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ADB:Herzog, Johann Jakob

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Artikel „Herzog, Johann Jakob“ von Friedrich Wiegand in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 268–271, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Herzog,_Johann_Jakob&oldid=- (Version vom 30. Dezember 2024, 02:28 Uhr UTC)
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Herzog: Johann Jakob H. wurde am 12. September 1805 als Sohn einer angesehenen Kaufmannsfamilie in Basel geboren. Früh verwaist, besuchte er erst ein Institut in Neuveville und später das Pädagogium seiner Vaterstadt. Während seiner sechssemestrigen theologischen Studien in Basel übte de Wette den entscheidenden Einfluß auf ihn aus. In Berlin, wohin er mit seinem Freunde Abel Burkhardt gegangen war, schloß er sich Schleiermacher und Neander an. Was ihn an ersteren fesselte, waren weniger die wissenschaftlichen Gedanken als die mächtige Persönlichkeit und die starke Eigenart, welche auch den Schüler in erster Linie nach Selbständigkeit ringen hieß. Hingegen bot Neander seinem früh erwachten Interesse für die Kirchengeschichte reiche Nahrung. Dem Candidatenexamen folgten in Basel rasch die Licentiatur und die Habilitation. Da H. sich bald darauf auch verheirathet hatte, so dauerte ihm die Wartezeit des Privatdocenten in Basel zu lange. Er nahm deshalb 1835 eine provisorische, 1838 die definitive Anstellung als Professor der historischen Theologie an der Akademie in Lausanne an. Der deutsche Gelehrte war so anders geartet als seine französischen Collegen, daß er sich selbst neben einem Alexander Vinet mit Ehren zu behaupten vermochte. Denn er brachte neben staunenswerthem Wissen ein gemüthliches Wesen mit, vermöge dessen er rasch in persönliche Beziehungen zu den Studenten trat. Auch war er mit Glück bestrebt, seine Schüler nicht nur zu kirchenhistorischen Vorlesungen, sondern auch in seinem Hause zu theologischen Uebungen um sich zu versammeln. Die gleichzeitige litterarische Thätigkeit ging von den Interessen des Landes aus. Er vertheidigte Zwingli gegen den Vorwurf des [269] pantheistischen Dualismus, behandelte Calvin in einem mit innerer Theilnahme abgefaßten populären Schriftchen und widmete dem Baseler Reformator Oekolampadius nach einem kleineren Aufsatz die bekannte zweibändige Monographie. Sie ist inhaltlich erschöpfend, von großem Zug in der allgemeinen Anlage und klar in der Darstellung. Daneben verfolgte H. das kirchliche Leben der Schweiz und speciell des Waadtlandes mit regem Interesse. Die in Genf auftretenden Irvingianer beschäftigten ihn nicht minder wie die Conflicte, welche in Zürich über die Berufung von David Friedrich Strauß entstanden. An die Evangelische Kirchenzeitung berichtete er über derartige kirchliche Vorgänge durch mehrere Jahre. An bevorzugter Stelle unter diesen Artikeln stehen seine kritischen Schilderungen des um sich greifenden Darbysmus. Indessen sollte er rasch genug selbst in die kirchenpolitischen Conflicte des Waadtlandes mit hineingezogen werden. Seit den zwanziger Jahren war es auch in der Schweiz gegen den vom 18. Jahrhundert hinübergreifenden Rationalismus zu einer religiösen Erweckung gekommen, die in ihren ersten Anfängen freilich nicht ohne methodistischen Beigeschmack war. Sie hatte von Anfang an den Spott des Pöbels und die Intoleranz der liberalen Regierung gegen sich. Die letztere brachte, um von vornherein alle hierarchischen oder orthodoxen Bestrebungen unmöglich zu machen, durch das Kirchengesetz von 1839 die waadtländische Kirche in eine drückende Abhängigkeit vom Staate und hob zugleich die helvetische Confession als bindende Bekenntnißschrift auf, was die kirchlichen Kreise nicht minder verstimmte. Die Lage verschlimmerte sich, als mit der Revolution von 1845 der Liberalismus dem Radicalismus weichen mußte. Man eiferte mit gleicher Schärfe gegen „Aristokraten“ wie gegen „Methodisten“. Anlaß gegen die letzteren vorzugehen boten die außergottesdienstlichen, wenngleich öffentlichen Gebetsversammlungen, in denen ebensowol das neue religiöse Leben pulsirte wie in ihnen die krankhaften Begleiterscheinungen vornehmlich zu Tage traten. Es kam zu rüpelhaften Straßendemonstrationen unter dem Schutze der Regierung, welche den Geistlichen sogar die Theilnahme an diesen Versammlungen untersagte, während der Große Rath bereits auf Entziehung des Gehaltes bei den Widerstrebenden drang. Und dazu sollten noch diese selben in ihrer persönlichen Freiheit beschränkten Pfarrer am 3. August 1845 von der Kanzel eine Proclamation verlesen, welche eben jene sie schwer drückende demokratische Verfassung öffentlich empfahl. Die durch diese Zumuthung hervorgerufene Separation von 185 Pfarrern wurde der Anlaß zur waadtländischen Freikirche. So lange man die Facultätsmitglieder unbehelligt ließ, hatte H. keinen Anlaß gehabt, zu diesen Vorgängen irgendwie Stellung zu nehmen. Erst als er vom Staatsrath am 17. Februar 1846 zum Mitglied einer neu gegründeten Commission ernannt wurde, welcher Prüfung, Ordination und Anstellung der landeskirchlichen Pfarrer oblag, mußte er sich fragen, ob er durch den Eintritt in diese Commission das Recht der gegenwärtigen radicalen Regierung und ihre brutalen Freiheitsverletzungen sanctioniren dürfe. Er entschied sich für das Gegentheil und lehnte ab, indem er zugleich seine Professur niederlegte. Der Unabhängigkeit der Kirche in ihrer eigenen Angelegenheit brachte H. damals gern seine sociale Stellung zum Opfer, obwol er von Hause aus ein principieller Anhänger der Vereinigung von Staat und Kirche und ein entschiedener Gegner des individualistischen Freikirchenthums war. Deshalb lag es ihm auch durchaus fern, mit seinem alten Freunde Vinet in die waadtländische Separation einzutreten. Lieber ging er vielmehr auf die Wünsche seines Freundes Tholuck ein, der ihn für Preußen zu gewinnen suchte. Binnen Jahresfrist erhielt er denn auch schon einen Ruf [270] nach Halle, und im Herbst 1847 siedelte er als Professor der Kirchengeschichte und neutestamentlichen Exegese dorthin über.

In die sieben Jahre seiner Halleschen Thätigkeit fallen Herzog’s Arbeiten über die Waldenser. Das Interesse für dieselben hatten ihm zwei in Lausanne studirende Piemontesen eingeflößt. Er unterwarf die älteste Litteratur der Waldenser einer Kritik, deren Ergebniß war, daß die wichtigen Schriften vom Antichrist, vom Fegefeuer, vom Anrufen der Heiligen, sowie der Katechismus und das Glaubensbekenntniß vom 12. in das 16. Jahrhundert herabgerückt werden mußten. Reisen durch die europäischen Bibliotheken, besonders nach Genf und Dublin, vermehrten in wünschenswerther Weise den Bestand des Quellenmaterials, so daß er den Ertrag dieser Forschungen, von kleineren Artikeln abgesehen, 1858 in einem abschließenden größeren Werke niederlegen konnte. Im Gegensatze zu Dieckhoff, der ihm mit einer gleichen Darstellung um zwei Jahre zuvorgekommen war, scheidet er in den waldensischen Schriften zwischen einer kleineren älteren Schicht und der großen Masse von Originalen bezw. Bearbeitungen, welche der husitischen oder gar erst der reformatorischen Bewegung ihren Ursprung verdanken. Und er constatirt dieser Scheidung entsprechend, daß das Waldenserthum trotz seines Biblicismus den mittelalterlich-katholischen Boden doch erst unter dem Einflusse von Hus bezw. der Reformatoren verlassen hat.

Wenn H. trotz der angenehmen Verhältnisse in Halle und ungeachtet seiner Freundschaft mit Tholuck und Julius Müller gleichwol 1854 einen Ruf nach Erlangen annahm, so gab diesmal die Aussicht auf eine ausgesprochen reformirte Professur, welche Herzog’s confessionellen Wünschen besser entsprach, den Ausschlag. Der specifisch schweizerischen und der wissenschaftlich waldensischen Periode reiht sich die encyklopädische Periode im Leben Herzog’s an. Bereits von verschiedenen Seiten war erwogen worden, wie der Ertrag der wissenschaftlichen Forschung seit dem Erwachen des kirchlichen Lebens in einem großen theologischen Sammelwerke festgelegt werden könne; indessen hatte die Ungunst der politischen Verhältnisse diesen Gedanken immer wieder zurückgedrängt. Dazu war Schneckenburger, den man für die Leitung anfangs in Aussicht genommen hatte, unerwartet früh gestorben. Tholuck brachte nunmehr seinen Freund H. in Vorschlag, der Alles zu besitzen schien, was zu einer solchen Aufgabe nöthig war: wissenschaftliche Productivität bei sicherem Urtheil und vielseitigem Wissen, confessionelle Weitherzigkeit neben energischer Geltendmachung seines kirchlich positiven und gläubigen Standpunktes, dazu eine reiche Fülle von persönlichen Beziehungen, welche der liebenswürdige Mann geschickt zu pflegen wußte. Somit konnte man wagen, das Werk in Angriff zu nehmen. Den ersten Band dieser „Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“ hat H. noch 1854 in Halle herausgegeben, der 22. erschien 1868 in Erlangen. H. hat zu dieser ersten Auflage von sich aus über fünfhundert Artikel beigesteuert und es noch erlebt, daß eine zweite Auflage nöthig wurde, welche er mit Unterstützung erst von Gustav Plitt, dann von Albert Hauck[WS 1] in den Jahren 1877–1882 bis zum zehnten Bande fördern konnte. Gleichwol fand er in den Erlanger Jahren noch Zeit für eine Fülle von kleineren Aufsätzen, Vorträgen und Predigten. Zeigte indessen schon das Bedürfniß die Redactionsgeschäfte der zweiten Auflage der Encyklopädie mit einer jüngeren Kraft zu theilen die Abnahme der Leistungsfähigkeit bei H., so stand erst recht sein gleichzeitig unternommenes „Lehrbuch der Kirchengeschichte“ nicht mehr auf der Höhe. Ein Schlaganfall gab ihm den Anlaß, sich vom Katheder zurückzuziehen; das neue litterarische Unternehmen sollte ihm ein Ersatz für die mangelnde Lehrthätigkeit sein. Dasselbe hat in drei Bänden seinen Abschluß [271] erreicht, blieb aber um seines compilatorischen Charakters willen ohne alle Bedeutung und veraltete sofort. Es ist eben doch nicht jedem Specialforscher beschieden, auf der Höhe seines Lebens einen Ueberblick über das ganze Gebiet in seiner vollen Weite zu gewinnen. Am 30. September 1882 endigte nach mehrmonatlicher Krankheit der Tod ein Gelehrtenleben, das ebenso geordnet verlaufen war, wie es harmonisch abschloß; Gattin, Sohn und Tochter trauerten an Herzog’s Grabe.

Herzog’s Schriften aus Basel und Lausanne: „Dissertatio exegetica de loco Paulino Rom. 3, 21–31“, Basil. 1830; „Johannes Calvin, eine biographische Skizze“, Basel 1843; „Das Leben Oekolampad’s und die Reformation der Kirche zu Basel“, 2 Bde. Basel 1843. – Aus Halle: „De origine et pristino statu Waldensium secundum antiquissima eorum scripta cum libris Catholicorum eiusdem aevi collata“, Halis 1848; „Die romanischen Waldenser, ihre vorreformatorischen Zustände und Lehren, ihre Reformation im 16. Jahrhundert und die Rückwirkungen derselben, hauptsächlich nach ihren eigenen Schriften dargestellt“, Halle 1853. – Aus Erlangen: „Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“, 22 Bde. Hamburg (Gotha) 1854–68. 2. Aufl., 18 Bde. Leipzig 1877–88 (Bd. 10 1882); „Abriß der gesammten Kirchengeschichte“, 3 Theile. Erlangen 1876–1882; Ergänzungsheft: „Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts von G. Hoffmann“, 1887; „Die Rückkehr der vertriebenen Waldenser in ihre Thäler im J. 1689“ (Sechs Vorträge gehalten zum Besten der Herberge zur Heimath in Nürnberg). Erlangen 1876.

Biographische Artikel über Herzog von F. Sieffert in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1883, Nr. 31 und in der Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 18; 3. Aufl., Bd. 7.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Albert Hauck (1845–1918), Professor der Kirchengeschichte in Erlangen.