Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich – Beiheft 14 | 2023
Claudia Theune und Thomas Kühtreiber (Hrsg.)
Die Tagung „Burgen- und Siedlungsarchäologie
des Mittelalters“ in Wien 1969 –
Ein Meilenstein in der Genese der Mittelalterarchäologie
als Fachzweig in Europa
Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich
Beiheft 14 | 2023
Gewidmet
Sabine Felgenhauer-Schmiedt
zum 80. Geburtstag
Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich
Beiheft 14 | 2023
Die Tagung „Burgen- und Siedlungsarchäologie
des Mittelalters“ in Wien 1969 –
Ein Meilenstein in der Genese der
Mittelalterarchäologie als Fachzweig in Europa
Herausgegeben von
Claudia Theune und Thomas Kühtreiber
Mit Beiträgen von
Sabine Felgenhauer-Schmiedt, Hajnalka Herold, Karin Kühtreiber,
Thomas Kühtreiber, Paul Mitchell und Claudia Theune
Wien 2023
Alle Rechte vorbehalten
© 2023 by Österreichische Gesellschaft für Mittelalter- und Neuzeitarchäologie, Wien
Herausgeber: Österreichische Gesellschaft für Mittelalter- und Neuzeitarchäologie, 1190 Wien, Franz-Klein-Gasse 1
https://www.oegm.or.at
ISBN: 978-3-903192-06-5
Redaktion: Thomas Kühtreiber, Claudia Theune
Lektorat: Hans Müller
Satz, Layout und Gestaltung: Karin Kühtreiber
Cover: Hintergrundfoto Ausschnitt aus Anna Nekrashevich: https://www.pexels.com/de-de/foto/mauermockup-poster-papier-8533218/, bearbeitet
Druck: paco Medienwerkstatt 1160 Wien
Inhaltverzeichnis
Vorwort (Claudia Theune und Thomas Kühtreiber). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Claudia Theune
Burgen- und Siedlungsarchäologie des Mittelalters – Genese und Wirkungen einer
internationalen Tagung zur Mittelalterarchäologie in Wien 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Sabine Felgenhauer-Schmiedt
Einblicke in die Entwicklung der Wüstungsforschung nach 1969. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Hajnalka Herold
Frühmittelalterliche Siedlungen – Forschungsstand, Fragen, Perspektiven 1969 und heute . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Karin Kühtreiber
Zur Entwicklung der Keramikforschung des Mittelalters und der Neuzeit vornehmlich in
Österreich seit 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Thomas Kühtreiber
Zur Entwicklung der Burgenarchäologie in Österreich seit 1969. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Paul Mitchell
Stadtarchäologie im Jahr 1969. Der Beginn einer neuen Ära? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Claudia Theune
Allgemeine Tendenzen und Entwicklungen in der Mittelalter- und Neuzeitarchäologie seit 1969 . . . . . . . . . . . . 53
Bibliografie der 1971 publizierten Tagungsabstracts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Anhang 1: Vorstandsmitglieder und Schriftleitung in den Jahren 1985–2023 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Anhang 2: Abstracts der Tagungsbeiträge 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
5
Vorwort
Claudia Theune und Thomas Kühtreiber
Die Wurzeln der Österreichischen Gesellschaft für Mittelalterarchäologie (nun Österreichische Gesellschaft für Mittelalter- und Neuzeitarchäologie) reichen deutlich weiter
zurück als die Initiierung der Gründung im Jahr 1984. Es
war vor allen Dingen Fritz Felgenhauer, damals noch
außerordentlicher Professor am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Wien (nun Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie), der sich schon in
den 1950er Jahren für eine Archäologie des Mittelalters
stark machte und erste Ausgrabungen durchführte. Insbesondere sind die bis heute wegweisenden Grabungskampagnen auf dem Hausberg Gaiselberg bei Zistersdorf in Niederösterreich zu nennen, die 1958 mit ersten Testschnitten
begannen. Eine Vielzahl von Hausbergen hat zudem in
diesen frühen Jahren Hans Peter Schad’n, ein Gymnasiallehrer von Fritz Felgenhauer, begangen und untersucht
und wichtige Forschungen durchgeführt.
Es war in groben Zügen in Österreich bekannt, dass
auch in anderen wissenschaftlichen Institutionen in Europa
Forschungen zu Fundstellen des Mittelalters durchgeführt
wurden, es gab jedoch wenig detaillierte Kenntnisse darüber. Nicht zuletzt um die Ergebnisse der Ausgrabungen auf
dem Gaiselberg und verwandten Denkmälern und Burgen, aber auch die der Wüstungsarchäologie und der Stadtarchäologie bekannt zu machen, hatte Fritz Felgenhauer
1968 die Idee, eine Tagung zur „Burgen- und Siedlungsarchäologie des Mittelalters in Österreich“ im Rahmen der
regelmäßig stattfindenden Tagungen der Österreichischen
Arbeitsgemeinschaft für Ur- und Frühgeschichte (nun:
Österreichische Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte –
ÖGUF) zu veranstalten. Die Konferenz fand dann auch im
Herbst 1969 in Wien statt. Von Beginn an war vorgesehen,
diese Tagung interdisziplinär und international auszurichten.
Schnell wurden die Planungen in Europa publik und das
Tagungskomitee erhielt aus weiten Teilen Europas sehr viele
Anmeldungen zu Vorträgen; bald war man veranlasst, die
Veranstaltung um einen Tag zu verlängern. Auch im Titel
wurde die Beschränkung auf Österreich aufgehoben. Es kamen schließlich rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer
nach Wien, das Programmheft weist insgesamt 53 Vorträge
aus. Diese Zahlen zeigen deutlich das große internationale Interesse am Ende der 1960er Jahre, als die Mittelalterarchäologie wahrlich noch in den Kinderschuhen steckte.
Die Nachwirkungen dieser Tagung sind international
zu bemerken. Dies gilt z.B. für Österreich mit der Gründung des „Archivs für Mittelalterarchäologie“ durch Fritz
Felgenhauer im Jahr 1971 oder dem 1969 in Wien gefassten Beschluss, eine deutschsprachige Zeitschrift für
Mittelalterarchäologie zu gründen; der 1. Band der bis
heute fortgeführten Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters erschien 1973. Des Weiteren wurden in verschiedenen Ländern Europas auf nationaler Ebene archäologische
Gesellschaften gegründet.
Die Gründung der Österreichischen Gesellschaft für
Mittelalterarchäologie erfolgte 1984, ein Bescheid der damals zuständigen Sicherheitsdirektion für Wien an Fritz
Felgenhauer, der die Gründung bestätigt, stammt vom
31. Jänner 1985. Eine erste gründende Versammlung fand
am 17. April 1985 statt, bei der der erste Vorstand mit Fritz
Felgenhauer als 1. Obmann gewählt wurde, wie aus Dokumenten des Archivs der Österreichischen Gesellschaft
für Mittelalter- und Neuzeitarchäologie hervorgeht. In der
Folge wurde die Gesellschaft durch Fritz Felgenhauer sowie auch Sabine Felgenhauer-Schmiedt stark geprägt.
Zahlreiche weitere Mitstreitende aus der Archäologie, aber
auch der Geschichte, haben in den folgenden Jahren in
ehrenamtlichen Positionen die Geschicke der Gesellschaft
mitgetragen (siehe Anhang 1).
Wie bedeutend die Wiener Tagung war, wurde eher
zufällig im Rahmen einer Suche nach Unterlagen zu dieser
Tagung für die Erarbeitung einer Vereinsgeschichte festgestellt. Sowohl eine umfassende Korrespondenz im Zusammenhang mit den Tagungsplanungen im Archiv der Österreichischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte wie
auch die Relektüre der Kurzfassungen der Vorträge von
1969, die in den Veröffentlichungen der Österreichischen
Arbeitsgemeinschaft für Ur- und Frühgeschichte, Band 5,
unter dem Titel „Burgen- und Siedlungsarchäologie des
Mittelalters“ (Wien 1971) publiziert waren, führten zu
der Idee, den Stand der Forschung von 1969 und die weitere Entwicklung genauer zu betrachten und zu diskutieren. So haben wir die 53 Kurzfassungen grob in Beiträge
gegliedert, die sich mit Burgenforschung, mit frühmittelalterlichen Siedlungen, mit der Wüstungsforschung, mit
der Stadtarchäologie und der Keramik des Mittelalters
befassten und jeweils die forschungsgeschichtlichen Ent-
7
wicklungen von 1969 bis heute erörtert und beschrieben.
Gerahmt werden diese fünf Aufsätze von einer Beschreibung der Genese der Tagung von 1969 und den folgenden Nachwirkungen auf eine langsam sich institutionalisierende Mittelalterarchäologie sowie einem Überblick über
die Entwicklungen des Faches in Europa. Wir denken, auf
diese Weise auch einen Überblick über die frühen Phasen
der Mittelalterarchäologie und der frühen Grundlagenforschungen und der weiteren Entwicklungen geben zu können, sowohl im österreichischen bzw. deutschsprachigen
wie im weiteren internationalen Raum.
Wir danken der Österreichischen Gesellschaft für Urund Frühgeschichte ganz herzlich, dass wir großzügig
Einblick in das Archiv und die Dokumente zur Tagung
erhalten haben und dass wir hier noch einmal die Kurzfassungen der Referate abdrucken können.
Uns ist es darüber hinaus ein Anliegen, diesen Band Sabine Felgenhauer-Schmiedt zum 80. Geburtstag widmen. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie schon früh zur
Mittelalterarchäologie in Österreich akribisch geforscht
und hatte dabei immer auch europäische Entwicklungen
im Blick. Sie war eine der ersten, die in ihrer 1968 abgeschlossenen Dissertation zum Fundmaterial des Hausbergs
zu Gaiselberg mittelalterliche Fundobjekte bearbeitete und
analysierte. Ihre Untersuchungen und Ergebnisse zur Keramikforschung, Wüstungsforschung und vielfältigen weiteren Facetten des Mittelalters der letzten mehr als 50 Jahre
prägen bis heute die Mittelalterarchäologie weit über Österreich hinaus.
Als junge Absolventin hat sie maßgeblich bei den Vorbereitungen der Wiener Tagung von 1969 mitgearbeitet
und während der Tagung auf europäischer Ebene zahlreiche Kontakte geknüpft, die noch heute bestehen, die teil-
weise zu lebenslangen Freundschaften wurden. In Wien
und Österreich hat sie seitdem mit ihrer äußerst freundlichen und ausgesprochen entgegenkommenden Weise
zahlreiche junge angehende Mittelalterarchäologinnen
und -archäologen, Kolleginnen und Kollegen gefördert
und mit ihrem großen Wissen unterstützt. Die Entwicklung der Österreichischen Gesellschaft für Mittelalter- und
Neuzeitarchäologie lag ihr immer sehr am Herzen, lange
hat sie sich als stellvertretende Obfrau bzw. dann als Obfrau
für die Gesellschaft engagiert, bis heute ist sie sehr an den
weiteren Entwicklungen interessiert.
Als innerhalb des Vorstandes der Österreichischen Gesellschaft für Mittelalterarchäologie und Neuzeitarchäologie die Idee einer Publikation entstand, in der die Planungen für die Tagung sowie der Stand der Forschung und
die weiteren Entwicklungen zu bestimmten Aspekten zwischen 1969 und 2023 diskutiert werden, hat Sabine Felgenhauer-Schmiedt ihrer Freude darüber Ausdruck
verliehen und hat das Vorhaben mit ihrem Hintergrundwissen um damalige Kontexte entscheidend gefördert. Zudem hat sie in einem Beitrag die Wüstungsforschung –
einen ihrer Forschungsschwerpunkte – in ihrem Fortgang
in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts erörtert. So hat sie maßgelblich dazu beigetragen, dass wir nun diesen Band publizieren können. Für diese vielfältige Unterstützung möchten
wir uns im Namen der Gesellschaft ganz herzlich bedanken und ihr diesen Band zueignen.
Im Namen der Österreichischen Gesellschaft für Mittelalter- und Neuzeitarchäologie
Claudia Theune, Thomas Kühtreiber
8
Allgemeine Tendenzen und Entwicklungen in der Mittelalter- und
Neuzeitarchäologie seit 1969
Claudia Theune
Archäologie längst erkannt und praktiziert worden war,
dass die Vielfalt der unterschiedlichen Quellengattungen,
in erster Linie schriftliche, bildliche und dingliche Quellen eine viel dichtere Überlieferung darstellen. Die Nutzung von nur einem Überlieferungsstrang als Basis der
Forschungen schränkt ein vielschichtiges Erkenntnispotential deutlich ein. Einer der ersten, der darauf hinwies, war
Harald von Petrikovits (1911–2010), ein provinzialrömischer Archäologe, der in Wien Klassische Archäologie,
Alte Geschichte und Klassische Philologie studierte und
sich später im rheinischen Bonn intensiv mit der provinzialrömischen sowie mittelalterlichen (archäologischen)
Vergangenheit des Rheinlands befasste. Er plädierte auch
für das Mittelalter für einen Einbezug archäologischer
Quellen neben den schriftlichen Dokumenten.3
Eher systematische archäologische Untersuchungen
zum Mittelalter setzten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein, insbesondere in den kriegszerstörten Städten.
Weithin sichtbare Denkmäler, wie Burgen 4, zogen ebenso
die Aufmerksamkeit der Archäologie in Europa auf sich.5
Stadtarchäologische Ausgrabungen wurden in Österreich,
bzw. in Wien schon früh mit großem Engagement durch
Hertha Ladenbauer-Orel (1912–2009) durchgeführt.
Zudem fanden Ausgrabungen im Bereich des schwer beschädigten Stephansdomes noch in den späten 1940er Jahren statt.6 Ausgrabungen auf Burgen bzw. den in Niederösterreich weit verbreiteten Hausbergen begannen seit 1958
durch Fritz Felgenhauer (1920–2009), er leitete die bis
heute wegweisenden Ausgrabungen auf dem Hausberg
Gaiselberg bei Zistersdorf.7 Schon früher wurden Untersuchungen auf dem Türkenkogel bei Poppendorf (bei
Die Entwicklung zu einer Mittelalterarchäologie bzw.
auch zu einer Neuzeitarchäologie im deutschsprachigen
Raum folgte besonderen Rahmenbedingungen im Kanon der kulturhistorischen Wissenschaften. Bezüglich
einer Archäologie oder spezifischer einer Ur- und Frühgeschichte waren von Beginn an die urgeschichtlichen Zeiten etabliert und anerkannt, da außer den archäologischen
Quellen keine schriftlichen Überlieferungen vorlagen, lediglich dingliche Überreste oder Bilder aus dem Jungpaläolithikum bildeten die Grundlage für Forschungen.
Frühgeschichtliche oder spätantike bzw. frühmittelalterliche Funde, insbesondere die in großen Zahlen schon im
19. Jahrhundert freigelegten Bestattungen des 5.–10. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum waren insofern von
großer Bedeutung, da sie in vielen europäischen Regionen herangezogen wurden, um die eigenen nationalen Ursprünge zu legitimieren. In Frankreich berief man sich auf
das fränkische Erbe, in England auf angelsächsische Ursprünge, in Polen auf eine slawische Herkunft, in Deutschland – je nach Region – auf eine alamannische, fränkische,
sächsische oder auch slawische Abstammung.1 Spätantike
und frühmittelalterliche Schriftquellen, in denen die entsprechenden gentes und deren Wohnsitze genannt wurden,
unterstützten diese Deutung lange Jahre.2 Ein Ausgreifen
der Archäologie im deutschsprachigen Raum auf jüngere
Zeiten unterblieb. Hier herrschte lange Zeit die Meinung
vor, dass durch eine immer breiter werdende schriftliche
Überlieferung im Hoch- und Spätmittelalter (und auch
der Neuzeit) ausreichend Informationen zu den Geschehnissen dieser Epochen vorliegen und es keiner weiteren
Quellen bedarf. Diese Forschungen, die die großen Leitlinien der Vergangenheit im Blick hatte, wurden mehr oder
weniger ausschließlich durch Historikerinnen und Historiker betrieben, lediglich in der Volkskunde wurden mittelalterliche und neuzeitliche Sachkulturforschung – überwiegend des ländlichen Raumes – bis gegen Ende des
20. Jahrhunderts untersucht.
Dieser Umstand ist insofern verwunderlich, da durch
Disziplinen wie die Ägyptologie oder die Klassische
1
2
Petrikovits 1962.
Einen europaweiten Zusammenschluss von Fachkolleginnen und
-kollegen, die sich mit mittelalterlichen Burgen befassten, erfolgte
schon seit 1962; seit damals werden alle zwei Jahre Konferenzen zu
unterschiedlichen Themen zur Erforschung von Burgen abgehalten: http://colloquechateaugaillard.eu/ [Zugriff: 17.09.2023].
5 Einen allgemeinen Überblick bieten: Andersson/Wienberg
1993; Gilchrist 2009; siehe zudem verschiedene Überblicksartikel zur Historischen Archäologie in verschiedenen europäischen
Ländern, die nachmittelalterliche Epochen miteinschließt: Mehler
2013.
6 Siehe Beitrag Paul Mitchell in diesem Band.
7 Siehe Beitrag Thomas Kühtreiber in diesem Band.
3
4
Grundlegend zur ethnischen Deutung in der Archäologie auch in
einer forschungsgeschichtlichen Perspektive: Brather 2004.
Zusammenfassend zuletzt Pohl 2018; Geary 2002.
53
Claudia Theune
turnusmäßig angebotenen 5-stündigen Modulen. Hier
wird künftig durch die Denominierung einer Professur als
Historische Archäologie explizit die Mittelalterarchäologie
(und die Neuzeitarchäologie) vertreten. Auch in Innsbruck,
Graz, und Salzburg werden Veranstaltungen zur Mittelalterarchäologie regelhaft in die Lehre mit einbezogen.
Die Österreichische Gesellschaft für Mittelalterarchäologie
(nun Mittelalter- und Neuzeitarchäologie) wurde 1984 gegründet bzw. durch die Sicherheitsdirektion für Wien am
31. Jänner 1985 positiv beschieden.
In der Schweiz beschäftigte sich schon im frühen
20. Jahrhundert die Denkmalpflege im Kanton Waadt
mit mittelalterlichen Monumenten. Seit der Mitte des
20. Jahrhunderts sind dann Ausgrabungen in Zürich durch
Emil Vogt wegweisend. Flächendeckend für die Schweiz
setzten dann mittelalterarchäologische Untersuchungen
erst seit den 1970er bzw. 1980er Jahren ein.12 Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit (SAM) wurde 1974 gegründet und
1998 zu einem Verein.
Etwas anders ist die Situation in den Ländern, die damals noch hinter dem Eisernen Vorhang lagen, insbesondere wurden – politisch motivierte – Forschungen zu
slawenzeitlichen Burgwällen, die häufig zumindest die
früh- und hochmittelalterlichen Phasen abdecken, vorangetrieben und Joachim Herrmann veröffentlichte für
eine Region in der damaligen Deutschen Demokratischen
Republik (DDR) bereits 1960 ein grundlegendes Werk
dazu 13, des Weiteren sind die Forschungen zu Pfalzen
durch Paul Grimm 14 zu nennen.
In Ungarn erregten zunächst – kurz nach der Mitte des
20. Jahrhunderts – unterschiedliche Burgen das Interesse
der Mittelalterarchäologinnen und -archäologen, schon
1948 fanden unter Imre Holl Ausgrabungen in der Burg
Buda statt. Später folgten Untersuchungen in ländlichen
und städtischen Siedlungen.15 Imre Holl (1924–2016)
ab 1958 Leiter des Institutes für Archäologie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, und András Kubinyi (1929–2007), Gründer des Lehrstuhls für Mittelalterarchäologie an der Eötvös Loránd Universität in Budapest,
waren wichtige Protagonisten der Mittelalterarchäologie in
Ungarn. Ungarn kommt in unserem Zusammenhang eine
besondere Rolle zu, weil hier schon von Anfang an auch
die osmanische Periode (1541–1686), also eigentlich die
nachmittelalterliche Zeit, mit einbezogen wurde, als Begründung wird das Fehlen von umfangreichen schriftlichen Quellen genannt.
In der ehemaligen Tschechoslowakischen Republik
wurden neben einer Archäologie in Burgen schon in der
1. Hälfte des 20. Jahrhundert auch ländliche Siedlungen
untersucht, weit bekannt sind die Ausgrabungen in Pfaffenschlag oder Mstěnice, deren Ergebnisse auf der Tagung
in Wien 1969 vorgestellt wurden. Frühere Freilegungen
St. Pölten, Niederösterreich) durchgeführt. Erste Ausgrabungen in Wüstungen setzten in den späten 1960er Jahren
ein, etwa in der Wüstung Gangenhölzl bei Orth, ebenfalls durch Fritz Felgenhauer.8 Diese frühen mittelalterarchäologischen Unternehmungen, sowohl in Österreich,
als auch in anderen deutschsprachigen Regionen, wurden
zunächst kaum in den weiteren kulturhistorischen Fächern
rezipiert. Nur aufgrund persönlicher Kontakte erfolgte
eine Zusammenarbeit mit einzelnen Personen mit anderen Fächern, so arbeitete Fritz Felgenhauer z. B. mit
dem Sozial- und Wirtschaftshistoriker Michael Mitterauer (1937–2022), dem Landeshistoriker Karl Lechner
(1897–1975), dem Lehrer und Burgenforscher Hans Paul
Schad’n (1883–1972) zusammen.
Viel anders war die Situation in Deutschland oder der
Schweiz auch nicht. Zwar wurde schon in der Mitte des
19. Jahrhunderts der Begriff „Archäologie des Mittelalters“
auf einer Sitzung der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine geprägt,9 man beschäftigte sich jedoch vorwiegend mit baugeschichtlichen Monumenten, häufig
kunsthistorisch ausgerichtet.
Wie erwähnt, sind es insbesondere die stadtarchäologischen Untersuchungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die
langsam zu einer Etablierung des Faches in Deutschland
führten und wo nachfolgend andere mittelalterliche Strukturen mit einbezogen wurden. All diesen Initiativen bzgl.
archäologischer Ausgrabungen in Städten, Dörfern, Kirchen und Burgen fehlte – um es zu wiederholen – jedoch
bis weit in die 1970er Jahre hinein eine breite disziplinäre
Anerkennung mittelalterlicher Forschungen.
Bedeutend war die Einrichtung des ersten Lehrstuhls
für Mittelalterarchäologie an der Universität Bamberg in
Deutschland im Jahre 1981, den Walter Sage (1930–2017)
zunächst innehatte, was langsam aber stetig zu einer Etablierung des Teilfaches führte. Weitere Lehrstühle für eine
Mittelalter- und Neuzeitarchäologie wurden in Tübingen,
Freiburg, Kiel und Halle-Wittenberg eingerichtet. Wenige Jahre davor wurde 1975 die Arbeitsgemeinschaft für
Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Deutschland ins Leben gerufen (heute: Deutsche Gesellschaft für
die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit)10. Walter
Sage war bereits seit 1966 Referent für Mittelalterarchäologie am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege.
In Wien boten insbesondere Fritz Felgenhauer und
Sabine Felgenhauer-Schmiedt Lehrveranstaltungen an.
Fritz Felgenhauer äußert sich noch im Frühjahr 1975
zu einer Anfrage von Hermann Hinz inwieweit die Mittelalterarchäologie in Österreich etabliert sei, lapidar mit
dem Wort „Fehlanzeige, keine Professur, keine Dozentur, ... kein spezielles Publikationsorgan“11. An der Universität Wien gehört die Mittelalterarchäologie (und auch
die Neuzeitarchäologie) zu den im Bachelorstudium
8
9
10
11
Siehe Beitrag Sabine Felgenhauer-Schmiedt in diesem Band.
Scholkmann/Kenzler/Schreg 2016, 33-46.
https://www.dgamn.de/ [Zugriff: 17.9.2023].
Archiv der Österreichischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte:
Korrespondenz mit Hermann Hinz vom 5.3.1975 und 7.3.195
12
13
14
15
54
Descoeudres 2001.
Herrmann 1960.
Grimm 1966, 39–74.
Holl 1970; Kubinyi 2003.
Allgemeine Tendenzen und Entwicklungen in der Mittelalter- und Neuzeitarchäologie seit 1969
fanden in der Region Poděbrady statt bzw. im heute slowakischen Staatsgebiet in den ländlichen Siedlungen in
Zalužany und Hurbanovo.16 Schließlich sei noch auf parallele Entwicklungen auch im heutigen Slowenien
hingewiesen.17
Ein Blick in weitere europäische Länder bestätigt diese
skizzierte Entwicklung, in Schweden wird die Mittelalterarchäologie an der Universität Lund in den frühen 1970er
Jahren etabliert.18 Gleichzeitig wird an der Universität Aarhus in Dänemark die Mittelalterarchäologie eingeführt.19
Ausgrabungen zu mittelalterlichen Denkmälern etwa in
Norwegen sind schon für das 19. Jahrhundert zu verzeichnen, wenn bei Baumaßnahmen mittelalterliche Strukturen
beobachtet wurden.20
Vergleichbar ist die Entwicklung in Italien, wo sich
ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach eine
eigenständige Archäologie des Mittelalters entwickelte 21,
sowie in Frankreich 22. Ein früherer Ansatz ist für Großbritannien zu verzeichnen, wo schon 1957 die Society for
Medieval Archaeology gegründet wurde und gleichzeitig
die Herausgabe einer Zeitschrift zur Mittelalterarchäologie
veranlasst wurde.23
Insgesamt geht in der Regel mit der Bildung einer wissenschaftlichen (mittelalterarchäologischen) Vereinigung
die Gründung einer Zeitschrift einher, um zunächst auf
Länderebene, dann auch international Grabungs- und Forschungsergebnisse zu veröffentlichen.
Die zusammenfassend geschilderten Entwicklungen
einer Mittelalterarchäologie in Österreich, dem deutschsprachigen Raum und weiten Teilen Europas spiegelt sich
auch in der Tagung zur „Burgen- und Siedlungsarchäologie des Mittelalters“ wider, die vom 30. September bis
5. Oktober 1969 in Wien stattfand. Die Tagung, die zunächst nur österreichweit eine Bilanz zum Stand der Forschung ziehen wollte, entwickelte sich schon bald in der
Vorbereitung zu einer internationalen und interdisziplinären Tagung.
Wie erwähnt, waren Burgen als weithin sichtbare Zeichen einer mittelalterlichen Vergangenheit überall früh
Ziel von archäologischen Unternehmungen, ihnen war
ein Großteil der 30-minütigen Vorträge und 15-minütigen Referate während der Tagung gewidmet. Die Präsentation zu Siedlungsgrabungen und einige Fundvorstellungen sowie wenige anthropologische Beiträge kamen hinzu.
Die Tagung mit insgesamt 53 geplanten Vorträgen war in
verschiedene Abschnitte – heute würde man Panels sagen
– gegliedert, die jeweils mit einem Diskussionsblock abgeschlossen wurden. Die über 200 Teilnehmenden 24 kamen
aus insgesamt 14 Staaten (Belgien, Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen
Republik, Frankreich, Jugoslawien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Schweiz, Tschechoslowakei und Ungarn) bzw. die angekündigten Vortragenden
kamen aus acht Ländern (Österreich, Ungarn, der damaligen Tschechoslowakischen Republik, Polen, Frankreich,
der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, den Niederlanden und dem ehemaligen Jugoslawien (heute Slowenien). Aus dem Archiv
ist bekannt, dass zumindest Michel de Bouard (Caen,
Frankreich) verhindert war 25, ob weitere angemeldete
Kolleginnen und Kollegen nicht kommen und dafür andere Vorträge gehalten werden konnten, ist nicht mehr zu
eruieren.
Fritz Felgenhauer eröffnete die Tagung mit einem
einführenden Vortrag zu Stand und Aufgaben der Mittelalterarchäologie in Österreich.26 Er verwendete den Begriff
Gruppendisziplin, um die breite Spanne der in einer umfassenden Mittelalterarchäologie wirkenden Wissenschaften zu charakterisieren – er nennt die Kunstgeschichte, die
Bauforschung, die Geografie, die Volkskunde, die Sprachwissenschaft. Vielleicht weil zu selbstverständlich fehlt in
der Auflistung die Geschichte. Zeitlich möchte er die Mittelalterarchäologie auf das Hoch- und Spätmittelalter begrenzen.27 Als grundlegende Aufgaben sieht er die Schaffung einer soliden Chronologie und Typologie der Funde
an, wobei die Keramik besonders betont wird, aber auch
andere Fundgruppen mit einbezogen werden sollten. Interessant ist die Bemerkung, dass Keramik (und andere
Fundgruppen) nicht nur als Datierungsmittel wichtig sind,
sondern auch „als Faktor zur Beurteilung kulturhistorischer und soziologischer Fragen“.28
Karl Lechner erläuterte im Anschluss die Besiedlungsgeschichte Niederösterreichs und setzte so einen allgemeinen Rahmen für eines der zentralen Gebiete in Österreich.
Es folgten fünf Beiträge, die sich mit dem vorrangigen
Fundgut des Mittelalters befassten, der hoch- und spätmittelalterlichen Keramik. 26 Beiträge befassten sich mit Darstellungen von frühmittelalterlichen, hochmittelalterlichen
und spätmittelalterlichen Burgen bzw. diskutierten methodische Aspekte einer Archäologie auf Burgen. Fünf weitere Vorträge schlossen sich an, in denen in erster Linie
slawenzeitliche Burgen vorgestellt wurden. Mit verschiedenen weiteren Strukturen, wie Erdställen oder archäobotanischen Erkenntnissen, wurde das Programm fortgesetzt. Zudem – und dies sei betont – folgte ein Vortrag
zu neuzeitlichen Phänomenen in Ungarn, also der türkenzeitlichen Archäologie. In einem weiteren Block wurden
Grabungen von Wüstungen erörtert, in einem letzten und
16 Čapek/Holata 2017; Klápště/Smetánka 1995; Caplovic/Habovštiak 1995.
17 Predovnik 2013.
18 Wienberg 2014; siehe auch: Graham-Campbell/Svart Kristiansen/Roesdahl 2015.
19 Svart Kristiansen 2004.
20 Øye 2015.
21 Augenti 2009.
22 Chapelot 2010; Poisson 2017.
23 Gilchrist/Reynolds 2009.
24 Eine Liste der Teilnehmenden an der Tagung 1969 liegt nicht vor.
25 Archiv Österreichische Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte
Jahrestagung 1969: Brief Michel de Bouard an Fritz Felgenhauer vom 15.6.1969. Siehe Beitrag Claudia Theune, S. 9–17 in
diesem Band.
26 Siehe Felgenhauer 1971a; siehe zudem Felgenhauer 1972; Felgenhauer 1983.
27 Siehe den Beitrag von Hajnalka Herold in diesem Band.
28 Felgenhauer 1971b, 20.
55
Claudia Theune
kleineren Teil wurden stadtarchäologische Untersuchungen vorgestellt. In der Regel wurden innerhalb der Blöcke
zunächst die österreichischen Befunde und Funde präsentiert und anschließend Fundplätze aus dem europäischen
Ausland.
Neben der Internationalität ist die Interdisziplinarität
der Tagung zu betonen. Insbesondere sei auf die Historiker Karl Lechner und Rudolf Büttner bzw. Wirtschaftsund Sozialhistoriker Michael Mitterauer hingewiesen,
zudem auf den Anthropologen Johann Jungwirth; die
Bauforschung wurde z. B. von Adalbert Klaar vertreten, erwähnt sei auch der Ökologe Hermann Margl, der
archäobotanische Forschungen unternahm. Die Genannten stammen alle aus Wien bzw. Niederösterreich und haben eng mit Fritz Felgenhauer zusammengearbeitet.
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass in den Vorträgen die
bislang erzielten Erkenntnisse zu den einzelnen Fundorten
präsentiert wurden. So war es möglich – wie es auch der
Vorsatz für die Tagung gewesen ist – der internationalen
Fachwelt die Forschungsergebnisse der österreichischen
Mittelalterarchäologie bekannt zu machen. Umgekehrt erfuhren die österreichischen Kolleginnen und Kollegen von
den mittelalterarchäologischen Forschungen in den Nachbarländern und darüber hinaus. Dies ist sicherlich eines
der äußerst positiven Ergebnisse der Tagung, ein intensiver
Austausch auf zumindest mitteleuropäischer Ebene, aber
auch darüber hinaus.
Es war den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bewusst,
dass eine weitere Stärkung der Mittelalterarchäologie erstrebenswert sei, die sich zunächst einmal auf die Publikationen und damit die Bekanntgabe von Forschungsergebnissen für das Fachkollegium erstreckte. So wurde 1969
die Gründung einer deutschsprachigen Zeitschrift für Mittelalterarchäologie beschlossen, die seit 1973 zunächst von
Herbert Jankuhn herausgegeben wurde. Von Interesse ist,
dass zunächst angedacht war, die Zeitschrift nicht nur auf
die Mittelalterarchäologie zu begrenzen, sondern auch die
Neuzeit mit einzubeziehen.29 Damit wäre eine bemerkenswerte Weitsicht zu konstatieren gewesen. Was schließlich
dazu führte, die Zeitschrift dann zumindest im Namen auf
das (gesamte) Mittelalter zu beschränken, ist derzeit nicht
bekannt. Durch den Vortrag von Gerő Győző zur türkenzeitlichen Archäologie in Ungarn war ja schon ein erster
Anstoß gegeben. Die Überwindung der spätmittelalterlichen Zeitgrenze hatte also schon begonnen.
Damit sei eingeleitet zur weiteren zeitlichen Ausweitung der Archäologie, die u. a. auch mit einer Themenerweiterung einhergeht. Hajnalka Herold 30 hat auf die
unterschiedlichen begrifflichen Abgrenzungen insbesondere des Frühmittelalters, aber auch des Hochmittelalters
in Europa hingewiesen. Für den Übergang zur Neuzeit
bzw. zunächst einmal der frühen Neuzeit herrscht dagegen Einigkeit. Dass mit der Erfindung des Buchdrucks
etwa in der Mitte des 15. Jahrhunderts durch Johannes
Gutenberg, mit der Eroberung Konstantinopels durch den
osmanischen Sultan Mehmed II. (1453), der Wiederentdeckung Amerikas (1492), dem Ende der Reconquista
(1492) und der Reformation (1517) ein Umbruch stattfand, der sich auch in der Archäologie widerspiegelt, wird
allgemein anerkannt. Erwähnt wurde schon, dass insbesondere in Ungarn zur sogenannten Türkenzeit (1542–1686)
schon früh archäologische Untersuchungen stattfanden.
Im deutschsprachigem Raum setzten Forschungen zur frühen Neuzeit erst in den 1990er Jahren ein.31 Ansätze zu
einer Archäologie der Moderne sind durch eine Industriearchäologie schon deutlich früher zu verorten.32 Schon seit
den 1950er Jahren wurden in Großbritannien und etwas
später in Deutschland die technischen Industriedenkmäler
der frühen Industrialisierung dokumentiert und erforscht,
allerdings in erster Linie von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern aus der Architektur oder aus technischen
Berufen, weniger von in der Archäologie Tätigen. Erst
seit wenigen Jahren ist eine Veränderung zu erweiterten
Forschungsfragen zu konstatieren. Industrieanlagen werden nun als Teil der Landeskultur verstanden, als Kulturgeschichte der Industrialisierung.33 Eine weitere zeitliche
Ausdehnung auf die Zeitgeschichte bzw. das 20. Jahrhundert ist für Österreich seit den frühen 2000er Jahren festzustellen, in Deutschland oder auch Polen begannen die
archäologischen Forschungen schon rund 10 Jahre früher.34
Das österreichische Denkmalschutzgesetz 35 kennt keine
Zeitgrenze, das bedeutet, dass alle Bodenfunde, egal welcher Zeitstellung, ob urgeschichtlich, frühgeschichtlich,
mittelalterlich, neuzeitlich oder zeitgeschichtlich als archäologische Hinterlassenschaften angesehen werden und entsprechend den Richtlinien für archäologische Maßnahmen
ausgegraben und dokumentiert werden.36 Die Standardisierung der archäologischen Ausgrabungen und Dokumentationen seit Einführung der Richtlinien für archäologische
Maßnahmen im Jahr 2010 und die genannte Ausweitung
der Forschungen auch zu neuzeitlichen Epochen führte in
Österreich inzwischen dazu, dass neben den urgeschichtlichen, römerzeitlichen, frühgeschichtlichen, hoch- und
spätmittelalterlichen Befunden auch regelhaft die Neuzeit
in ihrer gesamten Breite archäologisch erforscht wird. Insbesondere in den Städten Wien, Graz, St. Pölten, Hall in
Tirol, aber auch Salzburg und Linz werden neuzeitliche
Komplexe im Rahmen der Stadtarchäologie 37 systematisch
untersucht. Für die Zeitgeschichte stehen insbesondere die
Terrororte des Nationalsozialismus im Fokus. Eine Tagung
der Österreichischen Gesellschaft für Mittelalter- und
Neuzeitarchäologie hat sich 2022 in Linz speziell dem 19.
und 20. Jahrhundert gewidmet und in einem internationalen Rahmen vielfältige Themen diskutiert.
Mehler/Krabath/Kluttig-Altmann 2019.
Slotta 1982; Stadler 2006; Stadler 2011.
Theune et al. 2019, bes. 470–473.
Theune 2020, 11–22.
https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundes
normen&Gesetzesnummer=10009184 [Zugriff: 17.09.2023].
36 Bundesdenkmalamt 2023.
37 Siehe Beitrag Paul Mitchell in diesem Band.
31
32
33
34
35
29 Felgenhauer 1971a.
30 Siehe Beitrag Hajnalka Herold in diesem Band.
56
Allgemeine Tendenzen und Entwicklungen in der Mittelalter- und Neuzeitarchäologie seit 1969
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Fritz Felgenhauer bei der Organisation und Planung der Tagung von 1969 auf Interdisziplinarität großen Wert legte
und Kolleginnen und Kollegen, mit denen er eine umfassende Mittelalterkunde, wie es Heiko Steuer 38 1997 bezeichnete, betrieb, aktiv in die Tagung mit einbezog. Hier
kann eine Konstante gesehen werden, die auch über die
folgenden Jahre hinweg zu verzeichnen ist. Insbesondere
kulturhistorische Fächer, wie die Geschichte in ihrer gesamten chronologischen Breite, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, aber ebenso die Onomastik, die Geografie, jedoch in den letzten Jahren auch Sozialwissenschaften
werden stets bei archäologischen Forschungen mit einbezogen. Wesentlich erweitert ist das Feld der naturwissenschaftlichen Disziplinen, beginnend mit unterschiedlichen
Datierungsmethoden, geophysikalischen Prospektionen,
geografischen Informationssystemen, der Vielfalt der bioarchäologischen Methoden, aber auch zahlreichen materialkundlichen Untersuchungen, die heute zum Standardrepertoire in der Archäologie allgemein gehören.
Während die Vorträge auf der Tagung 1969 zur Burgen- und Siedlungsarchäologie den damaligen Forschungsstand widerspiegeln und dort vielfach die Fundplätze mit
ihren Befunden und dem vorwiegend keramischen Material vorgestellt wurden bzw. eine Datierung vorgenommen
wurde, hat sich das Themenspektrum seit dieser Zeit erheblich erweitert. Interessant in diesem Zusammenhang
sind Bemerkungen in einem Briefaustausch zwischen
Heinrich Koller, ehemals Historiker am Historischen
Institut der Universität Salzburg, und Fritz Felgenhauer.
Felgenhauer schreibt:„ Die Erscheinung des „Hinaufgehens“ der Burgen ist mir ebenfalls bewußt geworden und
ich habe dieses Phänomen zum Teil wenigstens ebenfalls
auf soziologische und psychologische Momente zurückgeführt, ohne sie allerdings (als Nichthistoriker) näher begründen zu können.“39 Hier werden schon weitere Forschungsfelder angedacht, die dann später intensiv in den
Blickpunkt rücken.40 Vielfältige Ausweitungen auf spezifische Fragestellungen können auch für die Siedlungsarchäologie beobachtet werden, hier sei nur das Stichwort Landschaftsarchäologie mit seinen vielfältigen Impulsen in der
Archäologie kurz erwähnt. Hinzu kommen durch Ausgrabungen an (spät-)mittelalterlichen und neuzeitlichen Bestattungsplätzen auch zahlreiche Forschungen zu den Lebens- und Sterbebedingungen der Menschen. Wichtig ist
ebenfalls zu konstatieren, dass zwar immer noch die Keramik eine ganz wesentliche Fundgattung der Mittelalterarchäologie ist 41, jedoch im Laufe der Jahre auch andere
Materialgruppen stärker berücksichtigt wurden, wie auch
schon von Fritz Felgenhauer gefordert.
Eine erste Tagung der damaligen Österreichischen
Gesellschaft für Mittelalterarchäologie 1987 in Thaya bot
knapp 20 Jahre nach der Tagung von 1969 noch einmal
einen Überblick über den Stand der Forschung. Einerseits
gab es spezifische Präsentationen zu bestimmten Fundkomplexen und Befundkategorien sowie andererseits eine
ganze Reihe von Vorträgen, die einen Überblick über den
Stand der Mittelalterforschung in den jeweiligen Regionen boten.42 Wiederum überwiegen zahlreiche und sehr
unterschiedliche Kontexte aus der Burgenforschung, der
Stadtarchäologie, der Wüstungsforschung, aber auch der
Sachgutforschung und naturwissenschaftliche Analysen zu
mittelalterlichen Objekten.43
Weitere internationale Tagungen, von denen Impulse
für die Entwicklung einer Mittelalterarchäologie ausgingen, fanden 1992 in York und 1997 in Brügge statt, die
deutlich größer waren 44 als die erste Tagung in Wien oder
die erwähnte in Thaya von 1987. 1994 veröffentliche Roberta Gilchrist als Herausgeberin ein mehrbändiges
Werk, das den damaligen Stand der Forschung zu vielfältigen Fragestellungen darstellte.45 2007–2011 erfolgte eine
weitere Veröffentlichung zu aktuellen Themen in einem
zweibändigen Werk.46
Einen schönen Spiegel des erweiterten Forschungsspektrums bieten zudem die Themen der internationalen Tagungen der Österreichischen Gesellschaft für Mittelalterarchäologie bzw. nun Mittelalter- und Neuzeitarchäologie,
die seit 1996 regelmäßig stattfinden. Wesentlich ist die Fokussierung auf ein bestimmtes Thema, seien es Befundkategorien, wie Klöster (1996), Kirchen (2004), Motten, Hausberge und Turmhügel (2006) oder ländliche Siedlungen
(2008, 2021); zeitliche Fokussierungen wie Kontinuitätsfragen (2000), oder die Konzentration auf die Zeit zwischen
Spätantike und die Jahrtausendwende (2021) oder auf das
19. und 20. Jahrhundert (2022). Es wurden ferner spezifische Fundkategorien wie etwa Glas (2002), „Keramik
und Technik“ (2010), diskutiert. Andere Tagungen befassten sich mit bestimmten Rahmenbedingungen und Praxen
menschlicher Gruppen: „Mensch und Tier im Mittelalter“
(1998), „Lebenswelten im ländlichen Raum“ (2008), dem
„Wert(e)wandel“ von Objekten (2014), der Temporalität
unter dem Titel „Laufzeit/Zeitlauf “ (2016) oder dem „Leben mit dem Tod“ (2018). Damit ist nur ein Ausschnitt der
breiten Palette der heutigen Fragestellungen angerissen.
Hier sei noch einmal betont, dass bei allen Tagungen
der Österreichischen Gesellschaft für Mittelalter (bzw. nun
Mittelalter- und Neuzeitarchäologie) großer Wert daraufgelegt wurde, dass auch Kolleginnen und Kollegen aus
den Nachbarländern und darüber hinaus teilnahmen und
so ein internationaler Austausch stattfinden konnte. Hierin liegt meiner Meinung nach das größte Potential einer
38 Steuer 1997/1998; siehe auch: Theune 2009.
39 Archiv der Österreichischen Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte: Brief vom 20.11.1968 von Fritz Felgenhauer an
Heinrich Koller. Siehe auch die oben zitierte Bemerkung bzgl.
Erkenntnismöglichkeiten von Keramikstudien in Bezug auf kulturhistorische und soziologische Fragen.
40 Siehe Beitrag Thomas Kühtreiber in diesem Band.
41 Siehe Beitrag Karin Kühtreiber in diesem Band.
42 Ladenbauer-Orel 1988/89.
43 Einige Beiträge wurden in Band 3, 1987 der Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich aufgenommen worden, weitere folgten in Band 6, 1990.
44 Untermann 1998.
45 Gilchrist 1994.
46 Graham-Campbell/Valor 2007; Carver/Klápště 2011.
57
Claudia Theune
fruchtbaren Mittelalterarchäologie. Heutige Staatsgrenzen,
die den Rahmen der archäologischen Gesellschaften bilden,
die die Tagungen ausrichten, haben wenig mit mittelalterlichen oder urgeschichtlichen oder neuzeitlichen Territorien zu tun, in denen bestimmte kulturhistorische Kulturerscheinungen verbreitet sind. Es ist daher wesentlich,
vergleichend ähnliche oder auch differierende Befunde,
Funde, Strukturen gemeinsam zu diskutieren. Die Österreichische Gesellschaft hat schon Tagungen gemeinsam mit
dem Arbeitskreis für Keramikforschung (2010) durchgeführt bzw. mit der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit (DGAMN) und der
Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Archäologie des
Mittelalters und der Neuzeit (SAM) (2019). Hier besteht
sicherlich Potential für weitere gemeinsame Tagungen mit
entsprechenden Gesellschaften aus anderen Ländern.
In diesem Zusammenhang seien auch internationale
Assoziationen erwähnt, die sich ganz gezielt europaweit mit
bestimmten Aspekten einer Mittelalterarchäologie auseinandersetzen. Genannt seien die Ruralia, European Association for Medieval and Post-Medieval Archaeology, die
sich explizit dem ländlichen Raum widmet47, während die
Colloques Château Gaillard Forschungsfragen zu Burgen
diskutieren 48, aber auch die lange Jahre unter der Federführung der Archäologie und Denkmalpflege in Lübeck 49
stattfindenden Lübecker Kolloquien zur Stadtarchäologie
im Hanseraum, die in 11 umfangreichen Bänden publiziert wurden und insbesondere stadtarchäologische Untersuchungen erörterten. Erwähnt werden muss in diesem
Zusammenhang noch der International Medieval Congress,
der jährlich in Leeds, Großbritannien, abgehalten wird.
Eine Vernetzung von Archäologinnen und Archäologen auf europäischer Basis geschieht auch durch die Vereinigung Medieval Europe (MERC), die mit der European Association of Archaeologists (EAA) assoziiert ist.50
Auf den jährlich an wechselnden Tagungsorten in Europa
stattfindenden sehr großen Tagungen gibt es immer zahlreiche Sessions, die sich mit mittelalterlichen und neuzeitlichen Themen befassen. Schon die Struktur der Sessions,
bei der die Organisation in der Hand von mindestens zwei
Archäologinnen bzw. Archäologen aus unterschiedlichen
europäischen Ländern liegt, gewährt eine große Internationalität. Die jeweiligen Themen zeichnen sich durch
eine hohe Aktualität aus, der europaweit offene Call for
papers garantiert ein breites Spektrum an Vorträgen, Fallbeispielen, theoretischen und methodologischen Überlegungen und neuen Erkenntnissen, häufig präsentiert durch
Jungwissenschaftlerinnen und Jungwissenschaftler.
Eine Öffnung zu neuen Themen in der Mittelalterarchäologie folgt zudem allgemeinen Trends in den kulturhistorischen Disziplinen. Insbesondere sind hier die verschiedenen sogenannten turns 51 oder die Material Culture
Studies 52 zu nennen, die neue Sichtweisen auf die materiellen Hinterlassenschaften ermöglichten und damit den
Weg für neue Fragestellungen und neue Erkenntnismöglichkeiten frei machten. Einen Impuls für diese Entwicklungen gab auch die Tagung von 1969 in Wien.
47 http://ruralia2.ff.cuni.cz/ [Zugriff: 17.09.2023].
48 http://colloquechateaugaillard.eu/ [Zugriff: 17.09.2023].
49 https://www.luebeck.de/de/stadtleben/kultur/archaeologie-unddenkmalpflege/archaeologie/index.html [Zugriff: 17.09.2023].
50 https://www.e-a-a.org/EAA/Navigation_Communities/MERC.
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