Verschiedene: Die Gartenlaube (1863) | |
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Die Entdeckung der Nilquelle. In der glücklichen Zeit, wo wir „Robinson Crusoe“ erst zu buchstabiren, dann zu lesen und schließlich in unserer Phantasie zu durchleben pflegten, wo wir für Cooper’s Urwälder schwärmten und uns mit seinen Indianerhäuptlingen zusammenlebten, konnten wir uns nie der kindlichen Furcht erwehren, daß bald die ganze Herrlichkeit ein Ende haben und es in wenigen Jahren keine unentdeckte Insel mehr geben werde, auf die wir uns als Robinson Crusoe zurückziehen, keine waldeinsame Wildniß, über die wir als Huronenhäutptling herrschen könnten. Unaufhörlich quälte uns der Gedanke, daß die prosaische Civilisation mit ihrer rastlosen Entdeckungswuth nicht einhalten werde, bis wir groß geworden seien, und mit Angst und Widerwillen sahen wir den Zeitpunkt herannahen, wo die ganze Welt wie eine blau und roth gemalte Landkarte mit allen Nebenflüssen und Vorbergen vor den Augen unromantischer Menschen aufgeschlagen liege und in der Schule auswendig gelernt werden müsse, wie die Geographie von Kurhessen mit seinen vier Provinzen und 21 Kreisen, mit Fulda, Werra, Weser, Lahn, Main, Diemel, Schwalm etc. und all’ den vertrackten Höhenzügen und Wasserscheiden, die uns so viel schwarze Striche und Strafarbeiten einzutragen pflegten. Nun, wir sind groß und alt geworden, ohne daß sich unsere kindische Furcht verwirklicht hätte. Noch immer bleibt ein gut Stück Erdoberfläche zu entdecken, und wenn auch die Romantik aus dem gründlich entdeckten Lippe-Detmold und dem ziemlich vollständig entdeckten Urwald des Leipziger Rosenthals verschwunden ist, und aus Amerika, Australien, Japan, dem Reiche der Mitte und dem Fürstenthum Waldeck demnächst zu verschwinden droht, so herrscht sie doch in Form von undurchdringlichen Wüsteneien, entdeckungsfeindlichen Cannibalen, uncivilisirten Fiebern, gerösteten und verspeisten Entdeckern, zweifelhaften Gorillas und unzweifelhaften Menschenjägern noch souverän in dem Inneren Afrikas. Aber ewig kann das nicht dauern; ein Stück nach dem andern wird in unsern Karten verzeichnet, und endlich muß allerdings die Zeit kommen, wo es nichts mehr zu entdecken giebt und der Beduinenhäuptling der Saharah im Stande sein wird, seinem gottbegnadeten Vetter von Dahomey eine freundnachbarliche Anstandsvisite mit einem Eisenbahnbillet erster Classe abzustatten.
Ein anderes vom Alterthum überkommenes Geheimniß, in dessen mysteriösen Schatten vor Jahrtausenden die menschliche Cultur geboren und erzogen wurde, ist vor dem unaufhaltsamen Ungestüm des modernen Unternehmungsgeistes gefallen. Was der Speculation der griechischen Philosophie und dem Gebote der römischen Herrschaft nicht gelang, das ist soeben zwei abenteuernden Engländern gelungen – die Quelle des Nils ist kein Geheimniß mehr, sondern eine geographische Trivialität, die hinfüro in jedem Schulatlas ihren wohlverzeichneten Platz finden wird. Vier, vielleicht fünf und sechs Jahrtausende lang haben die Menschen an den Ufern dieses wunderbaren Stromes gestanden und mit religiöser Scheu und menschlicher Wißbegierde nach der Himmelsgegend geblickt, woher die überströmenden, befruchtenden, Leben zeugenden und Segen spendenden Fluthen des majestätischen Nils sich ergossen. Unsere Chronologie läßt uns im Stiche. Ein Fetzen Leichentuch, das einer Mumie zur verwitterten Hülle dient, ein irdenes Gefäß, ein rohes, in Granit gehauenes Symbol sind die Urkunden, aus denen wir ägyptische Geschichte studiren müssen. Aber so viel ist gewiss: ehe Memphis und Theben existirten, ehe Obelisken und Pyramiden, jene kolossalen Spielzeuge einer kindlich unbewußten Cultur, ihre ewigen Schatten über ungezählte Jahrhunderte warfen, ehe der menschliche Gedanke in Hieroglyphen einen Ausdruck fand, ehe die alttestamentlichen Patriarchen ihre Wanderungen begannen, ehe Noah aus den Trümmern einer untergehenden Welt seine Arche baute, sannen Magier und Hirten, Könige und Sclaven, weise, gotterfüllte, stille, fremde Menschen über die unerklärlichen Wunder des heiligen Stromes nach, beobachteten mit Furcht und Hoffnung, mit Andacht und Gebet sein Steigen und Fallen und warfen sich die Frage auf: Woher kommt dieser Schrecken und Wohlthäter unseres Landes?
Lucian berichtet, daß Cäsar beabsichtigte, auf die Reize der Cleopatra und die ehrgeizigen Hoffnungen des Bürgerkriegs zu verzichten, um sich auf eine Entdeckungsreise zur Lösung des Räthsels zu begeben. Nero schickte zwei Centurionen ab, mit dem Befehle, die Nilquelle aufzufinden. Doch die Natur läßt sich nicht im Sturme erobern, und sie verlacht das ungestüme Machtgebot eigenwilliger Despoten. Jahrhundert und Jahrhundert verstrichen, und das älteste Geheimniß der ältesten Cultur blieb unerklärt. Zahllose Menschenleben sind geopfert worden, ohne daß dieses Opfer etwas Anderes vermocht hätte, als den Weg für weitere Nachforschungen zu zeigen. Endlich ist das Geheimniß ergründet und die Quelle des Nils vor Aller Augen enthüllt worden. Sir Roderick Murchison, der berühmte englische Geolog, erzählte die Geschichte neulich in der „Geographischen Gesellschaft“ von London, und sie ist sehr einfach, wie die Geschichte aller wahrhaft großen Erfindungen und Entdeckungen.
Die englischen Entdecker Speke und Grant, frühere Officiere der indischen Armee und an die Wildnisse von Mittelasien gewöhnt, besaßen den Vortheil, daß sie wußten, wo sie nicht zu suchen hatten. Sie vergeudeten ihre Kräfte nicht in dem so oft vergeblich gemachten Versuche, stromaufwärts zu der Quelle des Flusses hinanzusteigen. Am 1. October 1860 reisten sie von der Ostküste Mittelafrika’s ab. Während des ersten Jahres kamen sie nur wenig vorwärts. Das Land war durch das Ausbleiben der Regenzeit ausgedörrt, und die Hauptbeschäftigung der Eingebornen schien ein permanenter Stammeskrieg zu sein. Den Neujahrstag des Jahres 1862 brachten sie in der Hauptstadt des Königreichs Karagwe zu, an der südwestlichen Spitze des großen Nyanza-Sees. Der König dieses Landes ist ein aufgeklärter Despot und „marschirt an der Spitze der Civilisation“ in Centralafrika, wie der Kaiser der Franzosen an der Spitze der Civilisation in Europa. Seine Unterthanen werden in der elendesten Knechtschaft erhalten und zum „Ruhme“ der Nation und des königlichen Hauses abgeschlachtet; aber nach außen hin ist Alles Liberalismus, Aufklärung, Nationalitätenbefreiung. Daher ließ er den beiden Entdeckungsreisenden sehr schätzbare Unterstützung angedeihen. Das benachbarte Königreich Uganda ist von einer Negerrace niedrigerer Geistesverfassung bevölkert und von einem gutmüthigen, aber schwachen jungen Manne beherrscht, der es für seine erste Regentenpflicht hält, dem Gotte seines Stammes täglich einen Menschen zu opfern. Diese beiden Länder umschließen den ungefähr 150 engl. Meilen langen und breiten See, der ringsum von den schroffen und fast unübersteiglichen Mondbergen gegen die Neugier civilisirter Menschen geschützt wird und nach Norden hin den Nil zum Abflusse hat. Sechstausend Fuß über der Meeresoberfläche, von kegelförmigen Bergen bis zur Höhe von 10,000 Fuß umgeben, liegt der ungeheure Wasserbehälter, der so lange aller Speculation und Nachforschung gespottet hat.
Sir R. Murchison glaubt, daß die regelmäßige jährliche Ueberfluthung des Stromes nicht durch das Schmelzen des Schnees auf den umliegenden Bergen verursacht werde, sondern durch die tropischen Regen, welche von dem porösen Bergboden aufgefangen und von allen Seiten her in dies natürliche Wasserbassin geleitet werden. Dem sei jedoch, wie ihm wolle, so viel ist jetzt außer Zweifel gestellt, daß der Mutterstrom des Nils aus diesem See kommt. In einer Breite von 150 Ellen wälzt sich der Strom ungefähr aus der Mitte des nördlichen Ufers und beginnt seinen reißenden Lauf mit einer Stromschnelle von zwölf Fuß Höhe. Das sind die trockenen Tatsachen; die romantischen Einzelnheiten sind noch nicht bekannt und werden wohl von den glücklichen Reisenden selbst später erzählt und veröffentlicht werden. Wir werden dann en détail erfahren, wie sie mit ihren Chronometern und Instrumenten dem barbarischen Volke van Uganda entkamen; wie es ihnen gelang, den Lauf des Stromes bis zum 2. Grade nördlicher Breite zu verfolgen, wo er sich nach Westen wendet und einen kleineren See durchfließt; wie sie der Biegung folgten und mit Hülfe ihrer Instrumente fanden, daß er in 70 engl. Meilen 1000 Fuß gefallen war; wie sie unter dem 3. Grad 45 Minuten eine Karawane türkischer Elfenbeinhändler antrafen; wie sie etwas weiter nördlich auf ihren Landsmann Mr. Baker stießen, der so weit vorgedrungen war, um sie aufzusuchen, und wie sie endlich ihre ruhmvolle Reise zur Wiege der Civilisation durch die Entdeckung krönten, daß Mr. Patherick, ein anderer englischer Entdeckungsreisender, der schon seit Jahr und Tag todt gesagt war, sich frisch und gesund am Leben befand.
Was gewinnt die Welt bei dieser Entdeckung? werden die Nützlichkeitsmenschen fragen. Wird sie den Handel befördern, die Baumwollcultur ausbreiten und einen profitablen Civilisationsfortschritt bezeichnen? Die Entdecker Speke und Grant haben den Gesichtskreis des menschlichen Wissens erweitert; sie haben der Natur vielleicht das älteste ihrer Geheimnisse abgerungen, mit unsäglichen Entbehrungen und unter beständiger Gefahr ihres Lebens; sie sind kühn über die Gräber ihrer Vorgänger hinweggeschritten und haben nicht gewankt, bis sie am Ziele angekommen waren. Das ist freilich Alles, und dieses Alles wird belohnt mit – einer goldenen Medaille der „geographischen Gesellschaft“! Freilich würde es vortheilhafter gewesen sein, Goldfelder in Australien zu entdecken oder Niederungen zur Anpflanzung von Baumwollstauden aufzusuchen; aber in unserer realistischen Zeit thut es einem außerordentlich wohl, auf Männer zu stoßen, die Muth und Aufopferung genug besitzen, um für ein idealistisches Ziel, das sich nicht auf Thaler und Silbergroschen berechnen läßt, ihr Leben einzusetzen.
Wie der Tod in die Welt kam. Bekanntlich geht in der ganzen Welt das Gerede, daß in früherer Zeit die Menschen gar nicht starben oder doch unverhältnißmäßig viel älter wurden als jetzt. Wie aber das Leben gar so kurz geworden sei, darüber ist man verschiedener Ansicht.
Die Zulukaffern erzählen: nachdem die Menschen geschaffen waren, gefielen sie dem großen Gott Umukunkulu, und er schickte das Chamäleon zu ihnen mit der Nachricht, daß sie niemals sterben sollten. Als dies bekannt wurde, so war große Freude auf Erden. Die Menschen betranken sich bei Tag und bei Nacht und thaten, was ihnen nur in den Sinn kam. Da merkte der Gott Umukunkulu, daß er einen faux pas gemacht hatte. Er schickte nun die Eidechse herunter, und – weil es für den Umukunkulu als Gott nicht passend gewesen wäre, sein Wort zu brechen – so mußte die Eidechse den Kaffern erzählen, das Chamäleon habe gelogen. Als die Kaffern solches erfuhren, ergrimmten sie sehr über das Chamäleon und machten Jagd, um es umzubringen. Das Chamäleon aber entsetzte sich dermaßen, daß es ganz weiß wurde vor Schrecken, und da es zuvor braun gewesen war, so erkannten’s die Kaffern nun nicht mehr, und es entging der Verfolgung. Seit dieser Zeit ist bei den Menschen der Tod und beim Chamäleon der Farbenwechsel üblich geworden.
In Amerika unter den Indianern geht die Sage, den ersten Menschen seien die Krankheiten ganz und gar unbekannt gewesen. Deshalb lebten auch die Menschen viel länger als heutzutage. Sie starben erst, wenn sie sich die Beine abgelaufen und den Schlund abgeschluckt hatten. Da konnte Einer viel auf den Füßen sein und manchen käftigen Zug thun und lebte doch seine zweitausend Jahre.
Daß die Weiber, neben vielen andern Calamitäten, auch den Tod in die Welt gebracht haben, das wird fast überall berichtet. Die Caraiben in Südamerika sagen, der Gott Kururuman, der die Welt schuf, habe anfänglich nur Männer zuwege gebracht. Diese lebten einig unter einander, waren guter Dinge und wußten nichts von Krankheit und Tod. Aber das Weib des Kururuman, die Göttin Kulimina, ärgerte sich, daß das schöne Geschlecht nicht auch auf der Erde vertreten sei. Sie ging also hin und machte Weiber. Als nun die Weiber auf der Erde erschienen, verwunderten sich die Männer sehr. „Welch’ niedliche Thierchen das sind,“ sagten sie, „sie sehen beinahe wie wir aus!“ und die Männer und Weiber fingen an, mit einander ein lustiges Leben zu führen. Aber es hielt nicht lange vor. Bald stifteten die Weiber Zwietracht. Es gab Eifersucht und Streit nachher auch Mord und Diebstahl. Und der Gott Kururuman ärgerte sich
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863). Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_383.jpg&oldid=- (Version vom 6.10.2024)