Der blaue Express (1929)
Film | |
Titel | Der blaue Express |
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Originaltitel | Голубой экспресс |
Produktionsland | UdSSR |
Originalsprache | Russisch |
Erscheinungsjahr | 1929 |
Länge | 1651 m (5 Akte) (Deutschland), bei 19 BpS. 76 Minuten |
Stab | |
Regie | Ilja Trauberg |
Drehbuch | Ilja Trauberg Leonid Ijerichonow |
Produktion | Sowkino (Moskau) |
Musik | Edmund Meisel |
Kamera | Boris Chrennikow |
Besetzung | |
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Der blaue Express (russisch Голубой экспресс Goluboi ekspress) ist ein sowjetrussischer Stummfilm, den der Regisseur Ilja Trauberg im Jahre 1929 für die staatliche Produktionsfirma Sowkino gedreht hat. Das Drehbuch schrieben Regisseur Ilja Trauberg und Leonid Ijerichonow nach einer Geschichte von Sergei Tretjakow. Die Kameraarbeit besorgte Boris Chrennikow. Filmarchitekten waren Boris Dubrowski-Eschke und Moissei Lewin.
Handlung
China in den 1920er Jahren: ein Expresszug, der Reisende nach Russland bringen soll, wartet auf seine Abfahrt. Wie in der Wirklichkeit der Gesellschaft sind auch im Zug die Passagiere in drei Klassen geteilt: in der Ersten Klasse reist, mit militärischen Ehren begleitet, der britische Gesandte; mit ihm Missionare, Diplomaten, Unternehmer. In den Abteilen der Zweiten Klasse sitzen Handelsvertreter, Bürger und Gelehrte. Die einfachen Arbeiter müssen sich mit der Dritten Klasse zufriedengeben.
Hier hat sich auch ein Geschwisterpaar niedergelassen. Auf das Mädchen haben es bald zwei Westeuropäer abgesehen: rohe Gesellen, die rasch zudringlich werden, bis sich eine Rauferei entspinnt, in deren Verlauf das Mädchen zu Tode kommt. Der Streit ufert schließlich zur Revolte aus, als sich im Gefolge Kulis gegen korrupte Generäle, Ausbeuter und Waffenschieber erheben. Die Soldaten, die zur Begleitung des britischen Gesandten mitfahren, können der Lage nicht mehr Herr werden; ein regierungstreuer General sucht sein Heil in waghalsiger Flucht über die Waggondächer, als die Kampfhandlungen in die Erste Klasse eskalieren, der britische Botschafter nimmt sich in seiner Verzweiflung das Leben.
Die chinesischen Beamten versuchen noch, den Zug auf ein Nebengleis zu lenken, was jedoch an der Solidarität der Bahnarbeiter scheitert. Am Ende fährt der durch die Arbeiterklasse befreite Zug in einer kühnen Einstellung senkrecht in die Höhe aus dem Bild - in eine revolutionäre Zukunft.
Hintergrund
In Russland wurde der Film am 20. Dezember 1929 in Moskau uraufgeführt, in Amerika unter dem Titel China Express am 8. März 1930 in New York City, New York,[1] mit englischen Zwischentiteln von Michael Gold, in Deutschland am 20. Oktober 1930 in Berlin als "Der Blaue Expreß". In Frankreich hieß der Film Le train mongol.
Der Film wurde in Deutschland von der Prometheus Film-Verleih und Vertriebs GmbH. verliehen. Die deutsche Verleihfassung besorgte Piel Jutzi.[2] Sie lag am 27. August 1930 der Filmprüfstelle Berlin unter der Prüf-Nummer 26 665 in einer Länge von 1583 m vor und wurde für “nicht jugendfrei” erklärt. Bei einem zweiten Prüftermin am 22.04.1933 wurde der Film von der Film-Oberprüfstelle Berlin unter der Prüf-Nr. 6490 in einer Länge von 1590 m schließlich ganz verboten. Die im Bundesarchiv erhaltene Kopie (Eingangsnummer: BSP 4563-6) hat eine Gesamtlänge von 1651 Metern.
In Österreich wurden nach 1930 von dem Film zum mobilen Einsatz bei der Arbeiterbildung 16mm-Schmalfilmkopien gezogen und archiviert.[3]
Der avantgardistische deutsche Komponist Edmund Meisel, der bereits 1925 zu Sergei M. Eisensteins Bronenossez Potjomkin eine vielbeachtete Musik[4] komponiert hatte, schrieb noch kurz vor seinem Tode für Goluboi ekspress 1930 eine eigene Begleitmusik, welche die Wirkung der Bilder beträchtlich steigerte.[5]
Ilja Trauberg (1905–1948), gebürtig aus Odessa, war der Bruder von Leonid Trauberg, Eisensteins Regieassistent bei “Oktober” und zuletzt Vorstandsmitglied der DEFA. Sergei Tretjakow (1892–1937) stand als Theoretiker und Praktiker im aktiven Austausch mit Sergei M. Eisenstein, Wladimir Majakowski, Bertolt Brecht und weiteren Exponenten der avantgardistischen Kunst der 1920er und 1930er Jahre.
Rezeption
Bei der Aufführung im berliner Kino Babylon[6] lief der "Russenfilm", ohne mit Prädikaten wie „Künstlerisch“ und “volksbildend” bedacht zu werden wie etwa die zur gleichen Zeit laufenden patriotisch gefärbten Preußenfilme, z.B. Gustav Ucickys Das Flötenkonzert von Sans-souci (M. Hanisch 2002).[7]
“Goluboj Ekspress, das Regiedebüt von Il’ja Trauberg, der zuvor Eisenstein bei Oktober assistiert hat, greift auf Stilfiguren des russischen revolutionären Films zurück, wendet sich dabei aber ebenso wie die damalige Politik der Sowjetunion gen Ostasien und wird seinerseits wenig später Josef von Sternberg in Hollywood zu Shanghai Express inspirieren.” viennale.at[8]
«Ilja Trauberg folgt bei der Inszenierung dieses von größter Spannung erfüllten, gewaltig gesteigerten Dramas aus der Revolution bewußt dem Vorbild Eisensteins. Die Treppe von Odessa taucht hier wieder auf, und sogar das berühmte Montageexperiment der drei hintereinander fotografierten Steinfiguren, die den Eindruck eines sich aufreckenden Löwen ergeben. Trauberg hat aber auch gute eigene Montageideen, wie das Gleichnis zwischen den aufeinanderstoßenden Puffern und dem Aufeinanderplatzen der sozialen Gegensätze im Zuge, oder die Ueberblendung der Hände des ‹Präsidenten› in drohend aufgerichtete Kanonenläufe. Am Schluss greift der Film zu einem kühnen Sinn-Bild: Der blaue Express, der horizontal fuhr, wie jeder andre Zug, fährt nun vertikal, aufwärts, der Sonne, der Freiheit, entgegen.» Fritz Rosenfeld, Wien 1919[9]
Bei der Viennale 2005 lief Goluboi ekspress am 4. November 2005 und wurde unter der Überschrift »Zwischen Volksbildung und Kasperl: Die Sterne« wie folgt besprochen:
“Alles aber noch harmlos gegen den BLAUEN EXPRESS - eine Art PANZERKREUZER POTEMKIN auf Schienen; ein schwer allegorisches Revolutionsdrama im Zug (der, man beachte die Subtilität!, wie die Welt eine Drei-Klassen-Gesellschaft kennt). Heute ist das schon ein großes Vergnügen zum Anschauen, wie oftmals solch reichlich überhitzte, rabiate Propaganda aus vergangenen Zeiten, zumal der Regisseur Ilja Trauberg als einstiger Eisenstein-Assistent vor großartigen Montage-Ideen nur so sprüht. Aber genauso war's halt auch sehr beklemmend von seiner Ideologie her : auf Einzel- wie auf Massenschicksale kann keine Rücksicht genommen werden, es zählt allein das Ziel der Revolution, deren Feinde allesamt häßliche, lebensunwürdige Karikaturen sind und deren Helden sich nur zu gern opfern für die Bessere Welt im fernen Dereinst. Wo da jetzt der grundlegende Struktur-Unterschied zu Nazi-Propaganda sein soll, ist mir schleierhaft; man muss schon das Ziel eines Sowjetstaats als übermenschlich hohes Gut ansehen, um das eine prinzipiell anders oder besser zu finden als das andere.” Thomas Willmann am 4. November 2005[10]
Bei den Internationalen Stummfilmtagen Bonn liefen Der Geisterzug und Der blaue Express am 14. August 2010.
““Der Blaue Express“: Nachdem das Publikum beim „Geisterzug“ fast nicht aus dem Lachen rauskam, bedeutete „Der Blaue Express“ deutlich schwerere Kost. Die Zuschauerreihen hatten sich für das sowjet-russische Drama aus dem 1929 etwas gelichtet. Spaßige Unterhaltung sollte man sich auch besser woanders suchen, im Arkadenhof war nun nämlich Revolutionsfilm angesagt. Ein Reisezug in China als Parabel auf die Drei-Klassen-Gesellschaft, die Unterdrückung der Arbeiter und Bauern führt zur Revolution. „Dieser Express ist verrückt geworden!“ ruft ein Passagier, als die frisch bewaffnete Meute durch die Wagen stürmt. Ziel sind der regierungstreue General und ein britischer Botschafter, die sich beide schon früh im Film durch Geringschätzung der armen Bevölkerung disqualifizieren konnten. Die Botschaft wird also so offensichtlich gehalten, dass auch der letzte kleine Revolutionär im Publikum sie verstehen kann und mit einem Schlachtruf auf den Lippen aus dem Saal stürmen sollte. Viel differenzierter ist da schon die technische Seite des Films. Filmschnitt war in den 1920ern in der Sowjetunion zur Montagetheorie perfektioniert worden. Kein Wunder also, dass „Der Blaue Express“ nicht nur klare Zusammenhänge zwischen seinen Szenen aufzeigt; der Film wird trotz des gemächlichen Plots recht kurzweilig und entwickelt eine immer höhere Geschwindigkeit.” Marco Bloch, 22. August 2010[11]
Weblinks
- Vorlage:IMDb Titel
- Голубой экспресс / Goluboi ekspress russische Kinoplakate
- Le train mongol französisches Kinoplakat
Literatur
- Oksana Bulgakowa: “Matter and Sensations“ - russische Filme in den USA zu Anfang der 1930er Jahre
- Karl Heinz Dettke: Kinoorgeln und Kinomusik in Deutschland. Metzler, Stuttgart/ Weimar 1995, ISBN 3-476-01297-2.
- Christian Dewald (Hrsg.): »Proletarisches Kino in Österreich« im Verlag Filmarchiv Austria (Herbst 2007). Band 1: Arbeiterfilm während der Ersten Republik (Arbeitstitel). Ein Forschungsprojekt des Filmarchiv Austria in Kooperation mit dem WIFAR – Wiener Filmarchiv der Arbeiterbewegung.
- Hans Emons: Film – Musik – Moderne: Zur Geschichte einer wechselhaften Beziehung. (=Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaften, Band 14). Verlag Frank & Timme, 2014, ISBN 978-3-7329-0050-3, S. 71.
- Michael Hanisch: Das Babylon. Geschichten um ein Berliner Kino. Mit Abschweifungen. Berlin 2002, S. 13. (online auf: babylonberlin.de)
- James zu Hüningen: Prometheus-Film-GmbH. In: Lexikon der Filmbegriffe. (online auf: filmlexikon.uni-kiel.de)
- Herbert Ihering: Von Reinhardt bis Brecht - Vier Jahrzehnte Theater und Film. Band 3: 1930–1932. Deutsche Akademie der Künste zu Berlin. Aufbau-Verlag, Berlin 1961, S. 318, 429, 439.
- Sabine Gruber, Ulrich Ott u. a. (Hrsg.); Harry Graf Kessler: Das Tagebuch: 1926–1937. (= Das Tagebuch 1880–1937, Band 9). Verlag Klett-Cotta, 2010, ISBN 978-3-7681-9819-6, S. 389, 1009.
- Brigitte Mayr, Michael Omasta: „Tempo! Tempo! Tempo!“ – Phantasiemaschine und Tonfilmkrieg. In: Österreichische Kultur und Literatur der 20er Jahre. (online auf: elearning-old.aau.at)
- Brigitte Mayr, Michael Omasta (Hrsg.): Fritz Rosenfeld, Filmkritiker. Verlag Filmarchiv Austria, Wien 2007, ISBN 978-3-902531-27-8.
- Lothar Prox: Der mit den Augen komponierte. Der Filmmusiker Edmund Meisel. In: Booklet zu Panzerkreuzer Potemkin. Das Jahr 1905. Deluxe Edition, Transit Classics 2007.
- Gerd-Peter Rutz: Darstellungen von Film in literarischen Fiktionen der zwanziger und dreissiger Jahre. LIT Verlag, Münster 2000, S. 195, 354, 357.
- Friedrich von Zglinicki: Der Weg des Films. Die Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer. Rembrandt-Verlag, Berlin 1956, S. 540, 549.
Einzelnachweise
- ↑ vgl. Bulgakowa S. 9 : “Ende der 20er–Anfang der 30er Jahre konnten die New Yorker folgende Filme sehen ... Der blaue Express (The Blue Express) von Ilja Trauberg ...”
- ↑ Piel Jutzi Biografie bei cinegraph.de
- ↑ vgl. Dewald 2007, S. 3–4, Anm. 15.[1] : “Ursprünglich auf Normalfilm (35-mm-Film) gedrehte Propagandafilme werden auf Schmalfilm umkopiert. Sie erweitern das trotz knapper Mittel durch Ankauf und Eigenproduktion schnell wachsende Schmalfilmarchiv. Die Bildungszentrale kann sich zudem Anfang der dreißiger Jahre ein Vertriebs- und Verleihmonopol von auf Schmalfilm umkopierten Russenfilmen sichern.”
- ↑ vgl. dazu Prox S. 10–12.
- ↑ “Meisel war einer der wenigen Filmschaffenden, die in dem Tonfilm ungemeine Chancen sahen. Die unmittelbar vor seinem Tod entstandene letzte Arbeit galt der Musik für den sowjetischen Stummfilm DER BLAUE EXPRESS (1930)”. (arte.tv, 27-11-07)[2]
- ↑ Großkino am Bülowplatz gegenüber der Volksbühne, erbaut von Hans Poelzig, eröffnet am 11. April 1929, mit über 1280 Plätzen in Parkett, Rang und Logen. Es hatte ein festes Kinoorchester mit 16 Musikern, das Pasquale Perris leitete, dazu eine zweimanualige Kinoorgel der Frankfurter Orgelbauanstalt Philipps, die der Amsterdamer Organist Peter Palla spielte, vgl. Dettke S. 278–289, 358.
- ↑ vgl. Hanisch S. 13 : “Die Preußen-Filme waren „Künstlerisch“ und „Volksbildend", die Russenfilme „Feuertransport“ und „Goluboj ekspress“ [Der blaue Express] von Ilja Trauberg waren weder das eine noch das andere...”
- ↑ Programm der viennale.at
- ↑ Fritz Rosenfeld Wien 1929.
- ↑ Thomas Willmann am 4. November 2005.
- ↑ Marco Bloch, 22. August 2010.