„Linguistische Wende“ – Versionsunterschied
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Die '''linguistische Wende''' (engl. ''{{lang|en|linguistic turn}}'') – auch „'''sprachkritische Wende'''“, „'''sprachanalytische Wende'''“ oder „'''Wende zur Sprache'''“ genannt – bezeichnet Bemühungen insbesondere seit Anfang des 20. Jahrhunderts in der [[Philosophie]], [[Literaturwissenschaft]] und [[Linguistik]], sprachliche Vermittlungsformen genauer zu untersuchen. Diesen Forschungsschwerpunkt übernahmen zahlreiche Vertreter dieser Fachgebiete, aber die Auswirkungen betrafen auch die meisten anderen [[Geisteswissenschaft|Geistes-]] und [[Sozialwissenschaft]]en. Der Ausdruck „linguistic turn“ wurde geprägt durch [[Gustav Bergmann (Wissenschaftstheoretiker)|Gustav Bergmann]] und wurde bekannt durch eine 1967 von [[Richard Rorty]] herausgegebene gleichnamige [[Anthologie]].<ref>Rorty 1967, S. 9 der Verweis auf Bergmann.</ref>
Der Begriff des ''linguistic turn'' bezeichnet damit eine Reihe sehr unterschiedlicher Entwicklungen im abendländischen Denken des 20. Jahrhunderts, denen allen gemeinsam eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Vorstellung zugrunde liegt, Sprache sei ein „transparentes Medium“, um die Wirklichkeit zu erfassen bzw. zu kommunizieren. An die Stelle dieser Sichtweise tritt stattdessen die Auffassung, Sprache sei eine „unhintergehbare Bedingung des Denkens“. Demnach ist „alle menschliche Erkenntnis durch Sprache strukturiert“; die Realität jenseits von Sprache wird als „nicht existent“ oder aber „zumindest unerreichbar“ angesehen. Die [[Reflexion (Philosophie)|Reflexion]] des Denkens, vor allem die Philosophie, wird damit zur Sprachkritik; eine Reflexion sprachlicher Formen - auch in der Literatur - kann so gesehen nur unter den Bedingungen des reflektierten Gegenstandes, eben der Sprache, erfolgen.<ref>Klaus Stierstorfer: ''Linguistic turn.'' In: Ansgar Nünning (Hrsg.): ''Grundbegriffe der Literaturtheorie''. Metzler Verlag, Stuttgart und Weimar 2004, ISBN 3-476-10347-1, S. 147f.</ref>
== Historische Entwicklung ==
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== Philosophische Grundlagen ==
Als „sprachbezogene Wende“ bezeichnet man in der [[Philosophie]] eine Entwicklung hauptsächlich des [[20. Jahrhundert]]s, die mit einer verstärkten Hinwendung zur [[Sprache]], d. h. der Verwendung und Bedeutung sprachlicher Äußerungen, einhergeht. Viele Vertreter des ''linguistic turn'' hatten das Forschungsprogramm, nicht mehr „[[Ding an sich|Dinge an sich]]“ zu untersuchen, sondern die sprachlichen Bedingungen zu analysieren, wie von Dingen gesprochen wird. Man kann für diese Wende eine Parallele zu derjenigen Kants behaupten: Kants „[[Kopernikanische Wende]]“ ging damit einher, nicht mehr Dinge an sich selbst zu beschreiben, sondern Bedingungen, sie zu erkennen, die in der Struktur der Vernunft liegen. An die Stelle der [[Metaphysik]] als erster Philosophie treten Strukturen des Geistes (lat. mens), weshalb einige Autoren<ref>Das Schema wird u. a. bei [[Herbert Schnädelbach]] gebraucht; für Stellennachweise und Kritik daran vgl. z. B. Claus Zittel: ''Theatrum philosophicum'': Descartes und die Rolle ästhetischer Formen in der Wissenschaft, Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 22, Akademie Verlag, Berlin 2009, ISBN 3050040505, S. 29ff et passim.</ref> von einem „mentalistischen [[Paradigma]]“ sprechen, bei Vertretern des ''linguistic turn'' von einem „linguistischen Paradigma“: Erfahrung ist zunächst immer sprachlich vermittelt.
Ein anschauliches Beispiel für die Hinwendung zur Sprache bietet die [[Metaethik]] von George Edward Moore. Dabei wird nicht die Natur des [[Das Gute|Guten]] diskutiert, sondern die des sprachlichen Ausdrucks „gut“: Zählt dieses Wort zu den Worten, welche Handlungen empfehlen oder vorschreiben (sog. [[präskriptiv]]e Ausdrücke)? Oder ist es beschreibend („[[Deskription|deskriptiv]]“)? Drückt „Menschen in Notlagen zu helfen, ist gut“ eine Pflicht oder eine Handlungsbewertung aus? Oder etwa eine Beschreibung: Nothilfe hat nützliche Effekte? Moore unterscheidet beide Redeweisen derart, dass von beschreibenden Aussagen nie ein Schluss auf vorschreibende Aussagen erlaubt sei („[[Naturalistischer Fehlschluss|naturalistischer Fehlschluss]]“). Weil in derartigen Analysen nicht Einzelfragen der [[Normative Ethik|normativen Ethik]] diskutiert werden, sondern die Aussageweisen bei der Diskussion ethischer Fragen selbst analysiert werden, spricht man von „Metaethik“. Die Zunahme von Publikationen zur Metaethik ist zeitlich ungefähr parallel zur Zuwendung zur Sprache überhaupt.
Gelegentlich<ref>Z. B. bei Anton Hügli, Poul Lübcke: Art. ''Sprachphilosophie'', in: Philosophielexikon, Rowohlt, Reinbek (bei Hamburg) 1991.</ref> setzt man das u.a. von Moore verfolgte Forschungsprogramm als „begriffsanalytisch“ von zwei weiteren ab, welche ebenfalls methodisch die Sprache ins Zentrum stellen: dem „[[Sprachanalyse|sprachanalytischen]]“ oder [[Philosophie der normalen Sprache|normalsprachlichen]], wie es [[Gilbert Ryle|Ryle]] oder Austin verfolgen, und dem „formalistischen“, welches Frege, Russell und der frühe Wittgenstein verfolgten. Alle drei Forschungsprogramme werden üblicherweise als phasenweise wichtige Teilströmungen der sog. [[Analytische Philosophie|Analytischen Philosophie]] beschrieben.
Bergmann selbst hatte seine Rede von einem ''linguistic turn'' v. a. auf Moore und Wittgenstein bezogen und in diesem Sinn war linguistic turn auch immer ein Term der analytischen Philosophie. Philosophiegeschichtliche Darstellungen fanden diese Ideenwelt dann aber auch rückblickend in ganz anderen Kontexten. Im Bereich französischer Philosophie konnte man zum Beispiel über [[Roland Barthes]] oder [[Paul Ricœur]] auf die Idee eines „[[semiotic turn]]“ gebracht werden, und in der deutschen Geistesgeschichte auf die große sprachphilosophische Tradition von [[Johann Georg Hamann]], [[Wilhelm von Humboldt]], [[Johann Gottfried Herder]], [[Wilhelm Dilthey]], die als „Hermeneutik“ von Gadamer verwaltet wurde.<ref>So z. B. [[Jürgen Habermas]]: ''Hermeneutische versus analytische Philosophie'', Zwei Spielarten der linguistischen Wende, in: Ders.: ''Wahrheit und Rechtfertigung''. Philosophische Aufsätze, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999 und 2. A. 2004. Mit Bezug darauf z. B. Richard J. Bernstein: ''The Pragmatic Turn'', Polity, Cambridge 2010, ISBN 0745649084, S. 151.</ref> In jedem Fall betonen auch andere Strömungen der modernen Philosophie die Wichtigkeit sprachlicher Vermittlung, darunter beispielsweise die [[Phänomenologie]] von [[Maurice Merleau-Ponty]], die [[Philosophische Anthropologie|philosophische Anthropologie]] von [[Ernst Cassirer]] oder die Philosophie [[Martin Heidegger]]s.
== Die Auswirkungen auf die Geisteswissenschaften ==
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