Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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No. 24. | 1855. |
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Die Doppelgängerin.
Der Freund hielt Wort: um fünf Uhr hatte George seinen Wechsel eingelöst. Er eilte in den Park zu der Eremitage, wo er den armen verliebten Dermont, seiner unbekannten Schönen harrend, träumend antraf.
„Möchten Sie so glücklich in der Liebe sein, wie ich es wünsche!“ rief er aus. „Sie haben meine Ehre gerettet und mich vor einer Gefangenschaft bewahrt, die mir gerade jetzt eine Höllenpein gewesen wäre. Meine Dankbarkeit, Dermont, kennt keine Grenzen, ich bin fähig, Ihnen selbst meine Marquise abzutreten –“
„Graf,“ unterbrach ihn Dermont, „Sie gehen zu weit! Frau von Beaulieu ist Ihre Zukunft, und ich müßte wahrlich eine arge Wucherseele sein, wollte ich auf solche Zinsen rechnen.“
George schwieg bestürzt, denn er erinnerte sich, daß ihm Ehre und Freundschaft die Pflicht auferlegten, das Verhältniß mit der reichen Wittwe aufrecht zu erhalten. Er wußte ja, Dermont hatte ihm ein Opfer gebracht, dessen Schwere ihn erdrücken würde, wenn er es allein tragen mußte. Eine Hälfte war nur dadurch zu erlangen, daß er sich sobald als möglich verheiratete. In einer schmerzlichen Stimmung, die der Gedanke an das seltsame und reizende Blumenmädchen erzeugt, verließ er den Freund. Dermont blieb zurück, er gab die Hoffnung nicht auf, daß seine Schöne ihr Lieblingsplätzchen in der Eremitage aufsuchen würde.
In seiner Wohnung trat dem Grafen Adam entgegen.
„Herr Graf, Sie haben Glück gemacht bei der Schönen.“
„Wie?“
„Hier ist ein Billet von ihr.“
George erbrach hastig das zierliche Briefchen. Er las folgende Zeilen:
„Es war mir unmöglich, Ihnen beim Scheiden durch Worte den Dank auszusprechen, den ich Ihnen für den geleisteten Dienst schulde. Sie vergrößerten meine Schuld durch die Begleitung Ihres Dieners, denn nur seinem Beistande verdanke ich es, daß ich vor einem großen Unfalle bewahrt wurde. Gerührt ergreife ich die Feder, um Ihnen meinen herzlichen Dank auszusprechen. In diesem Augenblicke bin ich unfähig, mehr zu schreiben, und bitte, aus dem Berichte Ihres wackern Dieners zu ermessen, wie groß meine Verpflichtung gegen Sie ist. Der Frohnleichnamstag dieses Jahres wird mir unvergeßlich bleiben. Amely.“
„Mit dem Briefe händigte sie mir drei Goldstücke ein,“ fügte Adam hinzu.
Der Graf war erstaunt über das reiche Geschenk eines dem Anscheine nach einfachen Mädchens.
„Die Schreiberin spricht von einem Unfalle – was ist geschehen?“
„Schon bei der Abfahrt hatte ich die Bemerkung gemacht, daß unser Kutscher, wahrscheinlich zur Feier des Fronleichnamsfestes, ein wenig betrunken war. Er hieb wie rasend auf sein Pferd, nachdem ich ihm einen Franc in die Hand gedrückt. Durch dieses Geschenk wollte ich mir die Erlaubniß erkaufen, neben ihm zu sitzen, er aber hielt es für eine Aufforderung, rasch zu fahren. Die Sache ging gut, bis wir an das Thor kamen, wo ein Altar mit einer weißen Fahne stand. Ein leichter Wind ließ die Fahne flattern, das durch die Peitschenhiebe aufgeregte Pferd wird scheu, der betrunkene Kutscher wird toll, er will seine ungehorsame Bestie bestrafen, Hieb fällt auf Hieb und wir fliegen über Stock und Stein davon. Ich wollte dem wüthenden Pferdebändiger die Zügel abnehmen – umsonst, ohne Bewußtsein hieb er auf das flüchtige Pferd. In reißender Schnelle passirten wir Gräben und Steinhaufen, und mehr als einmal schwebte der Wagen in Gefahr, umzustürzen. Die in Todesangst schwebenden Frauen jammerten laut und riefen um Hülfe, und wahrlich, die Gefahr war nicht klein, denn vor uns zeigte sich ein Teich. Ich gab dem Kutscher einen derben Faustschlag in das Gesicht, daß er zurücktaumelte, ergriff die Zügel, und brachte das Pferd, dicht am Ufer des Teichs, zum Stehen. Eine Menge Leute, die das Schauspiel mit angesehen, versammelten sich nun. Alle stürmten mit Drohungen und Verwünschungen auf den Kutscher ein, der ein so großes Unglück hätte anrichten können. Man wollte ihn arretiren lassen. Ohne mich um den Tumult weiter zu kümmern, führte ich die leichenblassen Frauen fort. Die jüngere bezeichnete mir ein freundliches Landhaus in der Nähe als ihre Wohnung. Sie war so angegriffen, daß sie sich an meinen Arm hängen mußte. In dem Hause fragte sie mich, wer ich wäre. Ich bin der Diener des Herrn, der Sie aus der Kirche geleitete; auf seinen Befehl mußte ich den Wagen begleiten, er wollte die Gewißheit haben, daß Sie glücklich zu Hause angelangt wären.“
„Fragte sie nicht nach meinem Stande und Namen?“
„Nein; aber sie sagte mit Thränen in den schönen Augen: die Aufmerksamkeit Ihres Herrn hat mich vor einem großen Unglücke, vielleicht vor dem Tode gerettet. Warten Sie, mein lieber Freund, ich gebe Ihnen ein Billet mit, um Ihrem Herrn zu danken. Dann kam die Magd, gab mir drei Louisd’or und das Briefchen. Ich ging, nachdem ich mir das Haus genau gemerkt hatte. Das junge Mädchen ist so von Dankbarkeit gegen Sie durchdrungen, daß sie es gewiß hoch aufnehmen wird, wenn Sie sich morgen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_309.jpg&oldid=- (Version vom 19.12.2019)