Wien. Derzeit verhandelt Christoph Wiederkehr für die Neos die erste Dreierkoalition auf Bundesebene in der Geschichte der Republik. Können die (nicht geringen) Hürden zwischen den drei sehr unterschiedlichen Parteien überwunden werden, wird Wiederkehr als künftiger Bildungsminister gehandelt. Und diesen Job würde er mit Begeisterung antreten. Weniger weil es der Kindheitstraum des 34-jährigen gebürtigen Salzburgers ist, ein Ministeramt zu bekleiden. Vielmehr weil Wiederkehr die engen Grenzen seines Jobs als Wiener Bildungs- und Integrationsstadtrat zur Kenntnis nehmen musste. Der Bildungsbereich ist nahezu ausschließlich Bundesmaterie. Und die Führung der Wiener Bildungsdirektion wird von der SPÖ gestellt. Wien obliegt grundsätzlich nur die Vollziehung mit kaum eigenen Kompetenzen.
Gekoppelt mit dem Thema Bildung in Wien ist das Integrationsthema, für das Wiederkehr ebenfalls zuständig ist. Kürzlich gab sein Ressort bekannt: Die Zahl der außerordentlichen Schüler (Kinder, die zu schlecht Deutsch können, um dem Unterricht folgen zu können) ist dramatisch gestiegen. Mit dem Schulbeginn im Herbst konnten 44,6 Prozent der 8342 Erstklässler nicht ausreichend Deutsch, um dem Unterricht folgen zu können.
Integrationsprobleme
Zwei Jahre zuvor lag der Anteil bei 36 Prozent. Spitzenreiter ist Wien Margareten mit 73,8 Prozent. Und das hat nur bedingt mit Flüchtlingskindern aus der Ukraine zu tun. Denn 61 Prozent der Erstklässler mit mangelhaften Deutschkenntnissen sind in Österreich geboren, 24 Prozent haben sogar die österreichische Staatsbürgerschaft.
Eine richtige Erkenntnis ist, dass mit dem Spracherwerb stärker im Kindergarten angesetzt werden muss. Deshalb forderte Wiederkehr österreichweit ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr – weil Wien zwar Höchstzahlen bei außerordentlichen Schüler hat, diese Zahl aber österreichweit steigt. Der starke Familiennachzug von Flüchtlingen, der vor allem Wien teilweise überfordert, ist hier auch ein Faktor.
Mehr Geld für Kindergärten
Positiv ist, dass Wiederkehr das Budget für die Kindergärten (trotz finanziell schwieriger Zeiten) von einer Milliarde (2023) auf 1,23 Milliarden Euro (2025) erhöhen konnte. Dazu wurden Assistenzstunden in den Kindergärten mit Herbst aufgestockt. So gibt es beispielsweise in Kleinkindgruppen statt der wöchentlich bisher 40 Stunden nun 55 Stunden. Das behebt den Mangel an Kindergartenpädagoginnen und -pädagogen nicht, ist aber zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Dazu wurde die Zahl der Sprachförderkräfte erhöht, 2025 sollen 500 davon in Wiens Kindergärten aktiv sein.
Ob das reicht bzw. warum das nicht früher umgesetzt wurde, kann hinterfragt werden. Allerdings hat Wiederkehr kürzlich tausend zusätzliche Sommer-Sprachkursplätze für Kinder an der Schwelle zur Volksschule angekündigt (bei aktuell 3900 Plätzen).
Zahlreiche Baustellen
Wiederkehr hat mit seinem Amtsantritt ein Ressort voller Baustellen geerbt. Eine davon ist die MA 35 (Einwanderung und Staatsbürgerschaft), sie gilt als die gefürchtetste Behörde Österreichs: Wartezeiten auf einen Termin von bis zu einem Jahr, schlechtes Service, keine Erreichbarkeit – die Mitarbeiter hoben wegen Personalmangel nicht einmal mehr das Telefon ab. Wer etwas wollte, musste also dorthin pilgern, davor aber (wie erwähnt) bis zu einem Jahr auf einen Termin warten.
Wiederkehr hatte eine Reform der als unreformierbar geltenden Behörde gestartet. Erste kleine Erfolge sind sichtbar, bis die MA 35 effizient und bürgerfreundlich arbeitet, wird aber noch eine lange Zeit vergehen. Diese Früchte wird aber erst die nächste Wiener Stadtregierung ernten. Und hier muss man Wiederkehr zugutehalten: Er hat in seiner Amtszeit bisher nicht (nur) auf den kurzen Wahlerfolg geschielt – also nicht auf schnelle Maßnahmen, die er im nächsten Wahlkampf gut verkaufen kann. Er initiierte Maßnahmen wie die grundlegende Reform der MA 35, die weit in die nächste Legislaturperiode hineinreicht – bei der er nicht sicher sein kann, dass die Neos die Früchte ihrer Arbeit ernten können, falls Rot-Pink nach der Wien-Wahl nicht mehr zustande kommt.
Wiederkehrs Wandlung
Im Integrationsbereich haben Wiederkehr (und seine Neos) eine Wandlung vollzogen. Standen die Wiener Pinken 2020 in der Integrationspolitik noch deutlich links in der Nähe der Grünen, sind von Wiederkehr seit einiger Zeit andere Töne zu hören. Es müsse möglich sein, dass Migranten „mit Freude“ in Wien ankommen dürfen, aber diese müssten auch einen Beitrag leisten, erklärte er im November bei einem Wertekonvent, den er ins Leben gerufen hatte. Und: Oberstes Gebot sei der Spracherwerb. Den Import eines „mittelalterlichen Frauenbilds“ oder etwa den „Hass“ auf Mitglieder der LGBTQ-Community könne er „als Vizebürgermeister nicht hinnehmen“, stellte Wiederkehr klar, der Sohn eines ungarischen Flüchtlings und einer Französin ist. Sinngemäß: Wer nach Wien kommt, habe sich zu integrieren. Wer das verweigert, dem drohen Konsequenzen. So hatte der liberale Politiker in überraschend vielen Bereichen Strafen gefordert. Beispielsweise für Eltern, die sich nicht um den Bildungserfolg ihrer Kinder kümmern.
Mit dieser Linie zeigt Wiederkehr, der grundsätzlich als äußerst umgänglich gilt, dass er auch anders kann. Das musste auch die SPÖ (zumindest einmal) zur Kenntnis nehmen. Bürgermeister Michael Ludwig lehnte ein Ende der ORF-Länderabgabe mehrfach öffentlich ab – Wiederkehr setzte sich allerdings durch, seit Jänner ist diese Abgabe Geschichte.
Probleme mit der SPÖ
Es war allerdings die Ausnahme. In der öffentlichen Wahrnehmung scheint die SPÖ ihren kleinen Koalitionspartner nicht besonders ernst zu nehmen. Die Wien Energie war (nach Turbulenzen an den Energiemärkten nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine) beinahe in die Insolvenz geschlittert – der Parteichef des roten Koalitionspartners erfuhr es aus den Medien. Über einen mutmaßlichen Missbrauch in einem Kindergarten wurde Wiederkehr ebenfalls nicht bzw. nur kurz vor den Medien informiert.
Während der Corona-Pandemie bespielte Bürgermeister Ludwig dazu die öffentliche Bühne allein, verteilte Hilfspakete an die Wirtschaft, Energieunterstützungen und finanzielle Hilfen an die Bevölkerung. Wiederkehr blieb hier immer nur Zaungast. Wobei: Als die Grünen erstmals in einer Koalition mit der Wiener SPÖ waren, ging es ihnen genauso. Die Bürgermeisterpartei lässt ihrem Koalitionspartner traditionell wenig Luft zum Atmen.