In der Jerry Springer Show ging es von 1991 bis 2018 meistens rund.
In der "Jerry Springer Show" ging es von 1991 bis 2018 meistens rund.
Courtesy Everett Collection / Ev

Nicht, dass es nicht auch bei deutschen und österreichischen Talkshows unterirdisch zugegangen wäre. Auf der Couch von Margarethe Schreinemakers saßen Schamhaarfrisör, Sadomasochist, Geistheiler und siamesische Zwillinge. Bei Vera Russwurm trafen im öffentlich-rechtlichen ORF die Eltern des Briefbombenbauers Franz Fuchs auf Bombenopfer. Scharenweise kamen Gäste zu den Daily Talks von Arabella, Sonja, Sabrina, Vera am Mittag, Hans Meiser, Ilona Christen und Andreas Türck, um vor Publikum über Fremdgehen, Sexsucht, Brust- und Penisgrößen und andere delikate Privatprobleme zu sprechen, oft auch zu streiten. Doch das war alles nichts gegen Jerry Springer.

27 Jahre – von 1991 bis 2018 – ging es in der Jerry Springer Show meistens rund. Der Moderator hielt das Publikum mit Krawallen bei Laune, die davor im Fernsehen so noch nicht zu sehen gewesen waren. Es wurde gestritten, geschrien, gebrüllt und geschlagen, meistens alles zusammen. Springer ließ keine Gelegenheit aus, seine Gäste anzustacheln, damit die nur ja jede Zurückhaltung verlieren und alles von sich preisgeben. Eine zweiteilige Netflix-Doku erzählt nun von Aufstieg, Kämpfen und Action jener Show, die in den besten Zeiten mehr Zuschauer hatte als Oprah Winfrey.

Seriöses wollte keiner sehen

Es begann als seriöse Show mit politischen Themen, und das ist nicht das einzige Unglaubliche, das man in der Doku erfährt. Der 1944 geborene Host war demokratischer Bürgermeister von Cincinnati. In der Sendung sollten sich Menschen über gesellschaftlich relevante Themen austauschen. Nur das wollte keiner sehen.

Den Turnaround brachte der Produzent Richard Dominick, der auch in der Doku zu Wort kommt. Dominick machte als Boulevardjournalist mit Schlagzeilen von sich reden, wie "Zweiköpfiger Mann singt in Stereo" oder "Ich erwartete ein Kind von Bigfoot" und einem Bericht von der Frau mit dem vom Satan besessenen Toaster. Dominick konnte Boulevard, und mit Springer hatte er große Pläne.

Die er auch fleißig umsetzte. Da war zum Beispiel "Windel-Bob". Am Podium sitzt ein junger Mann, bekleidet nur mit einer Windel und Schnürstiefeln. "Sag mal, Bob, woher hast du deine Schuhe?", fragt Springer. Das Publikum johlt.

Mit dem neuen, voyeuristischen Konzept steigen die Quoten schnell in die Höhe. Fortan gaben sich die Gäste im attraktiveren Nachmittagsprogramm die Kante. "Wir wollten wissen, wie weit wir es treiben konnten", sagt Dominick.

Der Mann, der sein Pferd heiratete

Man kann nicht behaupten, dass nichts geboten wurde. Springer begrüßte den "Mann, der seinen eigenen Penis abgeschnitten hat", die Frau, die von ihrem Bruder ein Kind erwartete, oder den Mann, der sein Pferd geheiratet hatte. Als es darum ging, Mitglieder des Ku-Klux-Klans zu bekehren, kam es zu einer Schlägerei.

Handgreiflichkeiten gehörten von da an fast zum Pflichtprogramm. "Genial" findet dies der leitende Produzent Dominick. Er wünsche sich für die Sendung ein Spektakel, sagte Springer. Das Publikum tobte: "Jerry! Jerry! Jerry!"

"Es durfte keine Langeweile aufkommen", sagt die Produzentin Melinda Chait Mele. "Ich habe einen Zirkus, nur ohne Löwen", sagte Springer. "Wenn ich jemandem am Set hinrichten dürfte, würde ich das tun", sagte Dominick.

Die Doku erzählt von diesen Lowlights und davon, wie es war, für die Show zu arbeiten. Nicht lustig. Neben 14-stündigen Arbeitstagen hatten es Mitarbeiter mit dem exzentrischen Dominick zu tun, der immer noch schäbigere Auftritte verlangte. Zu Wort kommen auch ehemalige Gäste, die sich an großzügige Einladungen erinnern und an Instruktionen vor der Sendung: "Sie haben mit uns geübt, was wir sagen und wie wir uns verhalten sollen", erinnert sich eine Frau. Wer sich nicht den Erwartungen entsprechend schlecht genug benahm, dem wurden die Kosten für das Rückflugticket gestrichen.

Wolken über dem Quotenhimmel

In den Quotenhimmel zu gelangen ist das eine, dort zu bleiben das andere. Oder anders: Es wurde noch brutaler, ekliger. Immer mehr Schlägereien, die immer härter wurden. Die Rede ist von eingeschlagenen Zähnen, ausgerissener Kopfhaut. Mit Fake-Vorwürfen war die Show praktisch ständig konfrontiert, sie wurden beharrlich dementiert: "Es muss alles echt sein", sagte Springer.

Selbst als es 2000 nach einem Auftritt zu einem Femizid kam, zeigte der Host keine Einsicht. "Das ist nun mal Showbusiness", sagte er laut einer Archivaufnahme. 2018 endete das Kapitel. Die Show war – auch bedingt durch rechtliche Auflagen – irrelevant geworden. Als "Perversion des amerikanischen Traums" bezeichnet sie der Journalist Robert Feder. 2023 starb Springer als Dollarmillionär.

Jerry Springer: Fights, Camera, Action | Official Trailer | Netflix
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Was Springer im US-Fernsehen durchexerzierte, beeinflusst Reality-TV weltweit bis heute. Die in den 1990er-Jahren populären Daily Talks von Arabella, Sonja, Sabrina, Ricky, Vera am Mittag, Andreas Türck, Bärbel Schäfer, Hans Meiser und Ilona Christen gelten als Importe, bei denen Menschenwürde nachmittags Pause hatte. Formate wie diese sind heute undenkbar. Den Job übernehmen mittlerweile die Pseudopromis aus The Real Housewives und Promis unter Palmen. Ihre Existenz haben sie aber letztlich Jerry Springer zu verdanken. (Doris Priesching, 12.1.2024)