofs, Jahrhundertfeiern (wie Anm. 16), S. 6.
35 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Parasceve ad sollenitatem Jubilaeam Evangelicam […], Leipzig
1617 (VD17 3:312278T).
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592
Wolfgang Flügel
den Pastoren überlassen wurde, sondern gab den Pfarrern auch eine Begriffsbestimmung in die Hand, was ein Jubiläum sei. Danach diente dieses Jubelfest zunächst
dazu, Gott Lob, Ehr und Preis für die Reformation und den Erhalt des Luthertums darzubieten.36 Auf den Jubel als adäquate Form des Dankens verweisen der
lateinische Begriff des Jubiläums oder die in den deutschsprachigen Drucken
genutzte – auf Martin Luthers (1483–1546) etymologisch falsche Übersetzung
des alttestamentarischen Jobeljahrs zurückgehende – Bezeichnung als Jubelfest
oder Jubelfreude. Damit stand das Jubiläum in der Tradition der seit dem 16. Jahrhundert bekannten Lob- und Dankfeste, mit denen Gott aus Anlass bestimmter
Ereignisse, etwa für den Türkenfrieden 1606, zumeist mit landesweit einheitlichen
Gottesdienstfeiern gedankt wurde.37 Nun war zwar 1617 die Reformation kein
tagesaktuelles Geschehen, aber da sie und ebenso die Geschichte des Luthertums
als Ergebnis göttlichen Handelns verstanden wurden, konnte 1617 eben auch ein
Ereignis gewürdigt werden, das im aktuellen Zeithorizont lag: Die Erinnerung
galt dem von Gott in diesen Landen […] offenbarte[n] Licht des heiligen Evangelii
[…] das er […] diese hundert Jahr erhalten hat, gegen alle Angriffe des Papstes.38
Zugleich vollzog Hoë von Hoënegg in seinen Schriften eine Abgrenzung der
Säkularfeier vom katholischen Jubiläum, d. h. dem Heiligen Jahr. Dies erschien
vor allem deshalb als notwendig, weil Papst Paul V. (1605–1621) am 12. Juni 1617
ein außerordentliches Heiliges Jahr ausgerufen hatte.39 Während das katholische
Jubiläum aufgrund des Ablassgedankens in den Augen der lutherischen Geistlichkeit diskreditiert war, konnte der Oberhofprediger das Reformationsjubiläum in
eine alttestamentarische Tradition einbinden und es damit als wahrhaft christliche Feier bezeichnen. Gott selber habe, so Hoë von Hoënegg, um ein Vergessen
seiner Gnadenwerke zu verhindern, deren feierliche Erinnerung geboten (Dtn
4 und 16,1; Ex 13 und 14,23).40 In Umsetzung dieses Befehls habe schließlich
König David Jubelfeste wegen der Auffindung der Bundeslade oder wegen der
Befreiung aus Ägypten ausgerichtet.41 Damit bezeichnete der Theologe nicht die
alttestamentarischen Jobeljahre, sondern ausdrücklich die alttestamentarischen
36 Ebd., Titelblatt.
37 Vgl. etwa A. Flügel, „Gott mit uns“ – zur Festkultur im 17. Jahrhundert am Beispiel der
Lob- und Dankfeste und Fastnachtsbräuche in Leipzig, in: K. Keller (Hg.), Feste und Feiern. Zum Wandel städtischer Festkultur in Leipzig, Leipzig 1994, S. 49–68.
38 HStA Dresden, Loc. 7432/2, fol. 81 ( Johann Georg I. an Oberkonsistorium; 16.5.1617).
39 Vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 20 f.
40 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 2, 29–33.
41 Vgl. Ders., Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde In der Churfürstlichen Sächsischen
Schloßkirchen zu Dreßden […] auff gnedigste anordnung gehalten, Leipzig 1617 (VD17
23:245823A), Vorwort, unpag.; vgl. auch Instruction und Ordnung (wie Anm. 31).
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
593
Gedächtnisfeiern als Vorbild für das lutherische Jubiläum.42 Zugleich legitimierte
der Hinweis auf die Initiative König Davids die Anordnungshoheit, die Kurfürst
Johann Georg I. für ein Kirchenfest in Anspruch nahm.
Die Jubiläumsfeier und ihre Sinnhorizonte
Beschreibungen der Feierlichkeiten zeigen, dass die Vorgaben getreulich umgesetzt
wurden. In Dresden, so schrieb Hoë von Hoënegg, habe man am 30. Oktober 1617:
nach mittag in und vor der Stadt in allen Kichen das Fest eingeleutet, Vespern gehalten und Beicht
gesessen. In der Churfuerstlichen Schloßkirchen hat der Churfuerst zu Sachsen […] sampt seiner
Churf. Gn. Gemahl […] selbiges Tages gebeichtet. Den 31. Octob. war der erste Festtag, wurden nach
6. Uhr frue etliche große Geschütz loßbrennet und geschahen sonderliche Frewdenschuesse wie an
hohen Festen allhie gebreuchlich. selbigen Tages so woln den 1. und 2. Novemb. Hat man vor und
nach Mittag neben herrlicher musica Predigten gehalten. Es haben auch Hoëchstermelte J. Churf.
Gn. beyderseits […] am ersten Festtag offentlich in volckreicher versammlung das H. Abendmahl
des HErrn Jesu Christi nach desselben erster Stifftung und einsetzung mit grosser Andacht emp
fangen. Nicht weniger ist in den andern Kirchen alle drey Feyertage uber das heilige Nachtmahl
des HErrn ausgetheilt ingleichen das gantze Fest uber zu den Jubelpredigten ein uberaus großer
zulauff des Volcks in allen Kirchen gespuret […] und bey den Leuten eine sonderbare Devotion
und Andacht vermercket worden.43
Diese Beschreibung liefert zugleich Hinweise auf die integrative Funktion der
Jubiläumsfeier. Indem Johann Georg I. an der Spitze seines Hofes in demonstrativer Art und Weise an dem von ihm angeordneten und darum gut besuchten
Gottesdienst in der Sophienkirche teilnahm und hier auch das Abendmahl empfing, stilisierte er sich seinen Untertanen gegenüber als Glaubensvorbild.44 Dieser
Sachverhalt zielte zunächst auf eine durch die landesherrliche Jubiläumsanordnung
hergestellte und auf den Kurfürsten verweisende „repräsentative Öffentlichkeit“,45
42 Der ausdrückliche Hinweis, dass die Jobeljahre keine Erinnerungsfeiern waren, vgl. bei M.
Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum. Zur Entstehung und Entwicklung öffentlicher
Gedenktage, in: E. Brix / H. Stekl (Hgg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche
Gedenktage in Mitteleuropa, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 23–90, hier S. 62.
43 M. Hoë von Hoënegg, Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41), Vorwort, unpag.
44 Zur Vorbildwirkung des Fürsten vgl. V. Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von
der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (FN 12), Tübingen 1993, S. 66–70.
45 Zum Begriff vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer
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594
Wolfgang Flügel
bei der die Bevölkerung lediglich als passive Staffage für die Repräsentation des
Landesherrn im öffentlichen Raum fungierte; besonders deutlich wurde dies
beim Einzug des Kurfürsten in die Kirche. Hinzu kommt jedoch ein darüber
hinausweisender Aspekt. Das gemeinsame Hören der Predigten, der gemeinsame
Gesang und der gemeinsame Empfang der Eucharistie besaßen nicht nur eine
theologische Komponente, sondern dienten der Demonstration jener konfessionellen Einheit zwischen Landesherrn und Untertanen, der im konfessionellen
Zeitalter grundlegende Bedeutung für die Stabilität des Gemeinwesens zukam.
Damit korrespondierte auch die Symbolik der repräsentativen Inszenierungsformen. Wenn Hoë von Hoënegg ausdrücklich den Verzicht auff äußerliche gepräng
betonte, dann bezog sich das auf personalintensive kirchliche Feierrituale und war
der Abgrenzung von katholischen Kirchenfeiern geschuldet.46 Der Oberhofprediger meinte aber nicht das herrschaftlich-repräsentative Zeremoniell. Vor allem
jene Elemente wurden in den Jubiläumsablauf integriert, die weitreichende und
unüberhörbare Öffentlichkeitswirkung besaßen und von den Feierlichkeiten kündeten, etwa das Abfeuern der Kanonen von den Stadtmauern, das Musizieren mit
Pauken und Trompeten von den Kirchtürmen herab oder ein festlicher Einzug in
die Kirche. Es wurden also jene Zeremonien genutzt, die wie das Salutschießen
und das Trompetenspiel als traditionelle Sieges- und Ehrenzeichen47 zu den wichtigen Bestandteilen des landesherrlichen Zeremoniells gehörten und z. B. beim
festlichen Einzug eines Fürsten in die Stadt Anwendung fanden.48 Mit ihnen waren
etwa Kaiser Matthias (1612–1619) und Erzherzog Maximilian (1558–1618), die
vom 4. bis zum 13. August 1617 in Dresden weilten, bei ihrer Ankunft begrüßt
worden.49 Bei einem Vergleich beider Ereignisse fällt allerdings auf, dass anlässlich
46
47
48
49
Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (STW 891), Frankfurt a. M. 1990, S. 58–66; zur Kritik vgl. unter anderem A. Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche
Protestbewegungen im 18. Jahrhundert (FF 1), Tübingen 1995, S. 29–41.
M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 3.
Vgl. W. Herbst, Das religiöse und das politische Gewissen. Bemerkungen zu den Festpredigten anläßlich der Einhundertjahrfeier der Reformation im Kurfürstentum Sachsen, in:
Schütz-Jb 18 (1996), S. 25–38; D.-R. Moser, Friedensfeiern und Festmusik im Verhältnis
der Konfessionen, in: J. Burkhardt / S. Haberer (Hgg.), Das Friedensfest. Augsburg und
die Entwicklung einer neuzeitlichen Toleranz-, Friedens- und Festkultur (CA 13), Berlin 2000,
S. 278–295, hier S. 290.
Zum Trompetenspiel im höfischen Zeremoniell vgl. S. Henze-Döhring, Der Stellenwert
der Musik im höfischen Zeremoniell, in: J. Riepe (Hg.), Musik der Macht – Macht der Musik.
Die Musik an den sächsisch-albertinischen Herzogshöfen Weissenfels, Zeitz und Merseburg
(SMDMG 8), Schneverdingen 2003, S. 23–32, hier S. 26 ff.
Vgl. G. Klemm, Chronik der königlich-sächsischen Residenzstadt Dresden, Bd. 1: Die Geschichte Dresdens bis zum Jahr 1694, Dresden 1837, S. 260 f.
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
595
des Jubiläums nur solche Elemente des weltlichen Zeremoniells genutzt wurden, die auf die Konfession als gemeinsames Bindeglied zwischen Kurfürst und
Ständen bzw. zwischen lokaler Obrigkeit und Stadtbevölkerung verwiesen. Im
Gegensatz zu den Feierlichkeiten anlässlich des Kaiserbesuchs fehlten hingegen
solche repräsentativen Formen, die, wie das Feuerwerk, durch ihre Symbolik die
soziale Distinktion betonten bzw. bloße Schaulust provozierten.50
Der behauptete Zusammenhang von Landesherrschaft und Luthertum musste
schließlich noch im Bewusstsein der Bevölkerung verankert werden. Dies erfolgte
zunächst durch die namentliche Erwähnung des Kurfürsten im vorgeschriebenen
Festgebet, das die Theologen nach jeder Predigt, also sechs Mal in drei Tagen,
verlasen. Bei der Rückbindung der Reformation an den Landesherrn leisteten
außerdem die Theologen in ihren Predigten eine gute „Einprägearbeit“.51 Indem
sie das kontinuierliche Eintreten des sächsischen Kurfürsten für die lutherische
Kirche betonten, stellten sie die Regierung Johann Georgs I. als Umsetzung des
göttlichen Willens dar und legitimierten sie somit theologisch.52 Daraus erwuchs
natürlich für die lutherische Bevölkerung zwangsläufig eine Gehorsamspflicht
gegenüber dieser gottgewollten Obrigkeit.
Neben diese Kommunikationsprozesse, die die innersächsische Ebene betrafen,
traten weitere, die auf eine Krisensituation im außenpolitischen Bereich abzielten.53 Nachdem sich das Luthertum bis in die Regierungszeit Kaiser Maximilians II . (1564–1576) im Reich ausgebreitet und innerlich gefestigt hatte, verschlechterte sich seine Situation seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts.
Sogar Johann Georg I. musste feststellen, dass das Luthertum fast gantz und gar
auf der nase lieget.54 Diese Sichtweise resultierte aus einer komplexen Situation,
in der den Lutheranern nicht nur eine im Tridentinum erneuerte katholische
Kirche als Gegner gegenüberstand, sondern auch ein zweiter Rivale erwachsen
war. Infolge tiefgreifender theologischer Differenzen hatte sich das evangelische
Lager in zwei Konfessionen gespalten: in das lutherische und in das außerhalb
der Confessio Augustana stehende, reichsrechtlich nicht anerkannte reformierte
50 Zum Feuerwerk vgl. E. Fähler, Feuerwerke des Barock. Studien zum öffentlichen Fest und
seiner literarischen Deutung vom 16. bis 18. Jahrhundert, Stuttgart 1974, S. 95–98.
51 H.-C. Rublack, Lutherische Predigt und soziale Wirklichkeiten, in: Ders. (Hg.), Die
lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (SVRG 197), Gütersloh 1992, S. 344–395,
hier S. 346.
52 Vgl. etwa M. Hoë von Hoënegg, Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm.
41), Epigramma Seculare.
53 Hierzu vgl. ausführlich W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 33–41.
54 Zit. nach A. Gotthard, „Politice seint wir bäpstisch“. Kursachsen und der deutsche Protestantismus im frühen 17. Jahrhundert, in: ZHF 20 (1993), S. 275–319, hier S. 311.
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Wolfgang Flügel
Bekenntnis. Die Kluft zwischen beiden war derart tief, dass einige kursächsische
Theologen die Meinung verfochten, die Lutheraner sollten lieber mit den Papis
ten gemeinschafft haben […] denn mit den Calvinisten.55 Beiden war allerdings
gemein, dass sie in den Jahrzehnten um 1600 zu Lasten der Lutheraner Boden gut
machen konnten. Verschiedene lutherische Landesherren konvertierten nämlich
zum reformierten oder zum katholischen Bekenntnis, was unmittelbaren Einfluss
auf die konfessionelle Prägung ganzer Territorien besaß.
In dieser Situation bezog Kursachsen eine ambivalente Stellung. Das Land
galt als Hochburg der lutherischen Orthodoxie,56 war aber territorial und konfessionell saturiert. Seine Politik zielte mithin auf die Wahrung des Status quo,
und es versuchte, sie im Schulterschluss mit dem katholischen Kaiser durchzusetzen.57 Politice seint wir bäpstisch hieß das bekannte Motto.58 In der Folge büßte
Kursachsen seine führende Rolle im protestantischen Lager ein. Der Kurfürst
wurde von den lutherischen Reichsständen ob seines Auftretens gegenüber dem
Kaiser argwöhnisch beobachtet, während die Kaisertreuen ihrerseits in jeder
distanzierenden Äußerung Johann Georgs I. gegenüber habsburgischen Plänen
Hochverrat witterten. Zudem gewann die reformierte Kurpfalz als Führungsmacht des protestantischen Kampfbündnisses, der Union, der Kursachsen nicht
angehörte, an Einfluss.
In dieser Situation nutzte Johann Georg I. das Reformationsjubiläum in doppelter, fast widersprüchlicher Weise als Medium einer symbolischen Kommunikation: Einerseits wollte er seinen Anspruch als Schutzfürst der Reformation und
als Haupt der Protestanten im Reich unterstreichen. Andererseits aber sandte er
im Reformationsjubiläum Signale der Deeskalation an Kaiser Matthias.
Die Demonstration einer behaupteten Stärke des Luthertums und des kursächsischen Führungsanspruches gewinnt vor dem Hintergrund der innerprotestantischen Jubiläumskonkurrenz eine tiefere Dimension. In seiner Jubiläumsinitiative vom 11. April 1617 hatte Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz nämlich
ein gemeinsames Reformationsgedenken der Union und darüber hinaus aller
55 P. Leyser, Eine wichtige und in diesen gefährlichen Zeiten sehr nützliche Frag: Ob, wie und
warumb man lieber mit den Papisten gemeinschafft haben und gleichsam mehr vertrawen zu
ihnen tragen solle, denn mit zu den Calvinisten, Leipzig 1620 (VD17 14:050507D).
56 Vgl. H. Smolinsky, Albertinisches Sachsen, in: A. Schindling / W. Ziegler (Hgg.), Die
Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung. Land und
Konfession 1500–1650, Bd. 2: Der Nordosten (KLK 52), Münster 21991, S. 8–33, hier S. 23–30.
57 Vgl. F. Müller, Kursachsen und der böhmische Aufstand 1618–1622 (SVG 23), Münster
1997, S. 22–30.
58 A. Gotthard, Politice seint wir bäpstisch (wie Anm. 54), passim.
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
597
Protestanten angeregt.59 Damit verfolgte er zwei Ziele.60 Erstens wollte er die
eigene, reichsrechtlich nicht anerkannte Konfession symbolisch aufwerten und
als der Confessio Augustana zugehörig, d. h. den Lutheranern ebenbürtig, etablieren. Zweitens verfolgte er den Plan, vor dem Hintergrund der angespannten
politischen Situation das zerstrittene gesamtprotestantische Lager gegenüber den
Katholiken zu stärken.
Allerdings geriet das Reformationsjubiläum der Union gegenüber der kursächsischen Säkularfeier ins Hintertreffen. Erstens dauerte es nicht drei, sondern nur
einen Tag, zudem wurde nicht am symbolträchtigen 31. Oktober, sondern am
darauffolgenden Sonntag, dem 2. November, gefeiert. Außerdem konnte man sich
innerhalb der Union nicht auf einen einheitlichen Ablauf einigen, vielmehr feierte
jedes Mitglied nach seinen eigenen Vorstellungen, wobei Brandenburg unter seinem reformierten Landesherrn die Teilnahme sogar verweigerte. Damit konnte
der in der Union herrschende konfessionelle Dissens auch durch den Verweis
auf einen gemeinsamen Ursprung beider Konfessionen nicht vermindert werden.
Johann Georg I. hingegen setzte seine Jubiläumsplanungen wesentlich erfolgreicher um und konnte so seinen Führungsanspruch im eigenen konfessionellen
Lager untermauern. Er hatte zu diesem Zweck seine Jubiläumsanordnung an weitere lutherische Reichsstände mit Bitte um Nachahmung geschickt. Dem folgten
vor allem die lutherischen Territorien in Norddeutschland. Aber auch Straßburg/
Strasbourg, eine tonangebende Stadt der Union, verwies in seinem Jubiläum auf
die kursächsische Säkularfeier.61 Die so entstandene gleichförmige Jubiläumsfeier nach kursächsischem Vorbild unterstrich Johann Georgs I. politischen Geltungsanspruch als wichtigstem Schutzfürsten des Luthertums. Diesen brachte er
auf den Münzen, die er anlässlich des Reformationsjubiläums 1617 prägen ließ,
unmissverständlich zum Ausdruck: Sie zeigen ihn gemeinsam mit dem Beschützer
Luthers, dem sächsischen Kurfürsten Friedrich III. (1486–1525).
Vor dem Hintergrund der prohabsburgischen Politik Johann Georgs I. besaß
diese Selbststilisierung als lutherischer Fürst eine Signalwirkung für den Protestantismus, ließ sie sich doch als Bekräftigung des konfessionellen Status quo in
Kursachsen verstehen. Allerdings ging diese Demonstration keineswegs zu Lasten der Verbindungen zum Kaiserhaus. Zumindest unterschwellig signalisierte
die Säkularfeier, dass der lutherische Kurfürst sämtliche Rechte, die der Kaiser
als Haupt des Reiches besaß, auch künftig respektieren werde.
59 Vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 13 ff.
60 Vgl. W. Flügel, Konfession (wie Anm. 2), S. 54 ff.
61 Vgl. zu den Jubiläumsfeiern in den Territorien H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3),
S. 36–75.
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Wolfgang Flügel
Eine solche Haltung baute auf dem lutherischen Obrigkeitsverständnis auf. Das
Luthertum hat bekanntlich im Gegensatz zur römischen Kirche die augustinische Trennung von civitas Dei und civitas terrena radikalisiert. Aus der Forderung
„Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (Mk 12,17) und dem Gebot „Jedermann
ist Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“ (Röm 13) – beide Perikopen
waren für die Festgottesdienste vorgeschrieben –, folgte nichts weniger als eine
Emanzipation der politischen Gewalt von der kirchlichen Bevormundung. Hierauf spielten die Festprediger an, wenn sie behaupteten, der Papst schont keinen
hohen Potentaten, damit er selbst der höchste bleibe.62 Daher, so die Argumentation, profitiere auch das Kaisertum von der Reformation, insofern es dank deren
(indirekter) Hilfe aus seiner Reduzierung auf den Stegreiffhalter und Truchsäß des
Papstes befreit und wieder als autonome weltliche Macht etabliert worden sei.63
Damit war der Hinweis verbunden, dass für den Kaiser in weltlichen Fragen der
Papst Konkurrent war, nicht aber die lutherischen Kurfürsten, die das Reichsoberhaupt als legitime Obrigkeit verstanden.64
Damit war das Reformationsjubiläum für Johann Georg I. ein integratives
staatliches Herrschaftsinstrument, mit dem er angesichts einer politischen Krise
gegenüber dem In- und Ausland seine lutherische Zugehörigkeit demonstrierte,
sich als protestantischer Schutzfürst stilisierte und zugleich sein politisches Tun
auf Reichsebene legitimierte. Doch nicht nur der Landesherr zeigte ein Interesse
am Reformationsjubiläum. Auch das Oberkonsistorium nutzte die Säkularfeier
als Chance, um gegen ein allgemeines Gefühl existenzieller Bedrohung vorzugehen. Hoë von Hoënegg beklagte, dass eine uberauß geschwinde und bei Menschen
gedenken fast unerhörte Theurung und Hungersnoth dieses Land drucket, hierneben
Pestilenz und ander gefehrlichkeiten.65 Nun waren Krieg, Epidemien und ökonomische Notlagen den Zeitgenossen zwar als ständige Bedrohungen präsent. Sie
wurden aber durch die Theologen in einen Sinnzusammenhang mit der Krise
des Luthertums gebracht und in Übereinstimmung mit Luthers Lehre als Strafe
Gottes für menschliches Fehlverhalten interpretiert:66 Weil der Glaubenseifer
62 W. Franz, Predigt 2.11.1617, in: Christliche evangelische Lutherische Jubel-Predigten […],
Wittenberg 1618 (VD17 23:245876F, 23:245819Q, 23:327814F, 23:280672F), S. 335.
63 M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 11, 61.
64 Mit Hinweis auf den Kaiser als legitime Obrigkeit beteiligte sich Kursachsen während des
Böhmischen Aufstandes 1618 nicht am Kampf gegen das Haus Habsburg. Vgl. H. Duchhardt,
Protestantisches Kaisertum und Altes Reich. Die Diskussion über die Konfession des Kaisers in
Politik, Publizistik und Staatsrecht (VIEG AUG 87; BSVGAR 1), Wiesbaden 1977, S. 52 ff.
65 HStA Dresden, Loc. 7423/2, fol. 79 (Hoë von Hoënegg an Johann Georg I.; 15.5.1617).
66 Vgl. V. Leppin, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618 (QFRG 69), Gütersloh 1999, S. 151–159.
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
599
erlahmt sei, verhänge Gott Krankheit und Hungersnot als gerechte Strafen.67
Jedoch war das Eingreifen Gottes in die menschlichen Schicksale weder unabänderlich noch willkürlich. Angesichts des vom Christentum (und ebenso vom
Judentum) behaupteten Bündnisses zwischen Gott und dem Volk Israel, an dessen Stelle mit Hoë von Hoënegg nun das sächsische Volk getreten war,68 bestand
die Möglichkeit, durch Buße und einer Änderung des Lebenswandels die von
Gott verhängten Strafen abzuwenden.69 Hier setzte das Oberkonsistorium an. Es
galt, „einer müde gewordenen evangelischen Christenheit die heilsgeschichtliche Bedeutung der durch Luther als Werkzeug von Gott selbst heraufgeführten
Reformation“ zu verdeutlichen und sie zum Festhalten an der eigenen Konfession
als Voraussetzung für das Seelenheil zu ermuntern.70
Um dieses Ziel zu erreichen, nutzten die Theologen die vielfältigen und in ihrer
Wirkungsweise aufeinander abgestimmten Medien des Gottesdienstes, die wie
Predigt und Gesang eine Massenkommunikation ermöglichen.71 So muss das
gemeinsame Singen der Kirchenlieder als aktives Wiederholen und Aneignen von
Glaubensaussagen verstanden werden. Dabei vermittelte der Gesang, gerade im
responsiven Wechselspiel von Pfarrer und Gemeinde, ein Gemeinschaftserlebnis,
das das Zugehörigkeitsgefühl zur gemeinsamen Konfession bestärken sollte.72 Der
identitätsstiftende Charakter zeigte sich unter anderem darin, dass zahlreiche
67 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41),
S. 107.
68 Vgl. Ders., Parasceve (wie Anm. 35), S. 38: Gott ist in Sachsen bekanndt, in Deutschland ist
sein Name herrlich, zu Dreßden ist sein Gezelt.
69 Vgl. V. Leppin, Antichrist (wie Anm. 66), S. 165, 247; T. Kaufmann, Lutherische Predigt
im Krieg und zum Friedensschluß, in: K. Bussmann / H. Schilling (Hgg.), 1648. Krieg
und Frieden in Europa, Textbd. I: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, Münster 1998,
S. 245–250, hier S. 247.
70 T. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur (BHTh 104), Tübingen 1998, S. 18 f.; vgl. auch H.
Bollbuck, Martin Luther in der Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung, in: H. Rössler (Hg.), Luthermania. Ansichten einer Kultfigur (Ausstellungskat. HAB
99), Wiesbaden 2017, S. 47–68, hier S. 57–62.
71 Zum Gottesdienst als Ort der Kommunikation, zur Predigt und zu den liturgischen Handlungen als Kommunikationsmedien der Kirche vgl. G. Schwerhoff, Kommunikationsraum
Dorf und Stadt. Einleitung, in: J. Burkhardt / C. Werkstetter (Hgg.), Kommunikation
(wie Anm. 32), S. 137–146, bes. S. 139, 144.
72 Zur exponierten Stellung des Kirchenliedes vgl. auch D. Wendebourg, Lust und Ordnung.
Der christliche Gottesdienst nach Martin Luther, in: J. Brademann / K. Thies (Hgg.),
Liturgisches Handeln als soziale Praxis. Kirchliche Rituale in der Frühen Neuzeit (SKGWS
47), Münster 2014, S. 111–122, hier S. 121; zur gemeinschaftsbildenden Funktion des Kirchengesangs vgl. unter anderem S. Michel, Gesangbuchfrömmigkeit und regionale Identität. Ihr
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600
Wolfgang Flügel
Lieder aus der Feder Luthers stammten und als Bekenntnislieder den kämpferischen Geist der frühen Reformationszeit beschworen. Außerdem wurden
Musikstücke aufgeführt, die eigens für das Reformationsjubiläum komponiert
worden waren und in denen die für die Festpredigten vorgeschriebenen Perikopen aufgegriffen und nach Vorgabe von Hoë von Hoëneggs „Parasceve“ ausgelegt
wurden.73 Damit unterstützte die Festmusik das Verständnis der Predigtinhalte.
Der Predigt selbst, die nach Artikel fünf der Confessio Augustana als viva vox
evangelii unmittelbar von Gott eingesetzt ist, fiel die Aufgabe zu, die reine evangelische Lehre zu verkünden und zur Einhaltung der religiösen und sittlich-moralischen Normen zu ermahnen.74 Mit dieser Funktionalität stimmt überein,
dass die Jubiläumspredigten auf solchen Bibelstellen aufbauten, die traditionell
in Hinblick auf das Papsttum und die katholische Kirche sowie auf Martin Luther
und die Reformation ausgedeutet wurden.75 Dies erschien möglich aufgrund
der charakteristischen Grundannahme der lutherischen Orthodoxie, wonach die
Bibel göttliche Weissagungen über den künftigen Geschichtsverlauf enthalte und
somit eine unfehlbare Quelle der Geschichtsdeutung sei.
Gestützt auf die Autorität der Schrift sollten die Pastoren den Gemeindemitgliedern während des Reformationsjubiläums die grundlegenden identitätsstiftenden und deshalb altbekannten Basistopoi des Luthertums einschärfen. Dabei ging
es jedoch weniger um rationale Überzeugung als vielmehr um eine emotionale
Einwirkung und die Affirmation, wenn nicht gar Radikalisierung bestehender
Standpunkte.76 In Sinne einer affirmativen Wirkung wurden deshalb altbekannte
grundlegende Topoi wiederholt, etwa die beiden wichtigsten Antichrist-Stellen
der Bibel (Dan 12 und 2 Thess 2). Beide Textstellen verifizierten im Verständnis
der zeitgenössischen Theologen die für die lutherische Identität grundlegende
Aussage, wonach eine strukturelle Identität des Papstes mit dem Antichrist als
dem Störer der gottgewollten Kirche bestand.77 Hiervon ausgehend konnte Hoë
73
74
75
76
77
Zusammenhang und Wandel in den reußischen Herrschaften vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Leipzig 2007, S. 10 ff.
Vgl. M. Rathey, Gaudium christianum. Michael Altenburg und das Reformationsjubiläum
1617, in: Schütz-Jb 20 (1998), S. 107–122, hier S. 116.
Damit war die Predigt ein Mittel der Sozialdisziplinierung. Vgl. etwa W. Reinhard, Zwang
(wie Anm. 29), S. 257–277.
Vgl. H.-J. Schönstädt, Das Reformationsjubiläum 1617. Geschichtliche Herkunft und geistige Prägung, in: ZKG 93 (1982), S. 5–57, hier S. 20–23.
Vgl. R. Kastner, Geistlicher Rauffhandel (wie Anm. 12), S. 303.
Vgl. H.-J. Schönstädt, Antichrist (wie Anm. 3), S. 200–303; V. Leppin, Antichrist (wie
Anm. 66), S. 220, 229, 233, bes. Anm. 194; M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm.
35), S. 63.
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
601
von Hoënegg in seiner Predigtsammlung mit drastischen Argumenten die katholische Kirche als falsche abgoettische Kirch, in der ein elend ding gepredigt werde,
abqualifizieren.78 Weitere zahlreiche Verweise auf die katholische Lehrmeinung
sollten belegen, dass sich die katholische Kirche von der göttlichen Offenbarung
entfernt habe. Die Spannbreite der Aufzählung reicht vom Fegefeuer über den
Ablasshandel, dessen eigentliche Ursache im Geldmangel der Päpste läge, vom
Heiligen- und Reliquienkult über die Einführung neuer Sakramente, wobei die
alten grausam entheiligt wurden,79 bis hin zu weiteren Freweleien des Papstes.80
Das Resümee, das Hoë von Hoënegg nach dem Jubiläum zog, belegt sowohl die
identitätsstiftende Bedeutung der Antichrist-These als auch die Intensität und den
erhofften Erfolg, mit dem sie den Gemeinden nahegebracht wurden: Unsere klei
nen Kinder, Gott Lob, die wissen jetzt, wofür sie den Bapst zu Rom erkennen sollen.81
Diesem Negativurteil stellten die Theologen einen zweiten, ebenso bekannten
Topos konträr gegenüber. Mit Verweisen auf zahlreiche Bibelstellen deuteten sie
die Reformation als Ergebnis göttlichen Handelns. Ausgehend von Am 3, wonach
Gott den Einsatz von sog. Wunderleuten im Kampf gegen den Antichrist bekannt
gibt, sahen die Pastoren die Reformation in der Auffindung der Bundeslade (2.
Sam 6), im Sturz des endzeitlichen Tyrannen (Dan 11,44) und schließlich in den
Weissagungen der Offenbarung (Offb 12 und 14 und 18) präfiguriert. Martin
Luther selbst galt als Schwan,82 als neuer Elias und als das ewige Evangelium verkündender Engel (Offb 14,6).83 Damit stilisierten die Pastoren den Reformator
zum Werkzeug Gottes, wobei sie seine individuellen Züge zugunsten des hier
deutlich werdenden hagiographischen Charakters verwischten. Dies war jedoch
keine Erfindung des Reformationsjubiläums, vielmehr konnten die Pfarrer nahtlos an die Predigtliteratur des 16. Jahrhunderts anknüpfen.84
Diese Ausdeutungen sollten den Festgemeinden den Beweis liefern, der einzig
wahren, weil gottgewollten Konfession anzugehören. Dieses Argument unterstrichen die Theologen mit zusätzlichen Verweisen auf die Geschichte des Luthertums, etwa indem sie es als Wunder deklarierten, dass ein einzelner Mann der
78
79
80
81
82
M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 116–120.
Ebd., S. 8.
Ebd., S. 58.
Ders., Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41), S. 63.
Dies bezog sich auf die bekannte Prophezeiung von Jan Hus (tschech. husa = Gans), wonach
ein Schwan sein Werk vollenden werde.
83 Vgl. H.-J. Schönstädt, Reformationsjubiläum (wie Anm. 75), S. 34–37; M. Hoë von
Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 17, 76 f.
84 Vgl. H. Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten
Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Göttingen 21970, S. 13–18.
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602
Wolfgang Flügel
katholischen Kirche erfolgreich den Kampf hatte ansagen können und dass sich
die Reformation trotz des Schmalkaldischen Krieges (1546/47) und des Interims
(1548) ausgebreitet hatte.85 Damit war die Reformation nicht nur in der Bibel
präfiguriert, sondern die seit der Publikation der Ablassthesen vergangene Zeit
barg in sich den Hinweis, dass der Allerhöchste auch solches [das Evangelium, Anm.
W. F.] wider alles Wieden und Toben des höllischen Feindes [der katholischen Liga,
Anm. W. F.] […] erhalten habe.86 Aus dem andauernden Eingreifen Gottes musste
gefolgert werden, dass dieser seiner lutherischen Kirche wohlgesonnen sei.87
Massenmedien
Die Festbeschreibungen, die der Oberhofprediger und andere Pastoren verfasst und
ihren Predigtdrucken beigefügt haben, bildeten gleichsam – mehr oder weniger
repräsentative – Denkmale aus Papier, welche die Besonderheit der Säkularfeier
gegenüber anderen Kirchenfeiertagen herausstellten und die Erinnerung an sie
perpetuierten. Ihre inhaltliche Darstellung widerspiegelt die von den landesherrlichen Behörden vorgegebene Sichtweise auf das Jubiläum. Zwar sind Predigten
aufgrund ihrer Funktionalität allgemein auf die dem Pastor bekannten Adressaten
abgestimmt,88 aber im speziellen Fall mussten sie den vorgegebenen Perikopen
und Deutungen folgen, weshalb sie lediglich Varianzen bilden konnten.
Diesen quasi-offiziösen Drucken gegenüber stehen illustrierte Einblattdrucke,
sog. Flugblätter, die als Handelsware zwangsläufig auf die mutmaßlichen Empfindungen der potenziellen Käufer abgestimmt, aber eben kaum den obrigkeitlichen
Deutungsschemata unterworfen waren. Damit enthalten sie wichtige Hinweise
darauf, ob die identitätsstiftende Erzählung des Jubiläums von den Festgemeinden angenommen wurde bzw. ob die benutzten Symbole vertraut waren. Dies
gilt umso mehr, als die bei späteren Jubiläumsfeiern beliebten, von den Bürgern
selbst veranlassten – und daher als Ego-Dokumente zu verstehenden – ephemeren
85 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie Anm. 35), S. 18.
86 Instruction und Ordnung (wie Anm. 31); ähnlich: M. Hoë von Hoënegg, Parasceve (wie
Anm. 35), S. 22, 47; Ders., Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41), S. 10.
87 Vgl. M. Hoë von Hoënegg, Chur-Sächsische Evangelische JubelFrewde (wie Anm. 41),
S. 107.
88 Vgl. A. Beutel, Kommunikation des Evangeliums. Die Predigt als zentrales theologisches
Vermittlungsmedium in der Frühen Neuzeit, in: I. Dingel / W.-F. Schäufele (Hgg.),
Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit (VIEG AARG Beiheft 74),
Mainz 2007, S. 3–15.
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
603
Abb. 1: C. Grahle, Entlaufener Ablasskrämer und hell leuchtendes evangelisches Licht,
Radierung, Leipzig 1617 [Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Sign. fl IX 1037,
Foto: Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt].
Festarchitekturen oder emblematischen Illuminationen der Wohnhausfassaden
1617 noch fehlten.
Ein Beispiel von vielen, in welchem Maß in diesen Drucken Argumentationsfiguren aufgegriffen wurden, die auch in den Jubelpredigten Verwendung fanden,
liefert ein Flugblatt des Leipziger Kupferstechers Conrad Grahle († 1630), das
die lutherische Fundamentalkritik am Papsttum aufgreift. (Abb. 1) Eine Musterpredigt von Hoë von Hoënegg bildlich umsetzend, zeigt die Abbildung, wie
Martin Luther ein löwenähnliches Untier abwehrt. In ihm ist das apokalyptische
Tier (Offb 11,7), d. h. das Teuflische, zu erkennen, wobei die Tiara auf dessen
Identität mit dem Papst verweist. Luther nun vertreibt dieses Tier ebenso wie
den bereits geflohenen Ablasskrämer Johann Tetzel (ca. 1465–1519). Als einzige
Waffe dient ihm seine Glaubenslehre, die unmittelbar vom Wort Gottes, d. h. der
Bibel, inspiriert war.
Abbildungen des Ablasskrämers Tetzel begegnen auf mehreren Flugblättern,
die zum Jubiläum 1617 erschienen waren.89 (Abb. 2) Die Gesamtkomposition
89 Dieser Absatz folgt unmittelbar M. Schilling, Luther als Engel des Jüngsten Gerichts, in:
H. Rössler (Hg.), Luthermania (wie Anm. 70), S. 169–172, Kat.-Nr. 15.
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604
Wolfgang Flügel
Abb. 2: Anonym, Wunderwerk Dr. Martin Luthers. Der päpstliche Stuhl wird sinken, Kupferstich, 1617 [Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Sign. fl IX 9079, Foto: Stiftung
Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt].
eines zunächst im sächsischen Freiberg publizierten Druckes zeigt ihn als Nebenfigur im Kontext einer Darstellung, die Luther als Engel der Apokalypse auf der
einen und den Papst auf einem stürzenden, aber von seinen Anhängern gestützten Thron auf der anderen Seite zeigt – eine klare Anspielung auf die beiden in
Kursachsen vorgeschriebenen Perikopen (Dan 12 und Offb 14). Gerade dieses
Bild verdeutlicht, wie auf verschiedene Motive der konfessionspolitischen Polemik zurückgegriffen wurde. Der stürzende Thron geht etwa auf den Holzschnitt
LVTHERVS TRIVMPHANS von Lucas Cranach d. J. (1515–1586) aus dem Jahr
1567 zurück. Ein ähnlicher Transfer lässt sich auch für den Text des Flugblattes
nachweisen, der in seiner Aussage wie bei illustrierten Einblattdrucken generell
üblich mit der Abbildung verschränkt ist: Es handelt sich um ein Dramolett, in
dem der Ablass, an dem sich die Reformation entzündet hatte und der deshalb
als Sinnbild für das negativ konnotierte Papsttum ein konstituierendes Element
lutherischer Identität fest im kollektiven Gedächtnis der Lutheraner verankert
war, verspottet und falsifiziert wird. Neben Luther treten unter anderem der
Papst und Tetzel auf, wobei auch jene bekannten Worte fallen, die bereits Hans
Sachs (1494–1576) in seiner „Wittenbergischen Nachtigall“ von 1523 Tetzel in
den Mund gelegt hatte: So bald der Grosch im Kasten klingt / Von Mund die Seel
im Himmel schwingt.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Ablass wirkungsvoll thematisiert wurde,
liefern die beiden Schuldramen „Lutherus Reformator“ und „Indulgentiarius
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
605
Confusus“ (Wirrer Ablasskrämer), die am Gymnasium in Eisleben, dem Geburtsund Sterbeort Luthers, aufgeführt wurden.90 Zwar benötigten diese Stücke eine
deutlich längere Produktionsphase als die in kürzester Zeit herstellbaren Flugblätter, aber dies stellte kein Problem dar, weil ihr Dichter Martin Rinckart
(1586–1649) als Pastor und Schulmeister bereits seit dem Spätsommer über
die anstehenden Feierlichkeiten informiert war. Solche Theaterstücke, die in
den Schulunterricht eingebunden wurden, dienten einerseits der sprachlichen
Übung und andererseits der moralischen und religiösen Belehrung, weshalb sie
oft in polemischer Absicht vor einem breiteren Publikum aufgeführt wurden.91
Aufgrund des Zusammenspiels von akustischen und visuellen Reizen befriedigten sie das Unterhaltungsbedürfnis in besonderem Maß und besaßen daher
ein enormes Meinungsbildungspotenzial. Aufschlussreich ist, dass sowohl in
den beiden Theaterstücken als auch in dem Flugblatttext identische Delegitimationsstrategien genutzt wurden: In allen drei Texten wurde Tetzel etwa die
Behauptung zugeschrieben, er habe mit seinem Ablass bereits mehr Seelen aus
dem Fegefeuer erlöst als der Apostel Petrus während seines gesamten irdischen
Lebens.92 Solche polemisch zugespitzten Aussagen diskreditierten den Ablasshändler, stilisierten ihn zum Narren und wiesen ihm jene Rolle zu, die er auch
in den Illustrationen einnahm. Nicht umsonst trägt er auf Grahles Abbildung
eine Narrenkappe.
Damit stellt sich die Frage, wie das Ereignis des 31. Oktober 1517 während des
Reformationsjubiläums 1617 kommuniziert wurde. Den sog. Thesenanschlag,
in späteren Jahrhunderten das ‚Icon‘ der Reformation schlechthin, schilderte
Rinckart als unspektakuläres Ereignis. Ich will gehen in mein Stub hinauff / und
etzlich Thesen setzen auff / Widr deinen Ablaß disputirn, lässt er den Reformator sagen. Doch nicht Luther, sondern dessen Famulus schlegt die thesen an.93
Tatsächlich spielte der Thesenanschlag ebenso wenig eine Rolle in der Vorstellungswelt des zeitgenössischen Luthertums wie der 31. Oktober als Gedenktag
etabliert war.
90 Die Titel lauten: M. Rinckart Lutherus Reformator. Das ist: Evangelische JubelComoedi
[…], Halle/Saale 1618 (VD17 23:260792T); Ders., Indulgentiarius Confusus, Oder Eißlebische Mansfeldische Jubel-Comoedia […], Eisleben 1618 (VD17 23:248820R); insgesamt sind
für 1617 fünf Schuldramen nachgewiesen.
91 Vgl. G.-M. Schulz, Einführung in die deutsche Komödie, Darmstadt 2007, bes. S. 51.
92 Vgl. M. Rinckart, Indulgentiarius Confusus (wie Anm. 90), Akt 1, Szene 4; Ders., Lutherus
Reformator (wie Anm. 90), Akt 2, Szene 4; bei Conrad Grahle vgl. M. Schilling, Luther
als Engel (wie Anm. 89), S. 169.
93 M. Rinckart, Lutherus Reformator (wie Anm. 90), Akt 2, Szene 8.
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606
Wolfgang Flügel
In welchem Maß die Lutheraner 1617 auf einen gemeinsamen Symbolvorrat
zurückgreifen konnten, belegt schließlich der Umstand, dass Rinckart in seinen
beiden Lutherdramen, Hoë von Hoënegg in seinem „Parasceve“ und mindestens
zwei in Mitteldeutschland verbreitete Flugblätter unter Rückgriff auf eine im späten 16. Jahrhundert verfasste Erzählung die Thesenpublikation zum Gegenstand
einer Offenbarung machten, welche die Reformation als gottgewollt legitimierte.
Danach berichtete der sächsische Kurfürst Friedrich III. von einem Traum – verstanden als eine seit dem Mittelalter vertraute Form der göttlichen Offenbarung –,
den er in der Nacht zum 31. Oktober 1517 gehabt habe.94 (Abb. 3) In diesem sei
ihm ein Mönch erschienen, zugleich habe er die Stimme Gottes vernommen. Sie
befahl ihm, dem Mönch eine Nachricht, nämlich die 95 Thesen, an die Tür der
Schlosskirche schreiben zu lassen. Dazu bediente sich der nunmehr als Luther zu
identifizierende Mönch einer langen Feder, was erneut auf die Prophezeiung von
Jan Hus (ca. 1370–1415) und Luther verweist. Die Feder selbst reichte bis nach
Rom, durchbohrte dort einem Löwen – Papst Leo X. (1513–1521) – die Ohren
und stieß ihm die Tiara vom Kopf. Daraufhin rief der Löwe die Reichsstände
zusammen und forderte sie auf, dem Reformator die Feder zu entreißen. Dieser
Versuch brachte jedoch nicht nur nicht den gewünschten Erfolg, vielmehr sprossen immer mehr Federn nach, die sich im ganzen Land verbreiteten.
Neben dieser offenkundigen Prophezeiung enthält der Traum noch einen
versteckten Hinweis auf das lutherische Selbstverständnis. Nach Aussage des
Kurfürsten war der Mönch Luther – man beachte! – dem heiligen Paulus gantz
ähnlich. Damit wurde das Luthertum in eine Traditionslinie gestellt, die bis in
die apostolische Zeit zurückreicht. Dies erwies sich als geschickte Entgegnung auf
die Angriffe der katholischen Kirche, die dem vergleichsweise jungen Luthertum
ihre bis auf Petrus zurückreichende Kontinuität entgegenstellte, um so den eigenen Wahrheitsanspruch zu untermauern.95 Mit dieser Geltungsbehauptung lässt
sich der Bogen schlagen zunächst zurück zu den Musterpredigten des Hoë von
94 Zum Traum des Kurfürsten vgl. R. Kastner, Geistlicher Rauffhandel (wie Anm. 12), S. 278–
288; zur ambivalenten Stellung von Träumen bei Luther vgl. H.-J. Goertz, Träume, Offenbarungen und Visionen, in: Ders., Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen
(FKDG 93), Göttingen 2007, S. 164–187.
95 Zu diesem Standardargument der katholischen Kirche vgl. T. Fuchs, Protestantische Heiligen-Memoria im 16. Jahrhundert, in: HZ 267 (1998), S. 587–614, hier S. 587. Dabei gehörte es
zum Anspruch, die jeweils eigene Kirche als alt, die andere hingegen als neu, als Abweichler, zu
bezeichnen. Vgl. J. Burkhardt, Alt und Neu. Ursprung und Überwindung der Asymmetrie
in der reformatorischen Erinnerungskultur und Konfessionsgeschichte, in: P. Burschel / M.
Häberlein / V. Reinhardt / W. E. J. Weber / R. Wendt (Hgg.), Historische Anstöße.
FS für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag, Berlin 2002, S. 152–171, hier S. 153–158.
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Das Reformationsjubiläum von 1617 als kommunikativer Akt
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Abb. 3: C. Grahle, Der Traum Friedrich des Weisen, Holzschnitt, 1617 [Stiftung Luther
gedenkstätten Sachsen-Anhalt, Sign. fl VI 1184, Foto: Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-
Anhalt].
Hoënegg und schließlich zu Martin Luther selbst. Dieser hatte behauptet, dass
wir bey der rechten alten Kirche blieben, ja dass wir die alte Kirche sind, Ihr aber
[…] eine newe Kirche angerichtet hab wider die alte Kirche.96
Zusammenfassung
In einer ‚Top-Down-Kommunikation‘, die ein Indiz für das Funktionieren der vormodernen Bürokratie war, ordneten die landesherrlichen Behörden in Kursachsen
das Reformationsjubiläum 1617 an. Innerhalb kürzester Zeit gelang es ihnen so,
die gesamte Bevölkerung zu erreichen und deren Handeln beim Ablauf der Säkularfeier zu synchronisieren. Mit einem Bündel von Kommunikationsprozessen
96 M. Luther, Wider Hans Worst. 1541, in: WA, Bd. 51, Weimar 1914, S. 461–572, hier S. 478 f.
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Wolfgang Flügel
wurden dabei sowohl ‚Face-to-Face-Kommunikation‘, etwa in den Predigten, als
auch Druckmedien genutzt. Diese einseitige Kommunikation in der Vorbereitungsphase wurde während der Säkularfeier ergänzt durch Kommunikationsformen, bei denen die Festgemeinden – oder Teile von ihnen – nicht nur als Empfänger, sondern auch als Sender agierten. Hier sind etwa der gemeinschaftsstiftende
Gesang von Kirchenliedern sowie die Aufführung von Schuldramen zu nennen.
In einem derart verdichteten Kommunikationsprozess galt es, eine identitätsstiftende ‚Einprägearbeit‘ bei der Verfestigung lutherischer Glaubenswahrheiten
zu leisten. Dabei wurde sowohl inhaltlich als auch bei der Auswahl formaler
Gestaltungsmittel an einen bekannten Symbolvorrat und verbreitete Argumentationsmuster angeknüpft. In welchem Maße diese Allgemeingut waren, lassen die
Übereinstimmungen der Musterpredigten mit den Abbildungen der Flugblätter
und mit Rinckarts Schuldramen erahnen. Im Ergebnis der Kommunikationsprozesse, die das Reformationsjubiläum 1617 geprägt hatten, ist schließlich die Vorstellung selbst, ein historisches Jubiläum zu begehen, zum Allgemeingut geworden.
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EPILOG
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Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628)
Der politische Kampf um die Repräsentanz der böhmischen Stände gegen die
habsburgischen Herrscher im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts war mit
dem Kampf zwischen den Religionen eng verbunden. Während die Herrscher
konsequent die katholischen Positionen vertraten, war die übergroße Mehrheit
der den böhmischen Ständen angehörenden Opposition den sog. Nichtkatholiken
zuzuordnen.1 Dieser umfassende und breite Begriff wird in der tschechischen Historiografie als Terminus technicus verwendet und bringt die schwierige Situation
der Religionen, die in den böhmischen Ländern vor Beginn der Rekatholisierung
im Zuge der Niederschlagung des Ständeaufstands von 1618–1620 herrschte, am
besten zum Ausdruck. In den böhmischen Ländern gab es den traditionellen Utraquismus, der vom Hussitentum ausging und in dem sich unter dem Einfluss der
deutschen Reformation verschiedene Strömungen – angefangen von konservativen bis hin zu radikalen – herausbildeten. Daneben findet man die Brüderunität,
ebenfalls eine einheimische Kirche, die auf dem Hussitentum basierte. Es war aber
auch die lutherische Kirche vertreten, in geringerem Umfang auch der Calvinismus und ebenso verschiedene protestantische Minderheiten wie z. B. die Täufer.
Um diese bunte Mischung religiöser Gemeinschaften treffend zu bezeichnen, sind
die an die Tradition der deutschen Reformation geknüpften Begriffe ‚Protestanten‘
oder ‚Evangelische‘ nicht ausreichend. Deshalb erscheint eine breitere, wenn auch
1
Zur Ständegesellschaft in den böhmischen Ländern vor der Schlacht am Weißen Berg vgl. W.
Eberhard, Monarchie und Wiederstand. Zur ständischen Oppositionsbildung im Herrschaftssystem Ferdinands I. in Böhmen (VCC 54), München 1985; J. Pánek, Stavovská opozice
a její zápas s Habsburky 1547–1577. K politické krizi feudální třídy v předbělohorském českém
státě [Die Ständeopposition und ihr Kampf mit den Habsburgern 1547–1577. Zur politischen
Krise der Feudalklasse im böhmischen Staat vor der Schlacht am Weißen Berg] (Studie ČSAV
2 [1982]), Praha 1982; P. Maťa, Český zemský sněm v pobělohorské době (1620–1740). Relikt stavovského státu nebo nástroj absolutistické vlády? [Der böhmische Landtag in der Epoche nach dem Weißen Berg (1620–1740). Ein Relikt des Ständestaats oder ein Instument der
absolutistischen Herrschaft?], in: M. J. Ptak (Hg.), Sejm czeski od czasów najdawniejszych
do 1913 roku [Der böhmische Landtag seit der ältesten Zeit bis zum Jahr 1913], Opole 2000,
S. 49–67; V. Bůžek u. a., Společnost českých zemí v raném novověku. Struktury, identity,
konflikty [Die Gesellschaft der böhmischen Länder in der Frühen Neuzeit. Strukturen, Identitäten, Konflikte] (Edice Česká historie [Edition Tschechische Geschichte] 22), Praha 2010.
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negativ abgegrenzte Fassung des Begriffs passender, nämlich: Es waren Christen,
die nicht der römisch-katholischen Kirche angehörten, also ‚Nichtkatholiken‘.
Die bereits erwähnte Niederschlagung des Ständeaufstands in der Schlacht
am Weißen Berg am 8. November 1620 öffnete Ferdinand II. (1619–1637) Tür
und Tor zu gewaltigen Veränderungen in Böhmen, unter anderem zu einer breitangelegten Rekatholisierung des größten Teils der böhmischen Bevölkerung. Im
ersten Jahrzehnt nach der Schlacht am Weißen Berg wurde mit der Abschaffung
des Religionspluralismus begonnen, d. h. mit der Abschaffung des Pluralismus,
der zwei Jahrhunderte lang ein charakteristischer Wesenszug des religiösen Lebens
in den böhmischen Ländern gewesen war.
Im Folgenden geht es um die Anfänge und die Ausgangssituation der Rekatholisierung. Außerdem spielen Haltungen von Nichtkatholiken eine Rolle, die
dem Druck von Seiten des Staates und der katholischen Kirche ausgesetzt waren.
Zugleich soll anhand einiger Beispiele gezeigt werden, wie sich der Rekatholisierungsprozess in der zeitgenössischen Kommunikation niedergeschlagen hat.
***
Wenn man das Geschehen unmittelbar nach der Schlacht am Weißen Berg näher
betrachtet, wird deutlich, dass Böhmen auf eine radikale religiöse Veränderung,
d. h. auf eine umfassende Rekatholisierung, in dem Sinne gar nicht vorbereitet
war. Dass für die Anhänger des nichtkatholischen Lagers in den ersten Monaten nach der Schlacht am Weißen Berg ein allgemeiner zwangsweiser Übertritt
zum römisch-katholischen Glauben keineswegs vorstellbar war, ist durchaus verständlich. Mit Sicherheit hatten sie sich wohl kaum vorstellen können, dass ihre
Niederlage solch katastrophale Folgen nach sich ziehen würde. Viele politische
Repräsentanten der böhmischen Stände glaubten nach der Niederschlagung des
Aufstandes auch nicht daran, dass harte Strafen folgen würden, und so waren sie
in Böhmen geblieben und warteten, wie sich die Lage entwickeln würde. Einige
von ihnen bezahlten dann im Juni 1621 für diese Haltung auf dem Richtplatz
auf dem Altstädter Ring in Prag mit ihrem Leben.2 Es scheint jedoch, dass nicht
einmal die Katholiken selbst am Anfang mit einem direkten und umfassenden
Verbot anderer Konfessionen rechneten.3
2
3
Vgl. J. Petráň, Staroměstská exekuce [Die Altstädter Exekution], Praha 42004.
Ein systematischer Überblick über die Vorschläge zur Lösung der Religionssituation in Böhmen, die von Würdenträgern der katholischen Kirche und weltlichen Politikern unterbreitet
wurden, in E. Čáňová, Vývoj správy pražské arcidiecéze v době násilné rekatolizace Čech
(1620–1671) [Die Entwicklung der Verwaltung der Prager Erzdiözese in der Zeit der gewaltsamen Rekatholisierung Böhmens (1620–1671)], in: SAP 35 (1985), S. 486–557.
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Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628)
613
Am 1. Dezember 1620, also drei Wochen nach der Schlacht am Weißen Berg,
legte der Prager Erzbischof Johann Lohelius (1612–1622) dem Kaiser einen Vorschlag zur Neuregelung der Glaubensverhältnisse in Böhmen vor.4 Zwar hatte er
in seinem Antrag die katholischen Positionen hervorgehoben und vorgeschlagen,
die geistliche Verwaltung anderer Konfessionen einzuschränken, aber ein direktes
Verbot nichtkatholischer Glaubensrichtungen war darin vorerst nicht enthalten.
Diesen Schritt unternahm der Erzbischof, unterstützt von seinem Umfeld, erst
ein Jahr später.
Relativ gemäßigt war auch der Vorschlag zur Neuregelung der Glaubensverhältnisse in Böhmen, der in dieser Zeit von den kaiserlichen Ratgebern unterbreitet
wurde.5 Diesen katholischen Politikern ging es in ihren Forderungen zwar auch um
die Festigung der Positionen der katholischen Kirche und um die Einschränkung
nichtkatholischer Glaubensrichtungen, jedoch war ein generelles Verbot auch
hier nicht vorgesehen. Die zweihundertjährige Tradition des Zusammenlebens
mehrerer Konfessionen war in Böhmen so fest verwurzelt, dass es eine gewisse
Zeit dauerte, bis sich die katholische Seite vollkommen von ihr verabschiedete.
Darin unterschieden sich die einheimischen, d. h. die böhmischen Katholiken
auch von denen, die zum engsten Kreis des Kaisers gehörten, von dessen Beichtvätern und vom päpstlichen Nuntius Carlo Caraffa (1584–1644), die alle ein
schnelles und konsequentes Vorgehen gegen die Ketzer in den böhmischen Ländern gefordert hatten.
Den größten Feind sahen die gemäßigten Katholiken in Böhmen in der Brüderunität, deren Liquidierung von Anfang an verfolgt wurde. Man betrachtete sie – vereinfacht ausgedrückt – als Teil der calvinischen Welt und diese
galt sowohl aus religiösen als auch aus politischen Gründen als Erzfeind.6 Der
4
5
6
Der Inhalt des Vorschlags von Erzbischof Lohelius wurde von Anton Gindely (1829–1892)
in seiner Ende des 19. Jahrhunderts verfassten bedeutenden Monografie über die Anfänge der
Rekatholisierung Böhmens nach der Schlacht am Weißen Berg beschrieben. Er verwies dabei auf
ein Schriftstück aus dem Prager Erzbischöflichen Archiv und zitierte aus diesem, ohne jedoch
ausführliche Angaben über die Archivierung dieser Quelle zu machen. Das Erzbischöfliche
Archiv ist darüber hinaus seitdem neu geordnet und als ein Bestand des Nationalarchivs in
Prag archiviert worden. Die von Gindely angeführte Quelle ist bisher noch nicht identifiziert worden. Vgl. A. Gindely, Geschichte der Gegenreformation in Böhmen, Leipzig 1894,
S. 88 f.; vgl. auch E. Čáňová, Vývoj správy (wie Anm. 3), S. 508 ff.
Vgl. A. Gindely, Geschichte (wie Anm. 4), S. 87; E. Čáňová, Vývoj správy (wie Anm. 3),
S. 512.
Zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Brüderunität und dem Calvinismus vgl. O.
Odložilík, Bohemian Protestants and the Calvinist Churches, Chicago 1939; J. Dworzaczkowa, Čeští bratří – kalvinisté – reformovaní evangelíci. Problém terminologie [Die
Böhmischen Brüder – die Calvinisten – die reformierten Evangelischen. Ein Problem der
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Jiří Mikulec
Calvinismus war auch die Religion des pfälzischen Kurfürsten Friedrich V.
(1610–1623), der – nachdem Ferdinand II . abgesetzt worden war – für ein Jahr
böhmischer König wurde. Er erlangte starke Unterstützung bei den böhmischen
Politikern aus den Reihen der Brüderunität. Diese fanden sich überraschend
schnell mit der sog. Säuberung des Veitsdoms ab, bei der die Calvinisten aus
dem Umfeld des neuen Königs im Dezember 1619 den Veitsdom von Altären,
Bildern und Plastiken gesäubert und die meisten Kunstschätze der Kathedrale
zerstört hatten.7
Die dogmatische Nähe der Calvinisten und der Brüderunität kam in Prag auch
durch die räumliche Nähe ihrer Kirchen zum Ausdruck. Nach der Ausstellung
des Majestätsbriefes (1609) von Kaiser Rudolf II. (1576–1611/12) siedelten sich
beide Kirchen in unmittelbarer Nachbarschaft am Rande der Prager Altstadt/
Staré Město pražské am Ufer der Moldau/Vltava an. Hier stand die mittelalterliche Kirche der heiligen Simon und Judas, die der reformierten calvinistischen
Kirche zufiel. Gleich daneben errichtete die Brüderunität ihre Kirche. Der Hass
gegen sie und die Calvinisten veranlasste die Sieger der Schlacht am Weißen Berg
dazu, rasch gegen diese beiden Religionsgemeinschaften vorzugehen, und schon
im Dezember 1620 wurden beide Kirchen dem Orden der Barmherzigen Brüder
übergeben. Dieser erbaute dann am selben Ort und unter teilweiser Ausnutzung
des ursprünglichen Mauerwerkes seine neue Spitalkirche.8
7
8
Terminologie], in: SCetH 36 (2006), S. 302–305; A. Kostlán, Der böhmische Calvinismus zwischen Majestätsbrief und der Schlacht am Weißen Berg, in: J. Hausenblasová / J.
Mikulec / M. Thomsen (Hgg.), Religion und Politik im frühneuzeitlichen Böhmen. Der
Majestätsbrief Kaiser Rudolfs II. von 1609 (FGKÖM 46), Stuttgart 2014, S. 183–194; J. Bahlcke, Calvinismus, kulturelle Prägungen und ständische Freiheitsbewegungen in Böhmen und
Ungarn (1570–1620), in: Ders., Gegenkräfte. Studien zur politischen Kultur und Gesellschaftsstruktur Ostmitteleuropas in der Frühen Neuzeit (SOMF 31), Marburg 2015, S. 168–189.
Dieser Gewaltakt im Veitsdom, der nicht nur religiöses Zentrum, sondern auch Krönungsort
und Grabstätte der böhmischen Könige und damit ein bedeutsamer Ort für die böhmische
Staatlichkeit war, rief bei der überwiegenden Mehrheit der Prager Gesellschaft – einschließlich
bei Nichtkatholiken – Protest hervor. Von der Brüderunität wurde er dagegen befürwortet.
Vgl. M. Šroněk (Hg.), Vincenc Kramář. Zpustošení Chrámu svatého Víta v roce 1619 [Vincenc Kramář. Die Verwüstung des St. Veitsdoms 1619] (FHA 6), Praha 1998.
Vgl. Ders., Kalvinisté v Čechách [Die Calvinisten in Böhmen], in: K. Horníčková /
Ders. (Hgg.), Umění české reformace (1380–1620) [Die Kunst der böhmischen Reformation (1380–1620)], Praha 2010, S. 355–362, hier S. 358 ff.; P. Vlček / E. Havlová, Praha
1610–1700. Kapitoly o architektuře raného baroka [Prag 1610–1700. Einige Kapitel über die
Architektur des Frühbarocks], Praha 1998, S. 28–31; zur calvinistischen Gemeinde in Prag
vgl. N. Mout, The International Calvinist Church of Prague, the Unity of Brethren and Comenius 1609–1635, in: AC 4 [28] (1979), S. 65–77.
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Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628)
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Im Kontrast zu dieser schnellen Abschaffung der calvinistischen Gemeinde
und der Gemeinde der Brüderunität in Prag stand der wesentlich wohlwollendere
Umgang des Herrschers und seiner Regierung mit den Prager Lutheranern. Diese
nutzten in Prag zwei Kirchen, die sie sich nach Ausstellung des Majestätsbriefes
von Kaiser Rudolf II. in der Prager Altstadt und in der Prager Kleinseite/Malá
Strana hatten erbauen lassen.9 Nach der Schlacht am Weißen Berg konnten die
Gemeinden der Lutheraner in Prag noch zwei Jahre bestehen. Selbstverständlich
spielten dafür weder religiöse noch theologische Gründe eine Rolle, sondern es
war vielmehr nur politische Rücksichtnahme auf den damaligen Verbündeten des
Kaisers, den sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. (1611–1656).10
Der Utraquismus, dem in Böhmen die Mehrheit der Bevölkerung angehörte,
wurde von den einheimischen gemäßigten Katholiken als geringere Gefahr betrachtet als die religiösen Strömungen, die von der deutschen Reformation ausgingen.
Der größte Teil der Utraquisten stand unter dem Einfluss des Luthertums. Daneben gab es aber nach wie vor auch konservative Utraquisten, die ausschließlich von
den Traditionen des böhmischen Hussitentums ausgingen. In der böhmischen
Historiografie haben sich für diese Strömungen im Rahmen des Utraquismus
die Bezeichnungen ‚Neuutraquisten‘ und ‚Altutraquisten‘ eingebürgert.11 Diese
Bezeichnungen sind jedoch ungenau, denn sie deuten auf die Unterteilung des
Utraquismus in zwei sich relativ deutlich voneinander unterscheidende Gruppen
hin.12 In Wirklichkeit handelte es sich nach wie vor um eine (einheitliche) utra9 Es handelte sich um die Dreifaltigkeitskirche auf der Kleinseite (heute Kirche Mariä vom
Siege) und die Kirche des Heiligen Salvators in der Altstadt. Vgl. J. Just, Luteráni v našich
zemích do Bílé hory [Die Lutheraner in unseren Ländern bis zur Schlacht am Weißen Berg],
in: Ders. / Z. R. Nešpor / O. Matějka u. a., Luteráni v českých zemích v proměnách staletí [Die Lutheraner in den böhmischen Ländern im Wandel der Jahrhunderte], Praha 2009,
S. 23–126, hier S. 115 ff.
10 Vgl. Z. R. Nešpor, Luteráni v českých zemích v období protireformace a náboženské tolerance
(1620–1861) [Die Lutheraner in den böhmischen Ländern im Zeitalter der Gegenreformation
und der religiösen Toleranz (1620–1861)], in: J. Just / Z. R. Nešpor / O. Matějka u. a.,
Luteráni v českých zemích (wie Anm. 9), S. 127–218, hier S. 132.
11 Diese Begriffe wurden vom protestantischen Historiker Ferdinand Hrejsa (1867–1953)
verbreitet. Vgl. F. Hrejsa, Česká konfesse, její vznik, podstata a dějiny [Die Confessio Bohemica, ihre Entstehung, ihr Wesen und ihre Geschichte] (Rozpravy [Abhandlungen] ČAVU
I/46), Praha 1912, S. 4–12; Ders., Dějiny křesťanství v Československu [Die Geschichte des
Christentums in der Tschechoslowakei], Bd. 4: Za krále Vladislava a Ludvíka. Před světovou
reformací a za reformace [Unter den Königen Wladislaw und Ludwig. Vor der Weltreformation und während der Reformation] (Spisy [Schriften] HČEFB A 6), Praha 1948, S. 256 f.
12 Auf die Problematik der Konstruktion des Alt- und Neuutraquismus hat der tschechisch-amerikanische Historiker Zdeněk V. David in einer ganzen Reihe seiner Arbeiten hingewiesen.
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quistische Kirche, in deren Intentionen der konservative Flügel und der unter dem
Einfluss der deutschen Reformation stehende Flügel eher als Extrempositionen
zu betrachten waren, zwischen denen ein breites Spektrum verschiedenster Haltungen zu den Traditionen der böhmischen und der deutschen Reformation lag.
Relativ gemäßigt und friedlich verhielten sich die Sieger der Schlacht am Weißen
Berg vor allem gegenüber den konservativen Strömungen des Utraquismus, die
sich dem Einfluss der deutschen Reformation entzogen hatten und sich schon seit
dem 16. Jahrhundert an die römisch-katholische Kirche annäherten, z. B. indem
sie weiterhin die apostolische Sukzession anerkannten, und ihre Priester damit
der Weihe durch katholische Bischöfe unterlagen. Das wichtigste liturgische
Spezifikum dieser konservativen Utraquisten war übrigens das Abendmahl unter
beiderlei Gestalt, welches 1564 vom Papst persönlich für Böhmen und Mähren
genehmigt wurde. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weihte der Prager
Erzbischof mehrmals utraquistische Priester.
Die Legalisierung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt für die böhmischen
und mährischen konservativen Utraquisten wurde in der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts durchaus als Mittel zum Zweck eingeführt, um im Laufe der
Zeit eine allmähliche Verschmelzung mit der katholischen Kirche herbeiführen
zu können, was auch dem habsburgischen Rekatholisierungskonzept von Kaiser
und König Ferdinand I. (1526–1564) entsprochen hätte.13 Dieses war jedoch bis
1620 nicht umgesetzt worden und nach der Niederschlagung des Ständeaufstandes wurde die Genehmigung der Kommunionsspendung sub utraque specie für
Böhmen zu einem Anachronismus, den das katholische Lager eigentlich nicht
mehr nötig hatte. Der Prager Erzbischof Lohelius interpretierte in seinem an
den Herrscher gerichteten Brief vom Frühjahr 1621 das päpstlich genehmigte
Abendmahl unter beiderlei Gestalt als Deckmantel, unter dessen Schutz sich
Vgl. z. B. Z. V. David, Celistvost církve pod obojí a otázka novoutrakvismu [Die Integrität
der Kirche sub utraque und die Frage des Neuutraquismus], in: ČČH 101 (2003), S. 882–910;
Ders., Finding the Middle Way. The Utraquists’ Liberal Challenge to Rome and Luther,
Washington/Baltimore/London 2003.
13 Zu den Bemühungen Ferdinands I., den konservativen Teil der utraquistischen Kirche als Bollwerk gegen das Vordringen der deutschen Reformation nach Böhmen zu nutzen, und diesen
im Laufe der Zeit zur völligen Verschmelzung mit der römisch-katholischen Kirche zu führen,
vgl. F. Kavka / A. Skýbová, Husitský epilog na koncilu tridentském a původní koncepce
habsburské rekatolizace Čech. Počátky obnoveného pražského arcibiskupství 1561–1580 [Der
hussitische Epilog auf dem Konzil in Trient und die ursprüngliche Konzeption der habsburgischen Rekatholisierung Böhmens. Die Anfänge des erneuerten Erzbistums Prag von 1561
bis 1580] (Práce z dějin Univerzity Karlovy v Praze [Arbeiten aus der Geschichte der Karls
universität Prag] 8), Praha 1969.
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Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628)
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in Böhmen die Häresie breitmachen würde. Die römische Kurie entschied also
Ende 1621 über die Abschaffung des Laienkelchs. Im Januar des darauffolgenden Jahres trat auf Initiative des Papstes in Wien die sog. Consulta zusammen,
eine Expertensitzung katholischer Theologen unter Teilnahme kaiserlicher
Politiker, auf der Argumente für diese Entscheidung zusammengetragen und
Bedingungen beraten wurden, unter denen die Abschaffung der Kelchkommunion ablaufen sollte.14
Die hier erwähnte anfängliche Toleranz der katholischen Kreise in Böhmen
hatte natürlich auch noch andere Gründe, so z. B. eine gewisse Angst davor, dass
ein rasantes Vorgehen gegen die Nichtkatholiken Widerstand in der Bevölkerung hätte hervorrufen können. So wurde die Verkündung des Patents vom 13.
Dezember 1621, mit dem verfügt wurde, dass nichtkatholische Geistliche, die sog.
Prädikanten, aus Prag vertrieben werden sollen, vom Fürsten Karl von Liechtenstein (1569–1627), der in Prag Ferdinand II. vertrat, gegen den Druck des Hofes
hinausgezögert, mit der Begründung, dass Befürchtungen vor Unruhen bestehen.15
Von Interesse ist auch die in diesem Patent angeführte Argumentation, in der
religiöse Motive vermieden wurden. Die nichtkatholischen Geistlichen wurden nicht wegen ihres Glaubens des Landes verwiesen, sondern aus politischen
Gründen. Ihnen wurde zur Last gelegt, dass under jüngst fürgangenen Tumult
und Auffstandt etliche böhmische praedicanten den ersten Ursprung und Anfang
dieses vergiefften Unkrauts der Rebellion außgesäet hätten.16 Im Patent wurde ihr
Wirken als unmittelbare Ursache für den Ausbruch des Ständeaufstandes, als
Aufwiegelei, bezeichnet. Diese Berufung auf eine politische Schuld, welche die
nichtkatholischen Geistlichen angeblich auf sich geladen hätten, war Ausdruck
einer gewissen Zurückhaltung und Vorsicht in einer Zeit, als in Böhmen noch
die päpstliche Erlaubnis zum Empfang des Abendmahls in beiderlei Gestalt gültig war. Der Brief des Nuntius Caraffa mit der Mitteilung, dass diese Erlaubnis
von der päpstlichen Kurie aufgehoben worden sei, ist erst neun Tage nach der
14 Vgl. N. Richard, Vídeňská teologická Consulta z ledna 1622. Studie o zrušení přijímání
podobojí laiků, vyhnání luteránských predikantů z Prahy a katolické reformě v Čechách [Die
Wiener theologische ‚Consulta‘ vom Januar 1622. Eine Studie über die Aufhebung der Kommunion unter beiderlei Gestalt der Laien, über die Vertreibung der lutherischen Prädikanten
aus Prag sowie über die katholische Reform in Böhmen], in: FHB 30 (2015), S. 279–339.
15 Vgl. J. Mikulec, 31.7.1627. Rekatolizace šlechty v Čechách. Čí je země, toho je i náboženství
[31.7.1627. Die Rekatholisierung des Adels in Böhmen. Wessen Land, dessen Religion] (Dny,
které tvořily české dějiny [Tage, welche die tschechische Geschichte formten] 11), Praha 2005,
S. 41 f.
16 NA Praha, fond [Bestand]: SM, Sign. R 109/1, Kart. 1977 (der deutsche Druck des Patents
vom 13.12.1621).
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Jiří Mikulec
Verkündung dieses Patents datiert.17 Mit Rücksicht auf das Bündnis des Kaisers
mit dem sächsischen Kurfürsten waren die lutherischen Priester von diesem Patent
vorerst noch nicht betroffen. Diese wurden erst ein knappes Jahr später – am 24.
Oktober 1622 – des Landes verwiesen.18
Ferdinand II. war selbstverständlich ganz und gar nicht daran interessiert, den
traditionellen Religionspluralismus in den böhmischen Ländern aufrechtzuerhalten. Dazu hatte er mindestens zwei Gründe. Der erste Grund war ein politischer, indem er nämlich die böhmischen Nichtkatholiken zwang, denselben
Glauben anzunehmen, dem er angehörte, wurde ein großes und traditionelles
Konfliktpotenzial zwischen den Habsburger Herrschern und ihren böhmischen
Untertanen aus der Welt geschafft. Und der zweite Grund lag in Ferdinands persönlicher tiefer katholischer Frömmigkeit. Als Herrscher fühlte er sich für das
Seelenheil seiner Untertanen verantwortlich und seine jesuitischen Beichtväter
bestärkten ihn mit Hilfe der spanischen Moraltheologie noch in dieser Haltung.19 Da für ihn der katholische Glaube den einzigen Weg zur Erlösung darstellte, betrachtete er die Rekatholisierung als seine vorrangige Aufgabe. Allein
die Konversion zum katholischen Glauben – und sei es unter Zwang – konnte
seiner Anschauung nach die Seelen seiner Untertanen vor ewiger Verdammnis retten. Diese Entschlossenheit Ferdinands, Andersgläubige um jeden Preis
zum katholischen Glauben zu bekehren, die sich bei ihm nach der Niederschlagung des böhmischen Aufstandes herausbildete, stand im Gegensatz zu seinen
17 Der Brief des päpstlichen Nuntius Caraffa an den Prager Erzbischof Lohelius über das Verbot der Kommunionsspende unter beiderlei Gestalt in Böhmen ist zum 22.12.1621 datiert,
öffentlich publiziert wurde diese Maßnahme erst am 23.4.1622. Vgl. N. Richard, Vídeňská
teologická Consulta (wie Anm. 14), S. 289 f.
18 Vgl. F. Hrejsa, U Salvátora. Z dějin evangelické církve v Praze (1609–1632) [Zum Salvator.
Aus der Geschichte der evangelischen Kirche in Prag (1609–1632)], Praha 1930, S. 71 f.; V.
Líva, Studie o Praze pobělohorské [Studien über Prag nach der Schlacht am Weißen Berg],
T. 2: Rekatolisace [Rekatholisierung], in: SPDHMP 7 (1933), S. 1–120, hier S. 30.
19 Das geht unter anderem auch aus dem Beichtspiegel hervor, der von Ferdinands Beichtvätern
verwendet wurde. Sie nutzten Fragen, die für die Beichte von Herrschern vom Generaloberen
des Jesuitenordens P. Claudio Acquaviva (1543–1615) unter der Bezeichnung „Instructio pro
confessariis principum“ zusammengestellt wurden. Unter diesen befanden sich auch Fragen,
wie ein Herrscher in seinen Ländern die Häresie bekämpft. Damit hielten die Beichtväter
dem Herrscher beständig vor Augen, dass der Kampf gegen die nichtkatholischen Kirchen
eine wichtige politische und geistliche Pflicht des Herrschers darstelle. Vgl. Correspondenz
Kaisers Ferdinand II. und seiner erlauchten Familie mit P. Martinus Becanus und P. Wilhelm
Lamormaini, ed. B. Dudík, Wien 1876, S. 16–24; J. Mikulec, Rekatolizace (wie Anm. 15),
S. 19 f.
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Standpunkten, die er früher vertreten hatte und in denen noch eine gewisse
Kompromissbereitschaft zu verzeichnen war.20
In der landesweiten Rekatholisierung der böhmischen Länder im ersten Jahrzehnt nach der Schlacht am Weißen Berg können – vereinfacht betrachtet – im
Wesentlichen drei Etappen unterschieden werden.21 In den Jahren 1621 bis 1623
wurden Maßnahmen gegen die nichtkatholische Geistlichkeit durchgesetzt. 1624
fand die Rekatholisierung der königlichen Städte ihren Höhepunkt. 1627 wurde
die römisch-katholische Religion als der einzige erlaubte christliche Glaube verkündet, und zugleich erfolgte die Rekatholisierung des Adels (einschließlich der
hohen Beamten). Diese letztgenannte Maßnahme war die notwendige Voraussetzung dafür, um anschließend die Untertanen auf den Gütern der nichtkatholischen Adligen zur Konversion zu zwingen. Dieser Prozess verlief jedoch während
des Dreißigjährigen Krieges infolge der Kriegsereignisse reichlich unsystematisch
und konnte erst im Jahrzehnt nach dem Westfälischen Frieden von 1648 abgeschlossen werden.
Für die Glaubenskonversion der Vertreter der privilegierten Schichten kam
den sog. Reformationskommissionen große Bedeutung zu. In Böhmen waren
mehrere solche Kommissionen tätig.22 Die Hauptaufgabe der ersten Reformationskommission, die 1624 gebildet wurde, bestand darin, einzelne Pfarreien zu
visitieren und festzustellen, wie diese mit römisch-katholischen Pfarrern besetzt
sind. Nichtkatholische Geistliche, die trotz des Verbots in einigen Pfarren in ländlichen Gegenden noch anwesend waren, wurden aus ihren Ämtern entlassen. Die
nächste Kommission führte dann von 1627 bis 1629 die eigentliche Rekatholisierung durch. Die Mitglieder der einzelnen Unterkommissionen verhandelten in
den Rathäusern größerer Städte mit bislang noch nichtkatholischen Einwohnern,
20 Zur Fähigkeit Ferdinands II., nach der Niederschlagung des Ständeaufstandes bei Verhandlungen mit untergebenen Andersgläubigen in religiösen Fragen Teilkompromisse einzugehen vgl.
T. Brockmann, Dynastie, Kaiseramt und Konfession. Politik und Ordnungsvorstellungen
Ferdinands II. im Dreißigjährigen Krieg (QFG NF 25), Paderborn/München/Wien/Zürich
2011, S. 75–99, 185–192.
21 Zum Fortschreiten der Rekatholisierung in den 1620er Jahren vgl. J. Mikulec, Rekatolizace
(wie Anm. 15), S. 27–72.
22 Aus den Arbeiten zur Problematik der Reformationskommissionen in Böhmen vgl. Dopisy
reformační komisse v Čechách z let 1627–1629 [Die Briefe der Reformationskommission in
Böhmen von 1627 bis 1629], ed. A. Podlaha (Sbírka pramenů církevních dějin českých
století XVI.–XVIII. [Quellensammlung zur böhmischen Kirchengeschichte vom 16. bis zum
18. Jahrhundert] 1), Praha 1908; E. Čáňová, Vývoj správy (wie Anm. 3), S. 517–526; Dekrety
reformační komise pro Nové Město pražské z let 1627–1629 [Die Dekrete der Reformationskommission für die Prager Neustadt von 1627 bis 1629], ed. J. Mendelová (DP Monographia 24), Praha 2009.
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Bürgern, Vertretern des Adels und Beamten der Obrigkeit aus der jeweiligen
Umgebung und versuchten, sie zum Religionswechsel zu bewegen. 1637 wurde
eine Sonder-Reformationskommission für die ehemaligen Besitztümer Albrechts
von Wallenstein/Waldstein (1583–1634) gebildet, da dieser zu seinen Lebzeiten
seine Territorien aus wirtschaftlichen Gründen vor einer gewaltsamen Rekatholisierung geschützt hatte. Nach Ende des Krieges war in Böhmen von 1652 bis
1655 die letzte Reformationskommission tätig. Ihre Aufgabe war, in der Mehrheit
der Gebiete den Rekatholisierungsprozess zu Ende zu bringen, da dieser in den
1630er und vor allem in den 1640er Jahren ständig durch kriegerische Konflikte
unterbrochen worden war.
Das System von Reformationskommissionen war in der Habsburgermonarchie
bei weitem nichts Neues. Diese wirksame Methode zur Ausübung von behördlichem Druck auf Andersgläubige hatte Ferdinand II. schon an der Wende vom
16. zum 17. Jahrhundert in Innerösterreich angewandt, als er noch als Erzherzog
von der Steiermark die Rekatholisierung dieser Länder betrieb.23 Mit Blick auf
die Bezeichnung dieser Kommissionen lässt sich Folgendes festhalten: Für die
Bekehrung der Andersgläubigen zum römisch-katholischen Glauben wurden von
katholischen Kreisen die Begriffe ‚Reform‘ oder ‚katholische Reformation‘ bevorzugt verwendet. Dies hatte seine Logik, denn die Kirche reformierte sich auf dem
Konzil zu Trient/Trento (1545–1563), wobei ein Bestandteil dieser Reform auch
die Bekämpfung ihrer spirituellen Gegner war. Selbstverständlich ging es auch um
die Beseitigung des Monopols der Protestanten auf die Nutzung dieses Begriffes.
Die Nichtkatholiken, die in den böhmischen Ländern diesem Druck gegen
ihren Glauben ausgesetzt waren, verhielten sich angesichts dieser Situation sehr
unterschiedlich.24 Einige traten zum katholischen Glauben über, stellten sich
damit auf die Seite der Sieger und öffneten sich Wege, um Karriere zu machen.
Viele lehnten es ab, sich unterzuordnen, und widersetzten sich. Das funktionierte
vor allem in den ersten Jahren der Rekatholisierung, als der Widerstand noch
durch die Unsicherheit der Kriegsjahre und durch die Hoffnung genährt wurde,
23 Vgl. K. Amon, Innerösterreich, in: A. Schindling / W. Ziegler (Hgg.), Die Territorien
des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession
1500–1650, Bd. 1: Der Südosten (KLK 49), Münster 1989, S. 102–116.
24 Zur Problematik der unterschiedlichen Strategien der Bewohner der böhmischen Länder, mit
denen sie auf die gewaltsame Rekatholisierung reagierten, vgl. J. Mikulec, Mezi konverzí a
emigrací. Vídeňský dvůr a náboženská loajalita šlechty v prvních pobělohorských desetiletích
[Zwischen Konversion und Emigration. Der Wiener Hof und die konfessionelle Loyalität des
Adels in Böhmen in den ersten Jahrzehnten nach der Schlacht am Weißen Berg], in: OH 10:
Šlechta v habsburské monarchii a císařský dvůr (1526–1740) [Der Adel in der Habsburgermonarchie und der kaiserliche Hof (1526–1740)] (2003), S. 397–414.
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Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628)
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dass sich die Lage doch noch ändern könnte und die Habsburger vernichtet oder
zumindest den Einfluss auf die böhmischen Länder verlieren würden. Nachdem
der Druck jedoch stärker wurde, gingen die Betroffenen entweder ins Ausland
oder sie konvertierten formell zum katholischen Glauben. Sobald aber der Druck
wieder nachließ, kehrten viele dieser Konvertiten zu ihrem ursprünglichen Glauben zurück. Auch diejenigen, die ins Ausland abgewandert waren, kehrten in den
1630er und 1640er Jahren wieder nach Böhmen zurück – entweder im Umfeld
von Streitmächten, die in die böhmischen Länder einfielen, oder ganz legal mit
Genehmigung der böhmischen Behörden, um ihre Vermögensverhältnisse zu ordnen. Solche Genehmigungen wurden ihnen erteilt, weil eine gewisse Hoffnung
bestand, dass wenigstens einige der Rückkehrer letztendlich zum Katholizismus
übertreten würden, damit sie dauerhaft im Land bleiben konnten. Der legale Aufenthalt in Böhmen war an die Auflage geknüpft, dass die Rückkehrer während ihres
Aufenthalts Gespräche mit einem katholischen Priester zu absolvieren hatten.25
Die Auswanderung ins Ausland begann unmittelbar nach der Schlacht am Weißen Berg, zunächst aus politischen Motiven,26 denn die Politiker und Heerführer der böhmischen Stände verließen das Land, da sie wegen ihrer Teilnahme am
Aufstand eine Bestrafung befürchteten. Der wachsende Rekatholisierungsdruck
führte aber auch zu einem Exodus aus religiösen Gründen. Schon in der ersten
Hälfte der 1620er Jahre wanderten in geringerem Umfang Nichtkatholiken aus
Böhmen aus. Eine gewaltige Auswanderungswelle wurde jedoch durch die Maßnahmen von 1627 ausgelöst, d. h. als der römisch-katholische Glaube als einzige
zugelassene Religion gesetzlich verankert und ein Patent verkündet wurde, das
den Adel zur Glaubenskonversion zwang. Damals verließen viele Vertreter der
gesellschaftlichen Elite, die sich nicht mit einer erzwungenen Glaubensbekehrung
abfinden wollten, das Land.
***
25 Vgl. ebd., S. 406 ff.
26 Zusammenfassende Darstellungen des Exils in den ersten Jahrzehnten nach der Schlacht am
Weißen Berg vgl. in: L. Bobková, Exulant [Der Exulant], in: V. Bůžek / P. Král (Hgg.),
Člověk českého raného novověku [Der Mensch der böhmischen Frühen Neuzeit] (Každodenní
život [Alltagsleben] 28), Praha 2007, S. 297–326; J. Mikulec, Die staatlichen Behörden und
das Problem der konfessionellen Emigration aus Böhmen nach dem Jahr 1620, in: J. Bahlcke
(Hg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa
4), Berlin/Münster 2008, S. 165–186; I. Čornejová / J. Kaše / J. Mikulec, Velké dějiny
zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone], Bd. 8: 1618–1683,
Praha/Litomyšl 2008, S. 102–107.
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Die dramatischen Ereignisse, welche die landesweite Rekatholisierung, die nach
der Niederschlagung des Ständeaufstandes einsetzte, mit sich brachte, fanden
ihren Niederschlag auch in der Terminologie. Für die Auswanderung ins Ausland aus religiösen Gründen wurden Bezeichnungen eingeführt, in denen sich
der gedankliche Konflikt widerspiegelte. In den Quellen aus dem 17. Jahrhundert
werden zur Bezeichnung der Auswanderer zwei Begriffe verwendet: zum einen der
Begriff ‚Exulanten‘ (Verbannte, Vertriebene), zum anderen der Begriff ‚Emigranten‘ (Auswanderer). Die jeweilige Verwendung dieser Begriffe war vom Standpunkt des Verfassers eines Schriftstückes abhängig. Die Begriffe ‚Exulanten und
Exil‘ wurden grundsätzlich von denen verwendet, die darauf verweisen wollten,
dass sie ihre Heimat gezwungenermaßen verlassen mussten, dass sie vertrieben
wurden. Im Gegensatz dazu nutzten die staatlichen Behörden recht konsequent
die Begriffe ‚Emigranten und Emigration‘, um den Aspekt der Freiwilligkeit der
Auswanderung zu betonen. Dieser Ansatz wurde jedoch von den Betroffenen, die
ihre Heimat aufgrund ihres Glaubens verlassen mussten, kategorisch abgelehnt.27
So z. B. verwendete der Leitmeritzer/Litoměřice Bürger Václav/Wenzel Nosidlo
von Geblice (1592–1649), der aufgrund seines Glaubens in Sachsen Zuflucht
fand, in seinem Tagebuch für diejenigen, die aus Glaubensgründen ausgewandert
waren, konsequent den Begriff ‚Exulanten‘ und zeigte sich sehr verärgert darüber,
dass die Behörden in Böhmen von ‚Emigranten‘ sprachen.28 Ähnlich wird in der
propagandistischen Schrift über die Unterdrückung der Nichtkatholiken in den
böhmischen Ländern „Historia persecutionum ecclesiae Bohemiae“ (‚Historie
von den schweren Bedrängungen der böhmischen Kirche‘), die in Kreisen um
Johann Amos Comenius (1592–1670) entstand, direkt zum Ausdruck gebracht,
dass die katholischen Feinde die Glaubensflüchtlinge absichtlich mit dem Begriff
‚Emigranten‘ bezeichnen und es ablehnen würden, den Begriff ‚Exulanten‘ zu
verwenden.29
Für die Bewohner des Königreiches Böhmen, die ihr Land verlassen hatten,
weil sie nicht zum katholischen Glauben überwechseln wollten, war es nachvollziehbar, dass sie auf den Begriffen ‚Exil‘ und ‚Exulanten‘ beharrten. Aus ihrer Sicht
handelte es sich ganz klar um Vertreibung, weil sie nicht bereit waren, zu einer
Religion zu konvertieren, die ihnen aufgezwungen werden sollte. Die katholischen
27 Vgl. J. Mikulec, Staatliche Behörden (wie Anm. 26), S. 185.
28 Vgl. Die Chronik des Václav Nosidlo von Geblice. Aufzeichnungen aus der böhmischen Exulantengemeinde in Pirna zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Edition und Übersetzung, ed.
M. Lisa (FGKÖM 47), Stuttgart 2014, S. 90.
29 Vgl. J. A. Komenský, Historie o těžkých protivenstvích církve české [Geschichte der Verfolgung der böhmischen Kirche], ed. M. Kaňák, Praha 1952, S. 170.
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Das Ende der Reformation in Böhmen (1620–1628)
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Kreise hatten naturgemäß eine andere Sichtweise. Ihrer Meinung nach wären diese
Menschen deshalb ausgewandert, weil sie nicht bereit waren, sich dem Befehl des
Herrschers zu unterwerfen, und die Auswanderung wurde als freiwillige Entscheidung interpretiert. Dem Staat und der katholischen Kirche zufolge sei es nicht
das Ziel der Rekatholisierungsmaßnahmen gewesen, die Bewohner aus dem Land
zu vertreiben, sondern sie zum Übertritt zu einem anderen Glauben zu bewegen.
Übrigens hieß auch das Recht auf Emigration (Auswanderung), das den freien
Angehörigen höherer gesellschaftlicher Schichten zustand, ius emigrandi.
Diese widersprüchliche Verwendung dieser beiden Begriffe hielt so lange an,
solange der Exodus aus Religionsgründen ein sensibles Thema war und ein Politikum darstellte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde auch von katholischen
Historikern – z. B. von František Jan/Franz Johann Beckovský (1658–1725) und
Jan/Johann Florian Hammerschmidt (1652–1735), beide katholische Geistliche –
bei der Beschreibung der Ereignisse nach der Schlacht am Weißen Berg schon der
Begriff ‚Exulanten‘ verwendet.30 100 Jahre nach diesen dramatischen Geschehnissen wurde demnach von der katholischen Kirche mit der Verwendung dieses
Begriffes eingeräumt, dass ein Teil der Bevölkerung Böhmens nach der Schlacht
am Weißen Berg de facto wegen ihres Glaubens aus der Heimat vertrieben worden war. Dies ist auch insofern verständlich, weil die Nichtkatholiken, die das
Land im 17. Jahrhundert verlassen hatten, z