13.01.2022

Gefangen im Auftrag Europas

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Gefangen im Auftrag Europas

Die libyschen Internierungslager für Migranten werden maßgeblich von der EU finanziert

von Ian Urbina

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Am 23. Dezember hat die libysche Regierung den Milizkommandanten Mohammed al-Khodscha zum neuen Chef der Einwanderungsbehörde ernannt. Zuvor war al-Khodscha verantwortlich für eines der berüchtigtsten Migrantengefängnisse des Landes, in dem Vergewaltigungen, Schläge und Erpressungen an der Tagesordnung waren. Jetzt ist al-Khodscha offiziell als neuer Leiter der „Agentur zur Bekämpfung illegaler Einwanderung“ (DCIM) bestätigt und damit zuständig für die etwa 15 Internierungslager auf libyschem Boden.

Die libyschen Behörden nutzen diese Einrichtungen, um jedes Jahr zehntausende Migrantinnen und Migranten festzuhalten. Finanziell unterstützt werden sie dabei von der Europäischen Union. Die meisten der dort festgehaltenen Menschen wurden bei dem Versuch aufgegriffen, in überfüllten Booten das Mittelmeer zu überqueren.

Diese Gefängnisse sind das Ergebnis der EU-Bestrebungen, die Fluchtbewegungen aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa aufzuhalten. Seit Jahren werden viele Millionen Euro in die Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache gesteckt. Damit fungiert diese Grenzschutzorganisa­tion de facto als Stellvertretertruppe für Europa.

Seit einiger Zeit fordern Menschenrechtsaktivisten, Politikerinnen und Wissenschaftler immer dringlicher, die EU müsse ihre Verwicklung in die Menschenrechtsverletzungen auf libyschem Boden überdenken. Deshalb verdient die Ernennung einer Person mit ex­trem umstrittenen Vergangenheit an der Spitze der DCIM besondere Beachtung.

Über Jahre herrschte al-Khodscha über das Tariq-al-Sikka-Gefängnis in Tripolis, ein Ort zahlreicher Verbrechen an tausenden inhaftierten Geflüchteten, die in einer ganzen Reihe von Berichten dokumentiert wurden. Im April 2019 berichtete die Globale Initiative gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, eine NGO mit Sitz in Genf, dass al-Khodscha die Haftanstalt als Basis genutzt habe, um die Kämpfer seiner Miliz auszubilden.1

Im selben Jahr erschien ein Bericht von Human Rights Watch, aus dem hervorgeht, dass dieses Gefängnis als Waffenlager diente; Häftlinge wurden dort gezwungen, die Waffen zu reinigen2 – ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Ein Reporterteam von Associated Press berichtete, ebenfalls 2019, al-Khodscha habe Millionen Euro für seine Miliz abgezweigt, die eigentlich für die Versorgung von Geflüchteten in einer Einrichtung der Vereinten Nationen in Tripolis bestimmt waren.3

Im vergangenen Jahr interviewte Amnesty International mehrere Geflüchtete, die in Tariq al-Sikka festgehalten worden waren. Sie berichteten von Zwangsarbeit, unter anderem auf Baustellen und Feldern.4 In einem weiteren Amnesty-Bericht aus dem Jahr 2020 über die dortigen Zustände erzählte ein Häftling von zwei Mitgefangenen, die an Tuberkulose starben, weil sie keine angemessene Versorgung erhalten hatten.5 Und im März 2020 berichtete der Guardian, al-Khodscha ha­be sich von internierten Migranten Ställe für seine Pferde bauen lassen.6

Milizchef als Leiter der Einwanderungsbehörde

Für Wolfram Lacher, Libyen-Forscher bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, deutet die Ernennung dieses Mannes darauf hin, „dass das missbräuchliche System der Internierungslager, das auf Gewalt und Erpressung beruht, ohne Hoffnung auf Reformen fortbestehen wird“.

Eine Recherche der Journalismus-NGO The Outlaw Ocean Project, die im November 2021 in Zusammenarbeit mit dem New Yorker veröffentlicht wurde, zeigt detailliert auf, wie sogar EU-Gelder, die eigentlich diese Gefängnisse hätten humaner machen sollen, dazu genutzt wurden, ein finsteres und gesetzloses Gefängnis- und Lagersystem aufrechtzuerhalten.7 Der Bericht zeigte auf, was mit den EU-Geldern so alles bezahlt wird, bis hin zu den Leichensäcken für Flüchtlinge, die auf See oder in den Gefängnissen umgekommen sind.

Die EU hat die furchtbaren Zustände in den libyschen Haftlagern, deren Entstehung sie durch ihre Politik gefördert hat, seit Langem eingestanden. Aber sie hat wenig unternommen, um ihre Politik zu ändern oder die Täter in Libyen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Ernennung von al-Khodscha nährt die Zweifel, ob die EU fähig und willens ist, eine effektive Kontrolle über das von ihr mitgeschaffene Gefängnissystem auszuüben. Die Lager sind vor allem deshalb überfüllt, weil die von der EU finanzierte libysche Küstenwache immer effizienter arbeitet. Dabei wird sie in beträchtlichem Maße von Überwachungsdrohnen und -flugzeugen unterstützt, die von Frontex betrieben werden. Die EU-Grenzschutzagentur überwacht das Mittelmeer und gibt die Koordinaten von Flüchtlingsbooten an die libyschen Behörden weiter.

Auch die DCIM, der al-Khodscha jetzt vorsteht, ist ein direkter Empfänger von EU-Geldern. 2019 erhielt die Agentur 30 speziell umgebaute Toyo­ta-­Geländewagen, um Migranten in der Wüste im Süden Libyens abzufangen. Mit EU-Geldern kaufte die DCIM auch zehn Busse, mit denen Geflüchtete nach ihrer Gefangennahme in die Haftlager transportiert werden.

Allerdings hält Mark Micallef, Li­byen-­Experte bei der Globalen Initiative gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, es weder für klug noch für ethisch vertretbar, den vielen Hilfsorganisationen, die in libyschen Haftanstalten lebensrettende Arbeit mit Migranten leisten, das Geld der EU zu entziehen. Er argumentiert, die EU-Beamten mögen vielleicht keine direkte Kontrolle über die Zustände in den libyschen Gefängnissen haben, doch sie könnten mehr Druck auf die libysche Regierung ausüben. Sie brauchten nur weitere Finanzhilfen für die libysche Küstenwache an nachweisliche Verbesserungen knüpfen.

Doch die Europäische Union bewegt sich offenbar in genau die entgegengesetzte Richtung: Anfang Dezember 2021 lieferte Brüssel Computer und moderne Funktechnik nach Libyen, um eine Kommandozentrale auszustatten, die für das Abfangen von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer zuständig ist.8 Im selben Monat bewilligte die EU weitere 1,2 Millionen Euro zum Kauf von Ersatzteilen für zwei Schnellboote der libyschen Küstenwache.9

Ende November forderte Frankreichs Präsident Macron besondere Notfallbefugnisse für Frontex mit der Begründung, Europas Zukunft hänge auch davon ab, wie es seine Grenzen schütze. Er stellte seine Forderung zwei Tage, nachdem mindestens 27 Menschen beim Versuch, den Ärmelkanal zu überqueren, ertrunken waren.

In Libyen besteht eines der größten Probleme darin, dass die Zentralregierung die Kontrolle über die Milizen nur auf dem Papier ausübt. Darauf verweist die Globale Initiative gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität in ihrem Report von 2020, in dem es heißt: „Regierungsbeamte sind gezwungen, Ad-hoc-Machtbefugnisse abzusegnen, die einzig darauf beruhen, welche bewaffnete Gruppe in einem bestimmten Gebiet gerade die Oberhand hat.“10

EU-Geld für Leichensäcke

Auf diese Weise werden von Milizen betriebene Lager formalisiert, und die Anwesenheit von DCIM-Beamten verleiht dem Ganzen einen Anschein von Legi­timität. „Dies eröffnet Personen, die wie etwa al-Khodscha in bewaffnete organisierte Kriminalität verwickelt sind, einen sicheren Weg, offiziell Teil des Staatsapparats zu werden, ob beim Militär, bei den Geheimdiensten oder bei der Regierung“, so der Report weiter.

Federico Soda ist Leiter des Büros der UN-Organisation für Migration in Libyen, die medizinische und andere Hilfe für in Libyen festgehaltene Migranten leistet und dafür Millionen an Hilfsgeldern aus der EU eingesetzt hat. Auf Anfrage meinte Soda, er werde abwarten und sehen, ob al-Khodschas Ernennung von Dauer sei, bevor er sich dazu äußere.

Die jüngste Recherche des Outlaw Ocean Project galt vor allem dem Tod eines jungen westafrikanischen Migranten, der im Lager al-Mabani erschossen wurde. Das Lager ist eines der berüchtigsten Gefängnisse, die der Aufsicht der DCIM unterstehen. In den Tagen nach der Veröffentlichung der Recherche bezeichnete Papst Franziskus die europäische Migrationspolitik als „Schiffbruch der Zivilisation“. Und Parlamentsabgeordnete vieler Länder forderten, die Partnerschaft der EU mit Libyen zu beenden.

Unter der Leitung von al-Khodschas Vorgänger Mabrouk Abd al-Hafiz hatte die DCIM in den letzten Jahren die Internierungslager mit dem übelsten Ruf geschlossen – doch sie wurden alsbald wieder eröffnet oder durch andere ersetzt. Hilfsorganisationen und auch einige libysche Beamte haben eingeräumt, dass die DCIM keine vollständige Kontrolle über diese Lager hat, da fast alle von einer der zahlreichen Milizen betrieben werden.

In Interviews sprach al-Hafiz von Korruption, die sowohl in diesen Milizen als auch innerhalb der libyschen Küstenwache herrsche. Al-Khodscha war über mehrere Jahre hinweg al-Hafiz’ Stellvertreter bei der DCIM. Berichten zufolge habe al-Hafiz jedoch versucht, seinen Vize aus der Agentur hinauszudrängen. Offensichtlich vergebens.

Wissenschaftler und Menschenrechtsaktivistinnen haben auf die Ernennung al-Khodschas ablehnend reagiert. Die libysche Außenministerin Nadschla al-Mangusch versucht hingegen die Aufmerksamkeit auf die EU zu lenken. Libyen sei es leid, bei der Migrationskontrolle nach Europas Pfeife zu tanzen, sagt sie und behauptet, ihr Land habe sich in keiner Weise der Misshandlung von Menschen in seiner Obhut schuldig gemacht: „Bitte zeigen Sie nicht mit dem Finger auf Libyen und stellen Sie uns nicht als ein Land dar, das Flüchtlinge misshandelt und ihnen den Respekt verweigert.“

1 Arezo Malakooti „The Political Economy of Migrant Detention in Libya: Understanding the players and the business models“, Global Initiative Against Transna­tional Organized Crime, Genf, April 2019.

2 „Libya: Detained Migrants at Risk in Tripoli Clashes“, Human Rights Watch, 25. April 2019.

3 „European money spawns more misery for migrants in Libya“, AP, 31. Dezember 2019.

4 „ ‚No one will look for you‘. Forcibly returned from Sea to Abusive Detention in Libya“, Amnesty International, 2021.

5 „New Amnesty International Report Reveals Extent of Refugee Struggles in Libya“, Jubilee Campaign.

6 Sally Hayden, „Libya’s refugees face being cut off from aid due to coronavirus“, The Guardian, 24. März 2020.

7 Ian Urbina, „The Secretive Prisons that Keep Migrants Out of Europe“, New Yorker, 28. November 2021. Der aufsehenerregende Report erschien weltweit in mehreren Sprachen, deutsche Fassung: „Die Verschwundenen von Tripolis“, WOZ, Zürich, 23. Dezember 2021.

8 Gianluca Di Feo, „Nave italiana in Libia per consegnare l’unità anti-scafisti“, La Repubblica, 7. Dezember 2021.

9 Siehe „Contract award notice“, 10. Dezember 2021.

10 Harry Johnstone, Dominic Naish, „Can Libya’s migrant-detention system be reformed?“, Global Ini­tia­tive Against Transnational Organized Crime, Genf, 14. Dezember 2020.

Aus dem Englischen von Jakob Farah

Ian Urbina leitet die Rechercheplattform The Outlaw Ocean Project.

© The Outlaw Ocean Project; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Ian Urbina