Mystik

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Die mittelalterliche Mystikerin Brigitta von Schweden

Begriffsbestimmung

Etymologie

Etymologisch lässt sich der Begriff Mystik von dem lateinischen mysticus: geheimnisvoll, geheim; bzw. dem griechischen Wort mystikos zu myein: (Augen und Lippen) schließen, herleiten.


Definition

Mystik bezeichnet Berichte und Aussagen über die Erfahrung einer höchsten Wirklichkeit. Diese wird oft, aber nicht notwendigerweise, als göttliche Erfahrung bezeichnet. Da der Ausdruck eines Menschen, der diese höchste Wirklichkeit erreicht hat, immer auch von seinem jeweiligen persönlichen Hintergrund (Religion, Kultur) geprägt ist, läßt sich aus phänomenologischer Sicht nicht mit Sicherheit sagen, ob diese höchste Wirklichkeit in den unterschiedlichen Strömungen ein und dieselbe Erfahrung kennzeichnen.

Religionsgeschichtlich versteht man unter Mystik eine Sonderform religiösen Verhaltens, der mit einem bestimmten Frömmigkeitstypus verbunden ist.

Die mystische Gotteserfahrung ist auch in den mystischen Strömungen der abrahamitischen Hochreligionen bekannt, dort wird sie aber mit unterschiedlichen Begriffen wiedergegeben: Feuer (Mose), Liebe (Johannesbriefe), göttliches Du, tiefstes Selbst (Augustinus, Gott als innerstes Innen), "sanftes, leises Säuseln") (1 Kön 19,12).

In den Hochreligionen Buddhismus, Taoismus und im Jainismus werden mystische Erfahrungen einer letztendlichen Wirklichkeit in Bezug auf eine göttliche Wesenheiten weder abgelehnt noch behauptet, sondern offengelassen, um eine strenge Negativ-Theologie aussagen zu können.

Wissenschaft

Mystik wird häufig als irrational, wissenschaftsfeindlich und weltabgewandt bezeichnet.

Jeder Rationalität liegt ein relativer Begriff von Vernunft zugrunde. Rational ist also alles was Erkenntnis (allgemeiner auch Überleben, Erfolg, Glück usw.) bringt. Der Mystiker erfährt dagegen etwas, das er absolute Erkenntnis nennt. Die Rationalität der Mystik hebt relative Rationalität deshalb nicht auf, sondern erweitert sie. Im heutigen Sprachgebrauch wird die Rationalität der Mystik meist transrational genannt.

Der Erkenntnisgewinn in der modernen Wissenschaft grenzt sich durch eine Auswahl von Methoden wie Reproduzierbarkeit, Empirie und Falsifikation von einem Erkenntnisgewinn durch persönliche Erfahrung ab. In diesem Sinn ist mystische Erfahrung definitionsgemäß immer nicht-wissenschaftlich.

Weltabgewandtheit durch die Vermeidung von körperlichen Freuden durch Fasten, Askese und Zölibat oder durch den Rückzug in die Einsamkeit als Eremit hat in den Religionen eine lange Tradition. Anscheinend kann so eine Haltung teilweise zum Erreichen einer mystischen Erfahrung beitragen. Zen-Meister Willigis Jäger, einer der einflussreichsten modernen Mystiker in Europa, betont dagegen: "Ein spiritueller Weg, der nicht in den Alltag führt, ist ein Irrweg."

Von Mystik abgeleitet ist mystisch, ein oft im abwertenden Sinne gebrauchtes Adjektiv, das unverständliches, rätselhaftes und unsinniges Reden bezeichnet, aber oft auch nur geheimnisvoll bedeutet.

Erläuterungen

Mystik im abendländischen Denken

Es seien hier Zeugnisse von oder über mystische Erfahrungen bekannter selbstkritischer Persönlichkeiten vorgestellt (Carl Friedrich von Weizsäcker , Bertrand Russell , Rupert Lay , Blaise Pascal , Paul Watzlawick ), um dem verbreiteten Vorurteil von vornherein entgegenzutreten, dass „Mystik“ eher spinnerte Erfahrungen von weltfernen Nonnen und Mönchen sei.

Dann seien diese Erfahrungen interpretiert und wissenschaftstheoretisch bezüglich ihres Wirklichkeitsgehaltes nach diskutiert.

Manche Menschen glauben nur deshalb an Gott, weil sie nicht akzeptieren wollen, dass der Mensch „seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden und Verbrechen“ (Jacques Monod), sondern weil sie die Hoffnung haben wollen, "dass es bei den geschichtlichen Ungerechtigkeiten nicht bleibt, dass der Mörder nicht über sein Opfer triumphiert" (Max Horkheimer), was nur möglich wäre, wenn es ein ewiges Leben gäbe. Manche Menschen glauben an Gott, weil sie kein aufgeklärt-egoistisches Moral-Ethos akzeptieren wollen sondern auch gesellschaftlich nach einem selbstlosen Moral-Ethos handeln wollen, das unter Umständen erhebliche Verzichte und Selbstopfer verlangt, wenn sie sich für die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse einsetzen, und das nur dann nicht irrational für den sich für die Gesellschaft einsetzenden Einzelnen ist, wenn sie teilhaben an einem ewigen Leben (vollendeten Reich des Gewissens, vollendeten Reich der Zwecke, vollendeten Reich Gottes, Glückseligkeit). (Nähere Erläuterung hierzu unter dem Link „Postulatorische Glaubensbegründung

Manche Menschen verbieten sich aber den Glauben an Gott, weil sie sich schämen, im Glauben einer Illusion anheim zu fallen. Für sie wäre der Glaube an Gott nur akzeptabel, wenn etwas von Gott wirklich erfahrbar wäre. Auf dieses Problem kann die Mystik eine gute Antwort geben. (Näheres hierzu unter dem Link „kritisch-rationale Glaubensbegründung“)

Zur Schwierigkeit, über die höchste erfahrbare Wirklichkeit zu reden

Menschen, die die mystische Erfahrung gemacht haben, weisen darauf hin, dass kein Begriff und keine Aussage das Erfahrene auch nur annähernd beschreibt, "dass alle diese Vokabeln irreführender sind, wahrscheinlich irreführender, als wenn man darüber schlicht schweigt". (Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Hanser 1978(5), 536)

Mystiker reden nicht gerne über ihre Erfahrung, weil alle zur Verfügung stehenden Begriffe und Aussagen dem Erfahrenen gegenüber viel mehr falsch als richtig sind. R. Lay beschreibt das so: "Diese Erfahrungserkenntnis Gottes [...] geht einher mit der Unfähigkeit, über Gott zu sprechen. Genauer: Jetzt weiß ein Mensch von einem Gott – aber sein Wissen muss sprachlos bleiben. Wenn er zu sprechen beginnt, weiß er, dass er über etwas anderes spricht, als über Gott. Und das ist ihm peinlich und unangenehm." (Rupert Lay, Credo. Wege zum Christentum in der modernen Gesellschaft, Langen-Müller/Herbig 1981, 93)

Von Thomas von Aquin, dem größten mittelalterlichen Theologen, wird berichtet, dass er alle seine Bücher verbrennen wollte, nachdem er diese Gotteserfahrung gemacht hatte, weil er eben erkennen musste, dass all die Begriffsinhalte des Wortes "Gott" mehr falsch als richtig sind für die Beschreibung dieser Erfahrung.

Buddha wollte das mystisch Erfahrene nicht Gott nennen, weil das, was man allzu oft unter Gott verstehe, die erfahrene höchste Wirklichkeit nicht sei. Denn diese höchste Wirklichkeit sei kein Wesen, das mit Verstand und Willen ausgestattet sei und handele, sondern die höchste Wirklichkeit sei einfach nur da als alles überstrahlender Friede und glückselige Wirklichkeit. Die höchste Wirklichkeit bewahre Menschen auch nicht vor Unglück oder befreie auch nicht aus Lebensgefahren, wenn man sie in Gebeten inständig darum bäte, sondern in der Welt geschehe viel unabänderliches Leid, und dennoch sei alles in dieser höchsten Wirklichkeit geborgen. Die höchste Wirklichkeit erschaffe auch nicht die vielen Weltdinge wie die Quelle einen Bach hervorbringe oder wie ein Künstler sein Kunstwerk erschaffe. Man wisse nichts darüber, wie das Entstehungsverhältnis sei von der letzten Wirklichkeit und den Weltdingen. Die höchste Wirklichkeit sei einfach da als souveräne, unantastbare, absolut erfüllende Wirklichkeit, die prinzipiell von Menschen wahrgenommen werden könne.

Das mystisch Erfahrene wird manchmal als Leerheit (Nichts) beschrieben. Das bedeutet nicht, dass das mystisch Erfahrene nichts wäre, sondern Leerheit besagt, dass das mystisch Erfahrene nicht wie die Weltdinge aus mehreren Einzelheiten zusammengesetzt ist und deshalb im Vergleich zur Welt Leerheit genannt werden kann. Das mystisch Erfahrene wird aber auch als Wirklichkeit beschrieben, in der es kein Leid, keinen Tod und keine Entwicklung mehr gibt, die eine absolute Erfüllung und Seligkeit bedeutet – aber ganz anders, als man sich Glückseligkeit vorstellen kann und zu sagen wüsste.

Das mystisch Erfahrene ist aber so gewaltig und wunderbar, dass theistisch geprägte Menschen dafür kein anderes Wort haben als das Wort für die höchste Wirklichkeit, das Wort Gott. Atheistisch geprägte Menschen, die die mystische Erfahrung gemacht haben, werden diese Erfahrung eher aussagen als die Erfahrung der wahren Natur allen Seins, als die tiefe kosmische Einheit aller Dinge. Denn die höchste Wirklichkeit kann nur in den Begriffen und Vorstellungsformen erfahren und ausgesagt werden, die durch die Sozialisation im Bewusstsein vorhanden sind. Theistisch geprägte Menschen werden gegenüber einer nicht-theistischen Beschreibungsweise kritisch fragen, warum man die absolute Erfüllung gebende Wirklichkeit nur als tiefe naturhafte Weltkraft oder als unpersönlich-kosmischen Weltgrund aussagt und nicht als überpersonale göttliche Wirklichkeit.

Man darf sich nicht vorstellen, dass man in der mystischen Erfahrung Gott erfährt als ein sichtbares Gegenüber, wie man es sonst von der weltlichen Objekterkenntnis her kennt. Von einer "direkten" Erfahrung Gottes kann also insofern nicht die Rede sein, als das Ich diesem Höheren nicht gegenübersteht, sondern umfasst wird von diesem Höheren. Das Ich erfährt "nur", dass es grenzenlos in etwas anderem geborgen ist. Primär erfährt es also eine Wirklichkeit über sich selbst. "Nur" sekundär erfährt es Gott "direkt", inso-fern das Ich mit-wahrnimmt, in was es geborgen ist. Man kann also sagen, Gott selbst sei unsichtbar (vgl. 1 Tim 6,16: "Gott, der in unzugänglichem Licht wohnt, den kein Mensch gesehen hat.").

Zum Problem des vernünftigen Sprechens über Gott siehe Näheres unter dem Link „Analogielehre – vernünftig über Gott sprechen? (Sprachphilosophie und Theologie)“

Texte zur Mystik

Mystische Erfahrung Carl Friedrich von Weizäckers

Text aus: Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Hanser 1978 (5), 592, 593, 595f.

Bis zu meinem vierzigsten Jahr war "das moralische Gesetz über mir". Ich wusste, was von mir verlangt wurde, und tat es nicht. Ich wusste, dass die Menschheit in die Katastrophe treibt, und dass ihr nur helfen kann, wer diesen Weg geht. Mit Depressionen quittierte ich, dass ich zur "Stütze der Gesellschaft" wurde. Eine persönliche Krise, in der ich an Menschen schuldig wurde, befreite mich. Mit einem Schlag sah ich den persönlichen Ehrgeiz im Selbstanspruch der Vollkommenheit, im Postulat, der Welt zu helfen. Ich erfuhr, dass es eine innere Stimme gibt, die eindeutig und unmittelbar verständlich lehrt, wenn wir sie unter völligem Verzicht auf Eigenwillen fragen; sie fordert, wo es am meisten wehtut, und sie tröstet, wo wir es nicht erhofft hätten. Ich schränkte mich auf den engsten Kreis der Pflichten ein, opferte den Ehrgeiz der Erkenntnis und der Politik. Und dann kam der erste Durchbruch zur philosophischen Physik und zur politischen Wirkung. [...] Der Bericht über Erfahrungen muss [...] noch einen Schritt weitergeführt werden. Vor nun zwanzig Jahren sagte mir ein Besucher [...], um der hochnotwendigen Verbindung zwischen östlicher Weisheit und westlicher Wissenschaft willen solle ich den Kontakt mit bestimmten indischen Weisen suchen. Ich antwortete spontan, dies sei in mir nicht reif, und kein Willensakt sei hier von Nutzen. Ich sei überzeugt, dass die Inder Wahrheit lehren, und wenn ihre Lehre wahr sei, so sei auch wahr, dass das tiefere Selbst die Bewegung macht, wenn sie an der Zeit ist. Sie würde mir zur rechten Zeit begegnen. In dieser Haltung blieb ich lange. [...] Der Leser möge entschuldigen, dass ich das, was nicht zu schildern ist, nicht eigentlich schildere, und doch davon spreche; denn andernfalls hätte ich diesen Lebensbericht nicht beginnen dürfen. Als ich die Schuhe ausgezogen hatte und im Ashram vor das Grab des Maharshi trat, wusste ich im Blitz: "Ja, das ist es." Eigentlich waren schon alle Fragen beantwortet. Wir erhielten im freundlichen Kreis auf grünen großen Blättern ein wohlschmeckendes Mittagessen. Danach saß ich neben dem Grab auf dem Steinboden. Das Wissen war da, und in einer halben Stunde war alles geschehen. Ich nahm die Umwelt noch wahr, den harten Sitz, die surrenden Moskitos, das Licht auf den Steinen. Aber im Flug waren die Schichten, die Zwiebelschalen durchstoßen, die durch Worte nur anzudeuten sind: "Du"- "Ich"-"Ja". Tränen der Seligkeit. Seligkeit ohne Tränen. Ganz behutsam ließ die Erfahrung mich zur Erde zurück. Ich wusste nun, welche Liebe der Sinn der irdischen Liebe ist. Ich wusste alle Gefahren, alle Schrecken, aber in dieser Erfahrung waren sie keine Schrecken. Sollte ich nun immer hier bleiben? Ich sah mich wie eine Metallkugel, die auf eine blanke Metallfläche fällt und, nach der Berührung eines Augenblicks, zurückspringt, woher sie kam. Ich war jetzt ein völlig anderer geworden: der, der ich immer gewesen war [...]. Mit unendlicher Sanftheit verließ mich langsam die Erfahrung in den kommenden Tagen und Wochen. Ihre Substanz ist immer bei mir. Ohne sie hätte ich die Erstickungserlebnisse jener Jahre vielleicht nicht bestanden.

Mystische Erfahrung als Feuer

Zum Text: Den folgenden berühmten Text nennt man >Memorial< (Erinnerungsblatt). Es handelt sich um einen beschriebenen schmalen Pergamentstreifen, den Pascal bis zu seinem Tod offensichtlich immer wieder neu in das Futter seines Rockes eingenäht hatte, und der nach Pascals Tod von einem Diener zufällig entdeckt wurde. Pascal trug diesen Zettel immer bei sich; diese mystische Erfahrung musste ihm also sehr viel bedeutet haben. In stammelnden Worten, Rufen und mit langen Gedankenstrichen beschreibt sie Pascal. Inhaltlich sagt er, dass Gott nicht über das Denken zu finden sei in philosophischen Gottesbeweisen ("nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten"), sondern dass Gott eine Erfahrung sei wie Feuer, wobei er mit seinen Worten auf die Erzählung vom brennenden Dornbusch ausdrücklich anspielt (Ex 3,6: "Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs").

Jahr der Gnade 1654
Montag, den 23. November, Tag des heiligen Klemens, Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium. Vorabend des Tages des heiligen Chrysogonos, Märtyrer, und anderer. Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht
Feuer
"Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs", nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede.
Gott Jesu Christi
Deum meum et Deum vestrum. "Dein Gott wird mein Gott sein"- Ruth - Vergessen von der Welt und von allem, außer Gott. Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist er zu finden.
Größe der menschlichen Seele
"Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich." Freude, Freude, Freude und Tränen der Freude. Ich habe mich von ihm getrennt. Dereliquerunt me fontem aquae vivae.
"Mein Gott, warum hast du mich verlassen." Möge ich nicht auf ewig von ihm geschieden sein.
"Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen."
Jesus Christus!
Jesus Christus!
Ich habe mich von ihm getrennt, ich habe ihn geflohen, mich losgesagt von ihm, ihn gekreuzigt. Möge ich nie von ihm geschieden sein. Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, kann man ihn bewahren.
Vollkommene und liebevolle Entsagung. Vollkommene und liebevolle Unterwerfung unter Jesus Christus und meinen geistlichen Führer. Ewige Freude für einen Tag geistiger Übung auf Erden. Non obliviscar sermones tuos. Amen.

Mystische Erfahrung als Zeitlosigkeit

Text aus: Paul Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung – Verstehen, R. Piper & Co. Verlag 1987(15), 235-237

Die ewige Gegenwart ... quia tempus non erit amplius. (. . . dass hinfort keine Zeit mehr sein soll.) Offenbarung 10,6
Wenn Öl aus einem Behälter in einen anderen gegossen wird, fließt es in einem Strahl von vollkommener Glätte und Stille. Für den Beobachter liegt etwas Faszinierendes im gläsernen, regungslosen Wesen dieses raschen Flusses. Ist es vielleicht deswegen, weil er uns archetypisch an jenen Aspekt der Zeit gemahnt, dessen Geheimnisse noch größer sind als die der Vergangenheit und Zukunft? Zwischen diesen beiden unendlich langen Zeiträumen, die sich in entgegengesetzte Richtungen erstrecken, liegt der unendlich kurze Augenblick der Gegenwart. Er stellt sowohl unser unmittelbarstes wie auch unerfassbarstes Erlebnis der Zeit dar. Die Gegenwart hat keine Länge und ist dennoch der einzige Zeitpunkt, an dem das, was geschieht, geschieht, und sich ändert, was sich ändert. Sie wird zur Vergangenheit, bevor wir uns ihrer gewahr sind, und doch, da jeder gegenwärtige Augenblick vom nächsten gegenwärtigen Augenblick gefolgt ist, ist das Jetzt unsere einzige direkte Erfahrung der Zeit – daher das zenbuddhistische Gleichnis des Ölstrahls. Wir sahen bereits, dass [...] wir die Zeit als vierte Dimension nicht begreifen können, außer im Bilde des Fließens. Wir können das Wesen der Zeit nicht als »ganz, einzigartig, unbewegt, zusammenhängend« in Parmenides' Sinn erfassen, außer unter höchst ungewöhnlichen Umständen und für kurze, blitzartige Momente. Zu Recht oder Unrecht werden diese Momente als mystische bezeichnet. Es gibt in der Weltliteratur zahllose Beschreibungen dieses Erlebnisses, und wie verschieden diese Schilderungen in jeder anderen Hinsicht auch sein mögen, scheinen sich ihre Autoren darüber einig zu sein, dass sie irgendwie zeitlos und wirklicher als die Wirklichkeit sind. [...] Doch die ewige Gegenwart wird kaum je ohne die Verzerrungen und Überlagerungen durch frühere Erfahrung und durch Zukunftserwartungen erlebt. Wie dieses Buch zu zeigen versuchte, können Annahmen, Dogmen, Prämissen, Aberglauben, Hoffnungen und dergleichen wirklicher als die Wirklichkeit werden und jenes Gewebe von Illusionen erzeugen, das die indische Philosophie maja nennt. Ziel des Mystikers ist daher die Befreiung aus der Befangenheit in Vergangenheit und Zukunft. »Der Sufi«, schreibt der persische Dichter Dschelal ed-Din Rumi, »ist der Sohn der gegenwärtigen Zeit.« [...] Sowohl Zustände großer Gelöstheit und Erfüllung, als – paradoxerweise – auch Augenblicke großer Gefahr können dieses Erlebnis herbeiführen. Koestler erlebte es in der Todeszelle eines spanischen Gefängnisses, während er sich mit der Eleganz des Euklidischen Beweises beschäftigte, dass die Zahl der Primzahlen unendlich groß ist: "Die Bedeutung dieser Erkenntnis schlug über mir zusammen wie eine Welle. Die Welle war einer artikulierten verbalen Einsicht entsprungen, die sich aber sofort verflüchtigt hatte und nur einen wortlosen Niederschlag zurückließ, einen Hauch von Ewigkeit, ein Schwingen des Pfeils im Blauen. Ich muß so einige Minuten verzaubert dagestanden haben, in dem wortlosen Bewusstsein: »das ist vollkommen – vollkommen«. [. . .] Dann wurde mir, als glitte ich, auf dem Rücken liegend, in einem Fluss des Friedens unter Brücken des Schweigens. Ich kam von nirgendwo und trieb nirgendwo hin. Dann war weder der Fluss mehr da noch ich. Das Ich hatte aufgehört zu sein. [. . .] Wenn ich sage »das Ich hatte aufgehört zu sein«, so beziehe ich mich auf ein konkretes Erlebnis, das in Worten so wenig ausdrückbar ist wie die Empfindungen, die durch ein Klavierkonzert ausgelöst werden, das aber genau so wirklich ist – nein, sehr viel wirklicher. Tatsächlich ist sein wichtigstes Kennzeichen der Eindruck, dass dieser Zustand viel wirklicher ist als irgendein je zuvor erlebter – [Arthur Koestler, Die Geheimschrift. Bericht eines Lebens, 1933 bis 1940. Verlag Kurt Desch 1954, 374]. Und hier liegt die endgültige Paradoxie. Wer immer versuchte, das Erlebnis der ewigen Gegenwart in Worte zu kleiden, fand, dass Worte dafür unzureichend sind. »Der Sinn, den man ersinnen kann, ist nicht der ewige Sinn; der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name«, schrieb Laotse vor 2500 Jahren. Als Meister Shint'ou gefragt wurde, was der letzte Inhalt des Buddhismus sei, antwortete er: »Ihr werdet ihn nicht verstehen, solange ihr ihn nicht habt.« Wenn man ihn aber einmal erfasst hat, bedarf er offensichtlich keiner Erklärung mehr. Und Wittgenstein, der seine Erforschung der Wirklichkeit bis an die Grenzen menschlichen Verständnisses vortrieb, schloss seine »Logisch-Philosophischen Abhandlungen« mit dem berühmten Satz: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Hier also sei dieses Buch beendet.

Mystik als Liebe

Text aus: Bertrand Russell, Mein Leben I, Europa Verlag, 9 f und 50-52, in: Konzepte, Heft 1, Materialien für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II, Kösel-Verlag 1978, 8 f.

In diesem Alter begann ich (mit fünfzehn – d. Verf.), die vermeintlich auf Vernunft beruhenden Argumente für die grundlegenden Glaubenssätze des Christentums einer systematischen Untersuchung zu unterziehen. Endlose Stunden brachte ich mit dem Grübeln darüber hin; ich konnte jedoch mit keinem Menschen darüber sprechen aus Angst, schmerzliche Gefühle zu erwecken. Sowohl unter dem allmählichen Verlust des Glaubens wie unter dem Zwang zu schweigen litt ich heftig. [...] Zwei Jahre später gelangte ich zu der Überzeugung, dass es kein Leben nach dem Tode gibt; aber ich glaubte immer noch an Gott, weil mir das Argument der »Ersten Ursache« (Näheres unter Gottesbeweise; Kausalbeweis – d. Verf.) unwiderlegbar schien. Mit achtzehn jedoch, kurz bevor ich nach Cambridge ging, las ich Stuart Mills Autobiography und darin fand ich eine Stelle des Inhalts, sein Vater habe ihn gelehrt, auf die Frage: »Wer hat mich geschaffen?« gebe es keine Antwort, weil diese Frage sofort zu der weiteren führe: »Und wer hat Gott geschaffen?« Dies brachte mich dazu, Begriff und Beweis der »Ersten Ursache« fallenzulassen und Atheist zu werden. Während der langen Zeit des religiösen Zweifels machte mich der allmähliche Verlust des Glaubens höchst unglücklich, aber als dann reiner Tisch gemacht war, merkte ich zu meiner Überraschung, dass ich durchaus froh war, die ganze Sache hinter mir zu haben. [...] Drei einfache, doch übermächtige Leidenschaften haben mein Leben bestimmt: das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und ein unerträgliches Mitgefühl für die Leiden der Menschheit. Gleich heftigen Sturmwinden haben mich diese Leidenschaften bald hier-, bald dorthin geweht in einem launenhaften Zickzackkurs über ein Weltmeer von Qual hinweg bis zum letzten Rand der Verzweiflung. Nach Liebe trachtete ich, einmal, weil sie Verzückung erzeugt, eine Verzückung so gewaltig, dass ich oft mein ganzes, mir noch bevorstehendes Leben hingegeben haben würde für ein paar Stunden dieses Überschwangs. Zum andern habe ich nach Liebe getrachtet, weil sie von der Einsamkeit erlöst, jener entsetzlichen Einsamkeit, in der ein einzelnes erschauerndes Bewusstsein über den Saum der Welt hinabblickt in den kalten, leblosen, unauslotbaren Abgrund. Und letztens habe ich nach Liebe getrachtet, weil ich in der liebenden Vereinigung, in mystisch verkleinertem Abbild, die Vorahnung des Himmels erschaute, wie er in der Vorstellung der Heiligen und Dichter lebt. Danach habe ich gesucht und, wiewohl es zu schön erscheinen mag für ein Menschenleben: ich habe es – am Ende – gefunden. Mit gleicher Leidenschaft habe ich nach Erkenntnis gestrebt. Ich wollte das Herz der Menschen ergründen. Ich wollte begreifen, warum die Sterne scheinen. Ich habe die Kraft zu erfassen gesucht, durch die nach den Pythagoreern die Zahl den Strom des Seins beherrscht. Ein wenig davon, wenn auch nicht viel, ist mir gelungen. Liebe und Erkenntnis, soweit sie erreichbar waren, führten empor in himmlische Höhen. Doch stets brachte mich das Mitleid wieder zur Erde zurück. Widerhall von Schmerzensgeschrei erfüllt mein Herz: Verhungernde Kinder, gefolterte Opfer von Unterdrückern, hilflose alte Menschen, ihren Kindern zur verhassten Bürde geworden – die ganze Welt der Verlassenheit, der Armut, des Leids, all das macht ein hohnvolles Zerrbild aus dem, was Menschenleben eigentlich sein soll. Es verlangt mich danach, dem Übel zu steuern, allein ich vermag es nicht, und so leide auch ich. So war mein Leben. Ich habe es lebenswert gefunden, und ich würde es mit Freuden noch einmal leben, wenn sich mir die Möglichkeit böte.

Erkenntnistheoretische Erörterung der mystischen Erfahrung

Man kann sich nun fragen, ob die mystische Erfahrung eine Halluzination ist. Halluzinationen sind Bilderlebnisse, die unsere Psyche im Wachzustand produziert. In Halluzinationen nimmt man also nichts außerhalb des Bewusstseins wahr, sondern unser Bewusstsein produziert von sich aus Bilder und Vorstellungen, ohne dass dabei etwas in der Wirklichkeit entspricht. In Halluzinationen läuft unser Bewusstsein sozusagen leer, es arbeitet ohne Wirklichkeitsbezug.

Darauf ist zunächst einmal zu antworten, dass die mystische Gotteserfahrung weder eine Erfahrung im schlafenden Zustand ist, noch eine im trancehaften Zustand, sondern sie ist eine Erfahrung, bei der man extrem wach ist: hoch konzentriert, die Umwelt wahrnehmend, wenig denkend, sehr stark wahrnehmend. (Vgl. den oben stehenden Erlebnisbericht von C. F. v. Weizsäcker.)

Zweitens ist darauf zu sagen, dass zwar in manchen schizophrenen Geisteszuständen von Geister- und Engelerscheinungen berichtet wird oder Menschen versichern, Gott habe zu ihnen gesprochen. Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die mystische Erfahrung führt zu einer Neubewertung und Umorganisation aller wichtigen handlungsleitenden Motive, Affekte, Welt- und Selbstbildvorstellungen, die eine erheblich verbesserte Konfliktfähigkeit erlauben. Sehr wohl kann man beim Meditieren visionäre Erlebnisse haben. Denn die Meditation ist auch ein Sich-Einlassen auf das Unbewusste, aus dem dabei Bild-Erlebnisse auftauchen können. Aber die Gotteserfahrung ist keine Meditation, sondern die Meditation dient nur der Vorbereitung der Erfahrung der göttlichen Letzt-Wirklichkeit.

Drittens ist zu sagen, dass alles, was sich von Gott wahrnehmen lässt, nur Bilder der menschlichen Seele von Gott sein können, nie von Gott an sich, wie er unabhängig vom wahrnehmenden Bewusstsein existiert. „So wie man eine Blume auf der Wiese oder eine Wolke am Himmel nur vermittels der optischen Gesetze des menschlichen Auges wahrnehmen kann, so kann auch die Erscheinung des Heiligen psychisch nur nach den Gesetzen der menschlichen Psyche erfolgen.“(Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Band II, 1989 (5), 402) Und so wie man die Wahrnehmung (Erscheinung) von Blumen auf der Wiese nicht einfach für die Realität halten kann, sondern für ein farbiges Bild unserer Netzhaut, Augennerven und sy-naptisch verbunden Neuronen unseres Gehirns von einer unfarbigen Realität, so kann man auch die psychische Ebene der Erfahrung des Göttlichen nicht einfach mit dem wahrgenommenen Göttlichen identifizieren. „Wenn im Herbst die Mönchsgrasmücken (Vogelart – d. Verf.) sich auf den Weg nach Süden begeben, so orientieren sie sich nach den Bildern der Sterne, die, noch ehe sie aus dem Ei schlüpfen, in ihren kleinen Köpfen eingeschrieben sind. Wohlgemerkt, es gibt »objektiv« so etwas wie »Sternbilder« gar nicht; es gibt nur Fixsternsonnen, die um Millionen von Lichtjahren voneinander getrennt, sich vor dem Wirbeltierauge in bestimmten Mustern anordnen; und dennoch haben gerade diese Bilder sich bis in das Erbgut der Tiere eingegraben, um, wenn die Zeit gekommen ist, den Vögeln über Wälder und Weiten, über Gebirge und Meere den Weg nach Süden, zurück in ihre wärme Heimat, zu zeigen. Ganz ähnlich wird man die Bilder betrachten dürfen, die den Visionären und Propheten zuteil werden: es handelt sich um Formen und Inhalte der Anschauung, die der Seele eines jeden Menschen angeboren sind, sie sind nicht subjektiv ersonnen, aber sie sind deshalb auch nicht schon eine außerpsychische Wirklichkeit an sich; ja im Grunde vermitteln sie ein Bild von der Wirklichkeit, das allenfalls in analogem Sinn als zutreffend gelten darf.“ (AaO. 320)

Zusammenfassend gesagt, begegnet einem in der mystischen Erfahrung das Göttliche genau in den Bildern und Begriffen, die einem in seinem Kul-turkreis bekannt sind: als Licht, als Eins, als Nirwana, liebendes Du... Nun kann man aber daraus nicht skeptisch schlussfolgern, dass einem in der mystischen Erfahrung nur die im Bewusstsein gespeicherten Kulturinhalte begegnen und nicht Gott. Denn wie jede Wirklichkeit auch, so begegnet einem das Göttliche in den Begriffen und Vorstellungsformen, die dem Bewusstsein durch seine individuell-soziale und individuell-kulturelle Prägung zugänglich geworden sind.

Viertens lässt sich der skeptische Einwand, die mystische Erfahrung sei nur eine Halluzination, so wenig entkräften, wie der Einwand, dass man nicht sicher sein könne, jetzt nicht zu träumen, weil man jeden Hinweis auf die Unterschiede von Traumbewusstsein und Wachbewusstsein – das Zeit- Raum- und Kausalerleben ist sehr unterschiedlich – mit dem Hinweis abtun kann, dass man auch einmal einen Traum haben kann, in dem die Traumwirklichkeiten sich wie die Realität verhalten. Aber so, wie man weiß, dass man nicht träumt, wenn man im Wachzustand ist, so weiß man, dass die mystische Erfahrung keine Halluzination ist, wenn man die göttliche Wirklichkeit wahrge-nommen hat; nur beweisen lässt sich das nicht, sondern nur erfahren – so wenig wie man beweisen kann, sondern nur erfahren kann, dass man jetzt beim Lesen dieser Worte nicht träumt. Letztlich muss man den Wahrnehmungen durch die Sinne glauben, dass sie uns nicht systematisch in die Irre führen und tatsächlich realen Wirklichkeiten ähneln – wenngleich auch in erheblichen Wahrnehmungsunschärfen. Wer aber das Urteil der Sinne nicht gelten lässt, sondern denkt, die Wahrnehmung sei ein Gespinst, mit dem kann man letztlich nicht über die Realität des Wahrgenommenen reden, weil er den Realitätsgehalt dieser Wahrneh-mung überhaupt leugnet. Man kann allenfalls noch gegenüber einem Skeptiker zurückfragen, was er denn erwarte, um von der Existenz Gottes überzeugt zu werden. Welche Tatsache könnte einen Skeptiker überzeugen, so dass er an Gott glaubte? Wie müsste Gott erscheinen, um akzeptiert zu werden? Und der Skeptiker wird nichts Sinnvolles auf diese Frage zu antworten wissen. Skepsis gegen den Skeptizismus ist also höchst angebracht, weil die Leugnung der Realität (Außenwelt) der Wahrnehmung sich durch keine guten Gründe nahelegt. Welche Annahmen aufgrund welcher Argumente vernünftig oder unvernünftig sind, entscheiden letztlich also methodologische Argumente. (Näheres hierzu unter dem Link „Wissenschafts-Methodologie“)

Mystiker aller Zeiten und Kulturen haben immer wieder daraufhingewiesen, das die erfahrene Wirklichkeit in einer echten mystischen Erfahrung viel intensiver empfunden wird als die Wirklichkeit, die durch Sinneswahrnehmungen und Denkvorgänge vermittelt wird. Der Zweifel des Verstandes, der durch die Aktivität des Denkens entsteht, tritt in den Hintergrund oder löst sich völlig auf. Es macht also nur bedingt einen Sinn den Begriff von Wirklichkeit aus der rationalen Philosophie und Theologie mit der Erfahrung von Wirklichkeit in der Mystik zu vergleichen. Die völlige Abwesenheit von Zweifels muss allerdings kein Dauerzustand sein. So ist zum Beispiel von Franz von Assisi bekannt, dass er viele Jahre unter einem nicht kontrollierbaren Wechsel dieser Erfahrungsebenen stark gelitten hat.

Wie will man die mystische Erfahrung erklären? Hierzu schreibt C.F.v. Weizsäcker: "»Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen.« (Mt 5,8) Im Herzen sollen wir rein sein. Das Herz – das sind die Affekte. Wir finden uns aber unreinen Herzens vor. Wie können wir im Herzen rein werden? Das Entscheidende wird das Verlangen nach Reinheit sein, eben das Hungern und Dürsten ...(das Bitten und Betteln um den Geist der Liebe, des Vertrauens, des Nicht-Verhärtens... – d. Verf.). Wenn die Affekte Organe unserer Wahrnehmung sind, so ist es vernünftig, für möglich zu halten, dass die gereinigten Affekte den Raum freimachen für eine Wahrnehmung des Höchsten." (Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Hanser 1978 (5), 499 )

Praktische Anwendung christlicher Mystik

Gebet in Form von aufrichtig gemeinter Fürbitte für die Mit-Menschen, aber auch Bitten um die göttliche Gnade der Erkenntnis, soweit sie für einen selber "richtig" ist (Dein, nicht mein Wille geschehe.) sowie unabdingbar: konsequentes an den Vorgaben Gottes Dran-bleiben-Wollen, auch bei zeitweiligem eigenem Versagen aus menschlicher Schwäche, soll dabei "Stein der Weisen" sein.

Praxis buddhistischer Mystik

In der buddhistischen Mystik, die insbesondere im Mahayana -und Vajrayana verbreitet ist, geht es wie bei allen buddhistischen Schulen nicht um direkte Erfahrung eines göttlichen Wesens, vielmehr ist die Natur des Geistes des Praktizierenden selbst jenseits von Dualität. Sie wird jedoch aufgrund einer temporären Verschleierung nicht als solche erkannt. Aus dieser Nichterkenntnis, auch grundlegende Unwissenheit genannt, entsteht die Vorstellung eines unabhängig von anderen Phänomenen existierenden Ichs und damit geht das Auftreten der Geistesgifte Verwirrung/Dummheit, Hass, Gier, Neid und Stolz einher, die Ursache allen Leidens. Ziel aller Praxis ist es, die Geistesgifte in ursprüngliche Weisheit umzuwandeln, die Ich-Vorstellung aufzulösen und die den unerleuchteten Wesen eigene Aufspaltung der Phänomene in Subjekt und Objekt zu überwinden. Die den fühlenden Wesen innewohnende, bis dahin verschleierte Buddhanatur wird spontan, als immer schon grundlegend vorhanden erkannt. Einen Menschen, der dieses erreicht, nennt man erleuchtet oder schlicht Buddha. Um dies zu erreichen benutzen Buddhisten Praktiken wie Meditation, Gebet, Opferdarbringungen, verschiedene Yogas und spezielle tantrische Techniken.

Praxis islamischer Mystik

Die Sufis (islamische Mystiker) glauben, daß Gott in jeden Menschen einen göttlichen Funken gelegt hat, der im tiefsten Herzen verborgen ist. Gleichzeitig wird dieser Funke auch durch die Liebe zu allem, was nicht Gott ist, verschleiert, genauso wie durch die Aufmerksamkeit gegenüber den Banalitäten der (materiellen) Welt, sowie durch Achtlosigkeit und Vergeßlichkeit. Laut des Propheten Muhammad sagt Gott zu den Menschen: „Es gibt siebzigtausend Schleier zwischen euch und Mir, aber keinen zwischen Mir und euch.“

Die meisten Sufis praktizieren deshalb eine tägliche Übung namens Dhikr, das bedeutet Gedenken (also Gedenken an Gott, bzw. Dhikrullah). Dabei rezitieren sie bestimmte Stellen aus dem Koran und wiederholen eine bestimmte Anzahl der göttlichen Attribute (im Islam neunundneunzig). Darüber hinaus kennen die meisten sufischen Orden (Tariqas) ein wöchentliches Zusammentreffen in sogenannten Tekkes, bei dem neben der Pflege der Gemeinschaft und dem gemeinsamen Gebet ebenfalls ein Dhikr ausgeführt wird. Je nach Orden kann dieser Dhikr auch Musik, bestimmte Körperbewegungen und Atmungsübungen beinhalten.

Moderne religionsunabhängige Mystik

Seit Carl Gustav Jung wird Mystik immer mehr zu einer religionsunabhängigen inneren Kontemplation jenseits der Spaltung in verschiedene Konfessionen und Religionsbekenntnisse. Vorbild dazu ist der Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe (Bruder Klaus), gemäss Carl Gustav Jung »der einzige hervorragende schweizerische Mystiker von Gottes Gnaden, [der] unorthodoxe Urvisionen hatte und unbeirrten Auges in die Tiefen jener göttlichen Seele blicken durfte, welche alle, durch Dogmatik getrennten Konfessionen der Menschheit noch in einem symbolischen Archetypus vereinigt enthält« [Ges. Werke, 11, § 487].

In ihrem Buch Die Visionen des Niklaus von Flüe zeigt Marie-Louise von Franz, wie die Visionen dieses mittelalterlichen Mystikers ihn dazu drängten, sein christliches mit einem heidnisch-germanischen Gottesbild zu verbinden. Es lassen sich darin aber auch Elemente des mystischen Islam (Sufismus), des mystischen Hinduismus und Buddhismus (Tantrismus) und des mystischen Judentums (Kabbala) nachweisen (vgl. Weblinks).


Einteilungen und Modelle

In Ken Wilbers einigermaßen anschaulichem Modell der Bewusstseinsebenen sind die höchsten Stufen der Bewusstseinsleiter folgendermaßen den verschiedenen möglichen Ausprägungen von Mystik und mystischen Erfahrungen zugeordnet (Beschreibung der jeweiligen Erfahrung in Anführungszeichen gesetzt, da diese jeder Beschreibung spottet - das beginnend auf der unteren, psychischen Ebene)

  • Kausale Ebene - formlose Mystik - in Worten nicht beschreibbar
  • Subtile Ebene - Gottheitsmystik - Erfahrung der Einheit mit Gott
  • Psychische Ebene - Naturmystik - Erfahrung der Einheit mit der Natur
  • es folgen die weiteren Bewußtseinsebenen, die terminologisch nicht der Mystik zugeordnet sind

Siehe auch

Literatur

Allgemeine Literatur

Spezielle Literatur

Forschung

Sufismus

Christentum

  • Peter Dinzelbacher: Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Schöningh, Paderborn u.a. 1994, ISBN 3-506-72016-3
  • Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. 5 Bde. Beck, München 1990-1999.

Kabbala

Buddhismus

  • Daisetz T. Suzuki: Der westliche und der östliche Weg. Über christliche und buddhistische Mystik. Neuaufl. Ullstein, Frankfurt am Main u.a. 1995.