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Windsor-Castle

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CCCXCV. Ulm Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCXCVI. Windsor-Castle
CCCXCVII. Die Themsemündung. CCCXCVIII. Das Hospital zu Greenwich bei London
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WINDSOR CASTLE

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CCCXCVI. Windsor-Castle.




Windsor, die Stadt, (man könnte sie das englische Versailles nennen) liegt etwa 5 deutsche (22 englische) Meilen oberhalb London, an der Themse, in einer schönen Landschaft. Reiche Auen breiten sich vor ihr am Strome aus und rückwärts lehnt sie sich an bewaldete Hügel. Auf dem höchsten derselben erhebt sich das Schloß, von allen Seiten frei, hehr und herrlich, herrschend über die ganze Gegend, eines Königs von England würdig; ehrwürdig durch sein Alter und umringt von aller Majestät der Geschichte. Windsor-Castle ist der gefeierte Sitz der Herrscher Britanniens schon seit länger als dreizehn Jahrhunderten. Hier thronte König Arthur mit seinen Rittern von der Tafelrunde, Wilhelm der Eroberer hielt öfters Hof hier, und unter den Regierungen der Eduarde und Heinriche sah es die Tage des höchsten ritterlichen Glanzes. Es war der Lieblingsaufenthalt der Königin Elisabeth, von der noch jetzt eine der Gallerien des Schlosses den Namen führt, und aus seinem Kerker in Windsor bestieg König Karl I. das Schaffott. An Georg III. gingen hier während eines halben Jahrhunderts die Tage des Glücks und eine lange Nacht voller Wehe vorüber. Während seiner und seines Nachfolgers, Georg IV., Regierung wurden große Summen auf die Restauration der alten Königsburg und auf ihre Ausschmückung und Erweiterung verwendet. Durch dieselbe (sie kostete über 10 Millionen Gulden) ist ein Bau entstanden von so erstaunlicher Größe, Pracht und Ausdehnung, daß Windsor-Castle gegenwärtig unter den europäischen Fürstenschlössern ohne Rival dasteht.

Vier große Eingangsthore führen in den regelmäßigen, von imposanten Gebäudefronten umgebenen Schloßhof. Sie sind so angebracht, daß, wenn sie geöffnet sind und man steht in der Mitte des Hofes, jedes Thor ein liebliches Landschaftsbild einrahmt. Zum Südthore führen Propyläen, und das Erste, was im Innern des Vorhofs das Auge fesselt, ist die Sankt Georgskapelle, nicht an Größe, aber an innerer Pracht und an Reichthum der architektonischen Ausschmückung neben der Heinrichs-Kapelle der Westminsterabtei das Schönste und Vollkommenste, was die gothische Baukunst der spätern Jahrhunderte hervorgebracht hat. Sie wurde unter Heinrich VIII. erbaut und in den ersten Jahren des 16ten Jahrhunderts, zur Zeit des Raphael, vollendet. Zum sonntäglichen Gottesdienst ist der Besuch der Kapelle frei. Die Banner, Schwerter und Coronets der Hosenbandritter, stolz an den Emporen rund umher gereiht, das milde Licht der bemalten Fenster, das reiche, [68] kunstvolle Schnitzwerk in Holz und Stein überall, die vielen Grabmonumente an den Wänden geben ein schönes Ensemble, das einen tiefen, dauernden Eindruck hervorbringt. Ein etwas späterer Anbau ist die Grabkapelle, welche sich Kardinal Wolsey, der berühmte Reichskanzler, errichtete; in ihr modern die Leichen der königlichen Familie seit drei Jahrhunderten. Ein Gebäude gegenüber wird, zufolge einer uralten königlichen Stiftung, von verdienten, invaliden Offizieren der britischen Heere – den sogenannten „armen Rittern von Windsor“ – bewohnt. Auch übersieht hier der Beschauer den Coloß des „runden Thurms,“ am besten. Er ist einer der ältesten Theile der Burg, wo mehre Könige und viele Großen des Reichs eingekerkert saßen.

Die ganze Nordseite des innern Burghofs fassen die königlichen Wohnzimmer und die Säle für Hoffeierlichkeiten ein. Letztere sind unter der Führung eines der Kastellandiener jedem anständigen Fremden zugänglich. Hier ist die höchste verschwenderische Pracht des Königthums zur Schau ausgestellt; was jedoch mehr anzieht, als alles Gold und Silber, sind die edeln Werke der Kunst, die alle Wände überdecken. Alle Schulen sind hier durch die besten Meister und ihre bedeutendsten Werke repräsentirt: am reichsten aber die deutsche durch Holbein und die niederländische durch Vandyck.

Aus den Staatszimmern wird man zu einer der Schloßterrassen geleitet. Welche Ueberraschung! Der Ausblick in die schönste Landschaft läßt alle gesehene Pracht von Menschenhand augenblicklich vergessen. Zu den Füßen windet sich die Themse, bedeckt mit Barken und Kähnen, durch die reichen Gauen, welche mit Dörfern, Landhäusern und Weilern bestreut sind, und ein weiter, bewaldeter Hügelkreis mit den prächtigen Sitzen des englischen Adels schaut auf sie herab. Hier sieht man auch das ehrwürdige Eton, die berühmteste Erziehungsanstalt Englands für classische Bildung, eine Stiftung Heinrichs VIII. und die Pflanzschule der größten Männer Britanniens. Die Terrasse selbst umschließt den königlichen Privatgarten, den entzückendsten aller Blumengärten, aus welchem die Treibhäuser zur unmittelbaren Verbindung mit der königlichen Wohnung führen. Hier sind die seltensten Gewächse der heißern Zonen versammelt, und das königliche Paar kann in Hainen von Palmen und unter den Gewürzbäumen Ceylons und der Molucken wandeln.

Eine Gartenwelt voll reizender Mannichfaltigkeit umgibt Windsor-Castle meilenweit und hat ihres Gleichen nicht in England. Der Windsor-Park ist über 16,000 Morgen groß; er umschließt Berge und Thäler, Seen und Wälder, Flecken, Dörfer, Meiereien, Menagerien, Aviarien, botanische Gärten und alle Scenerie einer bald lachenden, bald ernsten, bald wild-romantischen Landschaft. Bequeme Fahrwege führen zu den interessantesten Punkten, deren vollständige Beschauung Wochen kostet. Die Prachtpartie ist Virginia-Water, ein künstlich ausgegrabener, großer See, mit mannichfaltig-staffirter Umgebung, auf dem sich bei Hoffesten eine kleine Flotte prächtiger Schiffchen und Gondeln schaukelt. Gegenstück ist eine kleine Cottage in einem engen Thalgrund, [69] überall von Berg und Wald umschlossen, der stille, anspruchslose Lieblingsaufenthalt Georgs III. Im kleinen See ruderte er selbst seine Gondel, wenn er hier zuweilen zu fischen pflegte. Jetzt kommt schon lange kein König mehr in dieses heimliche Gründchen. Die Welle flüstert noch, aber die Cottage ist verschlossen und schweigsam.

So wird auch ein Tag kommen, wo der Jubel in der stolzen Burg dort auf der Höhe verklungen ist, und die glänzenden Spiegelfenster öde sind und ohne Scheiben, und die goldene Pracht von den Wänden gefallen ist und Wiesel und Käuzchen sich im Thronsaale häuslich eingerichtet haben. Die Zinnen sind dann eingefallen, aber die Sterne schimmern friedlich über die Ruine, bis der letzte Stein in Staub zerfallen ist. Es gedenken dann wohl die Bücher deiner Herrlichkeit und deines Namens, Windsor-Castle, noch eine Zeit lang; doch auch sie werden vergessen, auch sie fallen in Staub. Dann sind viele Jahrtausende vorüber; aber – o Freund! – (möchte deine Seele ob dieses Gedankens jubeln!) – Du bist noch da; „Erde und Sonne werden vergehen: – du dauerst ewig!