„Der Jahrhundertschritt“ – Versionsunterschied

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[[Wolfgang Mattheuer]]s Werk umfasst Gemälde, Arbeiten auf Papier, Druckgrafiken und seit 1970 auch Plastiken und Objekte. Die überwiegende Anzahl seiner Bilder sind sogenannte Erholungsbilder und umfassen Stillleben, Porträts und Landschaften. Größere Bedeutung erlangten die sogenannten Problembilder: In ihnen greift Mattheuer mythologische, biblische, zeitgeschichtliche und metaphorische Motivstoffe auf, kombiniert sie, erweitert ihren Kontext und kreiert mit diesen Bildern scharfsinnige, manchmal zynische Kommentare auf das Zeitgeschehen. Bekannte Beispiele dafür sind seine Bilder zum Brudermord des [[Kain und Abel]], die [[Ikarus]]-Figuren, die Flüchtenden und Abstürzenden, eines seiner bekanntesten Bilder ist ''Hinter den 7 Bergen''. Immer wieder thematisiert Mattheuer das Gespaltensein des Menschen zwischen Gut und Böse, zwischen „Größe und Elend“ ([[Blaise Pascal]]).
 
In den 1980er Jahren sollte Mattheuer die rückblickend für sein gesamtes Werk bedeutsamste Parabel entwickeln, seine eigene mythologische Figur – den ''Jahrhundertschritt''.<ref>{{Literatur |Autor=Peter Romanus |Hrsg=Dieter Brusberg |Titel=Zu Mattheuers Werkgruppe „Jahrhundertschritt“ |Sammelwerk=Ostwind. Fünf deutsche Maler aus der Sammlung Grundkreditbank |Ort=Berlin |Datum=1997 |Seiten=151-156 |Kommentar=Ausführlichere Analyse der Jahrhundertschritt-Thematik}}</ref> Tatsächlich ist diese auseinanderreißende Gestalt in ihrer dialektischen Grundidee bereits in den frühesten Bildern Mattheuers angelegt. Im Bild ''Aggression (1981)'' taucht diese unheilvolle Gestalt nun das erste Mal im malerischen Werk auf: Der Körper wirkt gedrungen und deformiert, der Kopf ist hinter dem aufgerissenen Brustkorb eingezogen und kaum zu sehen. Sie besteht lediglich aus den Extremitäten – ein zum [[Hitlergruß]] gestreckter Arm findet sein Gegengewicht im Soldatenstiefel steckenden, rot markierten Bein, der andere, linke Arm ist zur kommunistischen Faust geballt, das rechte Bein stapft nackt und weit ausholend nach vorn. <ref>{{Literatur |Autor=Stefanie Michels |Hrsg=Stefanie Michels |Titel=Wolfgang Mattheuer. Bilder als Botschaft. Werkverzeichnis der Gemälde. |Verlag=Edition Galerie Schwind |Ort=Leipzig |Datum=2017 |ISBN=978-3-932830-71-6 |Seiten=249}}</ref> Es folgen Bilder mit den Titeln ''Alptraum'' (1982) und ''Verlorene Mitte'' (1982). Mattheuer schreibt über diese Figur: {{Zitat|Ein nacktes Bein, weit ausgreifend. Ein Stiefelbein, ein schwarzer Arm mit Heil-Geste aus körperloser Mitte schießend und eine Faust am erhobenen zweiten Arm machen aus vier Extremitäten eine rasende Figur. […] Was ist das? Hilfloses Wüten? […] [[Chaos]]? [[Auferstehung]]? [[Krieg]]srecht? [[Verlust der Mitte]]!|ref=<ref>{{Literatur |Autor=Wolfgang Mattheuer |Hrsg=Ursula Mattheuer-Neustädt |Titel=Bilder als Botschaft – Botschaft der Bilder |Verlag=Faber und Faber Verlag |Datum=2002 |ISBN=978-3-928660-85-3 |Seiten=84–85}}</ref>}}
 
Im Garten seines Reichenbacher Hauses arbeitet Mattheuer an der plastischen Umsetzung der Figur, die von Anfang an geplant war. 1984 ist das 2,5&nbsp;m hohe Gipsmodell fertig – es folgen Abgüsse in Eisen und Bronze und schließlich ein 5&nbsp;m hohes Exemplar, welches sich heute im [[Museum Barberini]] befindet.
 
=== Rezeption ===
1985 wurde die bemalte Gipsfassung das erste Mal öffentlich ausgestellt, auf der 11. Leipziger Bezirkskunstausstellung. Die [[Staatliche Galerie Moritzburg]] in Halle und der Sammler Peter Ludwig gaben je einen Bronzeguss in Auftrag. Das Publikum reagierte mit Erstaunen und viel Anteilnahme auf das gezeigte Werk. Noch größer war die Resonanz einige Jahre später, als auf der X. und letzten Kunstausstellung der DDR in Dresden ein Bronzeguss des ''Jahrhundertschritts'' gezeigt wurde. Die Figur wurde zum wichtigsten Kunstwerk der Ausstellung gekürt,<ref>{{Internetquelle |autor=Bernd Lindner |url=httphttps://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2005/id%3D4587=4587#pgfId-1033232a |titel=Das zerrissene Jahrhundert |abruf=2018-05-04}}</ref> gerade auch, weil ein politischer Diskurs nach wie vor ersatzweise über die bildende Kunst und Literatur geführt wurde.
 
Mattheuer sagte über seine Skulptur: „Diese Albtraumfigur, als die verkörperte Absurdität, ist ‚jener Zwiespalt zwischen dem sehnsüchtigen Geist und der enttäuschenden Welt‘, sie ist ‚… Heimweh nach Einheit, dieses zersplitterten Universums, und der Widerspruch, der beide verbindet‘ (A. Camus) und der allzu oft sich in Aggression und Zerstörungswut entlädt, als zentrifugale Kraft, die das Individuum zerreißt. Kein Versuch der Selbstfindung gelingt mehr.“<ref>{{Literatur |Autor=Wolfgang Mattheuer |Hrsg=Ursula Mattheuer-Neustädt |Titel=Bilder als Botschaft – Die Botschaft der Bilder |Datum=1997 |Seiten=124}}</ref> [[Eduard Beaucamp]], langjähriger Feuilletonist der ZEIT und Fürsprecher insbesondere der [[Leipziger Schule (Bildende Kunst)|Leipziger-Schule]]-Künstler, schreibt: „Diese paradoxe Jahrhundertmetapher, eine aggressiv-fliehende Endzeitgestalt, die ihren Körper und ihre ‚Mitte‘ verloren hat, ist ein höhnisch-bitterer Abgesang auf die modernen Diktaturen.“<ref>{{Literatur |Autor=Eduard Beaucamp |Hrsg=Stefanie Michels |Titel=Weltbürger in einer giftigen Provinz |Sammelwerk=Wolfgang Mattheuer. Bilder als Botschaft |Verlag=Edition Galerie Schwind |Ort=Leipzig |Datum=2017 |Seiten=19}}</ref>
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Der Jahrhundertschritt wurde zu einem Wahrzeichen der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. An den Standorten Bonn und Leipzig markieren zweieinhalb Meter hohe Bronzeabgüsse den Eingang der Ausstellungshäuser der Stiftung. Ende der 1990er Jahre gewann Hermann Schäfer, damals Direktor des Hauses der Geschichte in Bonn, Mattheuer für die Idee, einen fünf Meter hohen Bronzeguss des Jahrhundertschritts anzufertigen. Die Idee, diesen vor dem Gebäude des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig aufzustellen, ließ sich aus Platzgründen nicht realisieren. Auch der Plan einer Aufstellung der Skulptur vor dem Reichstagsgebäude in Berlin scheiterte.
 
2012 erwarb der SAP-Gründer und Kunstmäzen [[Hasso Plattner]] die Arbeit aus dem Nachlass Wolfgang Mattheuers. Für einige Zeit war sie im Hof des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam aufgestellt, bevor sie im Juni 2016 ihren heutigen Standort im Hof des [[Museum Barberini]] in Potsdam fand.<ref>httphttps://www.pnn.de/kultur/jahrhundertschritt-im-museums-barberini-in-potsdam-kultur/1091507zerrissen-um-zu-verbinden/21419532.html</ref>
 
== Weblinks ==
{{Commonscat|Der Jahrhundertschritt by Wolfgang Mattheuer|Der Jahrhundertschritt}}
* [httphttps://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Lindner-2-2005 ''Das zerrissene Jahrhundert''], Essay von [[Bernd Lindner (Soziologe)|Bernd Lindner]] zur Werk- und Wirkungsgeschichte von Wolfgang Mattheuers Plastik ''Jahrhundertschritt''
 
== Einzelnachweise ==