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{{Begriffsklärungshinweis|Zu weiteren Bedeutungen siehe [[Volk (Begriffsklärung)]].}}
[[Datei:Eugène Delacroix - La liberté guidant le peuple.jpg|mini|hochkant=1.3|''[[Die Freiheit führt das Volk|La liberté guidant le peuple]]'' (deutsch „Die Freiheit führt das Volk“). Gemälde von [[Eugène Delacroix]] (1830)]]
Mit dem Wort '''Volk''' werden allgemein (große) Gruppen von Menschen bezeichnet, die durch [[kultur]]elle Gemeinsamkeiten, [[Realität|reale]] oder [[Fiktion|fiktive]] gemeinsame [[Abstammung]] oder einen politisch und rechtlich organisierten Personenverband zu einer unterscheidbaren Einheit zusammengefasst sind. Eine verbindliche Definition gibt es nicht.
 
Der Begriff umfasst ein breites Spektrum unterschiedlicher [[Soziologie|soziologischer]], [[Ethnizität|ethnischer]], nationaler und vornationaler [[Politik|politischer]], [[Demokratietheorie|demokratietheoretischer]], [[Verfassungsrecht|staatsrechtlicher]] und [[Theologie|theologischer]] Bedeutungen. Seit dem 18. Jahrhundert ist er emotional hoch aufgeladen und wird zur [[Legitimation (Politikwissenschaft)|Legitimation]] von [[Revolution]]en, [[Krieg]]en und verschiedenen [[Herrschaftsform]]en verwendet. Dabei wird regelmäßig um [[Inklusion (Soziologie)|Inklusion]] und [[Exklusion]] gerungen, also um die Frage, wer zum Volk im jeweils definierten Sinne gehört und wer nicht. Heute geht manwird davon ausausgegangen, dass ein Volk nichtein objektiv existiert, sondern ein[[soziales Konstrukt]] ist, das heißt, dass es erst durch Fremd- und Selbstzuschreibung der Mitglieder im [[Diskurs]] entsteht.
 
Verwandte Begriffe mit zum Teil überschneidender Bedeutung sind [[Ethnie]], ''[[gens]]'', [[Stamm (Gesellschaftswissenschaften)|Stamm]], [[Nation]], [[Bevölkerung]] und [[Staatsvolk]].
 
== Etymologie ==
Der Ausdruck ''Volk'' (über [[Mittelhochdeutsche Sprache|mittelhochdeutsch]] ''volc'' aus [[Althochdeutsche Sprache|althochdeutsch]] ''folc'', dies aus [[Urgermanische Sprache|urgermanisch]] ''fulka'' „die Kriegsschar“) ist laut [[Friedrich Kluge]]s ''Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache'' erstmals im 8. Jahrhundert,<ref>Friedrich Kluge: ''Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache'', 24. Auflage; [[Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache]] ([httphttps://www.dwds.de/?qu=wb/Volk&view=1 online]).</ref> laut dem Sprachwissenschaftler Günter Herold erst im 9. Jahrhundert belegt.<ref>Günter Herold: ''Der Volksbegriff im Sprachschatz des Althochdeutschen und Altniederdeutschen''. Akademischer Verlag, Halle 1941, zitiert nach Katja Jung: ''Volk – Staat – (Welt-)Gesellschaft. Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Kollektivität in einer globalisierten Welt''. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, S. 29.</ref> Zu Grunde liegt dieselbe [[Indogermanische Sprachen|indogermanische]] Wortwurzel, von der auch die Wörter ''voll'' und ''viele'' abgeleitet werden können. Die ursprüngliche Bedeutung war ''Kriegsschar'', ''Kriegerhaufen''.<ref name="Enz d Neuz">[[Reinhard Stauber]] und, Florian Kerschbaumer: ''Volk''. In: ''[[Enzyklopädie der Neuzeit]]'', Bd. 14: ''Vater–Wirtschaftswachstum''. J.B. Metzler, Stuttgart 2011, S. 376–384 ([http[doi://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_375140 online], Zugriff am 14. Juni 2020]).</ref> Darauf weist auch die [[Slawische Sprachen|slawische]] Wortwurzel ''pulk-'' hin, die allgemein als frühe Entlehnung aus dem [[Germanische Sprachen|Germanischen]] gilt und später ins [[Deutsche Sprache|Deutsche]] mit spezieller Bedeutung als ''[[Menschenauflauf|Pulk]]'' zurückentlehnt worden ist.<ref>[[Lutz Mackensen]]: ''Ursprung der Wörter. Das etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache''. Aktualisierte Neuausgabe, Bassermann, München 2013, S. 313 und 431.</ref> Eine Wurzelverwandtschaft mit dem [[latein]]ischen Wort ''plebs'' für „Volksmenge“ (zu lateinisch ''plere'' „füllen“) ist möglich.<ref>''[[Duden]]'', Bd. 7: ''Etymologie''. Bibliographisches Institut, Mannheim/Wien/Zürich 1963, S. 747.</ref>
 
== Bedeutungsspektrum ==
Es gibt keine feststehende [[Definition]] des Begriffs. Die verschiedenen Bedeutungsschattierungen lassen sich nach dem Historiker [[Reinhart Koselleck]] [[Diachronie|diachron]] durch alle Zeiten in eine „Oben-unten-Relation“ und in eine „Innen-außen-Relation“ einteilen. Im erstgenannten Sinn wird das Volk nach oben (vom [[Adel]], der Oberschicht, den Eliten) oder nach unten (von [[Sklaverei|Sklaven]], [[Metöke]]n, Unterschichten) abgegrenzt, im zweitgenannten Sinn von den Fremden, die nicht am selben Ort wohnen und nicht zur selben politischen Handlungseinheit gehören.<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: [[Otto Brunner (Historiker)|Otto Brunner]] und, [[Werner Conze]] (Hrsg.): ''[[Geschichtliche Grundbegriffe]]. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 145 f.</ref> In der [[Allgemeine Staatslehre|Staatslehre]] wird zwischen dem vorstaatlichen, also dem soziologisch-ethnologisch-politischen Volksbegriff und dem [[staat]]lich [[pouvoir constitué|verfassten]] Volk unterschieden, um den Begriff dadurch in einen [[Staatsrecht (Deutschland)|staatsrechtlichen]] Kontext einordnen zu können.<ref>[[Rolf Grawert]]: ''Staatsvolk und Staatsangehörigkeit.'' In: [[Josef Isensee]], [[Paul Kirchhof]] (Hrsg.): ''Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland'', Band I: ''Historische Grundlagen''. C.F. Müller, Heidelberg 1987, S. 663–691, hier S. 664 [[Randnummer|Rn.]]&nbsp;2.</ref>
 
Der Politikwissenschaftler [[Karl W. Deutsch]] (1912–1992) definierte: „Ein Volk ist ein ausgedehntes Allzweck-[[Kommunikation]]snetz von Menschen. Es ist eine Ansammlung von [[Individuum|Individuen]], die schnell und effektiv über Distanzen hinweg und über unterschiedliche Themen und Sachverhalte miteinander kommunizieren können.“ Voraussetzung hierfür seien eine gemeinsame [[Sprache]] und eine Kultur: Bedeutungen und Erinnerungen würden geteilt, wodurch es wahrscheinlich sei, dass die dem Volk angehörenden Menschen auch in der nahen Zukunft Vorlieben und Wahrnehmungen teilen und sich in Gewohnheiten und Charakterzügen ähneln bzw. ergänzen würden.<ref>Karl W. Deutsch: ''Entwicklungsprozeß der Nationen. Einige wiederkehrende Muster politischer und sozialer Integration.'' In: derselbe: ''Nationenbildung – Nationalstaat – Integration.'' Bertelsmann Universitätsverlag, Düsseldorf 1972, S. 204. Zitiert nach [[Friedrich Heckmann (Soziologe)|Friedrich Heckmann]]: ''Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen''. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-432-99971-2, S. 49 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Laut dem österreichisch-amerikanischen Soziologen [[Emerich K. Francis]] (1906–1994) ist unter ''Volk'' „eine jede dauerhafte, durch ein gemeinsames [[Kulturgut|kulturelles Erbe]] gekennzeichnete, zahlreiche [[Verwandtschaftsbeziehung|Verwandtschaftsverbände]] ''(kinship groups)'' zu einer unterscheidbaren Einheit zusammenfassende [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesamtgesellschaft]] zu betrachten. ‚Verwandtschaftsverband‘ soll dabei heißen: ein auf tatsächlicher oder fiktiver [[Abstammung]] beruhendes, zahlreiche Familien sowohl gleichzeitig als auch in zeitlicher Abfolge zu einer Einheit verbindendes Sozialgebilde“. Dabei trennt er zwischen dem Demos, dem Staatsvolk, und Ethnos, der Abstammungsgemeinschaft.<ref>Emerich K. Francis: ''Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie.'' Duncker & Humblot, Berlin 1965, das Zitat S. 196.</ref>
 
Auch der [[Rechtswissenschaft]]ler [[Reinhold Zippelius]] unterscheidet zwei Volksbegriffe: Das Staatsvolk definiert er als „Gesamtheit der Menschen unter einer [[Staatsgewalt]]“. Es sei nicht notwendig identisch mit dem Volk im soziologischen Sinne, das heißt, der „Gesamtheit von Menschen […], die sich vorwiegend durch Stammesverwandtschaft, gemeinsame Kultur (insbesondere Sprache und [[Religion]]), gemeinsame [[Geschichte]] und als politische [[Schicksalsgemeinschaft]] verstehen“. Aus der Differenz beider Begriffe entstehe das [[Minderheit]]enproblem. Die objektiven Merkmale des soziologischen Volksbegriffs müssten nicht alle erfüllt sein, vielmehr bestehe ein Bedeutungsspielraum. Wichtig sei immer das „völkische Zusammengehörigkeitsgefühl“.<ref>Reinhold Zippelius: ''Allgemeine Staatslehre. Politikwissenschaft. Ein Studienbuch''. C.H. Beck, München 1969, hier zitiert nach der 16. Auflage 2010, S. 63–67.</ref>
 
Der Historiker [[Otto Dann]] definiert ''Volk'' als soziale Großgruppe, die durch gemeinsame Sprache, Kultur, Religion oder Geschichte gekennzeichnet sei. Auf Grundlage eines oder mehrerer dieser Merkmale könne es eine Kommunikationsgemeinschaft bilden und sich enger zusammenschließen. Ein Volk könne die Grundlage einer [[Nationsbildung]] darstellen, doch gebe es einerseits auch Völker, die keine Nationsbildung durchlaufen hätten, andererseits Nationen mit mehreren Völkern oder [[Volksgruppe]]n.<ref>[[Otto Dann]]: ''Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990''. 2. Auflage, C.H. Beck, München 1994, S. 13.</ref>
Die Soziologen Günter Hartfiel und [[Karl-Heinz Hillmann]] sehen sieben Bedeutungen des Wortes: es könne die Bevölkerung in einem bestimmten Kulturgebiet bedeuten, eine ethnisch bestimmte Menschengruppe, eine politische [[Kollektiv]]persönlichkeit, die als ideelle Einheit vorgestellt wird, die Gesamtheit der [[Staatsbürgerschaft|Staatsbürger]] im [[Demokratie|demokratischen]] [[Verfassungsstaat]], die breite Masse der Bevölkerung als Gegenbegriff zur [[Elite]] oder [[Soziale Schicht|Oberschicht]], eine vornationale Gemeinschaft oder in [[Marxismus|marxistischer]] Interpretation die [[soziale Klasse|sozialen Klassen]], die ein vermeintlich objektives Interesse am gesellschaftlichen [[Fortschritt]] haben.<ref name="Hillmann 794">Günter Hartfiel und [[Karl-Heinz Hillmann]]: ''Wörterbuch der Soziologie.'' 3., überarbeitete und ergänzte Auflage, Kröner, Stuttgart 1982, S. 794.</ref>
 
Die Soziologen Günter Hartfiel und [[Karl-Heinz Hillmann]] sehen sieben Bedeutungen des Wortes: es könne die Bevölkerung in einem bestimmten Kulturgebiet bedeuten, eine ethnisch bestimmte Menschengruppe, eine politische [[Kollektiv]]persönlichkeit, die als ideelle Einheit vorgestellt wird, die Gesamtheit der [[Staatsbürgerschaft|Staatsbürger]] im [[Demokratie|demokratischen]] [[Verfassungsstaat]], die breite Masse der Bevölkerung als Gegenbegriff zur [[Elite]] oder [[Soziale Schicht|Oberschicht]], eine vornationale [[Gemeinschaft]] oder in [[Marxismus|marxistischer]] Interpretation die [[soziale Klasse|sozialen Klassen]], die ein vermeintlich [[Interesse (Politikwissenschaft)#Arten von Interessen|objektives Interesse]] am gesellschaftlichen [[Fortschritt]] haben.<ref name="Hillmann 794">Günter Hartfiel und [[Karl-Heinz Hillmann]]: ''Wörterbuch der Soziologie.'' 3., überarbeitete und ergänzte Auflage, Kröner, Stuttgart 1982, S. 794.</ref>
Der Soziologe [[Friedrich Heckmann (Soziologe)|Friedrich Heckmann]] definiert Volk als „das umfassendste ethnische Kollektiv, das durch den Glauben an eine gemeinsame Herkunft, Gemeinsamkeiten von Kultur und Geschichte sowie ein bestimmtes [[Identität]]s- und Zusammengehörigkeitsbewußtsein gekennzeichnet ist“. Das Wort stehe sowohl für bloße [[Vorstellung]]en als auch für reale Beziehungen, die kooperativ oder konfliktär sein könnten, und biete Chancen für ein Gemeinschaftshandeln derer, die sich zugehörig fühlten.<ref>Friedrich Heckmann: ''Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen''. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-432-99971-2, S. 50 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Der Soziologe [[Friedrich Heckmann (Soziologe)|Friedrich Heckmann]] definiert Volk als „das umfassendste ethnische Kollektiv, das durch den Glauben an eine gemeinsame Herkunft, Gemeinsamkeiten von Kultur und Geschichte sowie ein bestimmtes [[Identität]]s- und Zusammengehörigkeitsbewußtsein gekennzeichnet ist“. Das Wort stehe sowohl für bloße [[Vorstellung]]en als auch für reale Beziehungen, die kooperativ oder konfliktär sein könnten, und biete Chancen für ein Gemeinschaftshandeln derer, die sich zugehörig fühlten.<ref>Friedrich Heckmann: ''Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen''. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-432-99971-2, S. 50 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
Der Historiker [[Peter Brandt (Historiker)|Peter Brandt]] nennt drei Bedeutungen des Wortes im aktuellen Sprachgebrauch: „1. die Bewohner eines Staates, namentlich die Inhaber der [[Souveränität]] in der Demokratie, 2. die Angehörigen einer Ethnie mit gemeinsamer Herkunft, Sprache und Kultur bzw. einer sich als auch außerstaatliches Volk verstehenden Großgruppe, 3. die ‚einfachen‘ Mitglieder oder unteren Schichten einer Gesellschaft“.<ref>Peter Brandt: ''Volk''. In: ''[[Historisches Wörterbuch der Philosophie]]'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online], Zugriff am 24. Juni 2020); diese drei Aspekte auch bei Jörn Retterath: ''„Was ist das Volk?“ Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924''. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-046454-2, S. 64 ff. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Der Historiker [[Peter Brandt (Historiker)|Peter Brandt]] nennt drei Bedeutungen des Wortes im aktuellen Sprachgebrauch: „1. die Bewohner eines Staates, namentlich die Inhaber der [[Souveränität]] in der Demokratie, 2. die Angehörigen einer Ethnie mit gemeinsamer Herkunft, Sprache und Kultur bzw. einer sich als auch außerstaatliches Volk verstehenden Großgruppe, 3. die ‚einfachen‘ Mitglieder oder unteren Schichten einer Gesellschaft“.<ref>Peter Brandt: ''Volk''. In: ''[[Historisches Wörterbuch der Philosophie]]'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online], Zugriff am 24. Juni 2020); ähnlich derselbe: ''Volk''. In: ''[[Staatslexikon der Görres-Gesellschaft|Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft]]''. 8. Auflage, Bd. 6: ''Volk–Zweites Vatikanisches Konzil''. Herder, Freiburg 2022, ISBN 978-3-451-39516-1, Sp. 1–9, hier Sp. 1; diese drei Aspekte auch bei Jörn Retterath: ''„Was ist das Volk?“ Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924''. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-046454-2, S. 64 ff. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
Laut der Definition des Ethnologen [[Dieter Haller]] sind Völker „über Abstammung und Kultur miteinander verbunden und verfügen über eine Organisationsform, die nicht notwendigerweise staatl[icher] Natur sein muss.“<ref>Dieter Haller (Text), Bernd Rodekohr (Illustrationen): ''dtv-Atlas Ethnologie.'' 2., vollständig durchgesehene und korrigierte Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010, ISBN 978-3-423-03259-9, S. 95.</ref>
 
Laut der Definition des Ethnologen [[Dieter Haller]] sind Völker „über Abstammung und Kultur miteinander verbunden und verfügen über eine Organisationsform, die nicht notwendigerweise staatl[icher] Natur sein muss.“<ref>Dieter Haller (Text), Bernd Rodekohr (Illustrationen): ''dtv-Atlas Ethnologie.'' 2., vollständig durchgesehene und korrigierte Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010, ISBN 978-3-423-03259-9, S. 95.</ref> Auch nach [[Harald Haarmann]] ist mit eigenständigen Kulturen zwar meist auch eine „selbständige politische Organisation“ verbunden, aber „[[Staatlichkeit]]“ und „[[Volkstum]]“ seien nicht deckungsgleich.<ref>Harald Haarmann: ''Lexikon der untergegangenen Völker. Von Akkader bis Zimbern.'' 2., durchges. u. aktualisierte Auflage, C.H. Beck, München 2012, S.&nbsp;9.</ref>
''Volk'' ist ein emotional und [[Politische Ideologie|politikideologisch]] stark aufgeladener Begriff und wird in verschiedenen Zusammenhängen als [[politisches Schlagwort]] verwendet.<ref name="Hirschberg">[[Georg Elwert]]: ''Volk''. In: [[Walter Hirschberg]] (Begr.), [[Wolfgang Müller (Ethnologe)|Wolfgang Müller]] (Red.): ''Wörterbuch der Völkerkunde.'' Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005, S. 400.</ref> Es ist ein [[Fahnenwort]],<ref>[[Clemens Knobloch]]: ''„Volkhafte Sprachforschung“. Studien zum Umbau der Sprachwissenschaft in Deutschland zwischen 1918 und 1945.'' Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005, ISBN 3-484-31257-2, S. 2, 15, 59 u. ö. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> das heißt, ein Ausdruck von großer [[Symbol]]kraft, unter dem sich Gruppen von Menschen im politischen Wettbewerb oder gar Kampf zusammenfinden können und der dadurch identitätsstiftend wirkt. Seine Mehrdeutigkeit prädestiniert es für [[Demagogie|demagogische]] Aussagen und Forderungen.<ref name="Hirschberg" /> Wer zum Volk gehört und wer nicht, ist immer wieder und oft blutig umkämpft.<ref>[[Michael Wildt]]: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 12, 15 und 122 f.</ref> Der Historiker Peter Walkenhorst nennt ''Volk'' und ''Nation'' „grenzziehende Kollektivbegriffe zur Bezeichnung der eigenen […] Gemeinschaft“.<ref>Peter Walkenhorst: ''Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914'' (=&nbsp;''Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft'', Band 176). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 81.</ref> Laut dem Soziologen Lutz Hoffmann definiert ''Volk'' eine Gruppe als relevant und legitimiert sie damit. ''Volk'' sei immer als [[Totalität]] gedacht, nie als Teil eines Größeren. Wer nicht dazugehöre, also irrelevant sei, gerate aus dem Blick, über den brauche nicht gesprochen zu werden.<ref>Lutz Hoffmann: ''Das ‚Volk‘. Zur ideologischen Struktur eines unvermeidbaren Begriffs''. In: ''[[Zeitschrift für Soziologie]]'' 20, Heft 3 (1991), S. 191–208, hier S. 194 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Inwieweit auch [[Frau]]en zum Volk gehören, war bis ins 20. Jahrhundert hinein eine offene Frage. Häufig waren mit der so bezeichneten Wir-Gruppe nur [[Mann|Männer]] gemeint. Frauen galten als angegliedert oder als [[Eigentum]] des Volkes bzw. seiner Männer. In [[Deutschland]] änderte sich das erst mit Einführung des [[Frauenwahlrecht]]s 1918.<ref>Walter Hirschberg (Begr.), Wolfgang Müller (Red.): ''Wörterbuch der Völkerkunde.'' Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005, S. 400.</ref>
 
Der Ethnologe Jens Wietschorke definiert Volk als „Kollektiv, das auf der politischen Ebene durch staatlich-institutionelle Regeln und Praktiken sowie auf der kulturellen Ebene durch den Glauben an eine gemeinsame Herkunft, Geschichte und Identität bestimmt ist.“ Als Ordnungsbegriff bezeichne er nicht etwas, das bereits bestehe, vielmehr erzeuge er die Wissensordnung des Bezeichneten mit. ''Volk'' sei ein relationaler Begriff, der stets in Beziehung zu allen, die von der Zugehörigkeit ausgeschlossen sind, zu verstehen sei.<ref>Jens Wietschorke: ''Volk''. In: [[Brigitta Schmidt-Lauber]], Manuel Liebig (Hrsg.): ''Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar.'' Böhlau, Wien 2022, S. 271–277, hier S. 271 und 275.</ref>
Der Ausdruck ''Volk'' wird, zum Teil mit dem Zusatz „einfach“ zur Kennzeichnung der „breiten Masse“ einer Gesellschaft verwendet.<ref name="Hirschberg" /> Dieser Aspekt ist auch in der theologischen Unterscheidung von [[Klerus]] und [[Laie (Religion)|Laienvolk]] (von {{elS|λαός|laós}} – ''Volk'') enthalten.<ref>[[Martin Honecker (Theologe)|Martin Honecker]]: ''Volk''. In: ''[[Theologische Realenzyklopädie]]'', Bd. 35, de Gruyter, Berlin/New York 2003, S. 191–209, hier S. 191 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
''Volk'' ist ein emotional und [[Politische Ideologie|politikideologisch]] stark aufgeladener Begriff und wird in verschiedenen Zusammenhängen als [[politisches Schlagwort]] verwendet.<ref name="Hirschberg">[[Georg Elwert]]: ''Volk''. In: [[Walter Hirschberg]] (Begr.), [[Wolfgang Müller (Ethnologe)|Wolfgang Müller]] (Red.): ''Wörterbuch der Völkerkunde.'' Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005, S. 400.</ref> Es ist ein [[Fahnenwort]],<ref>[[Clemens Knobloch]]: ''„Volkhafte Sprachforschung“. Studien zum Umbau der Sprachwissenschaft in Deutschland zwischen 1918 und 1945.'' Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005, ISBN 3-484-31257-2, S. 2, 15, 59 u. &nbsp;ö. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> das heißt, ein Ausdruck von großer [[Symbol]]kraft, unter dem sich Gruppen von Menschen im politischen Wettbewerb oder gar Kampf zusammenfinden können und der dadurch identitätsstiftend wirkt. Seine Mehrdeutigkeit prädestiniert es für [[Demagogie|demagogische]] Aussagen und Forderungen.<ref name="Hirschberg" /> Wer zum Volk gehört und wer nicht, ist immer wieder und oft blutig umkämpft.<ref>[[Michael Wildt]]: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 12, 15 und 122 f.</ref> Der Historiker Peter Walkenhorst nennt ''Volk'' und ''Nation'' „grenzziehende Kollektivbegriffe zur Bezeichnung der eigenen […] Gemeinschaft“.<ref>Peter Walkenhorst: ''Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914'' (=&nbsp;''Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft'', Band 176). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 81.</ref> Laut dem Soziologen Lutz Hoffmann definiert ''Volk'' eine Gruppe als relevant und legitimiert sie damit. ''Volk'' sei immer als [[Totalität]] gedacht, nie als Teil eines Größeren. Wer nicht dazugehöre, also irrelevant sei, gerate aus dem Blick, über den brauche nicht gesprochen zu werden.<ref>Lutz Hoffmann: ''Das ‚Volk‘. Zur ideologischen Struktur eines unvermeidbaren Begriffs''. In: ''[[Zeitschrift für Soziologie]]'' 20, Heft 3 (1991), S. 191–208, hier S. 194 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Inwieweit auch [[Frau]]en zum Volk gehören, war bis ins 20. Jahrhundert hinein eine offene Frage. Häufig waren mit der so bezeichneten Wir-Gruppe nur [[Mann|Männer]] gemeint. Frauen galten als angegliedert oder als [[Eigentum]] des Volkes bzw. seiner Männer. In [[Deutschland]] änderte sich das erst mit Einführung des [[Frauenwahlrecht]]s 1918.<ref>Walter Hirschberg (Begr.), Wolfgang Müller (Red.): ''Wörterbuch der Völkerkunde.'' Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005, S. 400.</ref>
 
Der Ausdruck ''Volk'' wird, zum Teil mit dem Zusatz „einfach“, zur Kennzeichnung der „breiten Masse“ einer Gesellschaft verwendet.<ref name="Hirschberg" /> Dieser Aspekt ist auch in der theologischen Unterscheidung von [[Klerus]] und [[Laie (Religion)|Laienvolk]] (von {{elS|λαός|laós|de=Volk}} – ''Volk'') enthalten.<ref>[[Martin Honecker (Theologe)|Martin Honecker]]: ''Volk''. In: ''[[Theologische Realenzyklopädie]]'', Bd. 35, de Gruyter, Berlin/New York 2003, S. 191–209, hier S. 191 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Ein Volk im Sinne von ''[[Staatsvolk]]'' besteht hingegen aus der Gesamtmenge der [[Staatsbürgerschaft|Staatsangehörigen]] und ihnen staatsrechtlich gleichgestellter Personen. Das Wort hat immer auch eine [[Subjektivität|subjektive Komponente]] im „Sich-Bekennen“ zu einem Volk. Darauf machten insbesondere [[Ernest Renan]] (1823–1892), [[Gustav von Rümelin]] (1815–1889) und [[Hermann Heller (Jurist)|Hermann Heller]] (1891–1933) aufmerksam. Die ethnische Herkunft von Bürgern eines Staates ist dabei [[völkerrecht]]lich unerheblich.<ref>[[Ulrich Vosgerau]]: ''Staat''. In: Burkhard Schöbener (Hrsg.), ''Völkerrecht. Lexikon zentraler Begriffe und Themen'', C.F. Müller, Heidelberg 2014, S.&nbsp;396.</ref> Ein Volk im ethnischen Sinn dagegen muss nicht unbedingt einen eigenen Staat haben, in dem es die Mehrheit der Bevölkerung bildet (→&nbsp;[[Vielvölkerstaat]]).<ref name="Vosgerau">Ulrich Vosgerau: ''Das Selbstbestimmungsrecht in der Weltgemeinschaft''. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), ''Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland'', Band XI: ''Internationale Bezüge'', 3. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg 2013, S.&nbsp;98.</ref>
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== Begriffsgeschichte ==
=== Antike ===
Die [[antike]]n Bezeichnungen für ''Volk'' ({{grcS|ἔθνος|éthnos}}, δῆμος ''[[Demos|démos]]'', λαός ''laós'', {{laS|gens}}, ''populus'', ''natio'') wurden in ihren Bedeutungen nicht trennscharf unterschieden.<ref>Michel Grodent: ''De 'Dèmos' à ‘Populus’''. In: ''Hermès. La Revue'' 42, No. 2 (2005), S. 19.</ref> Sie bezeichnen in erster Linie politische Einheiten, also etwas, das man im modernen Sprachverständnis als Staat bezeichnen würde. Die [[Polis]] [[Athen]] wurde oft οἱ Ἀθηναῖοι, ''hoi Athenaíoi'' („die Athener“) genannt, der Staatsname des [[Römisches Reich|Römischen Reiches]] lautete ''[[S.P.Q.R.|Senatus Populusque Romanus]]'' – „[[Römischer Senat|Senat]] und Volk von [[Rom]]“.<ref>[[Fritz Gschnitzer]]: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 151 f.</ref>

Als ''éthnos'' wurde ein bestimmtes Volk bzw. ein [[Stamm (Gesellschaftswissenschaften)|Volksstamm]] bezeichnet.<ref>[[Wilhelm Pape]]: ''Griechisch-Deutsches Handwörterbuch''. Nachdruck der dritten Auflage, bearb. v. Max Sengebusch. Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, Graz 1954, S. 720.</ref> Démos konnte neben den Polisbewohnern mit [[Bürgerrecht]] auch deren Teilmenge aus der Unterschicht bezeichnen, für die es auch die Bezeichnungen ὄχλος, ''óchlos'', und πλῆθος, ''plēthos'', gab. In Rom hieß die Unterschicht ursprünglich ''[[Plebejer|plebs]]''. Seit den [[Ständekämpfe (Rom)|Ständekämpfen]] wurde dieses Wort, oft synonym zu ''populus'', für alle römischen Bürger (mit Ausnahme der [[Patriziat (Römisches Reich)|Patrizier]]) verwendet.<ref>[[Walter Eder]]: ''Volk.'' In: [[Hubert Cancik]] und [[Helmuth Schneider (Althistoriker)|Helmuth Schneider]] (Hrsg.): ''[[Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft#Der Neue Pauly (DNP)|Der Neue Pauly]]'', Band 12/2. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2002, Sp. 300.</ref> Nach Harald Haarmann gab es ein „Volk der Römer“ oder „der Athener“ im ethnischen Sinne nie. Während die Bezeichnung ''Römer'' anfänglich lediglich für die Bewohner der Stadt Rom stand, sei sie später in Sinne einer [[Staatsbürgerschaft]] verwendet worden. Träger der [[Römische Kultur|römischen Kultur]] seien unter anderem die [[Latiner]], [[Umbrer]], [[Gallier]], [[Etrusker]] und [[Iberer]] gewesen. Die Athener rechnet Haarmann sprachlich und kulturell zum Volk der [[Griechen]].<ref>Harald Haarmann: ''Lexikon der untergegangenen Völker. Von Akkader bis Zimbern.'' 2., durchges. u. aktualisierte Auflage, C.H. Beck, München 2012, S. 9&nbsp;f.</ref>
 
Die antike [[Staatsform]]enlehre unterschied [[Monarchie]] als Herrschaft eines Einzelnen, [[Aristokratie]] als Herrschaft des Adels und [[Demokratie]] als Herrschaft des Volkes. Je nach politischer Haltung des Verfassers wurde dabei Demos teils als Gesamtheit aller Bürger, teils pejorativ als niederes Volk oder [[Pöbel]] verstanden.<ref>[[Wilfried Nippel]]: ''Politische Theorien der griechisch-römischen Antike.'' In: [[Hans-Joachim Lieber]] (Hrsg.): ''Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart''. [[Bundeszentrale für politische Bildung]], 2. Auflage, Bonn 1993, S. 17–46, hier S. 27.</ref> Der [[Kirchenvater]] [[Augustinus von Hippo]] (354–430) betonte dagegen, ein Volk müsse notwendig auch eine moralische Qualität haben, nicht bloß eine formale [[Rechtsordnung]]. In einem irdischen Staat, einer ''civitas terrena'', gebe es nur eine beliebig zusammengewürfelte Menge ''(multitudo)''. Erst die [[Gerechtigkeit]] mache daraus ein Volk ''(populus)''.<ref>Augustinus: ''[[De civitate Dei]]'' XIX, 21, referiert nach [[Otto Kallscheuer]]: ''Kommunitarismus''. In: [[Dieter Nohlen]] (Hrsg.): ''Lexikon der Politik, Band 1: Politische Theorien.'' Directmedia, Berlin 2004, S. 258.</ref>
 
Für die fremden Völker verwendeten die Römer die Bezeichnung ''[[Gens|gentes]]''. Seit der Ausweitung des [[Römisches Bürgerrecht|Bürgerrechts]] auf alle freien Bewohner des Reichs im 3. Jahrhundert wurden damit die „[[Barbar]]en“ am Rande und außerhalb des Reichs bezeichnet.<ref name="Peter Brandt">[[Peter Brandt (Historiker)|Peter Brandt]]: ''Volk''. In: ''[[Historisches Wörterbuch der Philosophie]]'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online], Zugriff am 24. Juni 2020).</ref> Die [[Germanen|germanischen]] und anderen Völker, die während der [[Spätantike]] in der so genannten [[Völkerwanderung]] in das [[Weströmisches Reich|weströmische Reich]] eindrangen und, schließlich auf dessen Boden eigene Reiche bildeten und somit die Voraussetzungen für die Entwicklung des europäischen [[Mittelalter]]s schufen, entstanden zumeist erst während ihrer [[Migration]] ([[Ethnogenese]]).<ref>Zur komplexen Forschungslage der Völkerwanderung (einem problematischen Forschungsbegriff, da in diesem Zusammenhang faktisch nie einheitliche „Völker“ migrierten, sondern zumeist recht heterogene Verbände) und der Auflösung Westroms (stark mitverschuldet durch innerrömische Bürgerkriege) siehe nun vor allem [[Mischa Meier]]: ''Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert.'' C.H. Beck, München 2019.</ref>
 
=== Mittelalter ===
''Volk'' umfasste im Mittelalter eine Spannbreite der Bedeutungen von einer unbestimmten Vielzahl von Menschen („Masse[n]“) über die heterogene Masse der Angehörigen der [[Soziale Schicht|Unterschichten]] – hier im Allgemeinen mit dem Bedeutungsakzent der [[Armut]] ''(daz arm Volk)'' – bis hin zu dem als „die ‚eigentliche‘ Unterschicht“ betrachteten, aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen [[Feudalismus|Feudalordnung]] ausgeschlossenen, vielfältig gegliederten „[[Fahrendes Volk|fahrenden Volk]]“. Das Wort wurde auch für religiöse Gemeinschaften („das judisch volck“, „das christlich volck“) und militärische Gruppierungen („Kriegsvolk“) verwendet.<ref>[[Bernd Schönemann]]: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 279–283 und 299&nbsp;f.</ref> Ebenfalls verbreitet war die Verwendung des Wortes für einen [[Familienformen#Begriffsdefinitionen: Haus / Ganzes Haus / Erweiterter Haushalt|Haushalt]] (lat. ''familia''), wobei darin auch das [[Gesinde]] eingeschlossen sein konnte. Das Wort konnte also die Funktion einer Gruppe bezeichnen oder ihre Anzahl. Welches von beiden gemeint war, lässt sich nur aus dem Kontext erschließen. Der moderne Volksbegriff fehlt daher nach Ansicht der Soziologin Katja Jung im Mittelalter: Der Mensch wurde verstanden als Geschöpf Gottes und somit als Teil einer universalen Ordnung, die als [[Ständegesellschaft|ständisch]] gegliedert gedacht wurde. Jeder hatte darin seinen festen Platz, für Alternativen bestand kein Raum. Eine [[Autonomie]] des Politischen, in dem ''Volk'' im modernen Sinne ein zentraler Begriff wurde, habe es erst seit [[Niccolò Machiavelli]] (1468–15271469–1527) gegeben.<ref>Katja Jung: ''Volk – Staat – (Welt-)Gesellschaft. Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Kollektivität in einer globalisierten Welt''. VS Verlag, Wiesbaden 2010, S. 30–34 und 76 f.</ref>
 
Doch auch im politischen Diskurs des Mittelalters lässt sich der Volksbegriff nachweisen. Bischof [[Fulbert von Chartres]] unterschied in einem [[Antijudaismus|antijüdischen]] Traktat um die Jahrtausendwende drei Elemente eines ''regnum'', einer Königsherrschaft: ''terra'' (das Land), ''populus'' (das Volk) und die ''persona regis'', die Person des [[König]]s.<ref>[[Thomas Zotz]]: ''Reichsbildung und zentraler Ort. Zur Rolle von Herrschaftsstätten im Rahmen der Trias rex – gens – patria''. In: [[Matthias Becher]] und Stefanie Dick (Hrsg.): ''Völker, Reiche und Namen im Frühen Mittelalter.'' Wilhelm Fink Verlag, München 2010, S. 347–358, hier S. 347.</ref> [[Mediävistik|Mediävisten]] wie [[Bernd Schneidmüller]] fanden Belege für diese Trias von ''rex, gens, patria'' auch in noch älteren Texten des Frühmittelalters und der Völkerwanderungszeit. Daraus dürfe aber nicht geschlossen werden, dass Völker einen überzeitlichen oder naturgegebenen Charakter hätten und „das Volk […] zum Staat drängte“, wie die ältere Mediävistik lange Zeit annahm. Was die [[Geschichte Deutschlands|deutsche Geschichte]] betreffe, sei vielmehr davon auszugehen, dass es auch im Hochmittelalter noch vielfältige Prozesse der Ethnogenese etwa der [[Sachsen (Volk)|Sachsen]] oder der Schwaben gab, wobei die Ethnogenese der Herrschaftsbildung folgte, nicht umgekehrt: Das heißt, dass sich in Bevölkerungsgruppen, die dieselben institutionellen Rahmenbedingungen hatten, langsam ein Grundkonsens über ihre Volks- oder Staatszugehörigkeit entwickelte. Eine Kontinuität von den germanischen Stämmen der Völkerwanderungszeit bis zu den [[Herzogtum#Stammesherzogtümer|Stammesherzogtümern]] des [[Ostfrankenreich]]s, wie die ältere Forschung sie unter Anwendung des modernen Volksbegriffs auf die Spätantike annahm, wird heute angezweifelt. Vielmehr hätten neue oder anhaltende Ethnogenesen, etwa von [[Stammesherzogtum Sachsen|Sachsen]], [[Herzogtum Schwaben|Schwaben]] und [[Stammesherzogtum Baiern|Baiern]], im 9. und 10. Jahrhundert zu neuen gentilen Identitäten geführt, die jeweils nur alte Namen für sich beanspruchten.<ref>Bernd Schneidmüller: ''Völker – Stämme – Herzogtümer? Von der Vielfalt der Ethnogenesen im ostfränkischen Reich''. In: ''[[Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung]]'' 108 (2000), S. 31–47, das Zitat S. 38.</ref>
 
Ab wann von einem [[Deutsche|deutschen Volk]] die Rede sein kann, ist in der Forschung stark umstritten. Bernd Schneidmüller sieht in verschiedenen Ursprungsgeschichten der Deutschen, die ab dem 11. Jahrhundert aufkamen, ein Indiz für ein sich ausbildendes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit.<ref>Bernd Schneidmüller: ''Reich – Volk – Nation. Die Entstehung des deutschen Reiches und der deutschen Nation im MittlalterMittelalter''. In: Almut Bues und Rex Rexheuser (Hrsg.): ''Mittelalterliche nationes – neuzeitliche Nationen'', Harsowitz, Wiesbaden 1995, S. 73–101, hier S. 96 ff.</ref> Nach dem Anglisten [[Manfred Görlach]] gab es im europäischen Mittelalter kein sprachlich begründetes Nationalgefühl. Der Historiker [[Heinz Thomas (Historiker)|Heinz Thomas]] dagegen bewertet die integrierende Kraft der [[Deutsche Sprache|deutschen Sprache]] höher als Görlach und nimmt an, dass seit den 1080er Jahren Alemannen, Bayern, Franken und Sachsen zusammenfassend als ''deutsch'' bezeichnet worden seien. Der Historiker [[Knut Schulz]] sieht dagegen Belege für ein Zusammengehörigkeitsgefühl von Deutschen im Ausland erst für das 15. Jahrhundert als gegeben an.<ref>[[Joachim Ehlers]]: ''Die Entstehung des deutschen Reiches'' (=&nbsp;''[[Enzyklopädie deutscher Geschichte]]'', Bd. 31). 4. Auflage, Oldenbourg, München 2012, ISBN 978-3-486-71721-1, S. 116–119 (abgerufen über [[Verlag Walter de Gruyter|De Gruyter]] Online).</ref>
 
=== Frühe Neuzeit und Aufklärung ===
Nachdem der Volksbegriff bei [[Martin Luther]] (1483–1546) gebrauchte den Volksbegriff noch ganz unspezifisch: gebraucht worden war,<ref>In seiner Schrift ''[[An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung]]'' etwa verwendet Lutherer das Wort 36 Mal: zwei Mal im militärischen Zusammenhang, zwei Mal politisch, einmal geographisch, fünfzehn Mal sozial und zwölf Mal theologisch für die [[Christenheit]].<ref>Martin Honecker: ''Volk''. In: ''Theologische Realenzyklopädie'', Bd. 35, de Gruyter, Berlin/New York 2003, S. 191–209, hier S. 193.</ref> (abgerufenDer über[[Mähren|mährische]] Theologe [[WalterJohann deAmos GruyterComenius]] (Verlag1592–1670) legte in seinem Traktat ''Gentis felicitas'' 1659 eine Definition vor, die abstammungsmäßige, geographische, sprachliche und emotionale Gesichtspunkte verknüpfte:
{{Zitat|DeEin GruyterVolk oder eine Nation ist eine Vielheit von Menschen, die aus gleichem Stamme entsprossen sind, an demselben Ort der Erde (wie in einer gemeinsamen Behausung, die man Vaterland nennt) wohnen, gleiche Sprache sprechen und durch gleiche Bande gemeinsamer Liebe, Eintracht und Mühe um das [[Gemeinwohl|öffentliche Wohl]] Online)verbunden sind.|ref=</ref>„Gens erfuhrseu erNatio imest hominum eadem stirpe prognatorum, eodem Mundi loco (veluti communi domo, quam Patriam vocant) habitantium, eodem Linguae idiomate utentium, eoque iisdem communis amoris, concordiae, et pro publico bono studii, vinculis colligatorum, multitudo.“ [[Thorsten Roelcke]]: ''Der Patriotismus der barocken Sprachgesellschaften.'' In: [[Andreas Gardt]] (Hrsg.): ''Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart''. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2000, ISBN 3-11-014841-2, S. 145 mit Anm. 9.</ref>}}

Im weiteren Verlauf der [[Frühe Neuzeit|Frühen Neuzeit]] erfuhr der Volksbegriff eine erhebliche Aufwertung und Politisierung. Am Ende des [[Englischer Bürgerkrieg|englischen Bürgerkriegs]] stipulierte etwa die ''Declaration of Parliament'' 1649, die „erste Einrichtung des Amtes des Königs durch die Zustimmung des Volkes“ sei geschehen.<ref name="Enz d Neuz" /> Im Zeitalter der [[Aufklärung]] 1765 konnte zwar [[Louis de Jaucourt]] (1704–1779) in der ''[[Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers|Encyclopédie]]'' {{frS|peuple}} noch nicht auf den Begriff bringen und bezeichnete es als „schwer zu definierende [[Kollektiv]]bezeichnung“. Im Text des Artikels ging er dann auf [[Magistratur|Magistratswahlen]] und Abstimmungen in den antiken [[Volksversammlung]]en ein und zitierte seinen Zeitgenossen Gabriel-François Coyer, der sich bemühte, [[Handwerk]]er und freie Berufe nicht zum Volk rechnen zu müssen, und betonte, wenn man Bauern und Arbeiter sozial besser stellte, hätten die Könige treuere [[Untertan]]en.<ref>«nom collectif difficile à définir» – Louis de Jaucourt: ''Peuple, le''. In: [[Denis Diderot]] und, [[Jean-Baptiste le Rond d’Alembert]] (Hrsg.): ''Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers'', 1. Auflage, Bd. 12, Paris 1765, S. 475 ([https[s://fr.wikisource.org:L’Encyclopédie/wiki/L%E2%80%99Encyclop%C3%A9die/1re_%C3%A9dition1re édition/PEUPLE |online]] auf [[Wikisource]], Zugriff am 5. Juni 2020); Harvey Chisick: ''The Limits of Reform in the Enlightenment: Attitudes Toward the Education of the Lower Classes in Eighteenth-Century France.'' Princeton University Press, Princeton 1981, S. 54 ff.</ref>
 
In der politischen Philosophie der Aufklärung wurde die Idee der [[Volkssouveränität]] entwickelt, also die Vorstellung, dass alle Macht im Staat vom Volk ausgeht. Bereits im 17. Jahrhundert verbreiteten etwa die so genannten [[Monarchomachen]] die Vorstellung, das Volk habe ein [[Widerstandsrecht]] gegen ungerechte Herrscher. Diesen Gedanken entwickelte der englische Dichter und Philosoph [[John Milton]] (1608–1674) zu der Vorstellung weiter, es dürfe von Zeit zu Zeit entscheiden, wer es regiere.<ref>[[Alexander Schwan]]: ''Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung''. In: [[Hans-Joachim Lieber]] (Hrsg.): ''Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart.'' Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993, S. 157–258, hier S. 193.</ref> Bereits 1603 hatte der Staatstheoretiker [[Johannes Althusius]] dem Volk im Staatsrecht einen Vorrang vor seinem Fürsten zugebilligt, den er als durch Übereinkunft eingesetzten [[Mandatar]] beschrieb. Das Volk dachte Althusius aber [[Korporatismus|korporativ]], nicht vom Individuum her, und knüpfte an religiöse Vorstellungen eines Bundes zwischen Volk und Gott an. Auch blieb er dem frühneuzeitlichen Begriffsverständnis von Volk als breiter Masse verhaftet, denn er beschrieb es als unbeständig und leichtgläubig. Insofern kann er nicht als Vorläufer der modernen Lehre von der Volkssouveränität angesehen werden.<ref name="Enz d Neuz" />
 
In Auseinandersetzung mit [[Thomas Hobbes]] und der republikanischen Diktatur [[Oliver Cromwell]]s entwickelte der [[Vordenker der Aufklärung]] [[John Locke]] (1632–1704) in der zweiten seiner ''[[Zwei Abhandlungen über die Regierung]]'' die Vorstellung, dem Volk komme [[naturrecht]]lich (wenngleich nicht [[verfassungsrecht]]lich) ''Supream Power'' (sic!) zu, die höchste Macht im Staat. In einem [[Vertragstheorie|Vertrag]] mit der – gewählten oder [[Erbmonarchie|erbmonarchisch]] bestimmten – Staatsspitze solle es vereinbaren, dass die [[Gewaltenteilung|Gewalt im Staat geteilt]] werde zwischen einem regelmäßig von ihm als der Summe der Individuen zu wählenden [[Parlament]] und der [[Exekutive]]. Auch wenn sein Wohl der eigentliche Zweck des Staates sei, könne das Volk an ihr keinen Anteil haben, weil eine Identität zwischen Staat und Individuen die Freiheit vernichten würde. Locke empfahl eine [[konstitutionelle Monarchie]], in der sich die [[Repräsentation (Politik)|Repräsentanten]] des Volkes, die Repräsentanten des Adels und der König die Macht teilten ''(King in Parliament)''.<ref>Alexander Schwan: ''Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung''. In: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): ''Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart.'' Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993, S. 157–258, hier S. 192 und 199 ff. (hier das zweite Zitat); [[Michaela Rehm]]: ''Vertrag und Vertrauen: Lockes Legitimation von Herrschaft''. In: dieselbe und Bernd Ludwig: ''John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung''. Akademie Verlag, Berlin 2012, ISBN 3-05-005076-4, S. 95–114, hier S. 104 (das erste Zitat) und 111 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Als eigentlicher Begründer des Gedankens der Volkssouveränität gilt [[Jean-Jacques Rousseau]] (1712–1778). In seiner Schrift ''[[Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes]]'' legteforderte er 1762: dar„Das Volk, diedas den Gesetzen unterworfen ist, muß auch ihr Urheber sein“.<ref>Zitiert bei Jens Wietschorke: ''Volk''. In: Brigitta Schmidt-Lauber, Manuel Liebig (Hrsg.): ''Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar.'' Böhlau, Wien 2022, S. 271–277, hier S. 274.</ref> Die Individuen schlössen zum gemeinschaftlichen Schutz ihrer Interessen miteinander einen Vertrag. Erst dadurch würden sie zu einem Volk. Ihm allein komme konstitutionelle [[Souveränität#Souveränität im Staatsrecht|Souveränität]] zu, die Rousseau als unteilbar und nicht delegierbar dachte. Daher lehnte er [[Repräsentativsystem]]e ebenso ab wie eine Gewaltenteilung. Der Wille des Volkes als gemeinsamer Wille, als ''[[volonté générale]]'' müsse sich in [[direkte Demokratie|direkter Demokratie]] verwirklichen.<ref>Alexander Schwan: ''Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung''. In: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): ''Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart.'' Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993, S. 157–258, hier S. 219–228; [[Ingeborg Maus]]: [https://www.blaetter.de/ausgabe/1994/mai/volk-und-nation-im-denken-der-aufklaerung ''Volk und Nation im Denken der Aufklärung'']. In: ''[[Blätter für deutsche und internationale Politik]]'', Mai 1994, Abschnitte ''Das „Volk“ der Volkssouveränität'' und ''Rousseau''.</ref> Da Rousseau die ''volonté générale'' als widerspruchsfrei, unveräußerlich und stets im Recht dachte, nennt der Historiker [[Michael Wildt]] ihn den Begründer des „[[Mythos]] von der Einheit und [[Homogenität (Soziologie)|Homogenität]] des Volkes“.<ref>Michael Wildt: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 25.</ref>
 
In ähnlicher Weise ging auch [[Immanuel Kant]] (1724–1804) davon aus, dass sich ein Volk erst durch den [[Voluntarismus|voluntaristischen]] Abschluss eines Gesellschaftsvertrags konstituiert:
{{Zitat|Der actus, da die Menge durch ihre Vereinigung ein Volk macht, […] constituiert schon eine souveraine Gewalt, welche sie durch ein Gesetz auf irgendeinen übertragen.}}
Einen so entstandenen Staat nannte Kant [[republik]]anisch, wenn er sich am [[Gemeinwohl]] und an der Freiheit orientiert. Darunter fallen bei ihm auch [[Monarchie]]n, in denen Gewaltenteilung herrscht. Staaten, in denen das nicht der Fall ist, nennt er [[Despotie|despotisch]]. Das kann auch die radikale Volksherrschaft betreffen, wie Rousseau sie vorgeschlagen hatte.<ref>Alexander Schwan: ''Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung''. In: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): ''Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart.'' Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993, S. 157–258, hier S. 248 ff.; Susann Held: ''Eigentum und Herrschaft bei John Locke und Immanuel Kant. Ein ideengeschichtlicher Vergleich.'' Lit Verlag, Münster 2006, S. 260 (hier das Zitat).</ref> Das Volk grenzte Kant scharf gegen seine nicht gesetzestreue Teilmenge ab, den „Pöbel […], dessen gesetzwidrige Vereinigung das [[Aufruhr|Rottiren]] ''(agere per turbas)'' ist; ein Verhalten, welches ihn von der Qualität eines Staatsbürgers ausschließt“.<ref>Immanuel Kant: ''[[Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis]]'' (1793), zitiert bei Michael Wildt: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 38.</ref>
 
=== Gründung der USA ===
Die [[Gründerväter der Vereinigten Staaten]] knüpften an Lockes Theoriebildung an.<ref>Alexander Schwan: ''Politische Theorien des Rationalismus und der Aufklärung''. In: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): ''Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart.'' Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993, S. 157–258, hier S. 192.</ref> In ihrer [[Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten|Unabhängigkeitserklärung]] legten sie am 4. Juli 1776 dar, es sei „das Recht des Volkes“, seine Regierungsform „zu verändern oder abzuschaffen“, sobald diese ihren eigentlichen Zwecken, nämlich der Garantie der [[Menschenrechte]], „verderblich wird, […] und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket“.<ref>''Eine Erklärung durch die Repräsentanten der VereingtenVereinigten Staaten von America, im GenralGeneral-Congreß versammlet''. Steiner und Cist, Philadelphia 1776 ([[s:Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika|online]] auf Wikisource, Zugriff am 5. Juni 2020).</ref> Im sich anschließenden [[Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg|Unabhängigkeitskrieg]] wurde immer wieder die Einigkeit des „American people“ beschworen, um die durchaus divergenten Partikularinteressen der [[dreizehn Kolonien]] zu überdecken. In diesem Sinne war auch die Einleitungsformel der [[Verfassung der Vereinigten Staaten]] zu verstehen: „We“We the People of the United States, in order to form a more perfect Union …“…”<ref name="Enz d Neuz" /> Das so beschworene Volk bezog aber weder Frauen noch [[Sklaverei in den Vereinigten Staaten|Sklaven]] noch die [[Indianer Nordamerikas|indigene Bevölkerung]] mit ein. Es war nur eine Minderheit.<ref>Michael Wildt: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 31.</ref>
 
Seinen klassischen Ausdruck fand der amerikanische Gedanke der Volkssouveränität 1863 in der [[Gettysburg Address]] [[Abraham Lincoln]]s. Darin definierte er Demokratie als „government of the people, by the people, for the people“. Das heißt, in ihr gehe die Herrschaft aus dem Volk hervor ''(of)'', sie werde durch das Volk ''(by)'' und in seinem Interesse ''(for)'' ausgeübt.<ref>[[Bernd Guggenberger]]: ''Demokratie/Demokratietheorie''. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): ''Lexikon der Politik, Band 1: Politische Theorien.'' Directmedia, Berlin 2004, S. 49.</ref>
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[[Datei:CharlesThevenin-FeteDeLaFederation.JPG|mini|''Das Föderationsfest''. Gemälde von [[Charles Thévenin]] (1790). Im Vordergrund umarmen sich Angehörige aller Schichten des französischen Volkes.]]
 
Bedeutsam für die Erhebung des Wortes ''Volk'' zu einem [[Wertvorstellung|Wertbegriff]] war die [[Französische Revolution]]. Vorher war {{frS|peuple}} zur Bezeichnung der Bevölkerung [[Frankreich]]s hauptsächlich im Plural verwendet worden. Im Singular trat es erstmals während der vorrevolutionären Krise in den ''[[Cahiers de Doléances]]'' in Erscheinung, wobei es [[Paternalismus|paternalistisch]] als Kinderschar des Königs [[Ludwig XVI.]] hingestellt wurde. Das änderte sich nach dem [[Sturm auf die Bastille]] am 14. Juli 1789, als dessen Urheber in Zeitungen und Flugblättern nun „das Volk“ dargestellt wurde.<ref>[[Michel Vovelle]]: ''Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten.'' Fischer, Frankfurt am Main 1985, S. 110 f.</ref> Seitdem wurde die Formel „[[Im Namen des Volkes]]“ als Gegenformulierung gegen das weiterhin verbreitete „Im Namen Gottes“ gebraucht.<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze und, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 204.</ref>
 
Das Wort ''Volk'' wurde in der Französischen Revolution mit Einigkeit und [[Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit|Brüderlichkeit]] konnotiert. Diese Vorstellung erreichte einen Höhepunkt beim [[Föderationsfest]] zum einjährigen Jubiläum des Bastillesturms und zeigte sich etwa im dafür gedichteten Lied ''[[Ah! Ça ira]]'': Hier stehen dem einig und entschlossen handelnden Volk die [[Aristokratie|Aristokraten]] gegenüber, die somit aus dem Volk ausgegrenzt werden. In der Folgezeit verschob sich die Bedeutung des Wortes mehr in Richtung ''petit peuple'', also auf die Unterschichten und die [[Sansculottes|Sansculotten]], die die Revolution aktiv unterstützten. Wer dies nicht tat, war kein ''[[L’Ami du Peuple|ami du peuple]]'' (so der Name der Zeitung von [[Jean Paul Marat]]) und machte sich verdächtig. Damit begann eine [[Dialektik]] von Einigkeit und Ausgrenzung: Während einerseits weiterhin (in Anlehnung an Rousseau) die Solidarität und Identität der Interessen innerhalb des [[Franzosen|französischen Volkes]] betont wurde, wuchs die Zahl derer, die wegen ihrer (wirklich oder vermeintlich) revolutionsfeindlichen Aktivität als [[Volksfeind]]e galten, als „ennemis du peuple“: Eidverweigernde[[Zivilverfassung des Klerus#Der Treueeid und die Folgen|eidverweigernde Priester]], Emigranten, Royalisten, [[Girondisten]] usw. Ihren Höhepunkt erreichte diese Ausgrenzung in der [[Terrorherrschaft]] 1793/94, Tausende wurde [[Guillotine|guillotiniert]].<ref>Michel Vovelle: ''Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten.'' Fischer, Frankfurt am Main 1985, S. 112 f.</ref> ''Peuple'' trat nun in Konkurrenz zu der bis dahin bevorzugten Vokabel ''nation'': In der [[Französische Verfassung von 1793|Verfassung von 1793]] geht die Souveränität anders als noch in der [[Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte]] vom 26. August 1789 nicht mehr von der Nation, sondern vom Volk aus.<ref name="Enz d Neuz" /> Im [[9. Thermidor|Thermidor]] und unter dem [[Direktorium (Frankreich)|Direktorium]] wurde dann wieder die Einigkeit innerhalb des Volkes betont, was die realen gesellschaftlichen Verhältnisse aber verschleierte, denn die [[soziale Ungleichheit]] wuchs.<ref>Michel Vovelle: ''Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten.'' Fischer, Frankfurt am Main 1985, S. 114.</ref>
 
=== Volksaufklärung, Romantik und Idealismus in Deutschland ===
[[Datei:Völkertafel.jpg|mini|[[Völkertafel (Steiermark)|Völkertafel]]., [[Steiermark]], 18. Jahrhundert. Dargestellt werden nationale [[Tracht (Kleidung)|Trachten]] und [[Stereotyp]]e sowie vermeintliche Volkscharaktere„Volkscharaktere“.]]
 
In Deutschland hofften seit den 1770er Jahren Volksaufklärer wie [[Rudolph Zacharias Becker]], die Bildung und Erziehung des Volkes zu einem Motor des [[Fortschritt]]s machen zu können. Sie sahen ihre eigene Rolle darin, Erzieher der mit den Mitteln der Kultur erst noch zu begründenden Nation zu sein, und [[Nobilitierung|nobilitierten]] in diesem Zusammenhang den Volksbegriff. Gleichwohl blieb er bei ihnen mit Rohheit und mangelnder Bildung konnotiert. Als handelndes [[Subjekt (Philosophie)|Subjekt]] wurde das Volk von den Volksaufklärern nicht angesehen.<ref>[[Ute Planert]]: ''Nation und Nationalismus in der deutschen Geschichte''. In: ''[[Aus Politik und Zeitgeschichte]]'' B 39 (2004), S. 11–18, hier S. 15; Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online], Zugriff am 24. Juni 2020); [[Christian Jansen]], Henning Borggräfe: ''Nation – Nationalität – Nationalismus.'' Campus, Frankfurt am Main 2007, S. 37 f.</ref>
 
[[Johann Gottfried Herder]] (1744–1803) verstand Völker als kollektive Individualitäten, die sich durch je eigene Sprachen, Seelen und Charaktere voneinander unterscheiden würden.<ref>Bernd Schönemann: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 283.</ref> Poesie und Sprache würden ein Volk erst als spirituelle Gemeinschaft konstituieren: Für Herder wurzelte die [[Volkszugehörigkeit]] in der [[Muttersprache]]. Bei ihm finden sich auch erste Ansätze der Exklusionsfunktion des Volksbegriffes: Die Natur habe die Völker als distinkte Entitäten durch Sprache, Sitten und Gebräuche getrennt, jede Mischung erschien in dieser Sicht widernatürlich und sei abzulehnen. Die besondere Betonung der Sprache und bei anderen deutschen Autoren der Abstammung zur Definition der Volkszugehörigkeit hatte ihre Ursache darin, dass in Deutschland, anders als in Frankreich, ein Volk konstruiert wurde, bevor es einen entsprechenden Staat gab. Somit waren andere, nicht politische Zugehörigkeitskriterien notwendig.<ref>Christian Jansen, Henning Borggräfe: ''Nation – Nationalität – Nationalismus.'' Campus, Frankfurt am Main 2007, S. 37–40.</ref> Herder versuchte sich auch an einer religiösen Aufladung des Volksbegriffes: „Wer sich seiner Nation und seiner Sprache schämt, hat die Religion seines Volks, also das Band zerrissen, das ihn an die Nation knüpfet“, schrieb er 1802. Ihm schwebte eine „Nationalreligion“ im Geiste Luthers vor. Mit dieser Idee, die auf die Ausgrenzung sowohl von [[Juden]] als auch von [[Römisch-katholische Kirche|Katholiken]] zielte, setzte sich Herder nicht durch.<ref>Christian Jansen: ''Johann Gottfried Herder.'' In: [[Ingo Haar]], [[Michael Fahlbusch]] (Hrsg.): ''Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme.'' 2. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2017, ISBN 978-3-11-042989-3, S. 294–298, hier S. 297 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
An Herder knüpften die [[Romantik]]er an, die in den Äußerungen des Volkes, seiner authentisch-ungekünstelten Sprache, seinen Erzählungen und Liedern eine bewahrenswerte Natürlichkeit sahen. Zum Teil großangelegte Sammlungen der Volkskultur wurden begonnen (''[[Grimms Märchen]]'' und ''[[Deutsches Wörterbuch]]'', ''[[Des Knaben Wunderhorn]]'').<ref>Christian Jansen, Henning Borggräfe: ''Nation – Nationalität – Nationalismus.'' Campus, Frankfurt am Main 2007, S. 38; [[Karl Vocelka]]: ''Geschichte der Neuzeit 1500–1918''. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 525.</ref> [[Jacob Grimm]] definierte ''volk'' 1846 auf dem ersten [[Germanistik]]kongress in Frankfurt am Main als „inbegriff von menschen, welche dieselbe sprache reden“, und diese Erklärung erlaube, über das „gitter“ der Grenzen der Einzelstaaten hinwegzuspringen mit Blick auf die „einmal unausbleiblich heranrückende zukunft“, nämlich dem [[Nationalstaat]].<ref>[[Wolfgang Emmerich]]: ''Zur Kritik der Volkstumsideologie.'' Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971, S. 44.</ref> Diese romantische Konstruktion des ''Volkes'', seines vermeintlich urwüchsigen Charakters, seiner „unverfälschten Seele“ und seiner, wie man annahm, jahrtausendealten Tradition stand im Widerspruch zu den Werten der Aufklärung, die dem Individuum als solchem und nicht nur als Angehörigem eines Volkes unveräußerliche Rechte zuschrieb und alle hergebrachten Sozialbindungen infrage stellte. Die Romantiker verstanden ''Volk'' dagegen als einen „lebendigen sozialen Organismus“[[Organismus]]“, den man nicht abrupt oder gewaltsam verändern dürfe. In diesem Sinne wurde der romantische Volksbegriff später von [[Konservatismus|Konservativen]] als Argument gegen Reformen und gegen eine [[Revolution]] benutzt.<ref>Jörn Retterath: ''„Was ist das Volk?“ Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924''. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-046454-2, S. 52 ff. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Weil durch die politische Zersplitterung Deutschlands sich ein Volksbegriff wie in Frankreich, der auf einer Gemeinschaft freier Bürger beruhte, nicht bilden konnte, konstruierten deutsche [[Intellektueller|Intellektuelle]] stattdessen die Kultur als einigendes Band. Sie sei ein Zwischenstadium vor der Zusammenfassung aller so verstandenen Deutschen in einem Staat. Dass dieser alle Angehörigen der [[Kulturnation]], wie [[Friedrich Meinecke]] (1862–1954) dieses Konzept später nannte, umfassen würde, war angesichts der deutschsprachigen Streusiedlung in [[Osteuropa]] unwahrscheinlich. Auch war das Konzept geeignet, angeblich Fremde (wie preußische [[Polen (Ethnie)|Polen]] oder [[Geschichte der Juden in Deutschland|deutsche Juden]]) auszugrenzen, und es war, wie [[Hans-Ulrich Wehler]] feststellte, kompatibel mit allen [[Politisches System|politischen Systemen]], ob demokratisch, [[Monarchie|monarchisch]] oder [[Diktatur|diktatorisch]].<ref>[[Hans-Ulrich Wehler]]: ''Deutsche Gesellschaftsgeschichte'', Bd.&nbsp;3: ''Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1845/49–1914''. C.H. Beck, München 1995, S. 951 f.; Jörn Retterath: ''„Was ist das Volk?“ Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924''. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-046454-2, S. 54 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Auch [[Georg Wilhelm Friedrich Hegel]] (1770–1831) glaubte im Anschluss an Herder, Völker seien Entitäten mit jeweils individuellen Eigenschaften. In seiner [[Geschichtsphilosophie]] erscheinen sie ebenso wie die großen Individuen als „Mittel und Werkzeuge des [[Weltgeist]]es“, die eben dadurch, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgen (die sprichwörtliche [[List der Vernunft]]), zum Endzweck der Welt beitragen, nämlich dem zunehmenden Bewusstsein des Geistes von seiner Freiheit. Da sich dies für die Völker nur in einem Staat verwirklichen lasse, unterschied Hegel den Wert der Völker nach ihrer Staatlichkeit, von den barbarischen Völkern ohne Staat über die zivilisierten Nationen bis hin zu dem zu voller Staatlichkeit entwickelten „welthistorischen Volk“. Dieses sei in seiner Epoche „Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes“. Ihm gegenüber seien die Geister der anderen Völker rechtlos.<ref>Bernd Schönemann: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 362 f.</ref>
 
=== Befreiungskriege und deutscher Frühnationalismus ===
Das Ende des [[Heiliges Römisches Reich|Heiligen Römischen Reiches]] 1806 trug dazu bei, ''Volk'' in breiteren Bevölkerungsschichten als einen Begriff zu etablieren, unter den sich die Bevölkerungen der einzelnen deutschen Länder subsumieren und von anderen abgrenzen ließen. Es stellt einen Kompensationsbegriff zur französischen ''nation'' dar, weil eine deutsche [[Nation]] oder ein [[Deutsche|deutsches Volk]] um 1800 noch nicht gegeben war, auch wenn in den späteren Geschichtsdarstellungen seine Existenz bis ins Mittelalter oder in die Antike hinein rückprojiziert und [[Geschichtsmythos|mythologisiert]] wurde.<ref>Reinhart Koselleck und [[Karl Ferdinand Werner]]: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze und, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 149 f. und 238 f.</ref>
 
Das Wort ''Volk'' wurde im Sprachgebrauch der [[Nationalbewegung]]en des 19. Jahrhunderts zum zentralen politischen Schlagwort, zur [[Tropus (Rhetorik)|Trope]] des neu entstehenden Nationalismus.<ref>Peter H. Wilson: ''The Holy Roman Empire: A Thousand Years of Europe’s History.'' Penguin, 2016.</ref> Während der [[Befreiungskriege]] wurde ''Volk'' als handelnde Einheit konzipiert, wobei der in der Aufklärung herausgearbeitete emanzipatorische Gehalt nun gegen den [[Usurpation|„usurpatorischen“usurpatorischen]] Herrscher [[Napoleon Bonaparte]] gerichtet wurde: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“, dichtete zum Beispiel [[Theodor Körner (Schriftsteller)|Theodor Körner]] (1791–1813).<ref>Reinhard Stauber und Florian Kerschbaumer: ''Volk''. In: ''Enzyklopädie der Neuzeit'', Bd. 14: ''Vater–Wirtschaftswachstum''. J.B. Metzler, Stuttgart 2011, S. 376–384 ([http[doi://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_375140 online]]); Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online], Zugriff am 24. Juni 2020).</ref>
 
Der deutsche Philosoph [[Johann Gottlieb Fichte]] (1762–1814) entwarf 1808 in seinen ''[[Reden an die deutsche Nation]]'' die Vorstellung, Völker würden durch ihre Sprache als unvermischbare [[Wesen (Philosophie)|Wesenheiten]] konstituiert. „Was dieselbe Sprache redet“, sei „durch die bloße Natur“ auf verschiedenste Arten eng miteinander verbunden:
{{Zitat|Es gehört zusammen, und ist natürlich Eins, und ein unzertrennliches Ganzes. Ein solches kann kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen wollen, ohne wenigstens fürs erste sich zu verwirren, und den gleichmäßigen Fortgang seiner Bildung mächtig zu stören.|ref=<ref>Zit. nach Peter Berghoff: ''Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse''. Akademie Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-05-002980-3, S. 37 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>}}
Die Deutschen seien das „Urvolk“: Ihnen wies Fichte eine Sendung für die ganze Menschheit im beinahe [[Kosmopolitismus|kosmopolitischen]] Sinne zu, denn Volk definierte er nicht ethnisch oder sprachlich, sondern durch [[Geist]]igkeit und Freiheit. Ein Volk sei „das Ganze der in Gesellschaft miteinander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwickelung des Göttlichen aus ihm steht“. Gleichzeitig sollte der Gedanke des [[Volkstum]]s aber gegen die französische Besatzung mobilisieren. Das Volk der [[Franzosen]] erscheint bei ihm als minderwertig, als Träger des Prinzips des [[Das Böse|Bösen]].<ref>Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online], Zugriff am 24. Juni 2020); Annette Knaut: ''Von der Idee der Nation als politischer und sozialer Willensgemeinschaft zur Transformation der Nation im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung: Zum Begriff der Nation in den Sozialwissenschaften''. In: ''[[Archiv für Begriffsgeschichte]]'' 53 (2011), S. 119–135, hier S. 22122 mit Anm. 18 (Zitat).</ref> ÄhnlichDen Begriff des Volkstums hatte [[Friedrich Ludwig Jahn]], der als „Turnvater“ berühmt wurde, 1810 in den politischen Diskurs eingebracht. Damit versuchte er Wesenszüge zu fassen, die angeblich allen Mitgliedern einer Nation eigen sein sollen und durch die sie sich von anderen Nationen unterscheiden würden. Das individualisierte Kollektiv ''Volk'' stellte er sich als Körper vor, in dem jedes einzelne Organ seine jeweilige Funktion und auch seine jeweilige Wertigkeit besitze: Somit sollten die Menschen ihre individuellen Bedürfnisse denen der Nation unterordnen – ein Konzept, mit dem sich politische Ungleichheit rechtfertigen und ein Austrag innergesellschaftlicher Konflikte verbieten ließ.<ref>Christian Jansen mit Henning Borggräfe: ''Nation – Nationalität – Nationalismus.'' Campus, Frankfurt am Main 2007, S. 47.</ref> Diese Überhöhung des deutschen Volkes ging bei Jahn mit einer [[Dämonisierung]] alles Französischen einher, wie sie sich auch bei [[Ernst Moritz Arndt]] (1769–1860) findet,<ref>[[Heinrich August Winkler]]: ''[[Der lange Weg nach Westen]].'' Band 1: ''Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der gegenWeimarer sieRepublik.'' C.H. Beck, München 2000, S. 63 f.</ref> der zu „Völkerhass“ aufriefgegen die Franzosen als Mittel zur nationalen Selbstfindung aufrief: „Dieser Haß glühe als Religion des teutschen Volkes, als ein heiliger Wahn, in allen Herzen“.<ref>Christian Jansen: ''Ernst Moritz Arndt.'' In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hrsg.): ''Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme.'' 2. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2017, ISBN 978-3-11-042989-3, S. 39–43, hier S. 40 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> In Arndts folgenreicher Kriegspropaganda, die die Völkerwelt [[Manichäismus|manichäisch]] in entweder gut oder böse einteilte, gingen die innere Identitätsfindung des Volks und der Aggressionsvollzug nach außen eine scheinbar unauflösliche Einheit ein.<ref>Bernd Schönemann: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 333.</ref> Arndts Volksbegriff war dabei [[Geschichte des Antisemitismus bis 1945|antisemitisch]] aufgeladen: Die Juden stellte er als eigenes, fremdartiges Volk dem deutschen Volk gegenüber und polemisierte insbesondere gegen die Zuwanderung von [[Juden in Mittel-Ostjuden und OsteuropaWestjuden|Ostjuden]], die als „unreine Flut vom Osten her“ den „germanischen Stamm“ verunreinigen würden.<ref>Clemens Escher: ''Arndt, Ernst Moritz.'' In: [[Wolfgang Benz]] (Hrsg.): ''[[Handbuch des Antisemitismus]].'' Band 2: ''Personen.'' De Gruyter Saur, Berlin 2009, ISBN 978-3-598-44159-2, S. 34 (hier das Zitat) (abgerufen über [[Verlag Walter de Gruyter|De Gruyter]] Online); Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online], Zugriff am 24. Juni 2020).</ref> Die Verherrlichung des Volkes ging bei Arndt so weit, dass es für ihn noch über den Fürsten stand, die er 1815 als „Diener und Beamte des Volkes“ beschrieb. Insofern attestiert Peter Brandt dem Volks-Begriff von Arndt, Jahn und Fichte eine „obrigkeitsfeindliche und egalitäre Tendenz“.<ref>Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft''. 8. Auflage, Bd. 6: ''Volk–Zweites Vatikanisches Konzil''. Herder, Freiburg 2022, Sp. 1–9, hier Sp. 2.</ref>
 
Im Zusammenhang mit den [[Koalitionskriege|napoleonischen Kriegen]] bekam das Volk auch einen neuen, militärischen Sinn: Anders als in den [[Kabinettskrieg]]en der Frühen Neuzeit war es ein jederzeit mobilisierbares Potenzial. Der Krieg wurde, wie [[Carl von Clausewitz]] (1780–1831) analysierte, „wieder Sache des ganzen Volkes“: Er wurde zum [[Volkskrieg]].<ref>Bernd Schönemann: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 337.</ref>
 
Der Volksbegriff, wie er um 1800 entwickelt worden war, hattewurde großenzentral für mehrere Wissenschaften, die sich im 19. Jahrhundert in engem Zusammenhang mit den über ihn geführten Debatten ausbildeten: die [[Völkerkunde]], die [[Volkskunde]], die [[Sprachwissenschaft]]en, die [[Rechtsgeschichte]] und die [[Geschichtswissenschaft]].<ref>Jens Wietschorke: ''Volk''. In: Brigitta Schmidt-Lauber, Manuel Liebig (Hrsg.): ''Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar.'' Böhlau, Wien 2022, S. 271–277, hier S. 275.</ref> Großen Einfluss hatte er auch auf die verschiedenen europäischen Nationalbewegungen[[Nationalbewegung]]en, vor allem im Osten und Norden des Kontinents.<ref name="Peter Brandt" /> Im [[Russisches Kaiserreich|Russischen Kaiserreich]] etwa lässt sich eine ähnliche emphatische Überhöhung des Volkes wie bei Herder und den Romantikern nachweisen. In Russland wurde der Begriff „Volk“ (auf {{ruS|народ|narod}}) ab etwa 1800 vielfältig verwendet. Volkslieder und andere Hervorbringungen der Volkskultur wurden vermehrt ediert, Intellektuelle veredelten das Wort auf ihrer Suche nach einer russischen Identität und nach dem emanzipativen Potenzial der Unterschichten.<ref name="Enz d Neuz" /> Daraus erwuchs in der zweiten Jahrhunderthälfte die soziale Bewegung der [[Narodniki]]. Im 20. Jahrhundert folgten Übernahmen des Volksbegriffes durch den [[Zionismus]], den [[Panarabismus|arabischen]] und den [[Türkischer Nationalismus|türkischen Nationalismus]].<ref name="Peter Brandt" />
 
=== Die Revolution von 1848 ===
In Deutschland wurde aber auch der staatsbürgerliche Volksbegriff rezipiert. Der liberale Staatswissenschaftler [[Karl von Rotteck]] schrieb 1818, ein Volk ohne [[Verfassung]] sei „ – im edlen Sinne des Wortes – gar kein Volk.“ Im [[Vormärz]] und in der [[Deutsche Revolution 1848/1849|Revolution von 1848/49]] wurde das Wort weiter aufgewertet. Die Liberalen befürworteten ein [[Zensuswahlrecht]], nach dem nur die [[Aktivbürger]], die über ein hinreichend großes Eigentum oder eine entsprechende Bildung verfügten, das „eigentliche“ Volk bildeten.<ref>Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft''. 8. Auflage, Bd. 6: ''Volk–Zweites Vatikanisches Konzil''. Herder, Freiburg 2022, Sp. 1–9, hier Sp. 1 f.</ref> Die [[Demokratische Bewegung (Deutschland)|Demokraten]] dagegen sahen das Volk, verstanden als alle erwachsenen Männer im Land, als Quelle aller [[Legitimation (Politikwissenschaft)|legitimen]] Herrschaft an. Das [[Offenburger Versammlung 1847|Offenburger Programm]], das unter anderem von [[Gustav Struve]] (1805–1870) und [[Friedrich Hecker]] (1811–1881) formuliert worden war, forderte am 12. September 1847 eine „Vertretung des Volks beim [[Deutscher Bund|deutschen Bunde]], […] eine Stimme in dessen Angelegenheiten. Gerechtigkeit und Freiheit im Innern, eine feste Stellung dem Auslande“. Eine [[Republik]] wurde noch nicht gefordert. Das geschah erst am 31. März 1848 im [[Vorparlament|Frankfurter Vorparlament]], als Struwe feierlich erklärte, „alle Bande“ seien „gelöst, welche das deutsche Volk an die bisherige sogenannte Ordnung der Dinge geknüpft hatten“. Von nun an forderten die Demokraten, die [[Erbmonarchie|erbliche Monarchie]] abzuschaffen, dafür sollten Parlamente frei gewählt werden, die zusammen eine [[Bundesstaat (Föderalerföderaler Staat)|föderative]] Republik mit einem gewählten Präsidenten an der Spitze bilden sollten. Sie sprachen sich für Volkssouveränität aus, wie sie etwa in den Vereinigten Staaten schon jahrzehntelang verwirklicht war. In der [[Frankfurter Nationalversammlung]] konnten sie sich damit nicht durchsetzen. Das zeigte sich etwa in der Polendebatte, als der Abgeordnete [[Wilhelm Jordan (Schriftsteller)|Wilhelm Jordan]] (1819–1904) am 24. Juli 1848 einen „gesunden [[Volksegoismus]]“ forderte, „welcher die Wohlfahrt und Ehre des [[Vaterland]]es in allen Fragen obenanstellt“. Der Demokrat [[Robert Blum]] (1807–1848) dagegen riet dazu, auch den Polen ein Recht auf einen [[Nationalstaat]] zuzubilligen, und unterlag in der Abstimmung mit 342 zu 31 Stimmen.<ref>Christian Jansen, Henning Borggräfe: ''Nation – Nationalität – Nationalismus.'' Campus, Frankfurt am Main 2007, S. 53 f.</ref> [[Benedict Anderson]] weist auf die Probleme hin, die die ungarischen Nationalisten 1848 mit den nichtungarischen Minderheiten hatten: [[Lajos Kossuth]] wollte ihnen zwar die gleichen Bürgerrechte wie den Ungarn einräumen, nicht aber das Recht auf eigene Nationalstaaten: Sie hätten nämlich keine „historischen Persönlichkeiten“.<ref>Benedict Anderson: [https://is.muni.cz/el/1423/podzim2013/SOC571E/um/Anderson_B_-_Imagined_Communities.pdf ''Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism''], Revised Edition, Verso, London/New York 2006, ISBN 978-1-84467-086-4, S. 103.</ref> Laut dem Historiker [[Dieter Langewiesche]] zeigte die 1848er Revolution, „wie nah ‚Völkerfrühling‘ und ‚Völkerhaß‘ beieinander sein können“.<ref>[[Dieter Langewiesche]]: ''Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa''. C.H. Beck, München 2000, S. 47 ([https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-319654 Online-Ausgabe]).</ref>
 
Auch die [[Paulskirchenverfassung]] zeigte, vom [[Allgemeines Wahlrecht|allgemeinen Wahlrecht]] abgesehen, keine Spuren demokratischen Denkens: Deutschland sollte eine konstitutionelle Monarchie unter einem Erbkaiser werden, das deutsche Volk wurde nicht als [[Souverän]] bezeichnet. Als Verfassungsgeber figurierte vielmehr die Nationalversammlung. Sie war es, die laut der [[Präambel]] die Reichsverfassung beschloss und verkündigte.<ref>Bernd Schönemann: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 358 ff.</ref> Auch was die Definition einer [[Deutsche Staatsangehörigkeit|deutschen Staatsangehörigkeit]] betraf, blieb die Paulskirchenversammlung hinter demokratischen Standards zurück. Für den Vorsitzenden des Verfassungsausschusses [[Georg Beseler]] stellte das Volk nicht eine Masse von Individuen dar, sondern verlange die rechtliche Berücksichtigung von „Sitte“ und „Bedürfnissen“ der einzelnen deutschen „Stämme“: Daher sollten Bundesstaaten ihr je eigenes Staatsbürgerrecht behalten. Ethnisch Nicht-Deutschen werde als Staatsangehörigen der Bundesstaaten zwar gleiches Recht eingeräumt, aber, so betonte er, sie hätten „dies dankbar anzuerkennen“. §&nbsp;131 der Paulskirchenverfassung legte fest, das deutsche Volk bestehe aus den Angehörigen der Staaten, die das Deutsche Reich bildeten.<ref>[[Dieter Gosewinkel]]: ''Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland''. 2. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, S. 120–123.</ref>
 
=== Sozialistische Arbeiterbewegung ===
[[Karl Marx]] (1818–1883) und [[Friedrich Engels]] (1820–1895) knüpften an Hegels [[Geschichtsphilosophie#Hegel|Geschichtsphilosophie]] an, maßen den Völkern gegenüber den Veränderungen der ökonomischen Bedingungen aber eine nur untergeordnete Bedeutung bei. Im ''[[Manifest der Kommunistischen Partei|Kommunistischen Manifest]]'' diagnostizierten sie ein Schwinden der Gegensätze zwischen den Völkern schon durch die Entfaltung des weltweiten [[Kapitalismus]] und prognostizierten: „Die Herrschaft des [[Proletariat]]s wird sie noch mehr verschwinden machen.“ ''Volk'' wurde von ihnen seltener national als vielmehr soziologisch verwendet. Sie unterschieden aber zwischen „Völkern mit Geschichte“ wie [[Polen (Volk)|Polen]] oder [[Iren]], die in der Lage seien, sich einen eigenen Staat zu schaffen, und „Völkern ohne Geschichte“, denen es an der hierzu notwendigen „historischen Vitalität“ fehle.<ref>[[Ephraim Nimni]]: [http://www.nonel.pu.ru/erdferkel/nimni.pdf ''Marx, Engels and the National Question'']. In: ''Science & Society'' 53, Heft 3 (1989), S. 297–326, hier S. 305 f.</ref> Häufig verwendeten sieMarx und Engels ''Volk'' oder ''Volksmassen'' synonym mit ''Proletariat'': Das Volk galt ihnen als Träger der kommenden Revolution.<ref>Günter Hartfiel und Karl-Heinz Hillmann: ''Wörterbuch der Soziologie.'' 3. überarbeitete und ergänzte Auflage, Kröner, Stuttgart 1982, S. 794; Bernd Schönemann: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 363 f.</ref> In diesem Sinne bezeichnete Marx auch die Religion als „[[Opium des Volkes]]“. Statt dieses „illusorischen Glücks“ gelte es, „das wirkliche Glück“ des Volkes zu verlangen.<ref>Karl Marx: ''Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie'', 1844 ([[s:Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie|online]] bei [[Wikisource]]).</ref> Im [[Marxismus-Leninismus]] wurde diese Theorie weiterentwickelt: Erst die sozialistische Revolution bringe ein „sozial geeintes Volk“ als Basis wirklicher Volksherrschaft hervor. Demokratie wurde als Übergangsphänomen bei der Machteroberung und -behauptung des Proletariats verstanden. [[Georg Lukács]] (1885–1971) prägte dafür den Begriff der „demokratischen Diktatur“. Man nahm an, die Demokratie würde erst in einer späteren Phase ihren Funktionskreis auf das ganze Volk ausdehnen und in der [[Kommunismus|kommunistischen]] Gesellschaft absterben.<ref>Bernd Guggenberger: ''Demokratie/Demokratietheorie''. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): ''Lexikon der Politik, Band 1: Politische Theorien.'' Directmedia, Berlin 2004, S. 45.</ref>
 
Dies Verständnis von ''Volk'' dominierte allerdings nicht den gesamten Diskurs der Arbeiterbewegung. [[Ferdinand Lassalle]] (1825–1864) etwa argumentierte häufiger mit dem demokratischen oder dem nationalen Sinn des Wortes.<ref>Bernd Schönemann: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 365 f.</ref> Gleich im ersten Programmpunkt des [[Eisenacher Programm]]s setzte sich die [[Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Deutschland)|Sozialdemokratische Arbeiterpartei]] 1869 „die Errichtung des freien [[Volksstaat]]es“ zum Ziel.<ref>[https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1869/eisenach.htm ''Sozialdemokratische Arbeiterpartei: Eisenacher Programm (1869)''] auf marxists.org (Zugriff am 24. Juni 2020), zitiert bei Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online], Zugriff am 24. Juni 2020).</ref> Während des [[Deutsches Kaiserreich|Kaiserreichs]] gelang es der deutschen [[Sozialdemokratie]] aber nicht, aus der Spannung zwischen ökonomisch-internationalistischem und liberaldemokratischem Verständnis der Begriffe ''Volk'' und ''Nation'' ein konsensfähiges Konzept zu erarbeiten. Dies führte wiederholt zu innerparteilichen Kontroversen, etwa 1896 über die Fragen, ob der Bevölkerung [[Reichsland Elsaß-Lothringen|Elsass-Lothringens]] (1889) oder dem polnischen Volk ein [[Selbstbestimmungsrecht der Völker|Selbstbestimmungsrecht]] zuzubilligen sei. Aus Furcht, weiterhin als „[[vaterlandslose Gesellen]]“ ausgegrenzt zu werden, stimmte die [[Sozialdemokratische Partei Deutschlands|SPD]]-Fraktion im [[Reichstag (Deutsches Kaiserreich)|Deutschen Reichstag]] zu Beginn des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkriegs]] mehrheitlich den [[Kriegsanleihe|Kriegskrediten]] zu: „Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft“ stehe zu viel auf dem Spiel, hieß es in der begründenden Erklärung.<ref>Bernd Schönemann: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 378 ff.</ref>
 
In der [[Novemberrevolution]] 1918 aktualisierten die Sozialdemokraten sowohl den soziologischen als auch den staatsrechtlichen Volksbegriff. Das Volk als Träger der Revolution schien auf in Begriffen wie [[Volkswehr]]en und [[Rat der Volksbeauftragten]]. Noch 1921 im [[Görlitzer Programm]] stellte sich die SPD als „Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land“ vor.<ref>[https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1921/goerlitz.htm ''Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Das Görlitzer Programm (1921)''] auf marxists.org (Zugriff am 24. Juni 2020).</ref> In der von Sozialdemokraten maßgeblich mitgetragenen [[Weimarer Verfassung]] wurde 1919 erstmals in Deutschland das Prinzip der Volkssouveränität verwirklicht. Ihre Präambel lautete: {{Zitat|Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein [[Deutsches Reich|Reich]] in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.}}
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=== Von der völkischen Bewegung zur Konservativen Revolution ===
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden Volkskonzepte, die die vermeintlich gemeinsame Abstammung als Basis des Volksbegriffs nahmen. Im Zuge [[Sozialdarwinismus|sozialdarwinistischer]] Vorstellungen wurde dieser Begriff in [[Rassentheorie]]n eingebettet. Die [[völkische Bewegung]] trieb einen regelrechten Kult um das [[Rassismus|rassistisch]] verstandene deutsche Volk. Stichwortgeber waren hier vor allem [[Paul de Lagarde]] (1827–1891) und [[Julius Langbehn]] (1851–1907). Dieser definierte in seinem Buch ''Rembrandt als Erzieher'' (1890) ''Volk'' im Unterschied zu ''Pöbel'' oder ''Masse'' als „nach bestimmten Gesetzen buntschattierte Menge“. Zu diesen Gesetzen rechnete er das [[Führerprinzip]], eine [[Ständeordnung]] und den „eingeborenen Erdcharakter des deutschen Volkes“. Beide vertraten einen entschiedenen Rasseantisemitismus.<ref>Bernd Schönemann: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 374 ff.</ref> Lagarde behauptete 1855, es sei „das Recht jedes Volkes, selbst Herr auf seinem Gebiet zu sein, für sich zu leben, nicht für Fremde“, und trat dafür ein, fremde Elemente zu „beseitigen“.<ref>Friedrich Heckmann: ''Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen''. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-432-99971-2, S. 45 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Der [[Alldeutscher Verband|Alldeutsche Verband]] forderte 1894 eine „nationale Zusammenfassung des gesamten deutschen Volkstums in [[Mitteleuropa]], d.&nbsp;h. die schließliche Herstellung [[Großdeutsche Lösung|Großdeutschlands]]“. Dies sollte der Kern eines [[Kolonialreich]]s in Übersee werden. [[Heinrich Claß]], der 1908 den Vorsitz des Verbands übernahm, radikalisierte dessen Propaganda weiter, die sich „allein an dem Bedürfnis des deutschen Volkes“ zu orientieren hätte. Dabei fasste er auch „[[völkisch]]e Feldbereinigungen“ ins Auge.<ref name="Peter Brandt" /> Durch die rassistische Auslegung des Volksbegriffs durch die völkische Bewegung wurde es Minderheiten wie Juden und Polen unmöglich gemacht, sich zu [[Assimilation (Soziologie)|assimilieren]].<ref>Michael Wildt: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 10 f.</ref> Völkische Publizisten wie [[Willibald Hentschel]] (1858–1947) entwickelten den [[Geschichtsmythos|Mythos]] eines [[Herrenvolk und Herrenrasse|Herrenvolkes]], das sich in einem langen Prozess von [[Zucht]]wahl, Auslese und Umweltanpassung gebildet habe: die [[Arier]].<ref>Günter Hartung: ''Völkische Ideologie''. In: [[Uwe Puschner]], Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht: ''Handbuch zur Völkischen Bewegung 1871–1918.'' Κ.G. Saur, München/New Providence/London/Paris 1996, ISBN 3-598-11241-6, S. 22–44, hier S. 40 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Dieser Mythos wurde später von den [[Nationalsozialismus|Nationalsozialisten]] aufgegriffen.<ref>Cornelia Schmitz-Berning: ''Vokabular des Nationalsozialismus.'' Walter de Gruyter, Berlin/New York 2007, ISBN 978-3-11-092864-8, S. 56 und 74 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Von 1914 bis 1945 fungierte ''Volk'' im politischen Sprachgebrauch der Deutschen als Bezeichnung einer politisch-sozialen und historischen Letztinstanz: Der Begriff war zentral sowohl für die Bewusstseinsbildung als auch das Handlungsgefüge: Alle [[Politische Partei|Parteien]] mussten sich in der Legitimierung ihrer Politik darauf beziehen, ein Verzicht war nicht möglich. Dementsprechend wurde der Begriff propagandistisch manipuliert. Die Mehrzahl der am Ende des Kaiserreichs und zu Beginn der [[Weimarer Republik]] gegründeten Parteien nutzte ''Volk'' oder eine Abwandlung als Namensbestandteil, wobei sich die gemeinte Bedeutung jeweils signifikant unterschied ([[Deutschnationale Volkspartei]], [[Deutsche Volkspartei]], [[Bayerische Volkspartei]] [[Deutsche Demokratische Partei]], [[Deutschvölkische Freiheitspartei]], [[Christlich-Sozialer Volksdienst]], [[Konservative Volkspartei]]).<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: derselbe, Otto Brunner, Werner Conze (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 391 f. und 394 ff.</ref> Für die Republikaner war Volk zwar ebenfalls ethnisch-kulturell konnotiert, schloss aber Juden und andere Minderheiten in Deutschland als gleichrangige Staatsbürger ein. Für die Rechtsradikalen gehörten diese aber nicht zum Volk, das sie, wie Peter Brandt formuliert, als „überhistorische Gemeinschaft“ verstanden, als „Organismus höchster Ordnung“. Dieses Verständnis ging bei ihnen mit einer scharfen Ablehnung der Demokratie einher, da sie meinten, der Wille des Volkes ergebe sich aus seinem „Wesen“, dem Volkstum, und nicht empirisch durch Abstimmungen.<ref>Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft''. 8. Auflage, Bd. 6: ''Volk–Zweites Vatikanisches Konzil''. Herder, Freiburg 2022, ISBN 978-3-451-39516-1, Sp. 1–9, hier Sp. 4 f.</ref>
 
Durch die territorialen Veränderungen des [[Friedensvertrag von Versailles|Versailler Vertrags]], der 1920 in Kraft trat, wurden viele Deutsche Bürger anderer Staaten. Um die rechtliche Stellung dieser sogenannten [[Volksdeutsche]]n zu fassen, prägte man den Begriff der [[Volkszugehörigkeit]]. Dadurch wurde, wie der Historiker [[Dieter Gosewinkel]] analysiert, die Bedeutungsvielfalt des Wortes ''Volk'' „auf einen [[Substanz]]begriff ethnisch-kultureller Homogenität verengt“. Volk und Staatsangehörigkeit seien dadurch auf Volkstum reduziert worden.<ref>Dieter Gosewinkel: ''Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland''. 2. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, S. 361–366 (hier das Zitat).</ref>
 
Die Autoren der so genannten [[Konservative Revolution|Konservativen Revolution]] verfügten über keinen gemeinsamen Volksbegriff. Während ''Volk'' bei [[Carl Schmitt]], [[Oswald Spengler]] und [[Ernst Jünger]] von nur untergeordneter Bedeutung war, spielte es für andere eine zentrale Rolle.<ref>[[Stefan Breuer]]: ''Die 'Konservative Revolution' – Kritik eines Mythos.'' In: ''[[Politische Vierteljahresschrift]]'' 31, Nr. 4 (1990), S. 585–607, hier S. 586 und 597.</ref> [[Arthur Moeller van den Bruck]] (1876–1925) etwa war der Überzeugung, dass Einigkeit im Volke die Voraussetzung für eine Überwindung des Versailler Vertrags sei. Sie werde aber durch den seit der Novemberrevolution herrschenden [[Liberalismus]] verhindert, der Gemeinschaft durch Gesellschaft ersetze und Trennungen im Volk aufreiße: „An Liberalismus gehen die Völker zu Grunde“. Daher gelte es, ihn zu überwinden.<ref>Arthur Moeller van den Bruck: ''Das dritte Reich.'' 3. Auflage, Hamburg 1938, S. 102, zitiert bei Michael Puttkamer: ''„Jedes Abo eine konservative Revolution“. Strategie und Leitlinien der ,Jungen‚Jungen Freiheit‘.'' In: [[Wolfgang Gessenharter]] und [[Thomas Pfeiffer (Sozialwissenschaftler)|Thomas Pfeiffer]] (Hrsg.): ''Die Neue Rechte – eine Gefahr für die Demokratie?'' VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, S. 215.</ref> [[Hans Freyer]] (1887–1969) sprach sich 1931 für einen [[Staatssozialismus]] aus, denn nur so könne das „Kraftfeld des Volks von den heterogenen Querschlägen der [[Industriegesellschaft|industriellen Gesellschaft]] freigemacht“ werden und so „das Volk, Herr seiner Welt, zum politischen Subjekt, zum Subjekt seiner Geschichte“ werden.<ref>Hans Freyer: ''Revolution von rechts.'' Jena 1931, S. 67, zitiert bei Stefan Breuer: ''Die 'Konservative Revolution' – Kritik eines Mythos.'' In: ''Politische Vierteljahresschrift'' 31, Nr. 4 (1990), S. 585–607, hier S. 590.</ref> [[Edgar Julius Jung]] (1894–1934) lud in seiner Programmschrift ''[[Die Herrschaft der Minderwertigen]]'' den Volksbegriff in Anknüpfung an Herder religiös auf: Ein Volk sei das Gefäß, „in dem der göttliche und sittliche Inhalt gefaßt wird“.<ref>Edgar Julius Jung: ''Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein neues Reich.'' Verlag der Deutschen Rundschau, Berlin 1930, S. 127, zitiert nach Stefan Breuer: ''Die 'Konservative Revolution' – Kritik eines Mythos.'' In: ''Politische Vierteljahresschrif''t 31, Nr. 4 (1990), S. 585–607, hier S. 594.</ref> Gerade das deutsche Volk empfinde „das leise Wehen eines neuen ‚[[Heiliger Geist|Heiligen Geistes]]‘ am lebhaftesten“. In diesem Denken darf das Volk, wie Koselleck analysiert, sich nicht als politisches Subjekt erleben, ihm wird vielmehr die Rolle eines Objekts der [[Heilsgeschichte]] zugewiesen, als eine transzendente Größe, der anzugehören den einzelnen daran hindere, ein selbstbestimmter Staatsbürger zu werden. Dies werde deutlich in dem nationalsozialistischen Schlagwort: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“.<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 408 f.</ref>
 
=== Nationalsozialismus ===
Die [[Sprache des Nationalsozialismus]] knüpfte an die emphatisch überhöhte Verwendung des Wortes an, die in der Weimarer Republik parteiübergreifend üblich war.<ref>Cornelia Schmitz-Berning: ''Vokabular des Nationalsozialismus.'' Walter de Gruyter, Berlin/New York 2007, ISBN 978-3-11-092864-8, S. 642 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Die Nationalsozialisten konstruierten ''Volk'' als eine organische Ganzheit von Kultur, Geschichte und Rasse, wobei die letztgenannte für sie den entscheidenden Bestandteil „völkischer“ Substanz darstellte.<ref>[[Jiří Němec]]: ''Umvolkung''. In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hrsg.): ''Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme''. 2. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2017, ISBN 978-3-11-042989-3, S. 1158–1164, hier S. 1158 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Bereits in ihrem [[25-Punkte-Programm]] von 1920 spielten sie Volkszugehörigkeit gegen Staatsangehörigkeit aus und engten den Begriff des Staatsbürgers auf den „[[Volksgenosse]]n“ ein, das heißt, auf Menschen „[[Deutschblütig|deutschen Blutes]]“. Juden wurden explizit hiervon ausgeschlossen, sie sollten unter „[[Ausländerrecht|Fremden-Gesetzgebung]]“ gestellt werden.<ref>[http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html ''Das 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei <nowiki>[vom 24. Februar 1920]</nowiki>''] auf ''documentArchiv.de'', Zugriff am 25. Juni 2020, zitiert bei Dieter Gosewinkel: ''Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland''. 2. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, S. 344 und 370 f.; Michael Wildt: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD'', Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 66.</ref> Das zentrale Kapitel von [[Adolf Hitler]]s ''[[Mein Kampf]]'' ist „Volk und Rasse“. Hier entfaltet Hitler auf sozialdarwinistischer Grundlage einen rassistischen und radikal [[Antisemitismus|antisemitischen]] Volksbegriff.<ref>[[Roman Töppel]]: ''„Volk und Rasse“. Hitlers Quellen auf der Spur.'' In: ''[[Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte]]'' 64 (2016), Heft 1, S. 1–33, hier S. 6 ff. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
[[Datei:Neues Volk eugenics poster, c. 1937 (brightened).jpeg|mini|Werbung für die nationalsozialistische Zeitschrift ''[[Neues Volk]]'', etwa 1937]]
Gleichwohl war ''Volk'' durchaus nicht der höchste Wert der Nationalsozialisten. Höher rangierte die ''[[Rasse]]''. Dieser Begriff war geeignet, das einst als nach innen solidarisch gedachte Volk aufzuspalten und seine Mitglieder je nach ihrem vermeintlichen rassischen Wert unterschiedlich zu behandeln, wie es Hitler bereits in ''Mein Kampf'' niedergelegt hatte: Als „den wertvollsten Schatz für unsere Zukunft“ bezeichnete er die „auch heute noch in unserem deutschen [[Volkskörper]] […] unvermischt gebliebenen Bestände an nordisch-germanischen Menschen“. Die „Mission des deutschen Volkes“ sei die Bildung eines Staates, der sich allein der „Erhaltung und Förderung der unverletzt gebliebenen edelsten Bestandteile unseres Volkstums, ja der ganzen Menschheit“ widme. Alle anderen Deutschen tat er als „allgemeinen Rassenbrei des Einheitsvolkes“ ab.<ref> [[Christian Hartmann (Historiker)|Christian Hartmann]], Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel (Hrsg.): ''Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition''. [[Institut für Zeitgeschichte]] München – Berlin, München 2016, Bd. 1, S. 1017, zitiert bei Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: derselbe, Otto Brunner und Werner Conze (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 412 f.</ref>
 
Als zentraler Begriff der NS-Ideologie wurde der Terminus ''Volk'' in der [[Zeit des Nationalsozialismus|NS-Zeit]] häufig verwendet. Zudem kam der Begriff auch in zahlreichen Kompositionen wie „[[Volksgenosse]]“„Volksgenosse“, „[[Volksgemeinschaft]]“ oder „Volksgesundheit“, „Volksführer“ und „Volksbewegung“ vor.<ref>Arnulf Scriba: [https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/innenpolitik/volksgemeinschaft.html ''Die NS-Volksgemeinschaft''], [[Stiftung Deutsches Historisches Museum|Deutsches Historisches Museum]], Berlin, 8. September 2014.</ref> [[Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda|Reichspropagandaminister]] [[Joseph Goebbels]] erklärte am 15. November 1933: „Der Sinn der Revolution, die wir gemacht haben, ist die Volkwerdung der deutschen Nation“.<ref name="Peter Brandt" /> In den [[Nürnberger Gesetze]]n, vor allem im [[Reichsbürgergesetz]] vom 15. September 1935, wurde das völkische Verständnis des Volkes als „Blutsgemeinschaft“ auch rechtlich kodifiziert: Juden wurde der Status des gleichberechtigten „Reichsbürgers“ vorenthalten, sie waren nur [[Deutsche Staatsangehörigkeit#Einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit|Staatsangehörige des Deutschen Reichs]] ohne politische Rechte.<ref>[http://www.documentarchiv.de/ns.html Gesetzestexte auf ''documentArchiv.de''], abgerufen am 17. Juli 2020; Dieter Gosewinkel: ''Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland''. 2. Auflage, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, S. 383–393; [[Ingo von Münch]]: ''Die deutsche Staatsangehörigkeit. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft.'' Walter de Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-89949-433-4, S. 61&nbsp;f., 64, insb. S. 68.</ref> Mit der [[Utopie]] einer „gesunden Volksgemeinschaft“ rechtfertigten die Nationalsozialisten die [[Diskriminierung]], Entrechtung und [[Holocaust|Ermordung der deutschen Juden]], „[[Zigeuner]]“, „[[Asoziale (Nationalsozialismus)|Asozialen]]“, „[[Erbkrankheit|Erbkranken]]“ oder [[Opposition (Politik)|Oppositionellen]], die angeblich die Homogenität des Volkskörpers beeinträchtigten. Während des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkriegs]] operierte namentlich die [[Schutzstaffel|SS]] in Wissenschaft und Praxis mit dem Begriff der [[Umvolkung]]: Damit war der Versuch gemeint, die [[Slawen]] aus den in [[Ostmitteleuropa|Ostmittel-]] und Osteuropa eroberten Gebieten zu [[Vertreibung|vertreiben]], um diese (wieder) mit Deutschen zu besiedeln und ihnen so eine deutsche [[kulturelle Identität]] zu geben. Mit dieser Umvolkung sollten Prozesse der „Entdeutschung“ in diesen Gebieten rückgängig gemacht werden, den der nationalistische und völkische Diskurs seit dem 19. Jahrhundert beklagt hatte. Nach 1945 verschwand das Wort aus dem seriösen Diskurs.<ref>Jiří Němec: ''Umvolkung''. In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hrsg.): ''Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme''. 2. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2017, ISBN 978-3-11-042989-3, S. 1158–1164, hier S. 1158 und 1162 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
=== Nach dem Zweiten Weltkrieg ===
Wegen der missbräuchlichen Verwendung im [[Nationalsozialismus]] wurde der Begriff ''Volk'' in der politischen Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg seltener benutzt. Der [[Berlin]]er Oberbürgermeister [[Ernst Reuter]] (1889–1953) gebrauchte ihn in seiner berühmten Rede am 9. September 1948 an die „Völker der Welt“ auch für die Gesamtheit der Einwohner seiner Stadt.<ref>[https://www.berlin.de/berlin-im-ueberblick/geschichte/artikel.453082.php ''Ernst Reuters Rede am 9. September 1948 vor dem Reichstag''], Informationsseite „Berlin im Überblick“ auf Berlin.de, Zugriff am 23. Juni 2020.</ref>
 
Sowohl die [[Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (bis 1990)|Bundesrepublik Deutschland]] als auch die [[Deutsche Demokratische Republik|DDR]] verwendeten ''Volk'', um ihre jeweilige innerstaatliche Verfassung zu legitimieren.<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: derselbe, Otto Brunner und Werner Conze (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 420.</ref> In der [[Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland]] wird dem „Deutschen Volk“ ganz im Sinne der Lehre der Volkssouveränität „verfassungsgebende Gewalt“ ([[pouvoir constituant]]) zugeschrieben. Tatsächlich durfte es aber nie über das [[Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland|Grundgesetz]] abstimmen, weshalb diese Formulierung als [[Fiktion (Recht)|Fiktion]] gilt.<ref>[[Dieter Hesselberger]] unter Mitarbeit von Helmut Nörenberg: ''Das Grundgesetz. Kommentar für die politische Bildung''. 9., verbesserte Auflage, Luchterhand, Neuwied 1995, S. 53.</ref> Insgesamt fächerte das Grundgesetz den Begriff des Deutschen Volkes dreifach auf: Neben den [[Westdeutsche Länder|westlichen Bundesländern]], auf die der Geltungsbereich des Grundgesetzes zunächst beschränkt blieb, gehörten dazu auch die [[Staatsbürgerschaft der DDR|Bürger der DDR]], für die stellvertretend zu handeln siedie Bundesrepublik den Anspruch erhob. Drittens erstreckt er sich nach [[Artikel 116 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland|Artikel 116 GG]] auch auf [[Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945–1950|Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit]] sowie alle Emigranten nach 1933, sofern sie dem zustimmen.<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: derselbe, Otto Brunner und Werner Conze (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 422.</ref> Als Kriterium, wer als Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit zu gelten habe, griff man noch 1961 auf die [[Deutsche Volksliste]] aus der Zeit des Nationalsozialismus zurück.<ref name="Peter Brandt 2022, p. 1">Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft''. 8. Auflage, Bd. 6: ''Volk–Zweites Vatikanisches Konzil''. Herder, Freiburg 2022, Sp. 1–9, hier Sp. 6.</ref>
 
Nach Einschätzung des Historikers [[Dirk van Laak]] wurde das Wort ''Volk'' nach 1945 „völlig konturlos“ und nahm teilweise sogar [[Geschichtsrevisionismus|revisionistische]] und [[Revanchismus|revanchistische]] Konnotationen an. Durch die millionenfache [[Einwanderung#Einwanderung nach Deutschland|Zuwanderung]] von [[Ausländer]]n, denen die deutsche Staatsbürgerschaft nur zögerlich gewährt wurde, tauge es kaum noch als Einheitskriterium.<ref>Dirk van Laak: ''Einleitende Bemerkungen''. In: derselbe, Andreas Göbel und Ingeborg Villinger (Hrsg.): ''Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren''. Akademie Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-002790-8, S. 18 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Seit den 1960er Jahren wurde es in Publizistik und Politik der Bundesrepublik seltener benutzt. In der [[Deutsche Frage|Deutschlandpolitik]] nach 1969 war stattdessen zumeist von der Nation die Rede. 1973 bestand das [[Bundesverfassungsgericht]] in seinem Urteil zum [[Grundlagenvertrag]] mit der DDR darauf, dass ein „[[Gesamtdeutschland|gesamtdeutsches]] Staatsvolk“ weiterhin existiert.<ref>{{BVerfGE|36|1}} (15 ff.) – Grundlagenvertrag; Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Historisches Wörterbuch der Philosophie'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online], Zugriff am 24. Juni 2020).</ref> Es folgte dabei [[Bundeskanzler (Deutschland)|Bundeskanzler]] [[Willy Brandt]], der die Deutschen als Angehörige eines Volkes betrachtete, wonach beide Staaten in Deutschland „füreinander nicht [[Ausland]]“ waren.<ref>[[Helmut Quaritsch]]: ''Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes als Grundlage der deutschen Einheit''. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), ''Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland'', Band XI: ''Internationale Bezüge'', 3. Aufl., C.F. Müller, Heidelberg 2013, §&nbsp;229 Rn.&nbsp;51.</ref> Bereits im Mai 1970 hatte er gegenüber dem Ministerpräsidenten der DDR [[Willi Stoph]] erklärt, das gesamtdeutsche Volk sei „der eigentliche Souverän“.<ref name="Peter Brandt 2022, p. 1" />
 
In der DDR hielt man zunächst an der [[Deutsche Einheit|deutschen Einheit]] fest und verwendete den Begriff ''Volk'' dementsprechend ganz ähnlich wie in der Bundesrepublik. Anders als im Grundgesetz wurde das Volk in der [[Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik|Verfassung der DDR]] von 1949 aber als Objekt und Adressat des staatlichen Handelns beschrieben: „Die Republik entscheidet alle Angelegenheiten, die für den Bestand und die Entwicklung des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit wesentlich sind“, hieß es in Artikel 1. Damit war die Regierung der DDR unter der Kontrolle der [[Sozialistische Einheitspartei Deutschlands|SED]] gemeint. In den 1950er Jahren war im politischen Diskurs der DDR vermehrt vom „werktätigen Volk“ die Rede. Unter diesen Klassenbegriff ließen sich Kapitalisten nicht mehr subsumieren. In den Verfassungen von 1968 und 1974 war dann von einem „Volk der DDR“ die Rede. Der Gedanke eines einheitlichen deutschen Volkes war aufgegeben.<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: derselbe, Otto Brunner und Werner Conze (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 423–426.</ref> Dies zeigte sich auch, als im Zuge des [[Kalter Krieg|Kalten Krieges]] die SED-Führung das Wort ''Volk'' im Sinne einer nationalen Widerstandsgemeinschaft gegen die „[[Imperialismus|imperialistischen]] Besatzungsmächte“ in der Bundesrepublik und die dortigen Parteien benutzte.<ref>Peter Brandt: ''Volk''. In: diesen''Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft''. 8. Auflage, Bd. 6: ''Volk–Zweites Vatikanisches Konzil''. Herder, Freiburg 2022, Sp. 1–9, hier Sp. 7.</ref>

In den Verfassungen der DDR wurde den „Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik [[Sorben|sorbischer]] [[Nationalität#Nationalität als ethnische Nationalität“Zuordnung|Nationalität]]“ erstmals das Recht zur Pflege ihrer [[Sorbische Sprache|Sprache]] und Kultur eingeräumt. In der SED ging man davon aus, dass sich das sorbische Volk freiwillig der sozialistischen deutschen Nation angeschlossen habe.<ref>Sebastian Koch: ''Zufluchtsort DDR? Chilenische Flüchtlinge und die Ausländerpolitik der SED''. Schöningh, Paderborn 2017, S. 65, Anm. 19.</ref> Auf seine Belange war indes zuvor bei der Ansiedlung von deutschsprachigen Flüchtlingen in seinem Siedlungsgebiet und der [[Kollektivierung der Landwirtschaft]] keine Rücksicht genommen worden. Der [[Tagebau]] im [[Lausitzer Braunkohlerevier]] führte bis 1989 zur Zerstörung von zahlreichen sorbischen Dörfern.<ref>Gunther Spieß und Johannes Steenwijk: ''Sorbisch.'' In: Jan Wirrer (Hrsg.): ''Minderheiten- und Regionalsprachen in Europa.'' Westdeutscher Verlag, Opladen 2000, 186–212, hier S. 190 f.; [[Gerd Dietrich]]: ''Kulturgeschichte der DDR''. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018, S. 1690 f.</ref>
 
[[Datei:Gedenktafel Prager Straße 1989-10-08.jpg|mini|Gedenktafel des ''[[Dresden|Dresdner]] Revolutionswegs 1989'' an der [[Prager Straße (Dresden)|Prager Straße]] zur Demonstration am 8. Oktober 1989 und der [[Gruppe der 20 (Dresden)|Gruppe der 20]]]]
Während der [[Wende und friedliche Revolution in der DDR|friedlichefriedlichen Revolution in der DDR]] kam dem Wort ''Volk'' neue politische Bedeutung zu: Die Parole „[[Wir sind das Volk]]“, die bei den [[Montagsdemonstrationen 1989/1990 in der DDR|Montagsdemonstrationen]] und anderen Kundgebungen der [[Opposition und Widerstand in der DDR|Opposition]] gerufen wurde, markierte ein Abrücken vom [[Klassenkampf|klassenkämpferischen]] hin zum demokratisch-verfassungsrechtlichen Volksbegriff: Statt der werktätigen Volksmassen und ihrer Partei sollte das Staatsvolk selbst entscheiden. 1990 wandelte sich die Parole zu „[[Wir sind ein Volk]]“ und damit zur Forderung nach der [[Deutsche Wiedervereinigung|Wiedervereinigung Deutschlands]].<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: derselbe, Otto Brunner und Werner Conze (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 427 f.; [[Claudia Fraas]]: ''Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte „Identität“ und „Deutsche“ im Diskurs zur deutschen Einheit''. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1996, S.&nbsp;155.</ref>
 
Seit den 1970er Jahren verwendet die [[Neue Rechte]] den Volksbegriff [[Ethnopluralismus|ethnopluralistisch]]. Der französische Publizist [[Alain de Benoist]] etwa erklärte, die „Vielfalt der Welt“ liege in der Tatsache, „daß jedes Volk, jede Kultur eigene Normen hat – wobei jede Kultur eine sich selbst genügende Struktur darstellt“. In diesem Denken wird die Allgemeingültigkeit etwa der Menschenrechte [[Kulturrelativismus|kulturrelativistisch]] bestritten. Jedes Volk habe seine eigene Kultur und seine Werte, die nur für es selbst gälten, die Unterschiede zwischen den Völkern seien unüberbrückbar. Kultur wird ethnisch und homogen gedacht, ein umfassender Sinnentwurf für das Volk, der [[autoritär]] gesetzt wird. Der Einzelne könne die jeweiligen [[Politischer Mythos|Mythen]] der Abstammung, Sprache, Geschichte des Volkes, in das er hineingeboren wurde, weder individuell umdeuten noch sich ihnen sonst entziehen. Sie stellten das kollektive [[Schicksal]] eines Volkes dar.<ref>[[Daniel-Pascal Zorn]]: ''Ethnopluralismus als strategische Option''. In: Jennifer Schellhöh, Jo Reichertz, Volker M. Heins und Armin Flender (Hrsg.): ''Großerzählungen des Extremen. Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror''. Transcript, Bielefeld 2018, ISBN 3-732-84119-7, S. 21–34 (das Zitat S. 30) (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Laut [[Per Leo]], [[Maximilian Steinbeis]] und, [[Daniel-Pascal Zorn]] gelingt es den Rechten nicht, plausibel zu begründen, worin das [[Wesen (Philosophie)|Wesen]] eines Volkes, das von „kulturfremden [[Migration|Migranten]]“ angeblich bedroht werde, konkret bestehe. Zudem unterlägen sie einem [[Humes Gesetz|Sein-Sollen-Fehlschluss]], da aus der Existenz eines Volkes nicht zwingend folge, dass seine Identität vor Veränderungen geschützt werden müsse.<ref>Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn: ''Mit Rechten reden. Ein Leitfaden.'' Klett-Cotta, Stuttgart 2017, S. 147–151.</ref>
 
=== Gegenwart ===
In den aktuellen Gesellschaftswissenschaften vertritt man inzwischen einhellig die Auffassung, dass Völker im Sinne ethnischer oder [[#Religion|religiöser Gemeinschaften]] „gedachte Ordnungen“<ref>Emerich K. Francis: ''Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie.'' Duncker & Humblot, Berlin (West) 1965, S. 87 u. ö.</ref> bzw. „imaginierte Gemeinschaften“<ref>[[Benedict Anderson]]: ''Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts''. Ullstein, Berlin 1998; Annette Knaut: ''Von der Idee der Nation als politischer und sozialer Willensgemeinschaft zur Transformation der Nation im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung: Zum Begriff der Nation in den Sozialwissenschaften''. In: ''[[Archiv für Begriffsgeschichte]]'' 53 (2011), S. 119–135, hier S. 126 ff.</ref> sind. [[Niklas Luhmann]] schrieb, ''Volk'' sei „nur ein Konstrukt, mit dem die [[politische Theorie]] Geschlossenheit erreicht. Oder anders: wer würde es merken, wenn es gar kein Volk gäbe?“<ref>Niklas Luhmann: ''Die Politik der Gesellschaft'', herausgegeben von André Kieserling, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-29182-3, S. 366, zitiert bei Michael Wildt: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 7 f.</ref> Nach [[Jörg Echternkamp]] und Oliver Müller führt die substanzialistische Annahme, ein Volk wäre ein „wesenhafter Sozialkörper“, notwendig in die Irre.<ref>Jörg Echternkamp, Oliver Müller: ''Perspektiven einer politik- und kulturgeschichtlichen Nationalismusforschung. Einleitung''. In: dieselben (Hrsg.): ''Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760 bis 1960''. Oldenbourg, München 2002, ISBN 3-486-56652-0, S. 1–24, hier S. 9 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Damit ist nicht gemeint, dass Völker [[Fiktion]]en wären, gleichsam aus dem Nichts erfunden. Vielmehr beruhen Abgrenzungen gegenüber anderen Völkern auf bereits vorhandenen Vorstellungen und wirken auf sie zurück. Zugleich waren und sind sie als [[Integration (Soziologie)|Integrations-]] und Legitimationsideologeme von erheblicher Wirkungskraft. Als entscheidend wird das subjektive Zugehörigkeitsgefühl angesehen. Laut dem Soziologen [[Friedrich Heckmann (Soziologe)|Friedrich Heckmann]] wurzelt die „Realität ethnischer Groß-Kollektive“ unter anderem im „Glauben“, man habe gemeinsame Vorfahren, und im „Bewusstsein“, man gehöre zusammen und habe eine gemeinsame Identität.<ref>Friedrich Heckmann: ''Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen''. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-432-99971-2, S. 48 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Dies führt nach Ansicht des Soziologen Lutz Hoffmann zu einer [[Idem per idem|zirkulären Definition]]: „‚Volk‘ ist das, was für den Menschen sein ‚Volk‘ ist“. Die subjektive Vorstellung, man habe bestimmte Gemeinsamkeiten mit bestimmten anderen Menschen, konstituiere das „Volk“ als Summe aller Menschen mit derselben Volkszugehörigkeit. In einem sekundären Prozess würden dann die objektiven Merkmale, auf die sich die Vorstellung eines gemeinsamen Volkes stütze, hervorgebracht, sie gingen ihr nicht voraus.<ref>Lutz Hoffmann: ''Das ‚Volk‘. Zur ideologischen Struktur eines unvermeidbaren Begriffs''. In: ''Zeitschrift für Soziologie'' 20, Heft 3 (1991), S. 191–208, das Zitat S. 198 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Dem steht das Verständnis von ''Volk'' im [[Populismus]] gegenüber, der in der Gegenwart verstärkt Zulauf gewinnt. Hier wird das Problem von Einschließung und Ausschließung, das dem Volksbegriff inhärent ist, ebenso geleugnet wie sein Konstruktcharakter.<ref>Auch zum Folgenden siehe [[Anton Pelinka]]: ''Populismus.'' In: derselbe, Blanka Bellak, Gertraud Diendorfer und [[Werner Wintersteiner]] (Hrsg.): ''Friedensforschung, Konfliktforschung, Demokratieforschung. Ein Handbuch''. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2016, ISBN 978-3-205-20203-5, S. 316–323 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Auch Interessengegensätze innerhalb des Volkes, die es in [[moderne]]n Gesellschaften zahlreich gibt, kommen in der populistischen Verwendung des Wortes nicht vor. Populisten überhöhen das Volk als „ehrlich“, „hart arbeitend“ und „vernünftig“ und stellen ihm die Eliten bzw. das [[Establishment]] gegenüber.<ref>[[Tim Spier]]: [https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/192118/was-versteht-man-unter-populismus ''Was versteht man unter „Populismus“?''], Bundeszentrale für politische Bildung, 25. September 2014 (Zugriff am 17. Mai 2020).</ref> Diesen werfen sie vor, den als einheitlich imaginierten Willen des Volkes nicht entschieden genug oder gar nicht zu vertreten. Die Frage, was sie mit ''Volk'' genau meinen, beantworten Populisten abhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung jeweils unterschiedlich. Während [[Politische Linke|linke]] Populisten [[Arbeitnehmer]] oder [[Arbeitslosigkeit|Arbeitslose]] ansprechen, also eher an einen soziologischen Volksbegriff anknüpfen, meinen [[Politische Rechte (Politik)|rechte]] damit vor allem [[nationale Identität]]. Unabhängig davon geben alle Populisten die Partikularinteressen ihrer präsumptiven Wähler als Volkswillen aus und fordern mehr [[Direkte Demokratie|direktdemokratische]] Elemente in der Verfassung. Diesen angenommenen Volkswillen wollen sie häufig mit einem [[Charismatische Herrschaft|charismatischen Führer]] umsetzen, der mit dem Volk unter Umgehen der intermediären Instanzen in direktem Kontakt steht.<ref>[[Frank Decker]]: ''Populismus und Extremismus in Europa – eine Gefahr für die Demokratie?'' In: Winfried Brömmel, [[Helmut König (Politikwissenschaftler)|Helmut König]], Manfred Sicking: ''Populismus und Extremismus in Europa. Gesellschaftswissenschaftliche und sozialpsychologische Perspektiven''. Transcript, Bielefeld 2017, ISBN 978-3-8376-3838-7, S. 43–61, hier S. 45 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Daher richten sich Rechtspopulisten nicht nur gegen „die Anderen“, also zum Beispiel gegen [[Muslim]]e, sondern stets auch gegen die herrschende Schicht und die [[repräsentative Demokratie]].<ref>[[Farid Hafez]]: ''Ethnos vs. Demos: Der exkludierende ‚Volks‘-Begriff und dessen Anschlussstellen für antimuslimische Positionen im zeitgenössischen Rechtspopulismus''. In: ''Forschungsjournal Soziale Bewegungen'' 30, Heft 2 (2017), S. 100–108, hier S. 102 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> InDer typischerEthnologe VereinfachungJens komplexerWietschorke Problemesieht in einerder [[Globalisierung|globalisierten]]populistischen WeltBegriffsverwendung neigeneine Populistenabsichtliche dazu,Verunklarung nationalendes Alleingängensemantischen gegenüberGehalts: internationalenSo Lösungenverwendete den[[Marine VorzugLe zuPen]] geben.vom Beispielerechtspopulistischen hierfür[[Rassemblement sindNational]] derim [[EU-AustrittPräsidentschaftswahl desin VereinigtenFrankreich Königreichs2017|Brexitfranzösischen Präsidentschaftswahlkampf 2017]] oderoft die AnkündigungenFormel des«Au [[Präsidentnom derdu Vereinigtenpeuple» Staaten|US-amerikanischen(„Im Präsidenten]]Namen [[Donalddes Trump]]Volkes“), die [[Einwanderungseit inLangem diezur VereinigtenLegitimation Staaten#Illegaledemokratischer Einwanderung|illegaleWillensbildungsprozessen Einwanderung]]benutzt zu stoppenwird.<ref>Nancy L.Sie Rosenblum undmeine Russell Muirhead:aber ''Apeuple'' Lotnicht ofals PeopleStaatsbüger-, Aresondern Saying.als TheAbstammungsgemeinschaft, Newwodurch Conspiracismdas andWort theein AssaultInstrument onder Ausgrenzung werde.<ref>Jens Wietschorke: Democracy''Volk''. PrincetonIn: UniversityBrigitta PressSchmidt-Lauber, PrincetonManuel 2019,Liebig ISBN(Hrsg.): 9-780-6912-0225-9,''Begriffe Sder Gegenwart. 62–67Ein (abgerufenkulturwissenschaftliches überGlossar.'' [[WalterBöhlau, deWien Gruyter2022, (Verlag)|DeS. Gruyter]]271–277, Online)hier S. 272.</ref>
 
In typischer Vereinfachung komplexer Probleme in einer [[Globalisierung|globalisierten]] Welt neigen Populisten dazu, nationalen Alleingängen gegenüber internationalen Lösungen den Vorzug zu geben. Beispiele hierfür sind der [[EU-Austritt des Vereinigten Königreichs|Brexit]] oder die Ankündigungen des [[Präsident der Vereinigten Staaten|US-amerikanischen Präsidenten]] [[Donald Trump]], die [[Einwanderung in die Vereinigten Staaten#Illegale Einwanderung|illegale Einwanderung]] zu stoppen.<ref>Nancy L. Rosenblum und Russell Muirhead: ''A Lot of People Are Saying. The New Conspiracism and the Assault on Democracy''. Princeton University Press, Princeton 2019, ISBN 9-780-6912-0225-9, S. 62–67.</ref>
Dem steht das Verständnis von ''Volk'' im [[Populismus]] gegenüber, der in der Gegenwart verstärkt Zulauf gewinnt. Hier wird das Problem von Einschließung und Ausschließung, das dem Volksbegriff inhärent ist, ebenso geleugnet wie sein Konstruktcharakter.<ref>Auch zum Folgenden siehe [[Anton Pelinka]]: ''Populismus.'' In: derselbe, Blanka Bellak, Gertraud Diendorfer und Werner Wintersteiner (Hrsg.): ''Friedensforschung, Konfliktforschung, Demokratieforschung. Ein Handbuch''. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2016, ISBN 978-3-205-20203-5, S. 316–323 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Auch Interessengegensätze innerhalb des Volkes, die es in [[moderne]]n Gesellschaften zahlreich gibt, kommen in der populistischen Verwendung des Wortes nicht vor. Populisten überhöhen das Volk als „ehrlich“, „hart arbeitend“ und „vernünftig“ und stellen ihm die Eliten bzw. das [[Establishment]] gegenüber.<ref>[[Tim Spier]]: [https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/192118/was-versteht-man-unter-populismus ''Was versteht man unter „Populismus“?''], Bundeszentrale für politische Bildung, 25. September 2014 (Zugriff am 17. Mai 2020).</ref> Diesen werfen sie vor, den als einheitlich imaginierten Willen des Volkes nicht entschieden genug oder gar nicht zu vertreten. Die Frage, was sie mit ''Volk'' genau meinen, beantworten Populisten abhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung jeweils unterschiedlich. Während [[Politische Linke|linke]] Populisten [[Arbeitnehmer]] oder [[Arbeitslosigkeit|Arbeitslose]] ansprechen, also eher an einen soziologischen Volksbegriff anknüpfen, meinen [[Politische Rechte (Politik)|rechte]] damit vor allem [[nationale Identität]]. Unabhängig davon geben alle Populisten die Partikularinteressen ihrer präsumptiven Wähler als Volkswillen aus und fordern mehr [[Direkte Demokratie|direktdemokratische]] Elemente in der Verfassung. Diesen angenommenen Volkswillen wollen sie häufig mit einem [[Charismatische Herrschaft|charismatischen Führer]] umsetzen, der mit dem Volk unter Umgehen der intermediären Instanzen in direktem Kontakt steht.<ref>[[Frank Decker]]: ''Populismus und Extremismus in Europa – eine Gefahr für die Demokratie?'' In: Winfried Brömmel, [[Helmut König (Politikwissenschaftler)|Helmut König]], Manfred Sicking: ''Populismus und Extremismus in Europa. Gesellschaftswissenschaftliche und sozialpsychologische Perspektiven''. Transcript, Bielefeld 2017, ISBN 978-3-8376-3838-7, S. 43–61, hier S. 45 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Daher richten sich Rechtspopulisten nicht nur gegen „die Anderen“, also zum Beispiel gegen [[Muslim]]e, sondern stets auch gegen die herrschende Schicht und die [[repräsentative Demokratie]].<ref>[[Farid Hafez]]: ''Ethnos vs. Demos: Der exkludierende ‚Volks‘-Begriff und dessen Anschlussstellen für antimuslimische Positionen im zeitgenössischen Rechtspopulismus''. In: ''Forschungsjournal Soziale Bewegungen'' 30, Heft 2 (2017), S. 100–108, hier S. 102 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> In typischer Vereinfachung komplexer Probleme in einer [[Globalisierung|globalisierten]] Welt neigen Populisten dazu, nationalen Alleingängen gegenüber internationalen Lösungen den Vorzug zu geben. Beispiele hierfür sind der [[EU-Austritt des Vereinigten Königreichs|Brexit]] oder die Ankündigungen des [[Präsident der Vereinigten Staaten|US-amerikanischen Präsidenten]] [[Donald Trump]], die [[Einwanderung in die Vereinigten Staaten#Illegale Einwanderung|illegale Einwanderung]] zu stoppen.<ref>Nancy L. Rosenblum und Russell Muirhead: ''A Lot of People Are Saying. The New Conspiracism and the Assault on Democracy''. Princeton University Press, Princeton 2019, ISBN 9-780-6912-0225-9, S. 62–67 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Im 21. Jahrhundert wurden die Wörter ''Volk'' (im völkischen Verständnis des Wortes) und ''Umvolkung'' von [[Rechtsextremismus|Rechtsextremen]] und [[Rechtspopulismus|Rechtspopulisten]] wieder aufgegriffen.<ref>[[Thomas Niehr]]: [https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/240831/rechtspopulistische-lexik-und-die-grenzen-des-sagbaren ''Rechtspopulistische Lexik und die Grenzen des Sagbaren''], Bundeszentrale für politische Bildung, 16. Januar 2017; Philipp Overkamp: [https://law-journal.de/wp-content/uploads/2020/04/BLJ-02_2018.pdf ''Der völkische Volksbegriff und die Staatsrechtslehre des Nationalsozialismus.''] (PDF; 2,9&nbsp;MB) In: ''[[Bucerius Law Journal]]'', Heft 2, 2018, S. 73–78, hier S. 73 (Zugriff beide Male am 10. Mai 2020).</ref> 2016 wurde die Bezeichnung ''[[Volksverrat|Volksverräter]]'', mit der Anhänger von [[Pegida]] und der [[Alternative für Deutschland|AfD]] demokratische Politiker herabwürdigen, in Deutschland zum [[Unwort des Jahres (Deutschland)|Unwort des Jahres]] gekürt. Zur Begründung führte die Jury unter anderem an, dass der Wortbestandteil ''Volk'' dabei in einem ähnlich ausgrenzenden Sinne gemeint sei wie zur Zeit des Nationalsozialismus.<ref>[https://www.sueddeutsche.de/kultur/sprachkritik-volksverraeter-ist-das-unwort-des-jahres-2016-1.3325933 ''Sprachkritik: „Volksverräter“ ist das Unwort des Jahres 2016''], ''[[Süddeutsche Zeitung|sueddeutsche.de]]'', 10. Januar 2017.</ref> Im Januar 2024 stellte das [[Bundesverfassungsgericht]] in seinem Urteil über rechtsextreme Kleinpartei [[Die Heimat]] (vormals NPD) fest, dass deren rein ethnisches und letztlich rassistisches Verständnis von ''Volk'' gegen die [[Menschenwürde]] und das [[Demokratie]]prinzip verstößt, da sie Staatsbürgern, die nicht von ethnisch Deutschen abstammen, ihr [[Wahlrecht]] vorenthalten wolle („Volksherrschaft setzt Volksgemeinschaft voraus“).<ref>[https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2024/01/bs20240123_2bvb000119.html Urteil des Zweiten Senats vom 23. Januar 2024] – 2 BvB 1/19; [[Christian Rath]]: ''Generalprobe mit der NPD''. In: [[Die Tageszeitung|''taz'']] vom 24. Januar 2024, S. 3.</ref>
 
[[Datei:Wir (alle) sind das Volk.jpg|mini|Plakat am Berliner Kulturforum]]
Um nicht in den Verdacht populistischer [[Demagogie]] zu kommen und um das [[Pathos]], das mit dem Wort verbunden ist, zu vermeiden, verwenden deutsche Politiker das Wort ''Volk'' gegenwärtig nur noch selten. Dabei spielt auch die rassistische Aufladung des Wortes durch die Nationalsozialisten eine Rolle. Ersatzweise ist etwa von den „Mitbürgerinnen und Mitbürgern“ die Rede, den „Menschen draußen im Land“, vom „kleinen Mann“ oder von der „Bevölkerung“.<ref>Jörn Retterath: ''„Was ist das Volk?“ Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924''. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-046454-2, S. 3 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Die deutsche Bundeskanzlerin [[Angela Merkel]] nahm bei ihrer Ansprache zum [[Tag der Deutschen Einheit]] am 3. Oktober 2016 dem Begriff jedesdas Pathos und erteilte allen Versuchen eine Absage, die Zugehörigkeit zum Volk zu privilegieren, in demindem sie formulierte: „Alle sind das Volk“.<ref>Michael Wildt: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 139.</ref> Eine ähnliche Formulierung, nämlich „Wir (alle) sind das Volk“, zeigten in zwölf verschiedenen Sprachen von Mai bis Oktober 2021 Plakate, mit denen der Konzeptkünstler [[Hans Haacke]] den [[Bauzaun]] des neuen [[Museum des 20. Jahrhunderts Berlin|Museums des 20. Jahrhunderts]] am [[Kulturforum Berlin]] gestaltete.<ref>[https://www.smb.museum/nachrichten/detail/hans-haacke-bespielt-den-bauzaun-fuer-das-museum-des-20-jahrhunderts/ ''Hans Haacke bespielt den Bauzaun für das Museum des 20. Jahrhunderts''], Webseite der [[Staatliche Museen zu Berlin|Staatlichen Museen zu Berlin]], 4. Mai 2021.</ref>
 
== Abgrenzung zu anderen Begriffen ==
=== Staatsvolk ===
{{Hauptartikel|Staatsvolk}}
[[Datei:Reichstag Giebel2.jpg|mini|Inschrift ''[[Dem deutschen Volke]]'' auf demam [[Reichstagsgebäude]] (1916)]]
 
''Volk'' im Sinne von Staatsvolk bezieht sich auf die Staatsangehörigen eines [[Staat#Völkerrecht|Völkerrechtssubjekts]]. Das Staatsvolk ist neben dem [[Staatsgebiet]] und der [[Staatsgewalt]] eines der [[Drei-Elemente-Lehre|drei konstitutiven Elemente eines Staates]]. In einer Demokratie ist das Volk „Ursprung und Rechtsgrund jeglicher Staatsgewalt“.<ref>Rolf Grawert: ''Gesellschaftswandel und Staatsreform in Deutschland.'' In: ''[[Der Staat]]'' 38, Nr. 3 (1999), S. 333–357, hier S. 340.</ref> Der Verfassungsjurist Karl Brinkmann verwendet dafür den Ausdruck ''Bevölkerung'', da es für ihn gleichgültig sei, ob die einem Staat angehörenden Menschen „zu ''einem'' Volk zählen oder nicht“.<ref>Karl Brinkmann: ''Verfassungslehre.'' 2., ergänzte Auflage, Oldenbourg, München/Wien 1994, ISBN 978-3-486-78678-1, S. 7 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Damit setzt er sich von dem antiliberalen Staatsrechtler [[Carl Schmitt]] ab, der 1928 in seiner Verfassungslehre stipuliert hatte: „Subjekt der Begriffsbestimmung des Staates ist das Volk“.<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: derselbe, Otto Brunner und Werner Conze (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 397.</ref> Bereits 1923 hatte Schmitt in Aufnahme der rousseauschen [[Identitäre Demokratietheorie|Identitätsvorstellungen]] auf die „Homogenität und Identität des Volks mit sich selbst“ als Basis des Staates hingewiesen. Das bedeute aber „mit unvermeidlicher Konsequenz“, dass man „das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten“ wisse. Exklusion aus dem Staatsvolk nach ethnischen Kriterien war für Schmitt Gelingensbedingung „jeder wirklichen Demokratie“.<ref>Carl Schmitt: ''Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus'' (1923) zitiert bei Stefan Hermanns: ''Kritik am Parlamentarismus bei Carl Schmitt und die Utopie der Demokratie''. Peter Lang, Frankfurt am Main 2011, S. 56, und bei Michael Wildt: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 104 f.</ref> 1939 entwickelte Schmitt den Begriff des Volks als Gegensatz zu dem des Staates und skizzierte eine „vom Volk getragene […] volkhafte Großraumordnung“, die nur vom „[[Reich (Territorium)|Reichsbegriff]]“ ausgehen könne.<ref>Carl Schmitt: ''Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht'' (1939), zitiert bei Andreas Koenen: ''Visionen vom „Reich“. Das politisch-theologische Erbe der Konservativen Revolution''. In: Andreas Göbel, Dirk van Laak, Ingeborg Villinger (Hrsg.): ''Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren''. Akademie Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-002790-8, S. 53–74, hier S 63 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Das Staatsvolk entspricht [[Idealtypus|idealtypisch]] dem Demos, den Emerich K. Francis 1965 begrifflich vom Ethnos unterschied.<ref>Emerich K. Francis: ''Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie.'' Duncker & Humblot, Berlin 1965.</ref> In Wiederaufnahme dieser Theoriebildung erklärt es der Soziologe [[M. Rainer Lepsius]] (1928–2014) für „die Basis für eine [[Zivilgesellschaft]] demokratischer Selbstlegitimation“, die diversen Spannungsverhältnisse zwischen beiden anzuerkennen: Setze man Demos als Träger der politischen Souveränität mit einem spezifischen Ethnos gleich, führe das zur Unterdrückung oder Zwangsassimilation ethnischer, kultureller, religiöser oder sozioökonomischer Minderheiten. Der Status des Staatsbürgers sei in seinem Ursprung naturrechtlich und individualistisch definiert und gelte für alle gleich. Er dürfe nicht an materielle Eigenschaften geknüpft werden, die den durch sie definierten Bevölkerungsteilen unterschiedliche Partizipationsrechte zuteilten. Als Negativbeispiele hierfür führt Lepsius die [[Germanisierung]] von [[Polen (Ethnie)|ethnischen Polen]], [[Elsass|Elsässern]] und [[Lothringen|Lothringern]] sowie die Diskriminierung von [[Sozialdemokratie|Sozialdemokraten]] und [[Katholizismus|Katholiken]] im deutschen Kaiserreich an.<ref>M. Rainer Lepsius: ''„Ethnos“ oder „Demos“. Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die Europäische Einigung''. In: derselbe: ''Interessen, Ideen und Institutionen''. 2. Auflage, Springer VS, Wiesbaden 2009, S. 247–255, hier S. 249.</ref> Real aber gilt in vielen Staaten, insbesondere jenen des ehemaligen [[Ostblock]]s, eine ethnische Definition des Staatsvolks. Dabei wird – vor dem Hintergrund eigener historischer Konflikterfahrungen – die mangelnde Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten von der Bevölkerungsmehrheit als Preis für ihr Überleben als ethnische Gruppe betrachtet und gerechtfertigt. Dies führt laut [[Gerhard Seewann]] im Gegenzug „gesellschaftlich und politisch zur Ausgrenzung aller von der [[Titularnation]] ethnisch verschiedenen Gruppen“.<ref>Gerhard Seewann: ''Grenzüberschreitende Migration am Beispiel Ungarns, Rumäniens und Bulgariens im Rahmen der Ost-West-Migration des 20. Jahrhunderts'' (=&nbsp;''Stuttgarter Beiträge zur Migrationsforschung'', Bd. 4). In: [[Andreas Gestrich]], [[Marita Krauss]] (Hrsg.): ''Migration und Grenze''. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1998, ISBN 3-515-07224-1, S. 155–166, hier S. 156 f.</ref> Der [[israel]]ische Soziologe Sammy Smooha hat für multiethnische demokratische Systeme, in denen eine Ethnie verfassungsgemäß bevorzugt wird, den Begriff [[Ethnische Demokratie]] geprägt. Beispiele für ethnische Demokratien sind Israel, [[Estland]], [[Lettland]], die [[Slowakei]] und [[Malaysia]].<ref>Sammy Smootha: [{{Webarchiv|url=http://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2009/1893/pdf/working_paper_13.pdf |wayback=20210417233006 |text=''The Model of Ethnic Democracy.'']}} [[Europäisches Zentrum für Minderheitenfragen|ECMI]] Working Paper No. 13, Oktober 2001, Zugriff am 26. Juni 2020.</ref>
 
Der Philosoph [[Jürgen Habermas]] diagnostizierte 1992, dass die Widersprüche, die im Begriff der Volkssouveränität angelegt seien, noch nicht gelöst seien: {{Zitat|Das Volk, von dem alle staatlich organisierte Gewalt ausgehen soll, bildet kein Subjekt mit Willen und Bewußtsein. Es tritt nur im Plural auf, als Volk ist es im ganzen weder beschluß- noch handlungsfähig.|ref=<ref>Jürgen Habermas: ''Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats''. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1992, S. 607, zitiert bei Danny Michelsen: ''Kritischer Republikanismus und die Paradoxa konstitutioneller Demokratie. Politische Freiheit nach Hannah Arendt und Sheldon Wolin''. Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 58.</ref>}}
Diese Formulierung griff [[Bundespräsident (Deutschland)|Bundespräsident]] [[Frank-Walter Steinmeier]] in seiner Rede zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution in der DDR auf. In einer Demokratie gebe es das Volk nur im Plural, weshalb es die schwierige Aufgabe der Politik sei, aus dieser Vielstimmigkeit eine gemeinsame Linie zu entwickeln. Nie wieder dürfe ein Einzelner oder eine Gruppe beanspruchen, für das „wahre Volk“ zu sprechen.<ref>Frank-Walter Steinmeier: [https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2019/10/191009-Leipzig-Friedliche-Revolution.html ''Festakt „30 Jahre Friedliche Revolution“. Leipzig, 9. Oktober 2019''], [[Bundespräsidialamt]], Zugriff am 26. Juli 2020.</ref> Der Historiker Peter Brandt warnt dagegen vor einem Demokratieproblem, das man sich bei einem Verzicht auf den Volksbegriff einhandle, „denn offenbar benötigt auch der moderne demokratische Staat, der auf Inklusion […] angelegt ist, ein Mindestmaß an ‚sozialer‘ (i.S.v. Hermann Heller) und kultureller Homogenität.“ Dies zeige etwa die Parole „We the people“ der [[Occupy]]-Bewegung.<ref>Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft''. 8. Auflage, Bd. 6: ''Volk–Zweites Vatikanisches Konzil''. Herder, Freiburg 2022, Sp. 1–9, hier Sp. 8.</ref> Der Politikwissenschaftler [[Hans Vorländer]] weist darauf hin, dass auch [[Totalitarismus|totalitäre]] Regime sich auf eine angebliche Volksherrschaft berufen, dabei aber Volkssouveränität monistisch und substanzialistisch verstehen. In Demokratien dagegen werde ''Volk'' als eine [[Vielheit]] von Individuen und Gruppen angesehen, die sehr unterschiedliche Interessen und Wertvorstellungen hätten.<ref>Hans Vorländer: ''Demokratie. Geschichte, Form, Theorien''. 4. Aufl., C.H. Beck, München 2020, ISBN 978-3-7425-0519-4, S. 108.</ref>
 
Die Exklusivität dieses Staatsvolks, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass Ausländern das [[Wahlrecht]] verweigert wird, wird begründet mit seiner qualifizierten Verbundenheit: Wer den Staat gemeinsam trage, solle mit diesem in einer politischen Schicksalsgemeinschaft untrennbar verbunden sein.<ref>Axel Tschentscher,: ''Demokratische Legitimation der dritten Gewalt'',. Mohr Siebeck, Tübingen 2006, S. 66 ff.</ref> Die Definition der [[Staatsbürgerschaft#Begriffe im deutschen Sprachraum|Staatsangehörigkeit]] erfolgt durch die [[Verfassung]] des jeweiligen Staates. Sie wird nach dem [[Abstammungsprinzip]] ''(ius sanguinis)'' oder nach dem [[Geburtsortsprinzip|Ortsprinzip]] ''(ius soli)'' gewährt. In den meisten Staaten gilt eine Kombination von beiden.<ref>[[Georg Dahm]], [[Jost Delbrück]], [[Rüdiger Wolfrum]]: ''Völkerrecht.'' Bd.: 1/II: ''Der Staat und andere Völkerrechtssubjekte. Räume unter internationaler Verwaltung''. 2., völlig neu bearbeitete Auflage, de Gruyter, Berlin 2002, ISBN 3-89949-023-1, S. 37 ff. (abgerufen über [[Verlag Walter de Gruyter|De Gruyter]] Online).</ref> Die Zugehörigkeit zu einem Staatsvolk kann auch durch [[Einbürgerung]] erfolgen. Sie hat den Zweck, „dass eine tendenzielle Kongruenz von Staatsgebiet und Staatsvolk erhalten bleibt“.<ref>[[Jörg Menzel]]: ''Internationales Öffentliches Recht. Verfassungs- und Verwaltungsgrenzrecht in Zeiten offener Staatlichkeit'' (=&nbsp;Jus Publicum; Bd. 201), Mohr Siebeck, Tübingen 2011, ISBN 978-3-16-149558-8, S. 121.</ref>
 
Das [[Völkerrecht]] setzt die Existenz von Völkern als gegebene soziale Grundtatsache voraus; es kennt jedoch keinen einheitlichen Volksbegriff, sondern sieht im Volk als [[Rechtsbegriff]] einen persistierenden Personenverband.<ref>Ulrich Vosgerau: ''Das Selbstbestimmungsrecht in der Weltgemeinschaft''. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), ''Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland'', Bd. XI, 3. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg 2013, §&nbsp;228 (S. 91–109) Rn.&nbsp;3, 8, 12, 18.</ref> Geht – wie in [[Artikel 20 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland|Artikel 20 Absatz&nbsp;2 des Grundgesetzes]] festgelegt – die Staatsgewalt „vom Volke“ aus, spricht man im [[Verfassungstheorie|verfassungstheoretischen]] Sinne von Volkssouveränität. Nach diesem Prinzip ist auch aus völkerrechtlicher Sicht vor allem entscheidend, dass das Volk von Verfassungs wegen als eigentlicher Inhaber der Staatsgewalt und mithin als ''pouvoir constituant'' angesehen wird.<ref>[[Wilhelm Henke (Rechtswissenschaftler)|Wilhelm Henke]]: ''Staatsrecht, Politik und verfassungsgebende Gewalt.'' In: ''Der Staat'' 19, Heft 2 (1980), S. 181–211; [[Ernst Benda]], [[Werner Maihofer]] und [[Hans-Jochen Vogel]] (Hrsg.): ''Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland''. De Gruyter, Berlin/New York 1984, ISBN 3-11-010103-3, S. 144 u. ö.; Ulrich Vosgerau: ''Das Selbstbestimmungsrecht in der Weltgemeinschaft''. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), ''Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland'', Bd. XI, 3. Aufl., C.F. Müller, Heidelberg 2013, §&nbsp;228 Rn. 20&nbsp;f.</ref> Die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich aus einem [[Rechtssatz]] ergebende [[Selbstbestimmungsrecht der Völker|Selbstbestimmung]] und Volkssouveränität bilden hierbei eine Einheit.<ref>Ulrich Vosgerau: ''Das Selbstbestimmungsrecht in der Weltgemeinschaft''. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), ''Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland'', Bd. XI, 3. Aufl., C.F. Müller, Heidelberg 2013, §&nbsp;228 Rn. 2, 12, 19.</ref>
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[[Datei:Voelker Europas.jpg|mini|[[Hermann Knackfuß]]: ''[[Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter]]'' (1895). Der [[Michael (Erzengel)|Erzengel Michael]] warnt die [[Nationalallegorie]]n der europäischen Großmächte (unter anderem [[Germania (Personifikation)|Germania]], [[Mütterchen Russland]], [[Marianne]] und [[Britannia (Personifikation)|Britannia]]) vor der „[[Gelbe Gefahr|gelben Gefahr]]“.]]
 
''Volk'' im Sinne von Nation wird in politischen Begriffen wie ''Völkerrecht'' oder [[Völkerbund]] verwendet. Die Wörter ''Volk'' und ''Nation'' sind im Deutschen semantisch nicht klar voneinander abgegrenzt und können folglich nicht trennscharf unterschieden werden.<ref>Karl Ferdinand Werner: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 239 u. ö.</ref> Laut Peter Brandt ist eine plausible terminologische Scheidung der beiden Begriffe nie gelungen.<ref>Peter Brandt: ''Volk''. In: ''Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft''. 8. Auflage, Bd. 6: ''Volk–Zweites Vatikanisches Konzil''. Herder, Freiburg 2022, Sp. 1–9, hier Sp. 1.</ref> Der Rechtswissenschaftler [[Thilo Ramm]] sieht den Unterschied zwischen beiden Begriffen darin, dass ''Nation'' weniger missverständlich sei. Er sei klar mit [[Souveränität|innerer und äußerer Unabhängigkeit]] und [[Freiheit]] konnotiert, die Nation sei „das souveräne Volk“.<ref>Thilo Ramm: ''Deutschland – eine Nation?'' In: ''Aus Politik und Zeitgeschichte'' B 39 (2004), S. 32–38, hier S. 33.</ref> Der amerikanische Soziologe Michael Banton definiert das deutsche Wort ''Volk'' als „kulturelle Gruppe“ und „Möchtegern-Nation“ (“would-be nation”).<ref>Michael Banton: ''Volk''. In: Ernest Cashmore et al. (Hrsg.): ''Dictionary of Race and Ethnic Relations''. 4. Auflage, Routledge, New York 1996, S. 373.</ref>
 
In der Frage, was eine Nation definiert, ist ''Volk'' idealtypisch der Gegenbegriff zu [[Nation#Staatsnation|Staatsnation]]: In diesem Konzept wird wie zum Beispiel im französischen Staatsdenken angenommen, dass die Zugehörigkeit zur Nation auf einem subjektiven Willensakt beruht (→&nbsp;[[Willensnation]]). Im politischen Diskurs in Deutschland und anderswo folgte man dagegen lange dem Konzept der [[Nation#Volksnation, Kulturnation, Staatsnation, Klassennation nach Lepsius|Volksnation]]: Diese beruhe auf der Zugehörigkeit zum Volk, dem somit eine objektive Substanz unterstellt wurde, die als vorpolitisch gegeben angenommen wurde. Da eine ethnische Homogenität aufgrund nur selten oder gar nicht vorhandener äußerer körperlicher Merkmale einer gemeinsamen Abstammung schwer plausibel zu machen ist, definierte man Volksnationen auch über kulturelle Eigenschaften wie Religion, Sprache oder Schicksalsgemeinschaft. Wenn das so definierte Volk nicht in einem kompakten Siedlungsblock, sondern territorial verstreut siedelte, ergaben sich aus dem Konzept der Volksnation immer wieder Schwierigkeiten für die Angehörigen anderer ethnischer Gruppen, die als Minderheit diskriminiert wurden. In Mittel- und [[Südosteuropa]] war dies regelmäßig der Fall.<ref>M. Rainer Lepsius: ''Nation und Nationalismus in Deutschland''. In: ''[[Geschichte und Gesellschaft]], Sonderheft 8: Nationalismus in der Welt von heute'' (1982), S. 12–27, hier S. 15 f.</ref> Die Berufung auf angeblich objektiv vorgegebene Bestimmungen eines Volkes ist aber selber das Ergebnis eines subjektiven Willensakts. Den deutschen emphatischen Begriffen ''Volk'', ''Volksgeist'', ''völkisch'' bzw. ''volklich'' stehen im [[Französische Sprache|Französischen]] die Begriffe ''nation'', ''nationalité'', ''esprit national'' und ''national'' weitgehend gleichbedeutend gegenüber.<ref>Reinhart Koselleck: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, S. 405 f.</ref>
 
Langewiesche weist auf [[Mediävistik|mediävistische]] Forschungen hin, nach denen die Ethnogenese der Herrschaftsbildung folgt, nicht vorangeht. Völker entstehen demnach in Staaten, sie sind jünger als diese. Die Vorstellung, das Volk sei „ewig“ und werde erst im Laufe seiner Entwicklung eine Nation, die sich einen Staat schaffe, sei ein Mythos.<ref>Dieter Langewiesche: ''Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa.'' C.H. Beck, München 2000, S. 19.</ref>
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In der Sowjetunion wurde seit der [[Stalinismus|Stalin-Ära]] versucht, dies Problem mit einem „Sowjet[[patriotismus]]“ zu lösen, der jedes kulturelle Kollektivbewusstsein überwölben sollte. Die Sowjetunion selbst fungierte dabei als Nation oder [[Vaterland]], wie etwa in „Großer Vaterländischer Krieg“ ({{ruS|Вели́кая Оте́чественная война́}}, ''Welikaja otetschestwennaja wojna''), der Propagandabezeichnung für den [[Deutsch-Sowjetischer Krieg|deutsch-sowjetischen Krieg]] 1941–1945, die beteiligten ethnischen und sprachlichen Gruppen hießen ''Völker''. Die Termini ''Nationen'' oder ''Nationalitäten'' wurden für sie vermieden. Bildungs- und [[Kader]]politik trugen zur Ausbildung eines integrierten Gesamtstaatsbewusstseins bei. Die russische [[Hegemonie]] wurde in der [[Metapher]] „Brüdervölker“ eskamotiert, wobei die [[Russen]] die „älteren Brüder“ waren.<ref>Albrecht Martiny: ''Nationalismus, Nationalitätenfrage''. In: ''Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie.'' Bd. 4: ''Lenin bis Periodisierung''. Herder, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1971, Sp. 623–695, hier 679 ff.</ref>
 
In der [[Volksrepublik China]] gibt es seit den 1980er Jahren offiziell nur eine chinesische Nationalität (中华民族, ''Zhōnghuá Mínzú'').<ref name="BloxhamMoses2010">{{cite book |author=[[Donald Bloxham]], A. Dirk Moses|title=The Oxford Handbook of Genocide Studies |url=https://books.google.com/books?id=xCHMFHQRNtYC&pg=PR150 |date=2010-04-15 |publisher=Oxford University Press |isbn=978-0-19-161361-6 |pages=150 ff}}</ref> Alle [[Völker Chinas]] sind seitdem weniger eigenständige Völker eines Vielvölkerstaats, sondern mehr als ethnische Gruppen einer gemeinsamen Nationalität zu verstehen,<ref name="BloxhamMoses2010" /> so auch das [[Han (Ethnie)|Han-Volk]]. Jedoch wird diese gemeinsame Nationalität, welche von den Han-Chinesen dominiert wird, von [[Tibeter]]n, [[Uiguren]] und [[Mongolen]] als Herabsetzung wahrgenommen, da sie sich als Völker mit einem [[Selbstbestimmungsrecht der Völker|Recht auf Selbstbestimmung]] betrachten.<ref>[[Klemens Ludwig]]: ''Vielvölkerstaat China. Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte.'' C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-59209-6, S. 13–16.</ref>
 
=== Bevölkerung ===
{{Hauptartikel|Bevölkerung}}
 
Im Unterschied zu ''Volk'' meint das Wort ''Bevölkerung'' die real zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Territorium ansässigen Menschen, unabhängig von ihrer zugeschrieben oder selbstdefinierten Gruppenzugehörigkeit.<ref>Günter Hartfiel und Karl-Heinz Hillmann: ''Wörterbuch der Soziologie.'' 3. überarbeitete und ergänzte Auflage, Kröner, Stuttgart 1982, S. 86.</ref> Bereits 1935 mahnte der deutsche Schriftsteller [[Bertolt Brecht]] (1898–1956), statt vom Volk besser von der Bevölkerung zu sprechen: Dann unterstütze man „schon viele Lügen nicht“ und nehme dem Wort seine „faule [[Mystik]]“. In einer Bevölkerung gebe es, anders als in einem Volk, immer unterschiedliche, teils divergierende Interessen. Diese Wahrheit werde durch den Gebrauch des Wortes ''Volk'' unterdrückt.<ref>Bertolt Brecht: ''Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit'' (1935), zitiert bei [[Peter von Polenz]]: ''Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart'', Bd. 3: ''19. und 20. Jahrhundert''. De Gruyter, Berlin/New York 1999, ISBN 978-3-11-014344-7, S. 314 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Bevölkerung und Volk fallen zahlenmäßig oft deutlich auseinander. Noch in den 1990er Jahren hatte ein erheblicher Anteil der deutschen Bevölkerung (in manchen Großstädten bis zu 20 %) kein Wahlrecht und keine politischen Partizipationsmöglichkeit. Den so genannten [[Gastarbeiter]]n und ihren Nachkommen wurde die Einbürgerung verwehrt, ihre Interessen wurden stattdessen durch [[Integrationsbeauftragter|Ausländerbeauftragte]] wahrgenommen.<ref>Friedrich Heckmann: ''Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen''. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-432-99971-2, S. 213 und 228 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Der Konzeptkünstler [[Hans Haacke]] installierte auf Beschluss des [[Deutscher Bundestag|Deutschen Bundestags]] im Jahr 2000 im Innenhof des [[Reichstagsgebäude]]s sein Kunstwerk ''[[Der Bevölkerung]]'' in weißen Neonlichtbuchstaben. Es korrespondiert mit der Inschrift ''[[Dem deutschen Volke]]'' auf dem [[Architrav]] des Westportals und soll „zum Nachdenken und zu Diskussionen über Rolle und Selbstverständnis des [[Parlament]]es“ anregen.<ref>Andreas Kaernbach: [https://www.bundestag.de/besuche/kunst/kuenstler/haacke/haacke-198996 ''Projekt „DER BEVÖLKERUNG“ im Reichstagsgebäude''], Website des Deutschen Bundestages, 12. August 2011 (Zugriff am 17. Juli 2020) mit Abbildung der Installation.</ref>
 
=== Ethnie ===
{{Hauptartikel|Ethnie}}
 
Der BegriffSoziologe [[Michael Bommes]] definiert ''VolkEthnien'' wirdals bisweilen„Völker parallelohne zuStaaten“, demwohingegen derNationen „Völker mit Staaten“ seien.<ref>Michael Bommes: ''EthnieMigration und Ethnizität im nationalen Sozialstaat''. In: ''Zeitschrift für Soziologie'' 23, Heft 5 ({{grcS|ἔθνος|éthnos}}1994), S. 364–377, hier S. 366.</ref> Bisweilen werden ''Volk'' und ''Ethnie'' auch parallel im Sinne einer ethnischen [[Gemeinschaft]]Gruppe gebraucht. Versuche, Menschen von außen auf ihre Zugehörigkeit zu einem „Volk“ im ethnischen Sinn amtlich festzulegen, werden im Zuge der Anerkennung [[Nationale Minderheit|nationaler Minderheiten]] heute oft abgewiesen. So heißt es im deutsch-dänischen Abkommen vom 29. März 1955: „Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum und zur deutschen Kultur ist frei und darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden.“<ref>''Deutsch-dänisches Abkommen vom 29. März 1955'', Abschnitt II/1, S. 4 ([http://www.regione.taa.it/biblioteca/normativa/bilaterali/d-dk.pdf PDF]).</ref> und im ''[[Sächsisches Sorbengesetz|Gesetz über die Rechte der Sorben im Freistaat Sachsen]]'': „Zum [[Sorben|sorbischen Volk]] gehört, wer sich zu ihm bekennt. Das Bekenntnis ist frei. Es darf weder bestritten noch nachgeprüft werden. Aus diesem Bekenntnis dürfen keine Nachteile erwachsen.“<ref>[https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/3019-Saechsisches-Sorbengesetz#p1 § 1 des ''Gesetzes über die Rechte der Sorben im Freistaat Sachsen'' (Sächsisches Sorbengesetz – SächsSorbG) vom 31. März 1999].</ref> In anderen Staaten ist es üblich, in [[Volkszählung]]en nach der ethnischen Zugehörigkeit zu fragen, so etwa in Israel, Kanada und den USA.<ref>[[David I. Kertzer]] und Dominique Arel (Hrsg.): ''Census and Identity: The Politics of Race, Ethnicity, and Language in National Censuses.'' Cambridge University Press, Cambridge/New York/Melbourne 2002.</ref> Beim US-amerikanischen Zensus werden die Selbsteinschätzung der ''[[Race (United States Census)|race]]'' sowie Herkunft und Sprache abgefragt, um jemanden als [[Hispanics|Hispanic]] kategorisieren zu können. Die Hispanistin Jennifer Leeman spricht von einer „ethnisch-rassischen Klassifizierung“ ''(clasificación etnoracial)''.<ref>Jennifer Leeman: ''Los datos censales en el estudio del multilingüismo y la migración: Cuestiones ideológicas y consecuencias epistémicas''. In: ''Iberoromania'' 91 (2020), S. 77–92, hier S. 86 f.</ref>
 
In den [[Postsowjetische Staaten|Nachfolgestaaten der Sowjetunion]] werden zum Teil noch bis heute von der Staatsangehörigkeit abweichende Nationalitäten in amtlichen Personaldokumenten geführt. Für das Gebiet des heutigen [[Russland]] wurde die bisherige, z.&nbsp;B. durch Abstammung von den Eltern begründete Volkszugehörigkeit ab 1991 von einer wohnortbezogenen Regelung abgelöst. Dadurch wurde die Einbürgerung von Menschen aus den Nachfolgestaaten eingeschränkt, obwohl diese sich teilweise auch als ethnische Russen verstanden.<ref>Maria Nozhenko: [http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/57836/staatsangehoerigkeit ''Staatsangehörigkeit''], Bundeszentrale für politische Bildung, 1. Juli 2010.</ref>
 
In der soziologischen oder ethnologischen Klassifizierung gelten Ethnien heute mitunter als kleinste Einheit und Völker als übergeordnete Einheit: ''Volk'' kann demnach als [[Klassifizierung|klassifizierender]] Überbegriff für mehrere Ethnien verwendet werden, die sich als Gesamtgesellschaft verstehen.<ref>Martin Speulda: ''Der „Ossi-Fall“.'' In: [[Wolfgang Fikentscher]], Manuel Pflug, Luisa Schwermer (Hrsg.): ''Akkulturation, Integration, Migration.'' Herbert Utz Verlag, München 2012, ISBN 978-3-8316-4137-6, [https://books.google.de/books?id=3QNBoh_nsW4C&pg=PA268 S.&nbsp;268].</ref> Während die Ethnie auf einem „intuitiven Selbstverständnis einer gemeinsamen Identität“ beruhe, sei es beim Volk eher ein „vom Willen abhängiges Selbstverständnis einer gemeinsamen historischen Identität“, das in der Staatsangehörigkeit seinen rechtlichen Ausdruck finden kann. Der Begriff wird aber auch kritisiert, weil er die längst dekonstruierten Ideen eines „Volksgeistes“ oder einer „völkischen Eigenart“ als vermeintlich empirische Realitäten wieder in den sozialwissenschaftlichen Diskurs reimportiere.<ref>Peter Berghoff: ''Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse''. Akademie Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-05-002980-3, S. 28 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Einen groben Überblick der Völker der Erde im ethnisch-kulturellen Sinne bietet das Konzept der [[Kulturareal]]e. Nicht existente Völker finden sich in Sagen<ref>[[Ludwig Tobler]]: ''Über sagenhafte Völker des Altertums und Mittelalters.'' In: ''Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft'', Bd. 18 (1888), S. 225–254.</ref> und in der [[Mythologie]].
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{{Hauptartikel|Stamm (Gesellschaftswissenschaften)}}
 
In der älteren Ethnologie war der Begriff ''Stamm'' weit verbreitet. Darunter wurden vorstaatliche Verbände sprachlich und kulturell verwandter Menschen verstanden, die durch Herkunft und das gemeinsam bewohnte Territorium verbunden seien. Sie verfügten über ein gemeinsames Verständnis von Rechten und Pflichten, ein engerer Zusammenschluss sei aber nur zum Zweck der Territorialverteidigung möglich. Als Beispiel für Stämme galten [[Lineage]]-Verbände wie die [[Nuer]].<ref name="Helbling 354">[[Jürg Helbling]]: ''Stamm''. In: Walter Hirschberg (Begr.), Wolfgang Müller (Red.): ''Wörterbuch der Völkerkunde.'' Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005, S. 354.</ref> Der Begriff formte sich im Mittelalter anhand von Berichten der [[Bibel]] ([[Zwölf Stämme Israels]]), aus antiken Quellen und arabischen Chroniken. Seit der [[europäische Expansion|europäischen Expansion]] wurde der Begriff auf zahlreiche indigene Völker außerhalb Europas angewandt. In Europa selbst wurden als Stämme nur wenige Minderheiten wie die [[Samen (Volk)|Samen]] und [[Sinti und Roma]] bezeichnet. Der Begriff ist mit Rückständigkeit und Primitivität assoziiert und diente der Rechtfertigung des europäischen [[Kolonialismus]]. Es gab aber auch Stimmen, die dem Leben in Stämmen eine besondere Freiheit zuschrieben.<ref>[[Andre Gingrich]] und, Sylvia Maria Haas: ''Stamm''. In: Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll, und Andre Gingrich (Hrsg.): ''Lexikon der Globalisierung''. Transcript, Bielefeld 2011, ISBN 978-3-8376-1822-8, S. 360–363, hier S. 360 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Der amerikanische Ethnologe [[Morton Fried]] bemerkte 1967, dass sich Stämme oft erst in staatlichen Kontexten herausbilden. In den letzten Jahren kam der Begriff daher zunehmend außer Gebrauch, auch weil die so bezeichneten Gruppen linguistisch und sozial häufig keine klar abgrenzbaren Einheiten darstellen. Stattdessen spricht man von Ethnien.<ref name="Helbling 354" /> ''Stamm'', ''{{enS|tribe}}'', ist bis heute Teil der Rechtssprache in mehreren Staaten [[Nordamerika]]s, [[Australien]]s und [[Südasien]]s. Auch wenn für die so bezeichneten Menschengruppen häufig als Indigene bezeichnet werden, spielt das Wort in der Debatte um deren Rechte eine Rolle.<ref>Andre Gingrich und, Sylvia Maria Haas: ''Stamm''. In: Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll, und Andre Gingrich (Hrsg.): ''Lexikon der Globalisierung''. Transcript, Bielefeld 2011, ISBN 978-3-8376-1822-8, S. 360–363, hier S. 361 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
In der Geschichtswissenschaft war lange die Vorstellung verbreitet, das deutsche Volk sei aus [[Deutsche Stämme|mehreren frühmittelalterlichen Großstämmen]] entstanden.<ref>Bernd Schneidmüller: ''Reich – Volk – Nation. Die Entstehung des deutschen Reiches und der deutschen Nation im MittlalterMittelalter''. In: Almut Bues und Rex Rexheuser (Hrsg.): ''Mittelalterliche nationes – neuzeitliche Nationen'', Harsowitz, Wiesbaden 1995, S. 73–101, hier S. 76–79.</ref>
 
=== Gesellschaft ===
Ähnlich wie ''Volk'' kann auch der Begriff ''[[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]]'' Personen bezeichnen, die dauerhaft an einem Ort zusammenleben, um individuelle und gemeinsame Bedürfnisse zu befriedigen.<ref>Günter Hartfiel und Karl-Heinz Hillmann: ''Wörterbuch der Soziologie.'' 3., überarbeitete und ergänzte Auflage, Kröner, Stuttgart 1982, S. 256.</ref> Francis benutzte ihn daher in seiner Definition für ''Volk''.<ref>Emerich K. Francis: ''Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie.'' Duncker & Humblot, Berlin (West) 1965, S. 196.</ref> Dagegen wendet Friedrich Heckmann ein, dass in der Gegenwart damit staatlich verfasste Gesellschaften bezeichnet würden. Im Unterschied dazu könnten aber die Relationen zwischen Volk und Staat ganz verschieden sein. So gebe es Völker, die in mehreren Gesamtgesellschaften und nicht bloß in einer lebten.<ref>Friedrich Heckmann: ''Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen''. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-432-99971-2, S. 50 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Die Vorstellung eines Volks als Gesellschaft steht im Widerspruch zur Idee der Volksgemeinschaft, die nicht nur bei den Nationalsozialisten, sondern bis in die 1930er Jahre auch bei deutschen Liberalen wie [[Friedrich Naumann]] (1860–1919) und [[Schweden|schwedischen]] Sozialdemokraten ([[Folkhemmet]]) verbreitet war. Sie knüpft an die Unterscheidung zwischen [[Gemeinschaft und Gesellschaft]] an, die der deutsche Soziologe [[Ferdinand Tönnies]] (1855–1936) bereits 1887 entwickelt hatte.<ref>Michael Wildt: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD''. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 70–76.</ref>
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{{Hauptartikel|Völkerrechtssubjekt}}
 
Das Völkerrecht beschäftigt sich, anders als der irreführende Name andeutet, nicht mit den Rechtsbeziehungen zwischen Völkern, sondern mit denen zwischen Staaten und anderen Subjekten, die Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten sind.<ref>[[Andreas von Arnauld]]: ''Völkerrecht''. 2. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg 2014, S. 1, Rn. 1.</ref> Völker selbst sind keine Völkerrechtssubjekte,<ref>Ulrich Vosgerau: ''Das Selbstbestimmungsrecht in der Weltgemeinschaft''. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), ''Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland'', Bd. XI, 3. Aufl., C.F. Müller, Heidelberg 2013, §&nbsp;228 Rn.&nbsp;9.</ref> auch wenn der seit 1948 im [[Völkerstrafrecht]] verankerte [[Tatbestand#Strafrecht|Straftatbestand]] des [[Völkermord]]es in diese Richtung weist. Ob das in der [[Charta der Vereinten Nationen]] und anderen [[Völkerrechtlicher Vertrag|internationalen Verträgen]] garantierte Selbstbestimmungsrecht der Völker einen [[Anspruch (Recht)|Rechtsanspruch]] auf [[Autonomie (Politikwissenschaft)|Autonomie]] oder [[Sezession]] gewährt oder ob es sich lediglich um eine politische Leitlinie handelt, ist in der Fachliteratur umstritten.<ref>Marcel Kau: ''Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte''. In: [[Wolfgang Graf Vitzthum]] und [[Alexander Proelß]] (Hrsg.): ''Völkerrecht.'' 8. Auflage, de Gruyter, Berlin/Boston 2019, ISBN 978-3-11-063326-9, S. 179, Rn. 32 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
=== Religion ===
Das Wort ''Volk'' spielt in vielen Religionen eine Rolle. Im [[Judentum]] ist das Konzept des [[Auserwähltes Volk|auserwählten Volkes]] zentral. Nach [[JHWH]]s Verheißung an [[Abraham]], er habe ihn zum „Vater vieler Völker“ gemacht {{Bibel|Gen|17|5|Lut}}, ist vor allem der [[Bund (Bibel)|Bundesschluss]] am [[Sinai (Berg)|Berg Sinai]] von Bedeutung, in dem Gott den [[Israeliten]] zusagt, sie würden bei Einhaltung seiner Gebote „mein Eigentum sein vor allen Völkern“ {{Bibel|Ex|19|5|Lut}}.<ref>[[Joachim Georg Piepke]]: ''Volk Gottes''. In: ''[[Evangelisches Kirchenlexikon]]'', Bd. 2. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1989, Sp. 1185–1188, hier Sp. 1185.</ref> Das [[Hebräische Sprache|Hebräische]] unterscheidet hier zwischen עם (''`am'', in der [[Septuaginta]] λαός ''laós''), das zur Selbstbezeichnung des Volk Israels benutzt wird, und den גּוֹיִם ''[[Goi|gôjim]]'' (in der Septuaginta ἔθνη ''éthnē''), den Völkern außerhalb des Bundes, den [[Heidentum|Heiden]].<ref>Martin Honecker: ''Volk''. In: ''Theologische Realenzyklopädie'', Bd. 35, de Gruyter, Berlin/New York 2003, S. 191–209, hier S. 192 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Das [[Christentum]] hob diesen Exklusivitätsanspruch auf: Nach {{B|Gal|3|26-29|Lut}} sind alle, die an [[Jesus Christus]] glauben und [[Taufe|getauft]] sind, [[Kinder Gottes (Bibel)|„KinderKinder Gottes“Gottes]] und „Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben“, unabhängig von Volkszugehörigkeit, Rechtsstatus und Geschlecht. Die Vorstellung vom Volk Gottes wurde übernommen und auf die [[Kirche (Organisation)|Kirche]] übertragen.<ref>Joachim Georg Piepke: ''Volk Gottes''. In: ''Evangelisches Kirchenlexikon'', Bd. 2. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1989, Sp. 1185–1188, hier Sp. 1186 f.</ref> Augustinus etwa beschrieb sie in ''De civitate Dei'' als [[wanderndes Gottesvolk]], eine Metapher, die das [[Zweites Vatikanisches Konzil|Zweite Vatikanische Konzil]] 1964 in seiner Dogmatischen Konstitution über die Kirche ''[[Lumen gentium]]'' aufgriff.<ref>[[Magnus Striet]]: ''Sich selbst als geworden beschreiben wollen''. Theologie und Soziologie. In: derselbe (Hrsg.): ''„Nicht außerhalb der Welt“. Theologie und Soziologie.'' Herder, Freiburg 2016, S. 13–32, hier S. 18.</ref>
 
Gleichwohl gab es immer wieder christliche Stimmen, die eine Sonderstellung des eigenen Volkes vor Gott beanspruchen zu können glaubten. Der deutsche Theologe [[Friedrich Schleiermacher]] (1768–1834) erklärte in einer [[Predigt]] während der Befreiungskriege 1813: {{Zitat|Auf den Herrn verläßt sich ein Volk, das beschützen will um jeden Preis den eigenen Sinn und Geist, den Gott der Herr ihm anerschaffen, das also kämpft um Gottes Werk.|ref=<ref>Zitiert bei Martin Honecker: ''Volk''. In: ''Theologische Realenzyklopädie'', Bd. 35, de Gruyter, Berlin/New York 2003, S. 191–209, hier S. 194 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>}} Im deutschen [[Protestantismus]] wurde nach dem Ersten Weltkrieg der Begriff ''Volk'' von Theologen wie [[Paul Althaus]], [[Emanuel Hirsch]] und [[Friedrich Gogarten]] sogar ins Zentrum theologischen Denkens gerückt. Unter der Devise „Gott und Volk“ trat das [[Heil]] des Volkes an die Stelle der [[Erlösung]] des Einzelmenschen.<ref>[[Raphael Gross]]: ''Jesus oder Christus? Überlegungen zur „Judenfrage“ in der politischen Theologie Carl Schmitts''. In: Andreas Göbel, Dirk van Laak, Ingeborg Villinger (Hrsg.): ''Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren''. Akademie Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-002790-8, S. 75–94, hier S. 87 f. (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> In der Konservativen Revolution und im Nationalsozialismus knüpfte man an biblische Vorstellungen eines von Gott auserwählten Volkes an und identifizierte die Deutschen damit. ''Volk'' wurde somit zum Gegenstand einer [[Politische Religion|politischen Religion]]. Solche völkischen Religionen gab es nur im deutschsprachigen Raum des 19. und 20. Jahrhunderts.<ref>[[Horst Junginger]]: ''Völkische Religionen.'' In: [[Christoph Auffarth]], Jutta Bernard, Hubert Mohr (Hrsg.): ''Metzler-Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien.'' Bd. 3, J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005, S. 578–580, hier S. 578.</ref> Gegen eine solche Verabsolutierung des eigenen Volkes, wie sie die [[Deutsche Christen|Deutschen Christen]] betrieben, wandte sich 1934 die [[Barmer Erklärung]] der [[Bekennende Kirche|Bekennenden Kirche]]. Diese Absolutsetzung gilt heute als überwunden. In der Gegenwart ist das Phänomen Volk für die Kirchen noch insofern von Bedeutung, als es den Handlungsrahmen definiert, innerhalb dessen sie predigen, [[Seelsorge]] und [[Diakonie]] betreiben und Zeugnis ablegen gegenüber „allem Volk“.<ref>Martin Honecker: ''Volk''. In: ''Theologische Realenzyklopädie'', Bd. 35, de Gruyter, Berlin/New York 2003, S. 191–209, hier S. 207 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref>
 
Der [[Islam]] richtet sich nicht an ein bestimmtes Volk, sondern an alle Menschen. Einer seiner zentralen Begriffe ist [[Umma]] ({{arS|أمة}}), was ''Volk'' oder ''Gemeinschaft'' bedeuten kann. Damit wird zweierlei bezeichnet: Zum einen hat [[Allah]] nach dem [[Koran]] ([[Fatir|Sure 35]], Vers 24) an jedes Volk einen eigenen [[Prophet]]en gesandt. [[Mohammed]] aber als „Siegel der Propheten“ wurde nicht nur zu seinem eigenen Volk, den [[Araber]]n, gesandt, sondern zur ganzen Menschheit.<ref>Dorothea Krawulsky: ''Eine Einführung in die Koranwissenschaften. ʻUlūm al-Qurʼān''. Peter Lang, Frankfurt am Main 2006, S. 102 f.</ref> Zum andern bedeutet ''Umma'' die Gemeinschaft aller [[Muslim]]e, wie Mohammed sie 622 in [[Medina]] schuf: Sie ist sowohl eine religiöse als auch eine politische Assoziation – wie der amerikanische Islamwissenschaftler [[Francis Edward Peters]] formuliert, sowohl eine „Kirche“ als auch ein „Staat“. An der Spitze der Umma stand bis zur Abschaffung des Amtes 1924 der [[Kalif]], doch war seine weltliche Macht auch vorher nie unbestritten.<ref>Francis Edward Peters: ''Islam. A Guide for Jews and Christians.'' Princeton University Press, Princeton 2003, ISBN 0-691-11553-2, S. 127–155 (abgerufen über [[Walter de Gruyter (Verlag)|De Gruyter]] Online).</ref> Viele Muslime sehen heute die Wiederherstellung der Umma in ihrer ursprünglichen Form als wichtiges Ziel an.<ref>[[Ralf Elger]] (Hrsg.): ''Kleines Islam-Lexikon. Geschichte, Alltag, Kultur.'' 5. Auflage, C.H. Beck, München 2008, S. 337 ([https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/islam-lexikon/21714/umma online] auf [[Bundeszentrale für politische Bildung|bpb.de]]), Zugriff am 9. Oktober 2020.</ref>
 
== Literatur ==
* [[Peter Brandt (Historiker)|Peter Brandt]]: ''Volk''. In: ''[[Historisches Wörterbuch der Philosophie]]'', Bd. 11, Schwabe Verlag, Basel 2001, S. 1080–1090 ([https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.volk%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.volk%27%5D online]).
* Peter Brandt: ''Volk''. In: ''[[Staatslexikon der Görres-Gesellschaft|Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft]]''. 8., völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 6: ''Volk–Zweites Vatikanisches Konzil''. Herder, Freiburg 2022, ISBN 978-3-451-39516-1, Sp. 1–9 ([https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Volk online]).
* [[Franz-Josef Deiters]]: ''Auf dem Schauplatz des „Volkes“. Strategien der Selbstzuschreibung intellektueller Identität von Herder bis Büchner und darüber hinaus.'' Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien 2006.
* [[Jochen Bung]], [[Milan Kuhli]] (Hrsg.): ''Volk als Konzept in Recht und Politik''. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2015, ISBN 978-3-11-059788-2.
* [[Franz-Josef Deiters]]: ''Auf dem Schauplatz des „Volkes“. Strategien der Selbstzuschreibung intellektueller Identität von Herder bis Büchner und darüber hinaus.'' Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien 2006, ISBN 3-7930-9444-8.
* [[Emerich K. Francis]]: ''Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie.'' Duncker & Humblot, Berlin (West) 1965.
* [[Patrick J. Geary]]: ''Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen.'' Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-60111-8.
* Fritz Gschnitzer, [[Reinhart Koselleck]], [[Karl Ferdinand Werner]]: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse.'' In: [[Otto Brunner (Historiker)|Otto Brunner]], [[Werner Conze]], Reinhart Koselleck (Hrsg.): ''[[Geschichtliche Grundbegriffe]]. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland.'' Band 7, Klett-Cotta, Stuttgart 1992, ISBN 3-12-903912-0, S. 141–431.
* [[M. Rainer Lepsius]]: ''„Ethnos“ oder „Demos“. Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die europäische Einigung.'' In: Ders.: ''Interessen, Ideen und Institutionen.'' Westdeutscher Verlag, Opladen 1990, ISBN 978-3-531-11879-6X, S. 247–255.
* Kolja Möller: ''Volk und Elite. Eine Gesellschaftstheorie des Populismus''. suhrkamp, Berlin 2024.
* [[Martin Schaffner (Historiker)|Martin Schaffner]]: ''Furcht vor dem Volk.'' Schwabe Verlag, Basel 2020, ISBN 978-3-7965-4003-5.
* [[Reinhard Stauber]] und Florian Kerschbaumer: ''Volk.'' In: ''[[Enzyklopädie der Neuzeit]].'' Bd. 14: ''Vater–Wirtschaftswachstum''. J.B. Metzler, Stuttgart 2011, S. 376–384 ([http[doi://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_375140 online]]).
* Jens Wietschorke: ''Volk''. In: [[Brigitta Schmidt-Lauber]], Manuel Liebig (Hrsg.): ''Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar.'' Böhlau, Wien 2022, ISBN 978-3-205-21272-0, S. 271–277.
* [[Michael Wildt]]: ''Volk, Volksgemeinschaft, AfD.'' Hamburger Edition, Hamburg 2017, ISBN 978-3-86-854309-4.
* [[Georg Zenkert]]: ''Individuum und Demos. Das Volk im demokratischen Verfassungsstaat.'' Nomos, Baden-Baden 2022, ISBN 978-3-7489-3348-9.
 
== Weblinks ==
{{Wikiquote}}
{{Wiktionary}}
* {{DNB-Portal|4063790-6}}
 
== Einzelnachweise ==
<references responsive />
 
{{Exzellent|23. Oktober 2020|204765258}}
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{{Kandidat}}
[[Kategorie:Verfassungsrecht]]
[[Kategorie:Völkerrecht]]