Wer von Transformationen spricht, redet üblicherweise von Regimeübergängen; einem kollektiven Übe... more Wer von Transformationen spricht, redet üblicherweise von Regimeübergängen; einem kollektiven Übertreten von einem hinfälligen zu einem als innovativ empfunden Herrschaftstypus. Die Pole sind bekannt und als Idealtypen auch operationalisierbar. Allein über die Ursachen und Verlaufsmuster lässt sich streiten. Dass Transformationen aber produktive und zugleich höchst ambivalente Vorgänge sind, die zur Etablierung völlig neuer Ordnungskonstellationen und Regimelogiken führen können, ist bisher kaum systematisch erforscht worden. Zwar hat die Vergleichende Politikwissenschaft diesem Phänomen einen Namen geben können: hybride Regime. Es ist ihr aber nicht gelungen, eine theoretisch tragfähige Differenzierung zwischen bloßen Übergangsdefiziten und neuen Ordnungsmustern vorzulegen. Der Band will mit Hilfe eines praxeologischen Vokabulars und einer materialreichen Aufarbeitung der türkischen Staatsentwicklung einen Beitrag für ein adäquates Verständnis von Regime-Hybridität leisten.
Das Werk ist Teil der Reihe Weltregionen im Wandel, Band 13.
Leviathan: Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 2018
A fruitful debate in political science on the »politics of legitimation« has focused
on how to be... more A fruitful debate in political science on the »politics of legitimation« has focused on how to best study the creation of legitimacy in the public interplay between justification and critique. Although the strategies of political actors and the associated legitimization practices have been analytically sharpened through this shift, the legitimacy-building effect of narratives remains understudied. In this contribution, we propose a heuristic that both methodologically and theoretically enhances this emerging research field. First, we use the concept of »tests« from Boltanski and Thévenot’s pragmatic sociology to categorize the central contexts and reference points (truth, reality, existentiality) in legitimacy struggles. Second, we adopt methodological reflections from Albrecht Koschorke’s narratology by identifying three elementary practices relevant to narrative legitimation: metaphorization, role construction, and emplotment. The heuristic is applied in a narrative-analytical reconstruction of the surveillance scandal surrounding whistleblower Edward Snowden. The executive, representative, and subversive narrative strategies resulting from the disruption of this political event reveal competing notions of normativity and political order. The results suggest that the heuristic can be applied to other legitimacy-related research fields.
Unter dem Begriff der Legitimitätspolitik hat sich in der Politikwissenschaft eine produktive Debatte darüber entwickelt, wie sich die Erzeugung von Legitimität im öffentlichen Wechselspiel von Rechtfertigung und Kritik angemessen studieren lässt.Obwohl durch diese Verschiebung des Forschungsinteresses die Strategien der politischen Akteure und die damit verbundene Legitimierungspraxis analytisch aufgewertet werden, wird die legitimitätsbildende Wirkung der universalen Kulturtechnik des Erzählens bislang noch unterschätzt. In diesem Beitrag schlagen wir deshalb eine Heuristik vor, die dieses sich entwickelnde Forschungsfeld sowohl theoretisch als auch methodologisch erweitert. Dabei greifen wir erstens auf das Konzept der Prüfung aus der Moralsoziologie (Luc Boltanski/ Laurent Thévenot) zurück, um die zentralen Formate und Referenzwerte (Wahrheit, Realität, Existenz) legitimitätspolitischer Kontroversen berücksichtigen zu können. Zweitens nutzen wir methodologische Überlegungen aus der Narrativforschung (Albrecht Koschorke), indem wir drei elementare Praktiken herausarbeiten, die in diesen Formaten eine besondere Relevanz entfalten können: Metaphorisierungen, Rollenkonstruktionen, kausale Kompositionen in Plot-Strukturen (Emplotment). In einer narrativanalytischen Rekonstruktion der Überwachungskontroverse um den Whistleblower Edward Snowden wird die Heuristik angewendet und in exekutive, repräsentative und subversive Erzählstrategien überführt, wodurch konkurrierende Vorstellungen von Normativität und politischer Ordnung sichtbar werden. Die Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass sich die Heuristik auch auf andere legitimitätspolitische Untersuchungsfelder anwenden lässt.
Die Klage darüber, Deutschland sei zu einer reformunwilligen Konsensrepublik geworden, ist zwar b... more Die Klage darüber, Deutschland sei zu einer reformunwilligen Konsensrepublik geworden, ist zwar bequem, aber wenig zutreffend. Denn sie übersieht, dass der Wille nach politischer Veränderung nach wie vor besteht, wenngleich er in den massenmedialen Diskursen bisweilen untergeht. Dies zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie. Mit den Mitteln der Narrativanalyse gehen die Autoren der Frage nach, wie derzeit bestehende Verhältnisse kritisch hinterfragt werden und wie sich darin progressive Veränderungsanliegen formieren. Das Ergebnis der Studie ist, dass sich vor allem der erzählerische Modus verändert hat, in dem progressive Veränderungsanliegen artikuliert werden. Dies geschieht nicht mehr in ideologischen Begriffen und politischen Kampfstellungen. Vielmehr sind Veränderungsanliegen von dem konkreten Wunsch nach einer pragmatischen Verbesserung der Lebensverhältnisse geprägt. In gewisser Weise drückt sich darin eine neue Form der politischen Bescheidenheit aus, insofern es nicht mehr um die Veränderung oder Überwindung ökonomischer Systemzwänge geht, sondern um die Schaffung von Rückzugsräumen und einer pragmatischen Ausbalancierung von Zwang und Selbstbestimmung. Das Ergebnis beruht auf einer explorativen Studie von fünf Veränderungsnarrativen: „Wie wir leben und arbeiten wollen“ (1), „Die Stadt der Zukunft“ (2), „Die Vielfalt selbstbestimmter Lebensformen“ (3 ), „Das Netz“ (4), „Neue Überschaubarkeit“ (5). In diesen unterschiedlichen Bereichen entfaltet sich verstärkt der Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit, nach Begrenzung eines als uferlos empfundenen Kapitalismus und dem Willen zum Erproben von problemorientierten Handlungsstrategien. Dieser progressive Pragmatismus ist keineswegs apathisch oder politikfern, wie es in vielen pauschalen Gesellschaftsdiagnosen („Generation Merkel“) meist unterstellt wird. Vielmehr werden in den lokalen Kontexten durchaus starke Veränderungsanliegen formuliert und in praktische Perspektiven überführt, wenngleich der zentrale Bezugspunkt dieser Anliegen eben nicht mehr die hohe Politik und Ökonomie ist. Selbst der berechtigte Drang der gesellschaftlichen Mitte, ihren als fragil empfundenen sozialen Status nicht zu verlieren, entspringt weniger einem individuellen Egoismus, sondern einem pragmatischen Verständnis von Sicherheit, das sich an einem überschaubaren und zumindest halbwegs selbstbestimmten Lebensmodell orientiert.
Interpretive political science scholars argue that language does not only describe social realiti... more Interpretive political science scholars argue that language does not only describe social realities but also serves as a medium of their construction. This minimal consensus, however, leaves one crucial question open. What are the techniques on which this construction of the world is based and how do these rhetorical devices bring about their performative effects? In this article we argue that narratives shape social praxis through the process of narration and, in doing so, enable the political dimension of language. A dialogue between political science and literary studies opens a promising avenue for such a research perspective. We introduce the basic narratology of Albrecht Koschorke to develop a methodology for researching political narratives. To illustrate a narrative analysis and to reflect on its methodological difficulties, we examine different narratives about the riots in the UK in 2011.
Der Aufstieg der Legitimitätspolitik. Rechtfertigung und Kritik politisch-ökonomischer Ordnungen (Anna Geis, Frank Nullmeier, Christopher Daase/Leviathan Sonderband 27), 2012
In diesem Vortrag präsentierten wir eine frühe Version unseres PVS-Aufsatzes und stellten uns der... more In diesem Vortrag präsentierten wir eine frühe Version unseres PVS-Aufsatzes und stellten uns der hilfreichen und konstruktiven Kritik.
1 Einleitung
Datenleaks sind zu einem politischen Phänomen geworden. Mit noch unabsehbaren Folgen... more 1 Einleitung Datenleaks sind zu einem politischen Phänomen geworden. Mit noch unabsehbaren Folgen dringen hochgradig brisante Informationen in öffentliche Diskursräume und erlangen dadurch eine ungeahnte Alltagsrelevanz. Davon scheinen derzeit drei Wissensbereiche besonders betroffen zu sein. Erstens wird zunehmend geheimes Staatswissen problematisiert, das bisher selbst demokratischen Prozeduren entzogen war, nun aber über „Umwege“ zur breiten Sichtbarkeit gelangt (NSA-Leaks). Zweitens wird vermehrt privates Finanzwissen geteilt, das eine ebenso große Abscheu vor Einblicken Dritter aufweist (Panama Papers). Und drittens wurde zuletzt auch diplomatisches Verhandlungswissen öffentlich (TTIP-Leaks), das aus Gründen der strategischen Zurückhaltung von Informationen bislang nicht zugänglich war. Nun handelt es sich in diesen Fällen nicht nur um Wissensbereiche, die nur deshalb die Neugierde beflügeln, weil sie im Normalbetrieb der Politik üblicherweise verborgen bleiben. Vielmehr sind darin Geheimnisse enthalten, die die demokratische Identität westlicher Ordnungen betreffen; sei es, weil sie ihre freiheitlichen Selbstbilder (Überwachung), ihre mühsam erarbeiteten Solidaritätsgarantien (Steuerflucht) oder die Prinzipien der Verantwortlichkeit (Intergouvernementalität) zu untergraben drohen. Daher sollte die politische Bedeutung von Datenleaks nicht damit abgetan werden, dass sich hierbei nur spannende Vorfälle in die Öffentlichkeit verirrt hätten. Das Phänomen Datenleaks wirft eher Grundsatzfragen des Politischen auf, insofern es kollektive Sinngebungsprozesse anstößt, die mit Freund- Feind-Identifizierungen operieren und diese mit narrativen Figuren wie Helden und Schurken bespielen: Hat sich etwa nach der Überwindung des Systemkampfes die Freund-Feind-Dichotomie unbemerkt in die Demokratien verlagert? Wie werden die scheinbar unbedeutenden Funktionsträger figuriert, die aus den Geheimhaltungsapparaten diverser Organisationen berichten? Welche Legitimierungszwänge werden im Zuge daran anschließender Kontroversen aufgebaut und verändern sich dadurch die „kulturellen Codierungen“ moderner Demokratien? Das sind nur einige ausgewählte Fragen, die auf die politische Relevanz der Transparenzthematik deuten. [...]
Eine Hinwendung zur Erzählung lässt sich sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in der... more Eine Hinwendung zur Erzählung lässt sich sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis beobachten. Die zentrale Bedeutung von Narrativen in der Sinnvermittlung menschlicher Kommunikation wird kaum noch bestritten. Jedoch ist noch nicht geklärt, welche Implikationen und forschungspraktischen Konsequenzen sich aus dieser Einsicht für die Politikwissenschaft ergeben. Welche Funktion nehmen Narrative in der gesellschaftlichen Verständigung ein? Worin liegt die prägende Kraft von Narrativen für die Politik? Was ist das Politische am Erzählen? Welche erzählerischen Techniken und Praktiken lassen sich besonders bei politischen Akteuren beobachten? Wie unterscheidet sich solch eine Forschungsperspektive von Ansätzen, die Argumente oder Diskurse in den Mittelpunkt stellen? Der vorliegende Beitrag will sich diesen Fragen konzeptionell nähern und so grundlegende Probleme einer politikwissenschaftlichen Narrativanalyse beleuchten. Als vorläufiges Ergebnis wird eine offene Heuristik vorgeschlagen, die den Fokus auf das Narrative für die Politikwissenschaft fruchtbar machen möchte.
In a modernist understanding of democratic governance, urban riots marked by erupting violence sh... more In a modernist understanding of democratic governance, urban riots marked by erupting violence should no longer take place. In the past decade, however, a series of urban riots in Europe and the USA have happened in an age where peaceful compromise is expected. How can it be that riots, such as those in Paris and Baltimore still occur on a seemingly regular basis? What do they tell us about our social foundations of democratic life? Are these puzzling events legitimate acts of resistance or coincidental expressions of criminality? While riots are not a major issue in political science research, prevailing macro-oriented explanations focus on causal push factors such as economic or demographic factors and are less interested in people's everyday life experiences as triggers for social change. Following this, we argue for a micro-oriented perspective which considers not only the government's response, but also unveils the storytelling practices of 'ordinary' protesting actors on the ground. We submit that narrative analysis provides the methodological tools to uncover the complex dynamics of collective sense-making through storytelling at the core of this contention. By completing a comparative analysis of the riots in Paris (2005) and Baltimore (2015), we demonstrate that these legitimacy crises reveal the ambivalent nature of democracy. Our findings are, on the one hand, narratives characterized by a rising post-9/11 obsession with security and tough on crime state policies. On the other hand, corresponding narratives against entrenched cultural phenomena such as racism show that resistance cannot be silenced in democracies.
Wer von Transformationen spricht, redet üblicherweise von Regimeübergängen; einem kollektiven Übe... more Wer von Transformationen spricht, redet üblicherweise von Regimeübergängen; einem kollektiven Übertreten von einem hinfälligen zu einem als innovativ empfunden Herrschaftstypus. Die Pole sind bekannt und als Idealtypen auch operationalisierbar. Allein über die Ursachen und Verlaufsmuster lässt sich streiten. Dass Transformationen aber produktive und zugleich höchst ambivalente Vorgänge sind, die zur Etablierung völlig neuer Ordnungskonstellationen und Regimelogiken führen können, ist bisher kaum systematisch erforscht worden. Zwar hat die Vergleichende Politikwissenschaft diesem Phänomen einen Namen geben können: hybride Regime. Es ist ihr aber nicht gelungen, eine theoretisch tragfähige Differenzierung zwischen bloßen Übergangsdefiziten und neuen Ordnungsmustern vorzulegen. Der Band will mit Hilfe eines praxeologischen Vokabulars und einer materialreichen Aufarbeitung der türkischen Staatsentwicklung einen Beitrag für ein adäquates Verständnis von Regime-Hybridität leisten.
Das Werk ist Teil der Reihe Weltregionen im Wandel, Band 13.
Leviathan: Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 2018
A fruitful debate in political science on the »politics of legitimation« has focused
on how to be... more A fruitful debate in political science on the »politics of legitimation« has focused on how to best study the creation of legitimacy in the public interplay between justification and critique. Although the strategies of political actors and the associated legitimization practices have been analytically sharpened through this shift, the legitimacy-building effect of narratives remains understudied. In this contribution, we propose a heuristic that both methodologically and theoretically enhances this emerging research field. First, we use the concept of »tests« from Boltanski and Thévenot’s pragmatic sociology to categorize the central contexts and reference points (truth, reality, existentiality) in legitimacy struggles. Second, we adopt methodological reflections from Albrecht Koschorke’s narratology by identifying three elementary practices relevant to narrative legitimation: metaphorization, role construction, and emplotment. The heuristic is applied in a narrative-analytical reconstruction of the surveillance scandal surrounding whistleblower Edward Snowden. The executive, representative, and subversive narrative strategies resulting from the disruption of this political event reveal competing notions of normativity and political order. The results suggest that the heuristic can be applied to other legitimacy-related research fields.
Unter dem Begriff der Legitimitätspolitik hat sich in der Politikwissenschaft eine produktive Debatte darüber entwickelt, wie sich die Erzeugung von Legitimität im öffentlichen Wechselspiel von Rechtfertigung und Kritik angemessen studieren lässt.Obwohl durch diese Verschiebung des Forschungsinteresses die Strategien der politischen Akteure und die damit verbundene Legitimierungspraxis analytisch aufgewertet werden, wird die legitimitätsbildende Wirkung der universalen Kulturtechnik des Erzählens bislang noch unterschätzt. In diesem Beitrag schlagen wir deshalb eine Heuristik vor, die dieses sich entwickelnde Forschungsfeld sowohl theoretisch als auch methodologisch erweitert. Dabei greifen wir erstens auf das Konzept der Prüfung aus der Moralsoziologie (Luc Boltanski/ Laurent Thévenot) zurück, um die zentralen Formate und Referenzwerte (Wahrheit, Realität, Existenz) legitimitätspolitischer Kontroversen berücksichtigen zu können. Zweitens nutzen wir methodologische Überlegungen aus der Narrativforschung (Albrecht Koschorke), indem wir drei elementare Praktiken herausarbeiten, die in diesen Formaten eine besondere Relevanz entfalten können: Metaphorisierungen, Rollenkonstruktionen, kausale Kompositionen in Plot-Strukturen (Emplotment). In einer narrativanalytischen Rekonstruktion der Überwachungskontroverse um den Whistleblower Edward Snowden wird die Heuristik angewendet und in exekutive, repräsentative und subversive Erzählstrategien überführt, wodurch konkurrierende Vorstellungen von Normativität und politischer Ordnung sichtbar werden. Die Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass sich die Heuristik auch auf andere legitimitätspolitische Untersuchungsfelder anwenden lässt.
Die Klage darüber, Deutschland sei zu einer reformunwilligen Konsensrepublik geworden, ist zwar b... more Die Klage darüber, Deutschland sei zu einer reformunwilligen Konsensrepublik geworden, ist zwar bequem, aber wenig zutreffend. Denn sie übersieht, dass der Wille nach politischer Veränderung nach wie vor besteht, wenngleich er in den massenmedialen Diskursen bisweilen untergeht. Dies zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie. Mit den Mitteln der Narrativanalyse gehen die Autoren der Frage nach, wie derzeit bestehende Verhältnisse kritisch hinterfragt werden und wie sich darin progressive Veränderungsanliegen formieren. Das Ergebnis der Studie ist, dass sich vor allem der erzählerische Modus verändert hat, in dem progressive Veränderungsanliegen artikuliert werden. Dies geschieht nicht mehr in ideologischen Begriffen und politischen Kampfstellungen. Vielmehr sind Veränderungsanliegen von dem konkreten Wunsch nach einer pragmatischen Verbesserung der Lebensverhältnisse geprägt. In gewisser Weise drückt sich darin eine neue Form der politischen Bescheidenheit aus, insofern es nicht mehr um die Veränderung oder Überwindung ökonomischer Systemzwänge geht, sondern um die Schaffung von Rückzugsräumen und einer pragmatischen Ausbalancierung von Zwang und Selbstbestimmung. Das Ergebnis beruht auf einer explorativen Studie von fünf Veränderungsnarrativen: „Wie wir leben und arbeiten wollen“ (1), „Die Stadt der Zukunft“ (2), „Die Vielfalt selbstbestimmter Lebensformen“ (3 ), „Das Netz“ (4), „Neue Überschaubarkeit“ (5). In diesen unterschiedlichen Bereichen entfaltet sich verstärkt der Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit, nach Begrenzung eines als uferlos empfundenen Kapitalismus und dem Willen zum Erproben von problemorientierten Handlungsstrategien. Dieser progressive Pragmatismus ist keineswegs apathisch oder politikfern, wie es in vielen pauschalen Gesellschaftsdiagnosen („Generation Merkel“) meist unterstellt wird. Vielmehr werden in den lokalen Kontexten durchaus starke Veränderungsanliegen formuliert und in praktische Perspektiven überführt, wenngleich der zentrale Bezugspunkt dieser Anliegen eben nicht mehr die hohe Politik und Ökonomie ist. Selbst der berechtigte Drang der gesellschaftlichen Mitte, ihren als fragil empfundenen sozialen Status nicht zu verlieren, entspringt weniger einem individuellen Egoismus, sondern einem pragmatischen Verständnis von Sicherheit, das sich an einem überschaubaren und zumindest halbwegs selbstbestimmten Lebensmodell orientiert.
Interpretive political science scholars argue that language does not only describe social realiti... more Interpretive political science scholars argue that language does not only describe social realities but also serves as a medium of their construction. This minimal consensus, however, leaves one crucial question open. What are the techniques on which this construction of the world is based and how do these rhetorical devices bring about their performative effects? In this article we argue that narratives shape social praxis through the process of narration and, in doing so, enable the political dimension of language. A dialogue between political science and literary studies opens a promising avenue for such a research perspective. We introduce the basic narratology of Albrecht Koschorke to develop a methodology for researching political narratives. To illustrate a narrative analysis and to reflect on its methodological difficulties, we examine different narratives about the riots in the UK in 2011.
Der Aufstieg der Legitimitätspolitik. Rechtfertigung und Kritik politisch-ökonomischer Ordnungen (Anna Geis, Frank Nullmeier, Christopher Daase/Leviathan Sonderband 27), 2012
In diesem Vortrag präsentierten wir eine frühe Version unseres PVS-Aufsatzes und stellten uns der... more In diesem Vortrag präsentierten wir eine frühe Version unseres PVS-Aufsatzes und stellten uns der hilfreichen und konstruktiven Kritik.
1 Einleitung
Datenleaks sind zu einem politischen Phänomen geworden. Mit noch unabsehbaren Folgen... more 1 Einleitung Datenleaks sind zu einem politischen Phänomen geworden. Mit noch unabsehbaren Folgen dringen hochgradig brisante Informationen in öffentliche Diskursräume und erlangen dadurch eine ungeahnte Alltagsrelevanz. Davon scheinen derzeit drei Wissensbereiche besonders betroffen zu sein. Erstens wird zunehmend geheimes Staatswissen problematisiert, das bisher selbst demokratischen Prozeduren entzogen war, nun aber über „Umwege“ zur breiten Sichtbarkeit gelangt (NSA-Leaks). Zweitens wird vermehrt privates Finanzwissen geteilt, das eine ebenso große Abscheu vor Einblicken Dritter aufweist (Panama Papers). Und drittens wurde zuletzt auch diplomatisches Verhandlungswissen öffentlich (TTIP-Leaks), das aus Gründen der strategischen Zurückhaltung von Informationen bislang nicht zugänglich war. Nun handelt es sich in diesen Fällen nicht nur um Wissensbereiche, die nur deshalb die Neugierde beflügeln, weil sie im Normalbetrieb der Politik üblicherweise verborgen bleiben. Vielmehr sind darin Geheimnisse enthalten, die die demokratische Identität westlicher Ordnungen betreffen; sei es, weil sie ihre freiheitlichen Selbstbilder (Überwachung), ihre mühsam erarbeiteten Solidaritätsgarantien (Steuerflucht) oder die Prinzipien der Verantwortlichkeit (Intergouvernementalität) zu untergraben drohen. Daher sollte die politische Bedeutung von Datenleaks nicht damit abgetan werden, dass sich hierbei nur spannende Vorfälle in die Öffentlichkeit verirrt hätten. Das Phänomen Datenleaks wirft eher Grundsatzfragen des Politischen auf, insofern es kollektive Sinngebungsprozesse anstößt, die mit Freund- Feind-Identifizierungen operieren und diese mit narrativen Figuren wie Helden und Schurken bespielen: Hat sich etwa nach der Überwindung des Systemkampfes die Freund-Feind-Dichotomie unbemerkt in die Demokratien verlagert? Wie werden die scheinbar unbedeutenden Funktionsträger figuriert, die aus den Geheimhaltungsapparaten diverser Organisationen berichten? Welche Legitimierungszwänge werden im Zuge daran anschließender Kontroversen aufgebaut und verändern sich dadurch die „kulturellen Codierungen“ moderner Demokratien? Das sind nur einige ausgewählte Fragen, die auf die politische Relevanz der Transparenzthematik deuten. [...]
Eine Hinwendung zur Erzählung lässt sich sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in der... more Eine Hinwendung zur Erzählung lässt sich sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis beobachten. Die zentrale Bedeutung von Narrativen in der Sinnvermittlung menschlicher Kommunikation wird kaum noch bestritten. Jedoch ist noch nicht geklärt, welche Implikationen und forschungspraktischen Konsequenzen sich aus dieser Einsicht für die Politikwissenschaft ergeben. Welche Funktion nehmen Narrative in der gesellschaftlichen Verständigung ein? Worin liegt die prägende Kraft von Narrativen für die Politik? Was ist das Politische am Erzählen? Welche erzählerischen Techniken und Praktiken lassen sich besonders bei politischen Akteuren beobachten? Wie unterscheidet sich solch eine Forschungsperspektive von Ansätzen, die Argumente oder Diskurse in den Mittelpunkt stellen? Der vorliegende Beitrag will sich diesen Fragen konzeptionell nähern und so grundlegende Probleme einer politikwissenschaftlichen Narrativanalyse beleuchten. Als vorläufiges Ergebnis wird eine offene Heuristik vorgeschlagen, die den Fokus auf das Narrative für die Politikwissenschaft fruchtbar machen möchte.
In a modernist understanding of democratic governance, urban riots marked by erupting violence sh... more In a modernist understanding of democratic governance, urban riots marked by erupting violence should no longer take place. In the past decade, however, a series of urban riots in Europe and the USA have happened in an age where peaceful compromise is expected. How can it be that riots, such as those in Paris and Baltimore still occur on a seemingly regular basis? What do they tell us about our social foundations of democratic life? Are these puzzling events legitimate acts of resistance or coincidental expressions of criminality? While riots are not a major issue in political science research, prevailing macro-oriented explanations focus on causal push factors such as economic or demographic factors and are less interested in people's everyday life experiences as triggers for social change. Following this, we argue for a micro-oriented perspective which considers not only the government's response, but also unveils the storytelling practices of 'ordinary' protesting actors on the ground. We submit that narrative analysis provides the methodological tools to uncover the complex dynamics of collective sense-making through storytelling at the core of this contention. By completing a comparative analysis of the riots in Paris (2005) and Baltimore (2015), we demonstrate that these legitimacy crises reveal the ambivalent nature of democracy. Our findings are, on the one hand, narratives characterized by a rising post-9/11 obsession with security and tough on crime state policies. On the other hand, corresponding narratives against entrenched cultural phenomena such as racism show that resistance cannot be silenced in democracies.
Uploads
Books
Das Werk ist Teil der Reihe Weltregionen im Wandel, Band 13.
Papers
on how to best study the creation of legitimacy in the public interplay between justification and critique. Although the strategies of political actors and the associated legitimization practices have been analytically sharpened through this shift, the legitimacy-building effect of narratives remains understudied. In this contribution, we propose a heuristic that both methodologically and theoretically enhances this emerging research field. First, we use the concept of »tests« from Boltanski and Thévenot’s pragmatic sociology to categorize the central contexts and reference points (truth, reality, existentiality) in legitimacy struggles. Second, we adopt methodological reflections from Albrecht Koschorke’s narratology by identifying
three elementary practices relevant to narrative legitimation: metaphorization, role
construction, and emplotment. The heuristic is applied in a narrative-analytical reconstruction of the surveillance scandal surrounding whistleblower Edward Snowden. The executive, representative, and subversive narrative strategies resulting from the disruption of this political event reveal competing notions of normativity and political order. The results suggest that the heuristic can be applied to other legitimacy-related research fields.
Unter dem Begriff der Legitimitätspolitik hat sich in der Politikwissenschaft
eine produktive Debatte darüber entwickelt, wie sich die Erzeugung von Legitimität
im öffentlichen Wechselspiel von Rechtfertigung und Kritik angemessen studieren lässt.Obwohl durch diese Verschiebung des Forschungsinteresses die Strategien der politischen Akteure und die damit verbundene Legitimierungspraxis analytisch aufgewertet werden, wird die legitimitätsbildende Wirkung der universalen Kulturtechnik des Erzählens bislang noch unterschätzt. In diesem Beitrag schlagen wir deshalb eine Heuristik vor, die dieses sich entwickelnde Forschungsfeld sowohl theoretisch als auch methodologisch erweitert. Dabei greifen wir erstens auf das Konzept der Prüfung aus der Moralsoziologie (Luc Boltanski/ Laurent Thévenot) zurück, um die zentralen Formate und Referenzwerte (Wahrheit, Realität,
Existenz) legitimitätspolitischer Kontroversen berücksichtigen zu können. Zweitens nutzen wir methodologische Überlegungen aus der Narrativforschung (Albrecht Koschorke), indem wir drei elementare Praktiken herausarbeiten, die in diesen Formaten eine besondere Relevanz entfalten können: Metaphorisierungen, Rollenkonstruktionen, kausale Kompositionen in Plot-Strukturen (Emplotment). In einer narrativanalytischen Rekonstruktion der Überwachungskontroverse
um den Whistleblower Edward Snowden wird die Heuristik angewendet
und in exekutive, repräsentative und subversive Erzählstrategien überführt, wodurch konkurrierende Vorstellungen von Normativität und politischer Ordnung sichtbar werden. Die Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass sich die Heuristik auch auf andere legitimitätspolitische Untersuchungsfelder anwenden lässt.
wie vor besteht, wenngleich er in den massenmedialen Diskursen bisweilen untergeht. Dies zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie. Mit den Mitteln der Narrativanalyse gehen die Autoren der Frage nach, wie derzeit bestehende Verhältnisse kritisch hinterfragt werden und wie sich darin progressive Veränderungsanliegen formieren.
Das Ergebnis der Studie ist, dass sich vor allem der erzählerische Modus verändert hat, in dem progressive Veränderungsanliegen artikuliert werden. Dies geschieht nicht mehr in ideologischen Begriffen und politischen Kampfstellungen. Vielmehr sind Veränderungsanliegen von dem konkreten Wunsch nach einer pragmatischen Verbesserung der Lebensverhältnisse geprägt. In gewisser Weise drückt sich darin eine neue Form der politischen Bescheidenheit aus, insofern es nicht mehr um die Veränderung oder Überwindung ökonomischer Systemzwänge geht, sondern um die Schaffung von Rückzugsräumen und einer pragmatischen Ausbalancierung von Zwang und Selbstbestimmung.
Das Ergebnis beruht auf einer explorativen Studie von fünf Veränderungsnarrativen: „Wie wir leben und arbeiten wollen“ (1), „Die Stadt der Zukunft“ (2), „Die Vielfalt selbstbestimmter Lebensformen“ (3
), „Das Netz“ (4), „Neue Überschaubarkeit“ (5). In diesen unterschiedlichen Bereichen entfaltet sich verstärkt der Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit, nach Begrenzung eines als uferlos empfundenen
Kapitalismus und dem Willen zum Erproben von problemorientierten Handlungsstrategien. Dieser progressive Pragmatismus ist keineswegs apathisch oder politikfern, wie es in vielen pauschalen Gesellschaftsdiagnosen („Generation Merkel“) meist unterstellt wird. Vielmehr werden in den lokalen Kontexten durchaus starke Veränderungsanliegen formuliert und in praktische Perspektiven
überführt, wenngleich der zentrale Bezugspunkt dieser Anliegen eben nicht mehr die hohe Politik und Ökonomie ist. Selbst der berechtigte Drang der gesellschaftlichen Mitte, ihren als fragil empfundenen sozialen Status nicht zu verlieren, entspringt weniger einem individuellen Egoismus, sondern einem pragmatischen Verständnis von Sicherheit, das sich an einem überschaubaren und zumindest halbwegs selbstbestimmten Lebensmodell orientiert.
Conference Presentations
Journal Articles
Datenleaks sind zu einem politischen Phänomen geworden. Mit noch unabsehbaren Folgen dringen hochgradig brisante Informationen in öffentliche Diskursräume und erlangen dadurch eine ungeahnte Alltagsrelevanz. Davon scheinen derzeit drei Wissensbereiche besonders betroffen zu sein. Erstens wird zunehmend geheimes Staatswissen problematisiert, das bisher selbst demokratischen Prozeduren entzogen
war, nun aber über „Umwege“ zur breiten Sichtbarkeit gelangt (NSA-Leaks). Zweitens wird vermehrt privates Finanzwissen geteilt, das eine ebenso große Abscheu vor Einblicken Dritter aufweist (Panama Papers). Und drittens wurde zuletzt auch diplomatisches Verhandlungswissen öffentlich (TTIP-Leaks), das aus Gründen der
strategischen Zurückhaltung von Informationen bislang nicht zugänglich war. Nun handelt es sich in diesen Fällen nicht nur um Wissensbereiche, die nur deshalb die Neugierde beflügeln, weil sie im Normalbetrieb der Politik üblicherweise verborgen bleiben. Vielmehr sind darin Geheimnisse enthalten, die die demokratische Identität westlicher Ordnungen betreffen; sei es, weil sie ihre freiheitlichen Selbstbilder (Überwachung), ihre mühsam erarbeiteten Solidaritätsgarantien (Steuerflucht) oder die Prinzipien der Verantwortlichkeit (Intergouvernementalität) zu untergraben drohen. Daher sollte die politische Bedeutung von Datenleaks nicht damit abgetan werden, dass sich hierbei nur spannende Vorfälle in die Öffentlichkeit verirrt hätten. Das Phänomen Datenleaks wirft eher Grundsatzfragen des Politischen auf, insofern es kollektive Sinngebungsprozesse anstößt, die mit Freund-
Feind-Identifizierungen operieren und diese mit narrativen Figuren wie Helden und Schurken bespielen: Hat sich etwa nach der Überwindung des Systemkampfes die Freund-Feind-Dichotomie unbemerkt in die Demokratien verlagert? Wie werden die scheinbar unbedeutenden Funktionsträger figuriert, die aus den Geheimhaltungsapparaten
diverser Organisationen berichten? Welche Legitimierungszwänge werden im Zuge daran anschließender Kontroversen aufgebaut und verändern sich dadurch die „kulturellen Codierungen“ moderner Demokratien?
Das sind nur einige ausgewählte Fragen, die auf die politische Relevanz der Transparenzthematik deuten. [...]
Chapters
Drafts
Das Werk ist Teil der Reihe Weltregionen im Wandel, Band 13.
on how to best study the creation of legitimacy in the public interplay between justification and critique. Although the strategies of political actors and the associated legitimization practices have been analytically sharpened through this shift, the legitimacy-building effect of narratives remains understudied. In this contribution, we propose a heuristic that both methodologically and theoretically enhances this emerging research field. First, we use the concept of »tests« from Boltanski and Thévenot’s pragmatic sociology to categorize the central contexts and reference points (truth, reality, existentiality) in legitimacy struggles. Second, we adopt methodological reflections from Albrecht Koschorke’s narratology by identifying
three elementary practices relevant to narrative legitimation: metaphorization, role
construction, and emplotment. The heuristic is applied in a narrative-analytical reconstruction of the surveillance scandal surrounding whistleblower Edward Snowden. The executive, representative, and subversive narrative strategies resulting from the disruption of this political event reveal competing notions of normativity and political order. The results suggest that the heuristic can be applied to other legitimacy-related research fields.
Unter dem Begriff der Legitimitätspolitik hat sich in der Politikwissenschaft
eine produktive Debatte darüber entwickelt, wie sich die Erzeugung von Legitimität
im öffentlichen Wechselspiel von Rechtfertigung und Kritik angemessen studieren lässt.Obwohl durch diese Verschiebung des Forschungsinteresses die Strategien der politischen Akteure und die damit verbundene Legitimierungspraxis analytisch aufgewertet werden, wird die legitimitätsbildende Wirkung der universalen Kulturtechnik des Erzählens bislang noch unterschätzt. In diesem Beitrag schlagen wir deshalb eine Heuristik vor, die dieses sich entwickelnde Forschungsfeld sowohl theoretisch als auch methodologisch erweitert. Dabei greifen wir erstens auf das Konzept der Prüfung aus der Moralsoziologie (Luc Boltanski/ Laurent Thévenot) zurück, um die zentralen Formate und Referenzwerte (Wahrheit, Realität,
Existenz) legitimitätspolitischer Kontroversen berücksichtigen zu können. Zweitens nutzen wir methodologische Überlegungen aus der Narrativforschung (Albrecht Koschorke), indem wir drei elementare Praktiken herausarbeiten, die in diesen Formaten eine besondere Relevanz entfalten können: Metaphorisierungen, Rollenkonstruktionen, kausale Kompositionen in Plot-Strukturen (Emplotment). In einer narrativanalytischen Rekonstruktion der Überwachungskontroverse
um den Whistleblower Edward Snowden wird die Heuristik angewendet
und in exekutive, repräsentative und subversive Erzählstrategien überführt, wodurch konkurrierende Vorstellungen von Normativität und politischer Ordnung sichtbar werden. Die Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass sich die Heuristik auch auf andere legitimitätspolitische Untersuchungsfelder anwenden lässt.
wie vor besteht, wenngleich er in den massenmedialen Diskursen bisweilen untergeht. Dies zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie. Mit den Mitteln der Narrativanalyse gehen die Autoren der Frage nach, wie derzeit bestehende Verhältnisse kritisch hinterfragt werden und wie sich darin progressive Veränderungsanliegen formieren.
Das Ergebnis der Studie ist, dass sich vor allem der erzählerische Modus verändert hat, in dem progressive Veränderungsanliegen artikuliert werden. Dies geschieht nicht mehr in ideologischen Begriffen und politischen Kampfstellungen. Vielmehr sind Veränderungsanliegen von dem konkreten Wunsch nach einer pragmatischen Verbesserung der Lebensverhältnisse geprägt. In gewisser Weise drückt sich darin eine neue Form der politischen Bescheidenheit aus, insofern es nicht mehr um die Veränderung oder Überwindung ökonomischer Systemzwänge geht, sondern um die Schaffung von Rückzugsräumen und einer pragmatischen Ausbalancierung von Zwang und Selbstbestimmung.
Das Ergebnis beruht auf einer explorativen Studie von fünf Veränderungsnarrativen: „Wie wir leben und arbeiten wollen“ (1), „Die Stadt der Zukunft“ (2), „Die Vielfalt selbstbestimmter Lebensformen“ (3
), „Das Netz“ (4), „Neue Überschaubarkeit“ (5). In diesen unterschiedlichen Bereichen entfaltet sich verstärkt der Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit, nach Begrenzung eines als uferlos empfundenen
Kapitalismus und dem Willen zum Erproben von problemorientierten Handlungsstrategien. Dieser progressive Pragmatismus ist keineswegs apathisch oder politikfern, wie es in vielen pauschalen Gesellschaftsdiagnosen („Generation Merkel“) meist unterstellt wird. Vielmehr werden in den lokalen Kontexten durchaus starke Veränderungsanliegen formuliert und in praktische Perspektiven
überführt, wenngleich der zentrale Bezugspunkt dieser Anliegen eben nicht mehr die hohe Politik und Ökonomie ist. Selbst der berechtigte Drang der gesellschaftlichen Mitte, ihren als fragil empfundenen sozialen Status nicht zu verlieren, entspringt weniger einem individuellen Egoismus, sondern einem pragmatischen Verständnis von Sicherheit, das sich an einem überschaubaren und zumindest halbwegs selbstbestimmten Lebensmodell orientiert.
Datenleaks sind zu einem politischen Phänomen geworden. Mit noch unabsehbaren Folgen dringen hochgradig brisante Informationen in öffentliche Diskursräume und erlangen dadurch eine ungeahnte Alltagsrelevanz. Davon scheinen derzeit drei Wissensbereiche besonders betroffen zu sein. Erstens wird zunehmend geheimes Staatswissen problematisiert, das bisher selbst demokratischen Prozeduren entzogen
war, nun aber über „Umwege“ zur breiten Sichtbarkeit gelangt (NSA-Leaks). Zweitens wird vermehrt privates Finanzwissen geteilt, das eine ebenso große Abscheu vor Einblicken Dritter aufweist (Panama Papers). Und drittens wurde zuletzt auch diplomatisches Verhandlungswissen öffentlich (TTIP-Leaks), das aus Gründen der
strategischen Zurückhaltung von Informationen bislang nicht zugänglich war. Nun handelt es sich in diesen Fällen nicht nur um Wissensbereiche, die nur deshalb die Neugierde beflügeln, weil sie im Normalbetrieb der Politik üblicherweise verborgen bleiben. Vielmehr sind darin Geheimnisse enthalten, die die demokratische Identität westlicher Ordnungen betreffen; sei es, weil sie ihre freiheitlichen Selbstbilder (Überwachung), ihre mühsam erarbeiteten Solidaritätsgarantien (Steuerflucht) oder die Prinzipien der Verantwortlichkeit (Intergouvernementalität) zu untergraben drohen. Daher sollte die politische Bedeutung von Datenleaks nicht damit abgetan werden, dass sich hierbei nur spannende Vorfälle in die Öffentlichkeit verirrt hätten. Das Phänomen Datenleaks wirft eher Grundsatzfragen des Politischen auf, insofern es kollektive Sinngebungsprozesse anstößt, die mit Freund-
Feind-Identifizierungen operieren und diese mit narrativen Figuren wie Helden und Schurken bespielen: Hat sich etwa nach der Überwindung des Systemkampfes die Freund-Feind-Dichotomie unbemerkt in die Demokratien verlagert? Wie werden die scheinbar unbedeutenden Funktionsträger figuriert, die aus den Geheimhaltungsapparaten
diverser Organisationen berichten? Welche Legitimierungszwänge werden im Zuge daran anschließender Kontroversen aufgebaut und verändern sich dadurch die „kulturellen Codierungen“ moderner Demokratien?
Das sind nur einige ausgewählte Fragen, die auf die politische Relevanz der Transparenzthematik deuten. [...]