„Odo Marquard“ – Versionsunterschied
[gesichtete Version] | [gesichtete Version] |
Inhalt gelöscht Inhalt hinzugefügt
Tippfehler korrigiert Markierungen: Mobile Bearbeitung Bearbeitung von einer mobilen Anwendung Bearbeitung mit iOS-App |
Tippfehler |
||
(8 dazwischenliegende Versionen von 6 Benutzern werden nicht angezeigt) | |||
Zeile 1:
'''Odo Marquard''' (* [[26. Februar]] [[1928]] in [[Słupsk|Stolp]], [[Hinterpommern]]; † [[9. Mai]] [[2015]] in [[Celle]]) war ein deutscher [[Philosoph]] und [[Essayist]]. Er war ordentlicher Professor für Philosophie an der [[Justus-Liebig-Universität Gießen]] (1965–1993) und Mitglied des Münsteraner ''Collegium philosophicum'', eines Kreises der [[Ritter-Schule]],<ref>[[Mark Schweda]]: ''Joachim Ritter und die Ritter-Schule. Zur Einführung.'' [[Junius Verlag]], Hamburg 2015, ISBN 978-3-88506-708-5.</ref> dem auch [[Hermann Lübbe]], [[Robert Spaemann]], [[Martin Kriele]] u. a. m. angehörten.<ref>Hermann Lübbe: ''Heitere Hiobsbotschaften: Nachruf auf Odo Marquard'', in: ''Zeitschrift für Ideengeschichte'', Ausgabe Frühjahr 2016 (als PDF [https://www.wiko-berlin.de/wikothek/multimedia/altgier hier] zum Download), S. 117.</ref>
Marquard bezeichnete sich selbst als [[Pyrrhonismus|pyrrhonischen]] [[Skeptizismus|Skeptiker]], Usualisten<ref>''Usualismus'' im Sinne Marquards meint die Haltung, an Konventionen und Traditionen respektvoll anzuknüpfen: „Zustimmung zu den Üblichkeiten der Lebenswelt, die jeder Mensch vorfindet.“ Siehe Egbert Witte: ''Skepsis und Urdoxa. Anmerkungen zur transendentalskeptischen Pädagogik'', in: Matthias Erhardt, Frank Hörner, Ina Katharina Uphoff (Hrsg.): ''Der skeptische Blick''. [[VS Verlag für Sozialwissenschaften]] 2011, ISBN 978-3-531-17360-3, [https://books.google.de/books?id=Q-wiBAAAQBAJ&pg=PA90#v=onepage&q&f=false S. 90].</ref> und – mit der ihm eigenen Selbstironie – als „[[Transzendental]]-[[Belletrist]]en“ oder auch als „transzendentalen [[Unterhaltungskünstler|Entertainer]]“.<ref>Odo Marquard: ''Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische Einleitung.'' In: ''Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien''. Reclam (UB 7742). Stuttgart 1982, ISBN 3-15-007724-9, S. 4 und 9.</ref><ref>[[Stefan Groß-Lobkowicz]] : [https://www.theeuropean.de/stefan-gross/10505-was-koennen-wir-von-skeptikern-lernen Vom bleibenden Wert der Skepsis], in [[The European]], 13. Oktober 2015.</ref> Er gilt als „Virtuose des [[Bonmot]]s“.<ref>[https://www.cicero.de/kultur/nachruf-auf-odo-marquard-anti-habermas-kaempfer-gegen-die-wahrheit/59263 Nachruf auf
== Lebensweg ==
Zeile 17:
Von 1955 bis 1963 war er wieder in Münster an der Westfälischen Wilhelms-Universität als wissenschaftlicher Assistent Joachim Ritters. 1963 [[Habilitation|habilitierte]] er sich dort bei Ritter mit dem Thema ''Über die Depotenzierung der [[Transzendentalphilosophie]]. Einige philosophische Motive eines neueren [[Psychologismus]] in der Philosophie''. Im Anschluss lehrte er als [[Privatdozent]] Philosophie in Münster und wurde zwei Jahre später zum [[Professor#Ordentliche Universitätsprofessuren|ordentlichen Professor]] für Philosophie ernannt.
Von 1965 bis 1993 lehrte er als ordentlicher Professor bis zu seiner [[Emeritierung]] Philosophie an der [[Justus-Liebig-Universität Gießen]]. Von 1980 bis 1985 war er Mitherausgeber der Werkausgabe ''[[Helmuth Plessner]], Gesammelte Schriften in 10 Bänden'', die im [[Suhrkamp Verlag|Suhrkamp-Verlag]] erschienen ist.<ref>[https://helmuth-plessner.de/literatur/werkausgaben/ ''Werkausgabe''] – Vorstellung der Werkausgabe auf der Website der [[Helmuth Plessner#Helmuth Plessner Gesellschaft|Helmuth Plessner Gesellschaft]].</ref> Von 1985 bis 1987 war er Präsident der [[Deutsche Gesellschaft für Philosophie|Deutschen Gesellschaft für Philosophie]].<ref>Odo Marquard: ''Endlichkeitsphilosophisches'', Reclam, Stuttgart 2013, S. 96.</ref>
1993 wurde Marquard emeritiert. Danach war er weiterhin wissenschaftlich tätig. So war er an der Herausgabe des 13-bändigen [[Historisches Wörterbuch der Philosophie|Historischen Wörterbuchs der Philosophie]] (HWPh) beteiligt (1971–2007), mit Artikelbeiträgen wie ''[[Anthropologie]], Kompensation, [[Leerformel]], [[Lustprinzip]], [[Das Übel|Malum]]'' u. a. m.<ref>Hermann Lübbe: ''Heitere Hiobsbotschaften: Nachruf auf Odo Marquard'', in: ''Zeitschrift für Ideengeschichte'', Ausgabe Frühjahr 2016 (als PDF [https://www.wiko-berlin.de/wikothek/multimedia/altgier hier] zum Download), S. 117–127, hier S. 120.</ref>
Zeile 24:
=== Familie ===
Marquard war seit 1960 bis zu seinem Tod mit der [[Romanistik|Romanistin]] Edeltraut Luise Marquard geb. Wlosok verheiratet.<ref>[https://trauer.sueddeutsche.de/todesanzeige/odo-marquard Traueranzeige Odo Marquard] [[Süddeutsche Zeitung]], 23. Mai 2015.</ref> Das Paar hatte einen Sohn und drei Enkelkinder.<ref>[http://www.genios.de/presse-archiv/artikel/GIAN/20100220/odo-und-traute-marquard-feiern-gold/2230106330001266620400.html ''Odo und Traute Marquard feiern Goldene Hochzeit''], in: Gießener Anzeiger, 20. Februar 2010.</ref> In den letzten zweieinhalb Jahren seines Lebens wohnte Marquard mit seiner Frau in einem [[Seniorenheim]] in Celle, um in der Nähe ihres Sohnes Felix zu sein.<ref>[https://www.cz.de/Celle/Aus-der-Stadt/Celle-Stadt/Celler-trauern-um-Konservativen-mit-Esprit ''Celler trauern um Konservativen mit Esprit''] – Dagny Rößler, in: [[Cellesche Zeitung]] vom 15. Mai 2015</ref> Felix Marquard war Arzt mit einer Praxis für [[Onkologie]] und [[Hämatologie]] in Celle. Er starb im Jahr 2014, ein Jahr vor seinem Vater, bei einem Verkehrsunfall in Australien.<ref>[https://www.cz.de/Celle/Aus-der-Stadt/Celle-Stadt/In-Australien-verunglueckt-Arzt-hinterlaesst-grosse-Luecke-in-Celle ''In Australien verunglückt: Arzt hinterlässt große Lücke in Celle''] Cellesche Zeitung, 24. April 2014.</ref> Edeltraut Luise Marquard starb im Jahr 2020.<ref>[https://lebenswege.faz.net/traueranzeige/edeltraut-luise-marquard Traueranzeige Edeltraut Luise Marquard] FAZ, 23. Mai 2020.</ref>
== Philosophisches Schaffen ==
Zeile 34:
|Quelle=Humorvolle Äußerung Odo Marquards kurz vor seinem 80. Geburtstag<ref>Zitiert nach: [https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/odo-marquard-gestorben-skeptischer-philosoph-aus-giessen-tot-a-1033293.html ''Philosoph Odo Marquard gestorben'']. Nachruf auf spiegel.de, 11. Mai 2015.</ref>}}
Marquard bemühte sich in seinen Schriften und Vorträgen stets um eine „verständliche und alltagstaugliche Sprache“.<ref>[https://www.tagesspiegel.de/kultur/geisteswissenschaften-philosoph-odo-marquard-gestorben/11764148.html ''Philosoph Odo Marquard gestorben''] Nachruf in ''[[Der Tagesspiegel]]'', 11. Mai 2015.</ref> Seine Essays verbinden stilistische Eleganz und hintersinnigen Humor mit dem Humanismus des [[Relativismus|relativistischen]] Aufklärers.<ref>[https://oe1.orf.at/artikel/332055/Philosoph-Odo-Marquard-wird-85 Philosoph ''Odo Marquard wird 85''] – im Morgenjournal des Österreichischen Rundfunks, 20. Februar 2013.</ref> Lesegenuss zu bereiten war ihm ein Anliegen.
In Anlehnung an [[Kant]]s [[Transzendentalphilosophie]] versuchte Marquard schreibend, die „Bedingung der Möglichkeit“ von Erkenntnis zu erkunden. Er ermöglicht es seinen Lesern, an der allmählichen Entstehung seiner philosophische Ideen teilzuhaben. Der Leser wird Zeuge eines Philosophierens, das beständig um Klarheit ringt, „behutsam sich vortastend“.<ref> {{Zitat|Marquard lesen, das kommt einem Dialog mit einem geistreichen, sensiblen und im hohen Maße unterhaltsamen guten Freund gleich.
Zeile 40 ⟶ 42:
=== Wende zur Skepsis ===
Odo
Marquard gehörte zur „skeptischen Generation“ (eine Begriffsbildung des Soziologen [[Helmut Schelsky]]).<ref>Helmut Schelsky: ''Die skeptische Generation''. Eine Soziologie der deutschen Jugend'. Diederichs, Düsseldorf/Köln 1957.</ref> Mit dem Zusammenbruch 1945 „kam es zum Enttäuschungsschock; die Folge waren Prozesse der Entpolitisierung und Entideologisierung des jugendlichen Bewusstseins“.<ref>Odo Marquard: Abschied vom [[Prinzip|Prinzipiellen]]
Bei Marquard führte dieser Schock zu seiner „Wende zur [[Skeptizismus|Skepsis]]“, zu seinem „Abschied vom [[Prinzip]]iellen“.<ref>Odo Marquard: ''Abschied vom Prinzipiellen''. Reclam (UB 7724), Stuttgart 1981, ISBN 3-15-007724-9, S. 17.</ref> Dies bedeutet eine Abkehr von [[Absolutheitsanspruch|Absolutheitspositionen]] und [[Letztbegründung]]sversuchen.<ref>Odo Marquard: ''Zur Diätetik der Sinnerwartung.'' In: ''Apologie des Zufälligen. Philosophische Bemerkungen.'' Reclam Universalbibliothek Nr. 8351, Stuttgart 1986, ISBN 3-15-008351-6, S. 53.</ref>
Zeile 55 ⟶ 57:
Ein bekanntes Zitat aus Marquards Essay ''Apologie des Zufälligen'' lautet: „Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.“<ref>{{Literatur |Autor=Odo Marquard |Titel=Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen |Verlag=Reclam (UB 8351) |Ort=Stuttgart |Datum=1968 |Sprache=de |ISBN= 3-15-008351-6 |Seiten=127}}</ref> [[Jürgen Kaube]] wählte dieses Zitat als Überschrift seines Nachrufs auf Odo Marquard in der [[Frankfurter Allgemeine Zeitung|FAZ]].<ref>Jürgen Kaube: [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/zum-tod-des-philosophen-odo-marquard-13587546.html ''Zum Tod von Odo Marquard: Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl''] faz.net, 11. Mai 2015.</ref>
Mit seiner Verteidigung („[[Apologetik|Apologie]]“) des Zufalls nimmt Marquard eine Gegenposition zu [[Jean-Paul Sartre]] ein, der in seinem Hauptwerk ''[[Das Sein und das Nichts]]'' das Menschsein an der Möglichkeit zu wählen festgemacht und dies in der Formel ''le choix que je suis'' („die Wahl, die ich bin“) verdichtet hatte.<ref>Jean Paul Sartre: ''L’Être et le Néant. Essai d’ontologie phénoménologique.'' Édition corrigée avec index par Arlette Elkaïm-Sartre. Gallimard, Paris 1943, S. 597, [http://www.philotextes.info/spip/IMG/pdf/l_etre_et_le_neant.pdf französischer Volltext].</ref><ref>{{Literatur |Autor=Odo Marquard |Titel=Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen |Verlag=Reclam (UB 8351) |Ort=Stuttgart |Datum=1968
Marquard unterscheidet dabei das „Beliebigkeitszufällige“ (das, was auch anders sein könnte, weil wir darauf Einfluss haben) und das „Schicksalszufällige“ (das, was auch anders sein könnte, obwohl wir es nicht ändern können):
Zeile 72 ⟶ 74:
Demokratische, liberale, bewahrenswerte Verhältnisse wie in der Bundesrepublik zugunsten revolutionärer Prinzipien aufs Spiel zu setzen, sei eine „als Reflexion zelebrierte Dummheit“, denn es gebe keine „Nichtverschlechterungsgarantie“.<ref>''Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien.'' Reclam (UB 7724), Stuttgart 1981, ISBN 3-15-007724-9, S. 10.</ref> Nicht die Bürgerlichkeit sei falsch, sondern ihre Verweigerung: die Romantik der Revolution oder die romantische Verklärung des Ausnahmezustands, den Revolutionäre herbeiführen möchten.
Als „Verweigerungverweigerer“ attackiert Odo Marquard seit Anfang der siebziger Jahre mit Wortwitz und Ironie die „linken Negationsapostel“ der [[68er-Bewegung|68er-Generation]] und der [[Kritische Theorie|Kritischen Theorie]].<ref>''Mut zur Bürgerlichkeit''.
=== Abschied von der Geschichtsphilosophie ===
Zeile 80 ⟶ 82:
Mit dieser pointierten [[Travestie (Literatur)|Travestie]] des bekannten [[Karl Marx|Marx]]-Zitates „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern“<ref>Karl Marx: 11. These über Feuerbach, [http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_005.htm Marxsche Fassung, 1845]</ref> erteilt Marquard [[Teleologie#Philosophiegeschichte|teleologischen]] geschichtsphilosophischen Entwürfen eine Absage. Nach seiner Überzeugung erstrebe die Weltgeschichte weder ein [[Eschatologie|eschatologisches]] oder [[Soteriologie|soteriologisches]] Ziel, noch lasse sie sich auf solche utopischen Ziele hin steuern.
''Weltbeglückungsplänen''<ref>[[Jens Hacke]]: ''Bürgerlichkeit aus dem Geist der Skepsis. Dem Philosophen Odo Marquard zum 80. Geburtstag.''
In seiner Schrift ''Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie'' warnt Marquard davor, dass der „ geschichtsphilosophische Ausgang der Menschen aus ihrer [[Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?|selbstverschuldeten Unmündigkeit]] durchaus in der ‚[[Schlüsselgewalt]]‘ ihrer selbstverschuldeten [[Vormundschaft|Vormünder]]“<ref>Odo Marquard: ''Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie'', Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1982, 6. Auflage 2017, ISBN 978-3-518-27994-6, S. 19.</ref> enden könne.
Zeile 87 ⟶ 89:
{{Zitat |Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften.
|Autor=Odo Marquard |Quelle=''Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften'', 1985
|ref=<ref>Odo Marquard : In: (ders.) ''Einheit und Vielheit''. Philosophische Essays,
Die Geisteswissenschaften sind „erzählende“ Wissenschaften. Sie antworten auf die Geschichtslosigkeit der modernen Welt, der Welt der experimentellen [[Naturwissenschaft]]en. Marquard knüpft an die Überlegungen seines Lehrers Joachim Ritter an und führt aus, dass geisteswissenschaftliche Orientierungen in der modernen technischen Welt nicht etwa überflüssig, sondern geradezu unverzichtbar geworden seien. Sie helfen, den beschleunigten Wandel der modernen Zivilisation durch den Rückgriff auf kulturelle Bestände kompensieren zu können. Den Geisteswissenschaften kommt die Aufgabe zu, die unvermeidlichen Schädigungen der menschlichen Lebenswelt im Zuge des Prozesses der Modernisierung durch ihr Erzählen auszugleichen. „Narrare necesse est“<ref name="Narrare">Odo Marquard: ''Narrare necesse est.'' In: ''Die Politische Meinung.'' Nr. 362, Januar 2000, S. 93–95 ([https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=5b069688-f306-3926-09a7-0f7da0487115&groupId=252038 PDF]; 312 kB).</ref>, Erzählen tut not:
Zeile 98 ⟶ 100:
|Autor=Odo Marquard |Quelle= ''Das Über-Wir. Bemerkungen zur Diskursethik'', 2004<ref>Odo Marquard: ''Das Über-Wir. Bemerkungen zur Diskursethik.'', In: (ders.): ''Individuum und Gewaltenteilung''. Reclam (UB 18306), Stuttgart 2004, ISBN 3-15-018306-5, S. 38–67, hier S. 60.</ref>}}
In ''Lob des [[Polytheismus]]. Über [[Mythos|Monomythie]] und Polymythie''<ref>In: Hans Poser (Hrsg.): ''Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium''. De Gruyter, 1979, S. 40 ff., ISBN 978-3-11-007601-1, [[doi:10.1515/9783110862195.40]]</ref> bricht Marquard eine Lanze für die [[Pluralismus (Philosophie)|pluralistische]]
{{Zitat |Diese Konjunktur des Legitimationsverlangens ist ein Phänomen, das
|Autor=Odo Marquard |Quelle=''Apologie des Zufälligen'', 1986 |ref=<ref>{{Literatur |Autor=Odo Marquard |Titel=Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen |Verlag=Reclam (UB 8351 |Ort=Stuttgart |Datum=1986
In dem Essay ''Das Über-Wir''<ref>Odo Marquard: ''Das Über-Wir. Bemerkungen zur Diskursethik.'', In: (ders.): ''Individuum und Gewaltenteilung''. Reclam (UB 18306), Stuttgart 2004, ISBN 3-15-018306-5, S. 38–67.</ref> lehnt Marquard die Diskursethik als neue sozialpsychologische [[Metaethik#Metaethik der Diskursethik|Metainstanz]], das „Über-Wir“, als „Übertribunalisierung“ ab. Sigmund Freuds [[Über-Ich]], das individuelle Gewissen, der innere Kantische Gerichtshof, werde im idealen Diskurs, dem „Gewissensbildiungskollektiv“, zu einem kollektiven Gewissen, zu einem Über-Tribunal, zum „Über-Wir“, das sich nicht mehr an überlieferten Konventionen orientiere. Die Verdächtigungsregel der Diskursethik gegen alle traditionellen Üblichkeiten und Normen lautet: „in dubio contra traditionem, sive conventiones“,<ref>Odo Marquard: ''Das Über-Wir. Bemerkungen zur Diskursethik.'', In: (ders.): ''Individuum und Gewaltenteilung''. Reclam (UB 18306), Stuttgart 2004, ISBN 3-15-018306-5, S. 46 f.</ref> im Zweifel gegen die Tradition, gegen die Konventionen.<ref>[[Rochus Leonhardt]]: ''Der philosophische Ansatz Odo Marquards'', in (ders.): ''Skeptizismus und Protestantismus'' (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 44), Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-147864-9 ({{Google Buch |BuchID=_fWaSxhNJH4C}}), S. 37–142.</ref>
Marquard kritisiert den [[Diskurs#Jürgen Habermas|herrschaftsfreien Diskurs]] als „Luxusmodell“<ref>{{Literatur |Autor=Odo Marquard |Titel=Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen |Verlag=Reclam (UB 8351) |Ort=Stuttgart |Datum=1986 |Sprache=de |ISBN= 3-15-008351-6 |Seiten=11}}</ref>, das den absoluten Konsens zum Ziel habe. „In diesem universalistischen
{{Zitat |Der Skeptiker redet mit allen, der Diskursethiker letztlich nur mit Gleichgesinnten.
Zeile 128 ⟶ 130:
* das Theodizeemotiv der „Malitätsbonisierung“, der Gedanke, dass die Übel so übel nicht sind, „Entübelung der Übel“ (das Gute am Schlechten). Entübelt wird zum Beispiel der Irrtum – „wir irren uns empor“ ([[Karl Popper]]s [[Falsifikationismus]]); entübelt wird das Nichtschöne in der modernen Kunst; „Entbösung des Bösen“ in [[Jenseits von Gut und Böse (Nietzsche)#Moralkritik|Nietzsches Moralkritik]] durch die „[[Umwertung aller Werte]]“.
* das Theodizeemotiv der „Bonitätsmalisierung“ (das Schlechte am Guten). Die Positivierung des Übels zum Guten negativiert zugleich das traditionelle Gute zum Übel.
* das Theodizeemotiv der „Kompensation“. Marquard setzt sich insbesondere mit dem Theodizeemotiv
=== Kompensationsphilosophie ===
Zeile 152 ⟶ 154:
So verbleibe der Philosophie der Gegenwart nur noch ihre „Inkompetenzkompensationskompetenz“: „Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz.“<ref name="Inkompetenzkompensationskompetenz">Odo Marquard: ''Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien.'' Reclam (UB 7724), Stuttgart 1981, ISBN 3-15-007724-9, S. 23–38, hier S. 24, [https://philosophisches-jahrbuch.de/wp-content/uploads/2019/03/PJ81_S341-349_Marquard_%c3%9cber-Kompetenz-und-Inkompetenz.pdf PDF]</ref>
Selbstironisch merkte Marquard an, dass im heutigen Zeitalter des
== Sprachspielereien mit Esprit ==
Zeile 159 ⟶ 161:
Odo Marquard würzte seine Texte und Vorträge mit geistreichen Sprachspielereien. Manche Wortneuprägungen dieses humorvollen, unterhaltsamen [[Aphorismus|Aphoristikers]] sind quasi zu [[Geflügelte Worte|geflügelten Worten]] mutiert:
* „[[Wacht am Rhein|Wacht am Nein]]“<ref>In: Odo Marquard: ''Skepsis und Zustimmung''. Reclam (UB 9334), Stuttgart 1994, ISBN 3-15-009334-1, S. 11.</ref>, „N[[jet-Set]]“<ref> „N[[jet-Set]]“, eine spöttische Bezeichnung für die Vielflieger unter den ewigen Neinsagern der Kritischen Theorie.</ref>, „[[Strukturmodell der Psyche#
Stilmittel seines spöttisch-ironisierenden Sprachhumors sind unter anderem:
Zeile 165 ⟶ 167:
** „[[Atheismus]] ad maiorem Dei gloriam“ (''Atheismus zur größeren Ehre Gottes'' – eine [[Antithetik|antithetische]] Verballhornung des lateinischen Wahlspruchs des [[Jesuitenorden#Allgemeines|Jesuitenordens]] [[Ad maiorem Dei gloriam|„Omnia ad maiorem Dei gloriam“]]<ref>Odo Marquard: ''Die Krise des Optimismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie'', in: Odo Marquard: Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien, Reclam (UB 18524), Stuttgart 2007, ISBN 3-15-018524-6, S. 97–100.</ref>)
** „Hier stehe ich und kann auch immer noch anders“<ref>Odo Marquard: ''Lob des [[Polytheismus]]. Über [[Mythos|Monomythie]] und Polymythie''. In: (ders.): ''Abschied vom Prinzipiellen''. Reclam (UB 7724), Stuttgart 1981, ISBN 3-15-007724-9, S. 111.</ref> ([[Parodie]] des bekannten [[Martin Luther|Luther]]-Zitates [[Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms 1521#Legenden|„Hier stehe ich, ich kann nicht anders“]])
** „Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt“<ref>Odo Marquard: ''Loriot lauréat''. ''Laudatio auf Bernhard-Viktor von Bülow bei der Verleihung des [[Kasseler Literaturpreis|Kasseler Literaturpreises]]
** „Narrare necesse est“<ref name="Narrare"/> (Erzählen tut not; der lateinische Sinnspruch lautet im Original: [[Liste lateinischer Phrasen/N#Navigare|„Navigare necesse est“]], Seefahrt tut not)
* [[Oxymoron]]artige Wort-Neuschöpfungen und Wendungen wie:
** „Ich bin ein Weigerungsverweigerer“<ref>''Ich bin ein Weigerungsverweigerer''. Ein Gespräch mit Odo Marquard. Die Fragen stellte [[Jens Hacke]]. In: Odo Marquard: ''Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien''. Reclam
** „Entübelung der Übel“, „Malitätsbonisierung“<ref name="Marquard">Odo Marquard: ''Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie.'' In: (ders.): ''Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen'', Reclam (UB 8351), Stuttgart 1986, ISBN 3-15-008351-6</ref>{{rp|S. 22}} und „Bonitätsmalisierung“<ref name="Marquard" />{{rp|S. 24}}
** „Die Entlastung vom Negativen disponiert zur Negativierung des Entlastenden“<ref>Odo Marquard: ''Zeitalter der Weltfremdheit? Beitrag zur Analyse der Gegenwart''. In: (ders.): ''Apologie des Zufälligen. Philosophische Bemerkungen'', Reclam Universalbibliothek Nr. 8351, Stuttgart 1986, ISBN 3-15-008351-6, S. 89.</ref>
* [[Sentenz]]en à la Marquard:
** „Zukunft braucht Herkunft“<ref>Odo Marquard: ''Zukunft braucht Herkunft.
** „Vernünftig ist, wer den [[Ausnahmezustand]] verweigert“<ref name="Bürgerlichkeit S. 91"/>
** „Bildung ist der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben“<ref>Odo Marquard: ''Loriot lauréat''. ''Laudatio auf Bernhard-Viktor von Bülow bei der Verleihung des [[Kasseler Literaturpreis|Kasseler Literaturpreises]]
== Auszeichnungen ==
Zeile 192 ⟶ 194:
== Schriften ==
* ''Zum Problem der Logik des Scheins im Anschluss an Kant. Über Möglichkeiten und Grenzen einer kompromittierenden Genealogie der Metaphysik''. [[Dissertation]], Freiburg im Breisgau 1954.
* ''Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie''. Suhrkamp (stw 394), Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-27994-7.
* ''Exile der Heiterkeit''. In: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hrsg.): Das Komische. München 1976, S. 133–151.
* ''Abschied vom Prinzipiellen''. Reclam ([[Reclam Universal-Bibliothek|UB]] 7724), Stuttgart 1981, ISBN 3-15-007724-9.
* ''Skeptische Methode im Blick auf Kant''. (Symposion Bd. 4) [[Verlag Karl Alber|Alber]], Freiburg/München 1958, 3. unveränd. Aufl. 1982, ISBN 3-495-44033-X.
* ''Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen.'' Reclam ([[Reclams Universal-Bibliothek|UB]] 8351), Stuttgart 1986, ISBN 3-15-008351-6.
* ''Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie''. In: [[Rüdiger Bubner]] et
* ''Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse'' (= [[Habil.]] 1962). Dinter, Köln 1987.
* ''Aesthetica und Anaesthetica''. [[Brill Schöningh|Schöningh]], Paderborn 1989, ISBN 3-7705-3750-5.
* ''Skepsis und Zustimmung''. Reclam (UB 9334), Stuttgart 1994, ISBN 3-15-009334-1.
* ''Glück im Unglück''. [[Brill Fink|Fink]], München 1995, ISBN 3-7705-3065-9.<ref>''Glück im Unglück'', [https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00078825_00001.html Volltext] auf Digi20, digitale Sammlungen der [[Deutsche Forschungsgemeinschaft|DFG]].</ref>
* ''Philosophie des Stattdessen. Studien''. Reclam ([[Reclams Universal-Bibliothek|UB]] 18049), Stuttgart 2000, ISBN 978-3-15-018049-
* ''Skepsis als Philosophie der Endlichkeit''. Bonner Philosophische Vorträge und Studien, Bd. 18, Hrsg. von
* ''Zukunft braucht Herkunft''. Reclam (Reihe Reclam), Stuttgart 2003, ISBN 3-15-050040-0.
* ''Individuum und Gewaltenteilung''. Reclam (UB 18306), Stuttgart 2004, ISBN 3-15-018306-5.
* ''Skepsis in der Moderne''. Reclam (UB 18524), Stuttgart 2007, ISBN 3-15-018524-6.
* ''[https://www.herder.de/el/hefte/archiv/2012/10-2012/plaedoyer-fuer-die-einsamkeitsfaehigkeit/ Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit]'' (2012)
* ''Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern''. Hrsg. von [[Franz Josef Wetz]]. Reclam (UB 20278), Stuttgart 2013, ISBN 978-3-15-020278-4.
* ''Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie''. Hrsg. von
== Sekundärliteratur ==
* [[Felix Dirsch]]: ''Konservativer Skeptiker zwischen Herkunft und Zukunft. Autorenporträt Odo Marquard.'' In: ''[[Criticón]]'' Nr. 181, Frühling 2004 ([http://www.hanshoppe.com/wp-content/uploads/publications/criticon181.pdf PDF]; 956 kB), S. 43–48.
* Arne Jaitner: ''Zwischen Metaphysik und Empirie. Zum Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Psychoanalyse bei [[Max Scheler]], [[Theodor W. Adorno]] und Odo Marquard.'' [[Königshausen & Neumann]], Würzburg 1999 (= ''Epistemata'' Band 262), ISBN 3-8260-1722-6.
* [[Jens Hacke]]: ''Bürgerlichkeit aus dem Geist der Skepsis. Dem Philosophen Odo Marquard zum 80. Geburtstag.''
* [[Alois Halbmayr]]: ''Die Theodizee und ihre Erben. Eine Erinnerung an Odo Marquard.'' In: ''[[Sinn und Form]]'', 6/2017, ISBN 978-3-943297-38-6, S. 830–836, [https://sinn-und-form.de/?tabelle=leseprobe&titel_id=6943 Leseprobe S. 830–832].
* Alois Halbmayr: ''Lob der Vielheit. Zur Kritik Odo Marquards am Monotheismus''. Tyrolia ([[Salzburger Theologische Studien]] 13), Salzburg 2000, ISBN 3-7022-2255-3.
* [[Wolfgang Kersting]]: ''Hypolepsis und Kompensation – Odo Marquards philosophischer Beitrag zur Diagnose und Bewältigung der Gegenwart.'' In: ''[[Philosophische Rundschau]]'', Vol. 36, Nr. 3, 1989, S. 161–186, [https://www.jstor.org/stable/42571894 JSTOR].
* [[Hartmut Lange (Schriftsteller)|Hartmut Lange]]: ''Über Odo Marquard''. In: (ders.): ''Über das Poetische''. Matthes & Seitz, Berlin 2017, ISBN 978-3-95757-482-4, S. 35–47.
* [[Rochus Leonhardt]]: ''Der philosophische Ansatz Odo Marquards'', in (ders.): ''Skeptizismus und Protestantismus'' (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 44), [[Mohr Siebeck Verlag|Mohr Siebeck]], Tübingen 2003, ISBN 3-16-147864-9 ({{Google Buch |BuchID=_fWaSxhNJH4C}}), S. 37–142
* [[Hermann Lübbe]]: ''Heitere Hiobsbotschaften: Nachruf auf Odo Marquard'', in: ''[[Zeitschrift für Ideengeschichte]]'', Ausgabe Frühjahr 2016 (als PDF [https://www.wiko-berlin.de/wikothek/multimedia/altgier hier] zum Download), S. 117–127.
* Norbert Ricken: ''Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs''. Königshausen & Neumann, Würzburg 1999, ISBN 978-3-8260-1631-8 ({{Google Buch|BuchID=q11DsATbJGQC}}), Kapitel ''Marquards Philosophie der Einübung von Üblichkeiten''.
* Tamás Miklós: ''Die Philosophie des Zögerns: Odo Marquard, der Verweigerungsverweigerer''. In: (ders.): ''Der kalte Dämon. Versuche zur Domestizierung des Wissens''. [[C. H. Beck]]
*
* Franz Josef Wetz: ''Nachwort. Bürgerlicher Optimismus erwächst aus existentiellem Pessimismus''. In: Odo Marquard: ''Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays''. Reclam Taschenbuch Nr. 20617, Stuttgart 2003/2015, ISBN 978-3-15-020617-1, S. 307–347.
Zeile 254 ⟶ 257:
[[Kategorie:Philosoph (20. Jahrhundert)]]
[[Kategorie:Hochschullehrer (Justus-Liebig-Universität Gießen)]]
[[Kategorie:Hochschullehrer (
[[Kategorie:Ritter-Schule]]
[[Kategorie:Sachliteratur (Philosophie)]]
|