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Frauenrechte in der Türkei

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Dieser Artikel schildert die soziale und politische Situation der Frauen in der Türkei. Obwohl in den letzten Jahrzehnten zahlreiche gesetzliche Verbesserungen hinsichtlich der Menschenrechte der weiblichen Bevölkerung durchgeführt wurden und damit einer rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen sehr nahe gekommen wurde, erfährt ein großer Teil der Türkinnen im täglichen Leben massive Benachteiligung und Unterdrückung.

Frauenrechte im Osmanischen Reich

Frauen waren im Osmanischen Reich, besonders ab dem 16. Jahrhundert, starken staatlichen Repressionen ausgesetzt. Die theokratische osmanische Herrschaft kontrollierte durch den Erlass detaillierter Verordnungen das tägliche Leben, etwa durch Kleidungsvorschriften, Regelungen über das Verhalten der Frau außerhalb des Hauses sowie in der Ehe.[1] Genauso war auch der Zugang zu Bildung für Frauen sehr eingeschränkt, ihnen stand lediglich der Zugang der Grundschule bis zum 9. Lebensjahr offen. Eine Ausnahme waren die Töchter aus reicheren Familien, denen die Erziehung durch Privatlehrer frei stand. Der Besuch einer höheren geistlichen Schule (Medrese) stand nur den Jungen zur Verfügung.[1]

Außerdem waren jegliche politische Funktionen ausschließlich Männern zugänglich. Im 19. Jahrhundert kam es zu einigen wichtigen positiven Veränderungen im Zuge der Tanzimat-Reformen, welche die Osmanische Regierung 1839 durchführen ließ. In den Bereichen Bildung, Erb- und Eheleben wurde dadurch der Handlungsfreiraum der Frauen erweitert.

Anfang des 20. Jahrhunderts schlossen sich einige vom damaligen Sultan abgesetzte und ins Exil gedrängte osmanische Parlamentarier und deren Anhänger zusammen, worauf in der Folge 1908 die Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung erzwungen werden konnte. Im Rahmen dieser zweiten Konstitutionellen Periode (Mesrutiyet), unter dem Einfluss der Jungtürken, gab es Bestrebungen, Frauen mehr Rechte anzuerkennen.[1]Unter anderem kam es zu folgenden juristischen Erneuerungen: das Mindestheiratsalter wurde bei Frauen mit 17 Jahren festgeschrieben, bei Männer mit 18 Jahren; Frauen können von nun ab im Ehevertrag festlegen, dass der Ehemann keine zweite Frau heiraten darf; außerdem haben sie das Recht auf Scheidung.[1]

Frauenrechte in der Republik Türkei

In der Republik, die nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und dem Türkischen Befreiungskrieg am 29. Oktober 1923 offiziell ausgerufen wurde, kam es zu einschneidenden rechtlichen Veränderungen für die Lage der Frauen.

Kemalistische Prinzipien

Mustafa Kemal Atatürk setzte klare Richtlinien fest nach denen der neue Nationalstaat aufgebaut werden sollte. Ihm ging es dabei in erster Linie um die Erreichung zweier Ziele: Erstens die Errichtung eines unabhängigen starken Staates und zweitens die Modernisierung aller Lebensbereiche. Dazu entwickelte er und seine Berater (vor allem Ziya Gökalp) das Konzept von sechs leitenden Prinzipien: „Republikanismus“, „Nationalismus“[2], „Populismus“[3], „Säkularismus“, „Etatismus“[4] und „Revolutionismus“[5], auf die die kemalistische Republik aufgebaut werden sollte. Verteidiger dieser Elemente war seit Staatsgründung bis in die heutige Zeit das Militär, das phasenweise sogar putschte, um die Vorstellungen Atatürks zu bewahren. Diese zeigten sich primär durch Abschaffung des bis dahin seit dem Jahr 1917 geltenden Bürgerlichen Gesetzbuches (Mecelle), welches sich weitgehend auf islamische theokratische Regelungen stützte (Sharia) und durch dessen Ersetzung durch eine neue Zivilrechtsordnung, die nach dem Muster des Schweizer Zivilgesetzesbuchs entwickelt wurde.[1]. Diese Erneuerung hatte für das Leben der türkischen Frauen weitreichende Konsequenzen. Nahezu jeder Bereich des täglichen Lebens wurde durch die Abschaffung des alten osmanischen Rechts und der Einführung der neuen Gesetze rechtlich neu gestaltet

So wurde beispielsweise die Polygamie verboten, die Zivilehe zur Norm erhoben, beiden Ehepartnern das Scheidungsrecht zuerkannt, und die weiblichen Rechte den männlichen im Erbrecht, im Eigentumsrecht und im Vormundschaftsrecht angeglichen.[6] Im Sinne des laizistischen Prinzips des Kemalismus wurde eine strenge Trennung von religiösen Aspekte des türkischen Lebens und den politischen Angelegenheiten durchgesetzt. Außerdem wurden die Bildungsstätten säkular erneuert und die höheren Schulen erstmals auch für Frauen geöffnet.[6]

Das Neue Zivilgesetzbuch

Dennoch ist es wichtig zu erwähnen, dass durch die Übernahme des Schweizer Zivilrechts neben den vielen rechtlichen Verbesserungen für die weibliche Bevölkerung gleichzeitig aber auch eine patriarchalisch geprägte Grundstruktur übernommen wurde, die in vielen Punkten zwar positiver als die bis dahin geltende auch sehr patriarchalischen islamische Richtlinien zu werten war, in einigen anderen Bereichen jedoch das auf die Sharia gestützte 1917 erneuerte Familienrecht der Osmanische Rechtsordnung an Einschränkungen der weiblichen Handlungsfreiheit noch übertraf. So wurde beispielsweise im neuen Zivilrecht das Mindestheiratsalter der Frauen von 17 auf 14 Jahre heruntergesetzt.[1] Außerdem wurde auch festgeschrieben dass die Frauen zwar arbeiten gehen durften, dies jedoch nur mit Zustimmung ihrer Väter oder Ehemänner.[1] Im gesamten (damaligen Schweizer und türkischen) Zivilrecht wird der Mann als Oberhaupt der Familie definiert und diesem weitaus mehr Entscheidungsmacht als den weiblichen Verwandten in vielen Lebensbereichen zugesprochen, eine vollkommene Rechtsgleichheit zwischen den Geschlechtern wurde dementsprechend zu dieser Zeit nicht erreicht.

Obwohl Mustafa Kemal in zahlreichen Reden seinen Willen betonte, den Frauen die gleichen Rechte im familiären und beruflichen Leben zu verschaffen zu wollen, blieben viele Ungerechtigkeiten bestehen: unter anderem das Verbot des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen. So untersagte Mustafa Atatürk 1923 die Gründung einer Frauen-Volkspartei (Kadinlar Halk Firkasi), mit der Erklärung, Frauen hätten kein Anrecht auf politische Mitbestimmung. Es wurde den Initiatorinnen angeraten, sich alternativ in einem Verein zusammenzuschließen.[1]

Symbolismus und Modernismus

Es erscheint daher nicht abwegig zu sein, die politischen Handlungsweisen Kemal Mustafas als den Versuch zu interpretieren, sich unter den Blicken europäischer und amerikanischer BeobachterInnen modern und liberal zu zeigen. Die Ausweitung der Rechte der türkischen Frauen stellt (dieser Deutungsweise zufolge (Gündüz, Ekici)) für Mustafa Atatürk nicht primär ein geeignetes Mittel zur Erreichung der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern dar, sondern in erster Linie die Möglichkeit nach außen hin modern und fortschrittsgläubig erscheinen zu können. Ein weiterer Grund für Atatürks Betonung der weiblichen Rechte (besonders das auf Bildung) war, dass er für eine erfolgreiche, langfristige Modernisierung des Landes eine fortschrittliche Erziehung der Kinder als unverzichtbar erkannte. Frauen sollten vermehrt Bildung genießen dürfen, weil die Einstellung und Kompetenzen der späteren türkischen BürgerInnen seiner Meinung nach großenteils von der erzieherischen Qualifikation der Mütter und Lehrerinnen abhing.

“On the Place and Duty of the Turkish Woman: With our people in the past, woman won a high measure of importance. As history will testify readily, our great ancestors and their mothers exhibited really great virtues. Of these virtues which we can enumerate here in many respects, the greatest and the most important was the fact of their rearing worthy children. Indeed the Turkish people’s achievement of great power and brilliant deeds all over the world, not only in Asia but in Europe too. This was owing to the fact that such a worthy ancestors as theirs reared virtuous children all the time and implanted in their minds unfailingly principles of valour and virtue. Here I want to state that our women, apart from their share of the general duties, are obliged to fulfil a task most important, most beneficent most virtuous to their kind: the task of being a good mother…For mothers of today it is a must to be equipped with all the good qualities needed in order to bring up knowledgeable children so as to make them active participants in today’s life. That is why our women have to be well informed, experienced, and learned, even more than our men. They have to be so if they really want to be the mothers of the country.” (Atatürk zit. n. [7])

Atatürks Fokus lag demzufolge einerseits auf der Bildung nationalistisch-geprägter, fortschrittsgläubiger Mütter und Erzieherinnen zum Zwecke der langfristigen Modernisierung des Staates sowie auf der Selbstdarstellung als moderne, laizistische und liberale Republik (gestärkt durch das taugliche Symbol der erweiterten Frauenrechte). [6]

Politische Partizipation von Frauen

Als wichtiger Schritt in Richtung einer realen Gleichstellung der Geschlechter gilt die Erlangung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts in den Jahren 1930 und 1934.

Die Zahl der ab 1935 tatsächlich ins türkische Parlament gewählten weiblichen Abgeordneten ist jedoch bis heute eher gering ausgefallen. Das höchste Maß an Repräsentation in der Türkischen Großen Nationalversammlung wurde ganz zu Beginn, im Jahr 1935 mit 18 Sitzen erreicht, das entspricht 4,6 % der Wahlstimmen.

Wahljahre Anzahl der Frauen Abgeordnete Frauen in Prozent
1935 18 395 4,6%
1943 16 435 3,7%
1950 3 487 0,6%
1965 8 450 1,8%
1973 6 450 1,3%
1983 12 400 3,0%
1991 8 450 1,8%
1999 22 550 4,0%

(Quelle: Gündüz 2002:89)

Die angeführte Tabelle verdeutlicht die relativ geringe Repräsentation der Frauen im parlamentarischen Entscheidungsgremium. Die Sozialwissenschaftlerin Zuhal Yesilyurt Gündüz nennt in ihrem Werk „Die Demokratisierung ist weiblich. Die türkische Frauenbewegung und ihr Beitrag zur Demokratisierung der Türkei“ folgende Gründe für geringe politische Präsenz von Frauen in der Großen Nationalversammlung:

Die klientelistische Struktur der Politik in der Türkei neige ihrer Meinung nach zur Bildung von Männerbündnissen, die den Informationsfluss kontrollieren und Frauen den Zugang zu hohen politischen Ämtern erschweren. Außerdem sind die Konsequenzen des Jahre langen Ausschlusses von Frauen auf allen Ebenen der offiziellen Politik, gestützt auf die Begründung, dass die weibliche Natur zu hoher politischen Arbeit nicht geeignet sei, noch immer stark spürbar, was sich einerseits auf das Wahlverhalten der Türkinnen und Türken andererseits aber auch auf den Willen zur politischen Partizipation der Frauen selbst auswirke. Diese arbeiten oft (auch auf Grund des erlebten Ausschlusses) lieber auf der Ebene nicht-staatlicher, kleinerer politischer Organisationen.

Die Politikwissenschafterin Sirvan Ekici nennt darüber hinaus auch noch das Problem, der Doppelbelastung: obwohl der türkischen Frau formell der Zugang zu politischen Ämtern frei steht, wird sie noch immer hauptsächlich dem privaten, familiären Bereich zugeordnet und für die Erziehung der Kinder und die Führung des Haushaltes als allein verantwortlich angesehen. Außerdem hängt ihre Handlungsfreiheit durchgehend durch alle Einkommensschichten und Altersklassen oft noch von der Zustimmung der männlichen Verwandten (hier besonders die des Ehemannes und Vaters) ab.

Öffnung zur Mehrparteiendemokratie

Bis 1946 ließ Kemal Mustafa keine andere Partei neben seiner Republikanischen Volkspartei (CHP) zu Wahlen zu. Ab dann hatten auch die Oppositionsparteien die Möglichkeit demokratisch an Macht zu gewinnen. Entgegen des in der Zeit der Ausrufung der Republik stark repressiven Umgangs mit religiösen Institutionen schlug Atatürks Volkspartei ab der Mitte der 40er Jahre einen anderen Weg ein. Sie erkannte, dass ihre strenge Religionspolitik die muslimischen Autoritäten nicht geschwächt, sondern im Gegenteil ihren Einfluss auf die Bevölkerung durch deren Abdrängung in den Untergrund erhöht hat. Ab 1946 führte sie den bis dahin verbotenen Religionsunterricht wieder ein, sowie die Pilgerfahrt und räumte der Ausbildung von Prediger, Theologen und Vorbetern Priorität ein.

In den 60er und 70er Jahren bildete sich in der Türkei eine starke Studentenbewegung, deren Hauptaugenmerk auf den Unterschieden und Ungerechtigkeiten zwischen den Gesellschaftsklassen gerichtet war. Auch die zu der Zeit sehr massiven Benachteiligungen der Frauen im öffentlichen und privaten Leben wurden diskutiert, der Fokus der politischen Auseinandersetzung lag jedoch auf dem Gefälle zwischen den Klassen hinsichtlich der Bildungs-, Arbeit- und Einkommensmöglichkeiten und nicht auf den unterschiedlichen Rechten und Chancen der Geschlechter. Doch die Mitarbeit in primär marxistisch motivierten Studierendenzirkel war auch für die Stärkung der Frauenbewegung von großen Nutzen: neben ihrem Politisierungspotential stellten sie die Möglichkeit dar, die politischen Mobilisations- und Argumentationsfähigkeiten der Frauen zu fördern. Die türkischen MarxistInnen sahen die weit reichende Unterdrückung der Frauen in der sozio-ökonomischen Rückständigkeit des Landes und der ungerechten Verteilung der Reichtümer begründet.[6] Daher war es ihr primäres Ziel die wirtschaftlichen Disparitäten in der Türkei zu vermindern, wonach sich ihrer Meinung nach die Probleme der Frauen mit der Zeit von alleine erledigen würden.

Entpersonalisierung und Entsexualisierung

Eine auffallend ähnliche Herangehensweise innerhalb vieler linker, gesellschaftskritischer Organisationen und der etablierten liberal-konservativen Abgeordneten war die männlich Ablehnung bzw. Verleugnung der Sexualität weiblicher Mitglieder. Die weiblichen Mitstreiterinnen konnten politisch nur dann überleben, wenn sie ihre eigene sexuelle Identität verdeckten und die Rolle der Mutter oder Schwester (baci) annahmen, deren nach außen hin betonte Asexualität den Männern die Unsicherheit im Zusammenhang mit den eigenen sexuellen Wünschen und Phantasien nehmen sollte.[6]

Die Sozialwissenschaftlerin Zuhal Yesilyurt Gündüz meint, dass sozio-kulturelle strukturierende Elemente wie beispielsweise die Jahrhunderte lange Geschlechtertrennung im Arbeits-, Bildungs- und familiären Situationen oder auch die Verschleierung nur dann zu verstehen sind, wenn deren tiefer liegende Funktionen betrachtet werden. Der Zweck der geschlechtsspezifischen Restriktionen ist die absolute Kontrolle über die weibliche Sexualität. „Frauen sind Mechanismen für den Schutz der kulturellen Grenzen der Gemeinschaft. Folglich sind sie die Wächter und sozialen und biologischen Träger der Tradition, der Gemeinschaft und der kollektiven Identität.“[6]

Frauen werden demzufolge nicht in erster Linie als individuelle Persönlichkeiten gesehen, sondern als Trägerinnen einer Gruppenidentität, die unter allen Umständen geschützt werden muss. In der islamischen Lehre wird der Mann als Spender der Lebenskraft (Samen) gesehen, die ihm die göttliche Macht gegeben hat.[6]

„Die Frau dagegen ist das Land, auf den der Samen gelegt wird. Der Frauenkörper symbolisiert das Haus des Mannes, das Dorf, die Nation. Daher muss die Frau verschlossen werden durch eine Verhüllung, die zeigt, dass sie, genauso wie das Haus, Dorf oder die Nation, geschützt wird und einen Besitzer hat. Folglich schlägt die Entschleierung der Frauen auf den Kern der tief sitzenden Ideen über die persönliche, Gruppen- und nationale Identität. So wird der Frauenkörper mit politischer Bedeutung beladen, da der Islam auf sie die Bürde auferlegt, die Gruppenidentität zu tragen.“[6]

Dementsprechend wird eine Frau mit Schleier als „geschlossen“ (kapali) bezeichnet, ist ihr Kopf unbedeckt gilt sie als „offen“ (acik), was auch ihre Verfügbarkeit gegenüber Männer impliziert. Der Vater in streng islamischen Familien gibt die Kontrolle über die weibliche Sexualität nach der Heirat seiner Tochter an deren Ehemann weiter. Spiegelbildlich muss die gesellschaftliche Ordnung vor der weiblichen Sexualität geschützt werden, da durch diese das Entstehen von Chaos befürchtet wird. Daher wirkt die Verschleierung der Frauen auf zwei Ebenen: einerseits soll die Keuschheit und Unberührbarkeit der Frau gegenüber den Männern signalisiert und bewahrt werden und zweitens sollen die Männer durch den Schleier vor der weibliche sexuellen Attraktivität und Gefahr geschützt werden.[6]

Individuelle Sexualität als gesellschaftliches Gut

Durch die Kontrolle der Keuschheit der Frauen durch Familienangehörige, lange Zeit auch durch gerichtlich legitimierte Institutionen sowie im Rahmen des kulturellen religiösen Lebens, wird der Frau die eigenmächtige Verfügung über ihre Sexualität und ihren Körper entzogen. So war bis März 1999 den Gerichten die Möglichkeit gegeben, Frauen, die dem gerichtliche Urteil zufolge Ehebruch begangen hatten, Gefängnisstrafen zu erteilen, außerdem konnten Mädchen und junge Frauen in Staatschulen und Waisenheimen Jungfräulichkeitstests unterzogen werden.[6]

„In der Hochzeitsnacht blutete ich nicht. Mein Mann schnitt sich in den Finger, so dass Blut auf dem Laken war. Am nächsten Morgen brachte er mich direkt zum Arzt, um mein Jungfernhäutchen untersuchen zu lassen. Obwohl das Jungfernhäutchen intakt war, behandelt er mich manchmal in sehr herablassender Weise. Bis heute wusste ich nicht, dass es für manche Frauen normal ist, nicht zu bluten.“ (Bericht einer Teilnehmerin eines Frauenrechtsprojektes, zit. nach [8])

Die türkische Frau wird zu dem gemacht was sie nach streng islamischer Auffassung darzustellen hat: eine Trägerin der allgemeinen Gruppenidentität und daher Objekt gesellschaftlicher Interessen. Sie stellt damit immer die Gefahr dar durch Regelverstöße gegen die gewohnheitsrechtlichen geschlechterspezifischen Bestimmungen die Ehre (namus) der Gruppe (Familie, Dorf, Nation) zu beschmutzen.[6] Meistens werden Ehrverletzungen von Verwandten dann wahrgenommen, wenn weibliche Verhaltensweisen nicht dem gesellschaftlichen Ideal (Jungfräulichkeit, Keuschheit, Sittlichkeit) entsprechen. In der Folge verlangt der streng orthodoxe Ehrenkodex als einzige Lösung die Rache (Ermordung oder Misshandlung) an der, des Normbruches bezichtigten Frau.

Verbrechen im Namen der „Ehre“

Ein Problem bei einer eingehenden Untersuchung von Gewaltverbrechen gegen Frauen ist das Fehlen genauer statistischer Informationen über Ausmaß und regionale Konzentration.[8] Das liegt einerseits daran, dass viele Gewalthandlungen, die in diesen Tatbestand fallen, vertuscht werden und von Tätern oder sogar von Familienangehörigen des Opfers als Selbstmorde getarnt werden, und daher schwer zu erfassen sind. Außerdem fehlt es noch immer am Willen der staatlichen Institutionen (Exekutive und Justiz) der Kriminalität gegen Frauen ausreichend nachzugehen und entgegenzuwirken.

„Versuche, die Anzahl der „Verbrechen aus Ehre“ in der Türkei festzustellen, geben nicht das wahre Ausmaß wider. So wird etwa im Jahresbericht des Türkischen Menschenrechtsvereins geschätzt, dass von 77 Frauen, die 2003 durch die Hand von Familienmitgliedern starben, 40 so genannten „Verbrechen aus Ehre“ zum Opfer fielen. Viele Todesfälle werden jedoch gar nicht bekannt, Morde werden als Selbstmorde dargestellt und von den Familien vertuscht; und Frauen werden gezwungen oder veranlasst, sich selbst umzubringen. Da die Behörden es häufig an einer gründlichen Untersuchung des gewaltsamen Todes von Frauen mangeln lassen, ist jeder Versuch, solche Verbrechen vollständig zu erfassen, zum Scheitern verurteilt.“[8]
Ehrenmorde betreffen alle Schichten und alle Altersgruppen. In den meisten Fällen ist der Täter der Bruder des Opfers. Oft [erhalten] die Angeklagten mildere Strafen, wenn ihre Opfer allein stehend und schwanger waren.“[9]

Ein großes Problem in diesem Zusammenhang ist die oft unzureichende staatliche Verfolgung solcher Verbrechen. So stellen Staatsanwaltschaft und Polizei oft die Ermittlungen ein, wenn der Verdächtige den Anschuldigungen widerspricht. Auch werden Frauen, die Opfer von Gewalthandlungen geworden sind und diese anzeigen wollen in vielen Fällen dazu angehalten, nach Hause zurückzukehren und „Frieden zu schließen“.[8]

Das und die oft verinnerlichte Vorstellung, als Frau kein Recht darauf zu haben, sich dem Willen des Ehemannes zu widersetzen führen dazu, dass viele Frauen Hilfe bei Polizei und Justiz erst gar nicht suchen. „In einer Studie (der Organisation ´Women for Women‘s Human Rights`; in der Türkei durchgeführt im Jahr 2000) gaben 57 Prozent der Frauen an, körperliche Gewalt erfahren zu haben, aber nur 1,2 Prozent hatten die Polizei verständigt, und 0,2 Prozent hatten Anzeige erstattet.“[8]

Äußere Liberalität und innerer Traditionalismus

Den Gerichten wird von staatlicher Seite ein weiter Ermessensspielraum zuerkannt, der es den Richtern ermöglicht, nach ihren Vorstellungen das Strafmaß autonom zu bestimmen. Dadurch werden die im letzten Jahrzehnt durchgeführten positiven Gesetzeserneuerungen oft durch die gerichtliche Praxis entwertet. Ähnliche Diskrepanzen zwischen geschriebenem und im Einzelfall vollzogenem Recht finden sich auch in mehreren anderen islamisch geprägten Staaten.[9] Das Zulassen solcher Ermessensspielräume erlaubt es manchen Politikern, trotz des liberalen Gewandes einer rechtsstaatlichen, laizistischen Republik religiös geprägte, patriarchale Vorstellungen und Praktiken im Inneren trotzdem aufrecht zu erhalten.

Andere Formen der Unterdrückung

Es ist wichtig, dabei zu betonen, dass Gewalthandlungen in der Türkei auch auf Grund von anderen Motiven verübt werden. Eine hohe Hemmschwelle der Frauen, sich an polizeiliche Institutionen zu wenden gibt es jedoch auch in Zusammenhang mit diesen Gewalterfahrungen.

„In der Türkei reicht das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen von der Nichterfüllung wirtschaftlicher Mindestbedürfnisse über verbale und psychologische Gewalt bis zu Schlägen, sexueller Gewalt und Mord. Erzwungene Heirat, auch von Minderjährigen, berdel (die wechselseitige Verheiratung von Frauen, um Mitgift und andere Hochzeitskosten zu sparen) und beşik kertmesi (eine Form der arrangierten Hochzeit, bei der Familien neugeborene Mädchen „austauschen“ und sie zwingen zu heiraten, sobald sie als alt genug dafür betrachtet werden)“.[8]

Ebenso bezüglich dieser Tatbestände ist es schwer, genaue Informationen über deren Ausmaß und regionale Konzentration zu erhalten. Dennoch lässt sich die Schwere und die Verbreitung der an Frauen begangenen Verbrechen an Hand von mehreren kleineren Studien, die von amnesty international zusammengetragen wurden[8], ungefähr einschätzen:

  • So gaben 1994 einer vom „Amt für den Status der Frauen“ durchgeführten Untersuchung zufolge 40 Prozent der befragten Männer an „es akzeptabel zu finden, Frauen und Mädchen mit Gewalt zu ´disziplinieren´. Eine andere Studie schätzte, dass 58 Prozent der Frauen familiäre Gewalt erlitten hatten, nicht nur von ihren Männern, Verlobten, Freunden und Brüdern, sondern auch von Familienangehörigen ihres Mannes.[10]
  • In einer Gruppe von Frauen der Mittel- und Oberschicht hatten 63,5 Prozent sexuelle Angriffe erlebt.[11]
  • Nach einer anderen Studie zu Frauen in Ankara erlebten 64 Prozent Gewalt von ihren Ehemännern, 12 Prozent von Ehemännern, von denen sie sich getrennt hatten, acht Prozent von Partnern, mit denen sie zusammen lebten, und zwei Prozent von der Familie stellte fest, dass 59 Prozent der Frauen Opfer von Gewalt waren.[12]
  • Laut einer Untersuchung der Stiftung Mor Çatı (Lila Dach) zwischen 1990 und 1996 lebten 88,2 Prozent von 1259 Frauen in einer gewalttätigen Umgebung. 68 Prozent wurden von ihren Ehemännern geschlagen.[13]
  • 16 Prozent gaben an, dass ihre Männer sie vergewaltigt hatten.[14]
  • Eine Studie über 599 Frauen in der Südost-Türkei fand heraus, dass 51 Prozent Vergewaltigung in der Ehe und 57 Prozent körperliche Gewalt erfahren hatten."[15]

Der Kampf gegen männliche Gewalt war stets ein wichtiger Aspekt der feministischen Bewegung. Besonders aber zu Zeit nach dem Militärputsch von 1980, bildeten sich immer mehr Gruppen die gegen staatliche und nicht-staatliche Übergriffe mobilisierten.[6] Das hängt damit zusammen, dass die Militärherrschaft damals alle politischen Parteien und Organisationen verboten hatte und sich die Frauenbewegung in der Folge dieses politische Vakuum zu Nutze machte, um in Form von Kampagnen und Demonstrationen auf die gesellschaftlichen Probleme aufmerksam zu machen.[6] Außerdem wurden Diskussionsgruppen und Frauenvereine gegründet, die auch Frauenzeitschriften herausgaben. Als eine der ersten groß angelegten Aktionen nach der Militärintervention gilt eine feministische Unterschriftenaktion im Jahr 1986 (7000 Stimmen), deren Ziel es war, von der Politik die Implementierung der UN-Konvention zur Eliminierung jeglicher Formen der Diskriminierung gegen Frauen (CEDAW) und die Ergreifung aller dafür notwendigen Maßnahmen zu fordern, zu denen sich die Regierung durch die Ratifizierung 1985 verpflichtet hatte. [6]

Ein weiterer Höhepunkt der modernen, türkischen Frauenbewegung war der Protestmarsch am 17. Mai 1987, an dem 3000 Frauen teilnahmen. Anlass dieser Protestkundgebung war der Gerichtsfall einer schwangeren Frau, die wegen der Gewalthandlungen ihres Ehemannes die Scheidung einreichte. Der zuständige Richter verweigerte die Auflösung der ehelichen Verbindung und führte als Begründung unter anderem diesen Spruch an: „Der Rücken der Frau soll nicht ohne Stock [für Prügel und Schläge], der Bauch nicht ohne Kind verbleiben“. Dieses Urteil war nur eines unter hunderten ähnlich lautenden gerichtlichen Entscheidungen, geprägt von unverhohlenem Sexismus, deren Offenlegung es sich die Frauenbewegung zu ihrer Aufgabe machte.

So war das erklärte Ziel der feministischen Bewegung die gesellschaftliche Anerkennung und Respektierung der Frauen als Individuen mit absolut zu schützenden Rechten, und die Bekämpfung einer Reduktion ihrer Persönlichkeit allein auf die akzeptierten Rollenbilder Mutter, Ehefrau oder Schwester. Für die Sozialwissenschafterin Zuhal Yesilyurt Gündüz ist das Besondere der dritten Phase der Frauenbewegung (nach der osmanischen und der kemalistischen Strömung), die Tatsache, dass ihre Initiative von den türkischen Frauen selbst ausging und daher auch stärker durch deren weibliche Vorstellungen geprägt war als die vorangegangenen reformistischen Bewegungen. Anstatt der kemalistischen Idealisierung und Symbolisierung der Frau wurde die Respektierung des weiblichen Körpers und der individuellen Sexualität in den Mittelpunkt der Forderungen gerückt.[6]

Durch langjährige vehemente Mobilisation wurden so tabuisierte Themen in die öffentliche Debatte getragen, und erstmals auf einer breiteren Ebene diskutiert. Parallel schritt in den 90er Jahren die Institutionalisierung der feministischen Bewegung voran: es wurden mehrere Frauenhäuser gegründet, die jedoch immer wegen finanziellen Engpässen von der Schließung bedroht waren. Außerdem wurden universitäre Frauenforschungszentren und Bibliotheken mit feministischen Schwerpunkten eröffnet.

In den 90er Jahren wurden zahlreiche Artikel des Zivilrechts, die dem Gleichheitsprinzip widersprachen, revidiert. Unter anderem wurde 1992 der Artikel 159, der die Arbeitserlaubnis der Frau an die Zustimmung ihres Ehemannes band, durch das Verfassungsgericht aufgehoben. Des weiteren können Frauen seit 1997 selbst entscheiden, ob sie nach der Eheschließung ihren eigenen Namen oder den des Ehemannes benutzen wollen. 1998 trat außerdem ein wichtiges Gesetz zum Schutz von Kindern und Frauen vor häuslicher Gewalt in Kraft.[6]

Vier Jahre später, im Jänner 2002, realisierte das türkische Parlament eine weitere umfangreiche Revision der zivilrechtlichen Gesetze. So wurde erstmals jener Artikel aufgehoben, der den Mann als Familienoberhaupt definierte. Weiters wurde das legale Heiratsalter auf 18 Jahre für Frauen und Männer angehoben. Außerdem wurden außerehelichen Kindern die gleichen Erbrechte wie ehelichen Kindern zuerkannt. Es muss jedoch dabei auch gesagt werden, dass einige Forderungen, die vehement und in großer Zahl von FrauenrechtsaktivistInnen geäußert wurden, nicht erfüllt wurden. Vor allem wurde die Abschaffung des großen Ermessensspielraumes der RichterInnen gefordert, da dieser immer wieder zu unverhältnismäßig milden Bestrafungen der Täter führt, dadurch die Opfer verhöhnt und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ad absurdum führt.[6]

Quellen

  1. a b c d e f g h Sirvan Ekici: Die Stellung der Frau in der türkischen Gesellschaft unter besonderer Berücksichtung der politischen Partizipation der Frau. Universität Wien 1998, Diplomarbeit
  2. Der Begriff „Nationalismus“ beschreibt die Betonung einer ruhmreichen türkischen Geschichte und das Recht der Türken auf einen eigenständigen, modernen und souveränen Staat.
  3. Der Begriff „Populismus“ bezeichnet die Idee einer Nation gegenseitig solidarischer TürkInnen, die sich nicht als Angehörige unterschiedlicher Klassen verstehen.
  4. Etatismus impliziert die staatliche Einmischung in alle sozialen, ökonomischen, kulturellen und erzieherischen Bereiche des Lebens in der Türkei.
  5. Revolutionsmus fordert die ständige Selbsterneuerung und Modernisierung des Staates.
  6. a b c d e f g h i j k l m n o p q Zuhal Yesilyurt Gündüz: Die Demokratisierung ist weiblich... Die türkische Frauenbewegung und ihr Beitrag zur Demokratisierung der Türkei. Der Andere Verlag, 2002.
  7. Emel Dogramaci: Women in Turkey and New Millennium. Atatürk Research Center, Ankara, 2000, S. 188ff
  8. a b c d e f g Amnesty International: Türkei: Frauen kämpfen gegen Gewalt in der Familie. 2004, (Weblink, abgerufen 17.3. 2006)
  9. a b Dr. Hani Jashan im Rahmen eines Vortrages zum Thema Ehrenmorde; in Friedrich-Ebert-Stiftung, Amnesty Int., Terre des Femmes 2005: Fachtagung „Verbrechen im Namen der Ehre“ Berlin (Dokumentation), 2005 ([1], abgerufen 17.3.2006)
  10. Symposium über Gewalt gegen Frauen und medizinische Berufe, Ärztekammer Ankara, 2002
  11. Ü. Sayın, N. Ziyalar, & İ. Kahya: Sexualverhalten bei gebildeten türkischen Frauen (Sexual behaviour in educated Turkish women), Conference Proceedings, Institut für gerichtsmedizinische Wissenschaften, Istanbul, September 2003
  12. C. Bütün, S. Sözen & M. Tok: Auswertung von Gewalttätigkeiten gegen Frauen mit Todesfolge (Evaluation of violence against women resulting in death), Conference Proceedings, Institut für gerichtsmedizinische Wissenschaften, Istanbul, September 2003
  13. N. Ergin & N. Bilgel, Untersuchung von Gewalt gegen Frauen im Zentrum der Provinz Bursa (Bursa İl Merkezinde Kadınlara Yönelik Şiddetle İlgili Durum Saptaması Araştırması), Uludağ-Universität, Studienarbeit an der Abteilung für Geburtshilfe in Bursa, Journal für Krankenpflege, Türkischer Verein für Krankenpflege, 2001 (51), 1-2, S.10
  14. Studie des Zentrums für Frauenunterstützung und Solidarität Antalya über 190 Frauen, die Gewalt erlitten hatten, 1995
  15. Women and sexuality in Muslim societies, P. İlkkaracan (Hrsg.), Women for Women‘s Human Rights, Istanbul, 2000

Literatur

  • Zehra F. Arat (Hg.): Deconstructing the image of „The Turkish Woman“. Macmillan Press LTD, Hampshire 1998, ISBN 0312175442
  • Şirin Tekeli (Hg.): Women in modern turkish society. Zed Books, London 1991 (2. Auflage 1994), ISBN 1856491528
  • Sadi Ücüncü: Die Stellung der Frau in der Geschichte der Türkei. R.G. Fischer, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3883235040